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Abstract

What is to be done when nothing is known yet? How is one to proceed? The very beginning of all scientific activity is rarely treated in undergraduate or graduate studies. The method for systematic observation has been developed exactely for this purpose, the. It consists in the application of five easily memorized formulas. They help the investigator and the researcher be more proficient observers and to make sure that no details have been left out when it comes to abduct hypotheses. The five formulas determine which steps are to be taken at first. They are listed as follows: I. Compare the object of observation to a model and/or to similar cases. II. Separate formal aspects from the contents and analyze each of them. III. Structure the object into functional elements, and explore each of them separately. IV. Explore inconsistencies, contradictions, mistakes, or astonishing coincidences within the context of the established structure. V. Look for the absence of signs (with models and after structuring the object). Testing the Plausibility of Hypotheses Then, after going through the process of systematically registering every import detail, we are able to draw first hypotheses (the abduction process according to Peirce). These hypotheses should consequently be checked for plausibility in listing systematically each sign of evidence for and each against them, in order to get a clear picture of the case
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Vom Nichtwissen zum Wissen
von
HENRIETTE HAAS
I. Zusammenfassung
Der Anfang wissenschaftlicher Tätigkeit besteht aus Beobachten, Abduktion von Arbeitshypothesen
und der Betrachtung des Gesamtbildes aller Zeichen zur Überprüfung der Plausibilität der einzelnen
Hypothesen. Um das unvoreingenommene Erheben des Inventars aller Zeichen zu erleichtern, hat die
Autorin fünf Regeln aus der Hermeneutik hergeleitet (Haas 2003). Hier geht es nun um die logische
Reihenfolge, der die Regeln gehorchen.
Fünf Regeln des systematischen Beobachtens
ISuche zuerst Schemata, Konzepte, Modelle, Standards, ähnliche Fälle.
II
Die kleinste Beobachtungseinheit ist das Zeichen, das vom Beobachtungsgegenstand
ausgesendet wird. Jedes Zeichen muss sowohl formal als auch inhaltlich
beschrieben werden.
III Zerlege das Objekt in die funktionalen Elemente seiner Struktur (anhand der
Modelle). Es existieren oft mehrere Strukturen, z.B. inhaltlicher und formaler Art.
IV Finde Ungereimtheiten und Widersprüche im Verhältnis zum Gesamtbild aller
Zeichen und auf der Basis der Strukturen.
VFinde fehlende Zeichen, die aber gemäß den Strukturen (der Modelle) da sein
sollten.
Die Abfolge der Regeln garantiert, dass der Beobachtungsvorgang wissenschaftlich, d.h.
systematisch in Angriff genommen wird. Die erste Regel ermöglicht die Unvoreingenommenheit der
Wahrnehmung und des Denkens. Die Zweite verlangt, dass die notwendige Unterteilung in die
kleinsten möglichen Einheiten (Zeichen) unternommen werde. Die Dritte stellt sicher, dass die
Gesamtheit der formalen und inhaltlichen Aspekte aller Zeichen erfasst wird. Die Vierte soll anhand
der Ungereimtheiten die Unterscheidung zwischen relevanten und zufälligen Zeichen und zwischen
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Natürlichen und Künstlichen ermöglichen, damit determinierte Sequenzen herausgeschält werden
können. Die letzte Regel rundet den Vorgang ab, indem auch allfällige Lücken erfasst werden.
Alle Indizien für eine Hypothese, alle neutralen Indizien, und alle Indizien gegen die Hypothese
sollen dann in einer Tabelle verdichtet werden, um zu einer plausiblen und ökonomisch
verantwortbaren Entscheidung zu kommen, welche Fährte(n) man weiterverfolgen will.
II. Die Wissenschaftler und der Verdacht
Unerklärte Phänomene oder widersprüchliche Erkenntnisse stünden – so würde man annehmen – im
Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Thomas Kuhn (1962) hat darauf hingewiesen, dass dies
in der sozialen Realität der universitären Forschung oft nicht der Fall ist. Wirklich neue Erkenntnisse
werden gerade von den etablierten Forschern eines Fachs nicht selten „wegerklärt“ und diejenigen
vehement bekämpft, die den Mut haben, sie zu vertreten. Der „Verdacht“, es könnte es sich um etwas
Neues handeln, oder die bestehenden Theorien bedürften einer Modifizierung, wird daher vom
wissenschaftlichen Mainstream oft schon im Keim erstickt.
