Am 4. Februar 2020 hat die Europäische Kommission die erste öffentliche Anhörung zum Entwurf des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung („EU Cancer Plan“) gestartet. Dies vor dem Hintergrund dass etwa 40% der Europäer*innen im Laufe ihres Lebens von einer Krebserkrankung betroffen sind - mit bedeutsamen gesundheitlichen, familiären, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Der WHO (2016) zufolge ist der Tabakgebrauch verantwortlich für etwa 25% aller krebsbedingten Todesfälle.
Der Konsum von Verbrennungszigaretten ist in den Industrieländern das bedeutendste einzelne und vermeidbare Gesundheitsrisiko und die führende Ursache frühzeitiger Sterblichkeit. „Sowohl die Krankheitsbelastung durch Zigarettenkonsum als auch dessen Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit sind in ihrem Ausmaß historisch beispiellos. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jährlich acht Millionen Menschen vorzeitig an den Folgen des Zigarettenkonsums.“ (DKFZ ). In Deutschland allein sind es jährlich ca. 110.000 tabak-bedingte vorzeitige Sterbefälle.
Tabakrauch ist ein Gemisch aus über 5.300 Substanzen, darunter zahlreiche giftige und 90 krebserzeugende oder möglicherweise krebserzeugende Stoffe. Rauchen schädigt nahezu jedes Organ des Körpers (DKFZ 2015).
Deutschland ist immer noch ein Hochkonsumland für Tabak. Die Zahl der Rauchenden in der Erwachsenenbevölkerung geht nur langsam zurück; aktuell liegt sie in der deutschen Gesamtbevölkerung (ab 14 Jahren) im Jahre 2020 bei 26,5% (Kotz 2018). Es ist also dringend geboten, den bestehenden Präventions- und Regulierungsbemühungen das Instrumentarium der Tobacco Harm Reduction an die Seite zu stellen.
Diese Daten sind bereits alarmierend und sollten dazu einladen, einerseits mehr Menschen früher in den Kontakt mit (Nichtraucher*innen-)Beratungs- und Behandlungseinrichtungen zu bringen, und andererseits Rahmenbedingungen der Tabakkontrolle zu schaffen, die adäquate Antworten auf die Gesundheitsrisiken geben und Menschen motivieren das Rauchen aufzugeben.
Umso erstaunlicher – aus verhaltenspräventiver Sicht - ist, dass in Deutschland die leitliniengemäßen Tabakentwöhnung (Verhaltenstherapie plus medikamentöse Unterstützung etc.) nur von verhältnismäßig wenigen Raucher*innen in Anspruch genommen wird: Über 80% der Raucher*innen in Deutschland probieren den Rauchstopp nicht, und sind im Schnitt nur bei jedem vierten erfolgreich (Andreas 2014; AWMF 2015; Fiore 2008). Aus verhältnispräventiver Sicht kommt dazu, dass die Rahmenbedingungen der Tabakkontrolle in Deutschland denkbar schlecht sind: Deutschland hat zwar die globale „Framework Convention on Tobacco Control (FCTC)“ am 16. Dezember 2003 ratifiziert, sie allerdings nicht annähernd vollständig umgesetzt. Deutschland steht daher im europäischen Vergleich aktuell in Bezug auf die Tabakkontrolle (Tobacco Control Scale) an letzter Stelle von 36 einbezogenen Ländern (Joossens 2020).
In Deutschland bewegt sich auf dem Gebiet der Tabakkonbtrolle nicht viel und vieles nur sehr langsam: So wurde erst kürzlich ein Gesetz zum Werbeverbot für Zigaretten im Bundestag verabschiedet, welches sich zunächst auf Verbrennungszigaretten bezieht, in den nächsten zwei Jahren aber auch auf Tabakerhitzer und E-Zigaretten ausgedehnt werden soll. So begrüßenswert das längst überfällige Werbeverbot für Verbrennungszigaretten ist, so dringend ist es jedoch, Alternativprodukte nicht nur zu regulieren, sondern als Hilfsmittel zur Senkung der Raucher*innenzahlen anzuerkennen. So verpflichten sich die Unterzeichner*innen im FCTC auch auf „Strategien zur Verminderung […] des Schadens mit dem Ziel der Verbesserung der Gesundheit einer Bevölkerung durch Unterbindung oder Verminderung des Konsums an Tabakerzeugnissen“ (FCTC, Art. 1d; WHO 2003).
Abhängige Raucher*innen sind in der gegebenen Situation auf Alternativen zu den sehr begrenzten Möglichkeiten der Hilfe im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung angewiesen. Tatsächlich wird die Option der Angebote der Tabakentwöhnung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß Paragraf 20 SGB V (Prävention) nicht zuletzt aufgrund beträchtlicher Antragsbarrieren und Patient*innen teils zur Last gelegten Kosten nur im sehr begrenzten Rahmen (9.360 Fälle 2018) Deutschland umgesetzt (Bauer 2019). Entwöhnungswillige Raucher*innen weichen in großer Zahl auf die E-Zigarette, Tabakerhitzer oder andere Formen der Nikotinaufnahme aus, um ihre Gesundheit zu schützen.
E-Zigaretten und Tabakerhitzer sind nach aktueller Risikoeinschätzung erheblich weniger schädlich als fortgesetztes Rauchen und daher schon jetzt geeignet, einen Beitrag zur Risikoreduktion beim Rauchen zu leisten. So schätzt Public Health England, dass E-Zigaretten 95% sicherer sind als gerauchter Tabak und beim Rauchstopp helfen können (Pieper 2018; Mallock et al. 2019, p.287).
Doch die Information der Bevölkerung bezüglich dieser erheblichen Risikoreduktion durch alternativen Formen der Nikotinaufnahme, bzw. des Dampfens ist mangelhaft, insbesondere unter den Rauchenden. (BfR 2019). Wenn die Mehrheit der Rauchenden (aber auch der Ärzt*innen) immer noch denkt, die E-Zigarette sei genauso schädlich wie die Verbrennungszigarette (oder sogar schädlicher), dann lohnt sich ein Umstieg für sie nicht. Aufklärung über die Vorteile alternativer Produkte tut dringend not – v.a. von den dafür verantwortlichen Gesundheitsagenturen (vgl. Stöver, Jamin, Eisenbeil 2020; Stöver 2019).
Der Aufklärung über differenzierte und diversifizierte Rauchentwöhnungsprogramme und – instrumente fühlen sie die Autor*innen des vorliegenden Bandes verpflichtet. Sie machen deutlich, dass es auch eine absolute ethische Notwendigkeit ist, differenzierte Risikokommunikation zu betreiben. D.h. ganz klar zu formulieren, dass die E-Zigarette und Tabakerhitzer nicht harmlos sind, aber eine weniger schädliche Alternative zum Weiterrauchen darstellen, wenn anders der Verzicht auf die weit gefährlichere Tabakzigarette nicht gelingt.
Frankfurt am Main, im November 2020
Prof. Dr. Heino Stöver