January 2006
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Die Frage »Kann Tugend gelehrt werden?« ist vielleicht die älteste Frage in der Moralphilosophie. Rufen wir uns den Anfang von Platons Menon in Erinnerung (70a): »Sokrates, kannst du mir sagen, ob man Tugend lehren kann? Oder kann man sie nicht lehren, sondern muss man sie einüben? Oder kann man weder durch Übung noch durch Lernen gut werden, sondern ist man es von Natur aus oder auf sonst irgendeine Weise?« Diese Fragestellung ist eine einfache Version dessen, was offenbar ein beliebtes Diskussionsthema war. Sokrates’ charakteristische, aber dennoch einfache Antwort ist, dass man, bevor man weiß, was Tugend ist, nicht wissen kann, wie man sie erwirbt. Ich möchte die Reihenfolge umdrehen, indem ich frage, wie — nach Aristoteles — Tugend erworben wird. Damit soll Licht auf bestimmte Merkmale seiner Tugendkonzeption geworfen werden, die gewöhnlich wenig beachtet werden. Aristoteles widmete sich diesen Fragen, nachdem sie bereits — durch die von Platon in der Politela und in nachfolgenden Dialogen geleistete Pionierarbeit in der Moralpsychologie — Veränderungen erfahren hatten. Zu seiner Zeit lag der etwas naive Charakter der Debatte im Menon lange zurück. Dennoch hatte Sokrates in einer Sache recht: Jede einigermaßen explizite Auffassung des Prozesses moralischer Entwicklung hängt entscheidend von der Konzeption der Tugend ab. Diese Abhängigkeit ermöglicht es, die Auffassung von moralischer Entwicklung als Hinweis auf die Tugendkonzeption eines Philosophen zu lesen. In mancher Hinsicht handelt es sich um besonders aufschlussreiche Hinweise, weil sich der Philosoph im Bereich der moralischen Bildung der komplexen Wirklichkeit stellen muss, die von gewöhnlichen, unvollkommenen Menschen bestimmt ist.