Einer der Wenigen, der sich mit dem Nichtwissen befasst hat, ist der französische
Geschichtsphilosoph Georges Bataille (1897-1962). Nach Bataille lässt sich jegliche Ordnung nur
konstituieren, indem gewisse Elemente ausgeschlossen werden. Diese werden sozusagen zu
Unverwertbarem erklärt und aus dem Ordnungskörper ausgestoßen. Auf diesem Ausschluss gründet
sich nun unter anderem auch das komplexe Gebäude der modernen Wissenschaft. Wissenschaftliche
Erkenntnis ist demnach Teil der wohlgeordneten Sphäre des Lebens, von Bataille „Homogenität“
genannt, im Gegensatz zur „Heterogenität“, die den übrig bleibenden Rest, der von der
Repräsentation ausgeschlossen ist, betrifft. Die ausgeschlossenen Elemente hören aber als Negierte
nicht auf, Zentrum einer affektiven Bewegung zu sein, die heftig zwischen Anziehung und
Abstoßung oszilliert (Bischof 1984 S.141ff, S.230). Die Spannung zwischen Homogenität und
Heterogenität in der Wissenschaft wurde von Thomas Huxley spaßhaft als Tragödie der
Wissenschaft charakterisiert: „The great tragedy of Science is the slaying of a beautiful hypothesis by
an ugly fact.“
Von allen Wissenschaften hat sich wohl die Kriminalistik am intensivsten mit der Aufgabe der
wissenschaftlichen Erklärung unbekannter Phänomene befasst, weil jeder Kriminalfall anders ist
und weil die Justiz sehr hohe Beweis-Anforderungen stellt, bevor sie einen Tatbestand als erfüllt
ansieht. Kind (1987, S.43) hat die Aufgabe, vor der wir in jedem neuen Fall stehen, so beschrieben:
[T]he identification of pattern in crime investigation may perhaps be defined simply as the
identification of a deterministic sequence in a series of apparently chance events.” Diese Überlegung
gilt nun für den Anfang jeder forscherischen Tätigkeit, die nicht bloß über Bekanntes argumentieren
möchte.
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Im Folgenden habe ich – ausgehend von den Ideen von Peirce und Popper – die Anfangsphasen der
Erkenntnis, wie sie sich in der Praxis manifestieren, skizziert (Abb. 1). Wie ist vorzugehen, wenn
man noch kaum etwas weiß?
Zuerst stehen vier Arbeitsschritte, die ich als „prä-theoretische“ Phasen bezeichnen möchte: (1)
Anzeichen für ein unbekanntes Phänomen tauchen auf: ein Verdacht entsteht. Dann (2) setzt die
Beobachtung ein, das heißt nach Popper (1991, S.501), eine „gezielte und geplante Wahrnehmung“.
Danach (3) werden erste Hypothesen aufgestellt und (4) auf ihre Plausibilität geprüft. Erst in der
letzten Phase (5) geht es um die Bestätigung oder Widerlegung einer Theorie. Man tut gut daran, die
Phasen der Beobachtung, der Abduktion und der Kritik an den Hypothesen zu trennen, denn sie
beinhalten grundlegend verschiedene Denkweisen.
III. Die fünf Regeln des systematischen Beobachtens
Das reine Beobachten und Beschreiben eines Phänomens – ohne es sofort interpretieren zu wollen
ist eine intellektuelle Aktivität, die dem Menschen schwer fällt. Wir haben Tendenz, schon beim
ersten Augenschein umfassende Theorien aufzustellen und dann „rückwärts“ einzelne Details als
Argumente für ihre Richtigkeit anzuführen. Das Vorgehen führt oft zu unfruchtbaren Kontroversen.
Um diese zu vermeiden, soll zuerst ein Inventar von Zeichen aufgenommen werden. Die Autorin hat
fünf Regeln aufgestellt, wie dieses Inventar zu erheben sei. Das Schema der fünf Regeln wurde
ursprünglich für die Anwendung in der Kriminalistik konzipiert und aus Prämissen der
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Wissenschaftstheorie und Erkenntnissen der kognitiven Psychologie hergeleitet (in Haas 2003). Es
besteht aus der Integration verschiedener hermeneutischer Ansätze in eine einzige logisch stringente
Abfolge von fünf Regeln. Die so geordnete Arbeitsweise soll das Lesen von Texten, von Bildern
und andern Objekten (z.B. mathematischen Gebilden, archäologischen Ausgrabungen,
kriminalistischen Tatorten) verallgemeinern. Da es sich bei der Methode um ein Denktraining
handelt, muss man sie, ähnlich wie Bewegungsabläufe im Sport, selbständig immer wieder an
vielfältigen Aufgaben anwenden und üben.
