Hintergrund und Ziele: Der Konsum von Alkohol und alkoholassoziierte Erkrankungen gehören weltweit neben Bluthochdruck und Rauchen zu den häufigsten Todesursachen. Die gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Konsequenzen für die Betroffenen, deren Angehörige und die Gesellschaft insgesamt sind potenziell vermeidbar, weswegen die Suche nach Risikofaktoren und die rechtzeitige Einleitung wirkungsvoller Präventionsmaßnahmen entscheidend sind. Aus den zahlreichen möglichen Einflussfaktoren wurden im Rahmen dieser Studie die Wirkung von pränatalen und von aktuell zirkulierenden Sexualhormonkonzentrationen auf die Alkoholabhängigkeit ausgewählt und die geschlechtsspezifischen Unterschieden im Trinkverhalten näher beleuchtet. Aufgrund deutlicher Parallelen zwischen der Auswirkung dieser Parameter sowohl auf die Alkoholabhängigkeit als auch auf das räumliche Vorstellungsvermögen, wurde schließlich die Frage gestellt, ob Leistungen auf dem Gebiet der mentalen Rotation als Risikomarker für die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit genutzt werden können. Methoden: Bei 235 Kontrollen (n(♀)=102; n(♂)=133) und 153 Patienten (n(♀)=66; n(♂)=87), welche die Kriterien einer Alkoholabhängigkeit nach ICD-10-, DSM-IV- und DSM-5 erfüllten, wurde die Leistung auf dem Gebiet der mentalen Rotation anhand der revidierten Version des Mental Rotation Test (MRT) basierend auf dem Original von Vandenberg und Kuse ermittelt. Pränatale Sexualhormonkonzentrationen wurden indirekt mittels der Längenverhältnisse der Zeige- und Ringfinger (kurz 2D:4D-Fingerlängenverhältnis) und der Händigkeit bestimmt. Aktuell zirkulierende Sexualhormonkonzentrationen wurden aus Blutproben gewonnen. Das Ausmaß des Alkoholkonsums der Patienten wurde mit dem Lifetime Drinking History-Erhebungsbogen erfasst. Darüber hinaus wurde die Gruppe der gesunden Kontrollen weiter in eine Gruppe der Binge Drinker und der Non-Binge Drinker unterteilt und deren Leistung im MRT mit denen von Patienten verglichen. Ergebnisse und Beobachtungen: Die Patienten- und Kontrollgruppe unterschieden sich nicht hinsichtlich der Geschlechterverteilung und des Alters. Die Gruppe der Kontrollen verfügte über signifikant mehr Bildungsjahre als die Gruppe der Patienten (p<0,001). Die höhere Anzahl an Bildungsjahren hatte in der Kontrollgruppe einen signifikant positiven Einfluss auf den MRT (p=0,022). Das Alter beeinflusste sowohl in der männlichen (p<0,001) und in der weiblichen (p<0,001) Kontrollgruppe als auch bei Frauen der Patientengruppe (p=0,009) die Leistung im MRT negativ. Innerhalb der Patientengruppe tranken die Frauen seit Beginn der Abhängigkeit signifikant weniger Alkohol pro Tag als die Männer (p<0,001). Auch lag die Gesamtmenge an konsumiertem Alkohol bei Patientinnen signifikant unter dem der männlichen Patienten (p<0,001). Männer erreichten nicht nur in der Kontrollgruppe (p<0,001), sondern auch in der Patientengruppe (p=0,001) signifikant höhere Ergebnisse im MRT als weibliche Studienteilnehmer der entsprechenden Gruppen. Die weibliche (p=0,026) und männliche (p<0,001) Kontrollgruppe schnitt im MRT signifikant besser ab als die entsprechenden Teilnehmer der Patientengruppe. Binge Drinker erzielten im Vergleich zu Patienten und Non-Binge Drinkern im Durchschnitt die besten Ergebnisse. Das 2D:4D-Fingerlängenverhältnis und die Händigkeit zeigten in keiner der Gruppen einen signifikanten Zusammenhang mit der erreichten Punktzahl im MRT. Aktuelle bioverfügbare Testosteron- (p=0,012), Dihydrotestosteron- (p<0,001) und Progesteronkonzentrationen (p=0,010) korrelierten bei Männern der Kontrollgruppe, die Dihydrotestosteron -Konzentration (p=0,012) korrelierte bei Frauen der Kontrollgruppe signifikant positiv mit dem Ergebnis des MRT. Die Anzahl an stationären Entwöhnungen korrelierte in der Patientengruppe signifikant positiv mit der Leistung im MRT (p=0,004). Praktische Schlussfolgerungen: Entgegen der Hypothese erzielten die Patienten und Patientinnen deutlich schlechtere Ergebnisse im Mental Rotation Test als die gesunden Kontrollgruppen, was hauptsächlich auf die alkoholbedingte Neurodegeneration zurückgeführt werden kann. Aufgrund des fehlenden Zusammenhangs zwischen der mentalen Rotation und den Markern für pränatale Androgene, dem 2D:4D-Fingerlängenverhältnis und der Händigkeit, kann geschlussfolgert werden, dass letztendlich eher eine schwächere Wechselbeziehung zwischen dem 2D:4D-Fingerlängenverhältnis, der Händigkeit und dem MRT besteht als zwischen dem 2D:4D-Fingerlängenverhältnis, der Händigkeit und dem Risiko einer Alkoholabhängigkeit. Die Subgruppe der Binge Drinker erreichte im Durchschnitt die besten Ergebnisse im MRT, was den Grundgedanken dieser Forschungsarbeit stützt, da Binge Drinker tendenziell ein kleineres 2D:4D-Fingerlängenverhältnis aufweisen als gesunde Kontrollen und gleichzeitig gesunde Kontrollen auf dem Gebiet der mentalen Rotation übertreffen. Hypothesenkonform konnte ein positiver Einfluss aktuell zirkulierender Androgenkonzentrationen, hier vor allem des Dihydrotestosterons, auf die mentale Rotation in der Kontrollgruppe beobachtet werden kann. Der Mental Rotation Test ist folglich bei bereits bestehender Alkoholabhängigkeit nicht als Risikomarker geeignet, da die potentielle kognitive Leistung der Probanden aufgrund der Substanzmissbrauchsstörung nicht sicher erfasst werden kann. Zur Beantwortung der zugrunde liegenden Studienfrage wären prospektive Längsschnittstudien notwendig, bei der die kognitive Leistungsfähigkeit vor Entwicklung einer Abhängigkeit erfasst wird, um eine Verzerrung der Ergebnisse durch alkoholbedingte neurodegenerative Effekte zu vermeiden.