Regel 1: Suche Modelle, Standards, ähnliche Fälle
Ciccone (1998, S.17) schreibt: „Wahrnehmung ist eine Aktivität. Das Wahrnehmen ist nicht einfach
ein passiver Abdruck der Realität in eine Gussform, die dann identische Replikas produzieren
könnte. Wahrnehmung konstruiert und erfindet erst die Realität im Laufe ihrer Entdeckung.“ Die
Suche nach Vorbildern, Standards oder ähnlichen Fällen steht am Anfang jeder geplanten
Wahrnehmung. Um die Priorität der dieser Regel vor den andern zu verstehen, müssen wir uns mit
der Wahrnehmungspsychologie auseinandersetzen. In der kognitiven Psychologie unterscheidet man
zwei Hauptströmungen. Die Direct Perceptionists gehen von der Physiologie aus. Sie behaupten,
Wahrnehmung sei ein rein physikalischer Prozess, eine Reaktion auf äußere Stimuli. Die
Konstruktivisten aber nehmen an, die Wahrnehmung sei ein interaktiver Prozess zwischen äußeren
Stimuli und mentalen Schemata. Die Frage, ob man etwas vollständig Neues entdecken kann, wofür
noch kein Schema existiert, steht im Zentrum der wissenschaftlichen Kontroverse. Neisser (1976) hat
nun eine Synthese der sich widersprechenden Theorien entworfen, wonach die Wahrnehmung eine
Aktivität ist (zit. in Eysenck und Keane, 1995, S.81), die auf sich selber rückwirken und sich so
verbessern kann.
Die Schemata bestehen aus der Ansammlung von Erfahrungs-Wissen. Diese mentalen Konzepte
lenken die Aufmerksamkeit auf die relevanten Stimuli. Es gibt jedoch auch Stimuli in der Umwelt,
die nicht in die Schemata passen. Dann muss das gespeicherte Wissen entsprechend modifiziert
werden. Je nach Bedürfnis können wir an einem beliebigen Punkt des Zyklus einsteigen.
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Natürlicherweise beginnen wir meistens am Punkt „Exploration“. Aber, und daraus leitet sich die
erste Regel des systematischen Beobachtens her, wir können auch am Punkt „Schemata“ einsteigen,
indem wir zuerst Modelle oder Konzepte konsultieren.
Als Konzepte oder Schemata im kognitiven Sinn gelten auch wissenschaftliche Theorien, die innere
Struktur und Funktionsweise eines Phänomens erhellen. Wenn ein Phänomen so selten ist, dass es
dazu noch keine Theorie gibt, soll man möglichst viele ähnliche Fälle zum Vergleich hinzuziehen,
indem man die Literatur und Kollegen konsultiert. Wir sollten also bereits mit der Suche nach
Konzepten beginnen oder diese zumindest in Auftrag geben, bevor wir uns ins Feld stürzen. Der
Vergleich mit einem Modell oder einem Standard lenkt die Aufmerksamkeit auf Details, die sonst
unbemerkt geblieben wären.
Die menschliche Wahrnehmung läuft natürlich niemals unabhängig von vorhandenen Denkschemata
ab. Die so genannte Lebenserfahrung bildet eine wichtige „Alltagstheorie“, ein Schema, dessen wir
uns nicht entledigen können und auch gar nicht sollten. So ist die Berufserfahrung als Modell
wichtig, sie hat aber den Nachteil, allzu sehr durch subjektive Erfahrungen und individuelles Erleben
geprägt zu sein. Daher dient die Suche nach Vorbildern, Standards, nach ähnlichen Fällen dazu,
unser im Gedächtnis gespeichertes, individuelles Repertoire an Denkschemata durch objektivere
Erkenntnisse aus verschiedenen Blickwinkeln zu erweitern. Der Vergleich mit einem Modell leistet
aber noch mehr, indem er nämlich hilft, nicht nur allfällige Ähnlichkeiten zwischen dem
Beobachtungsgegenstand und dem konsultierten Modell festzustellen, sondern auch die Differenzen.
Erst durch die Differenz zum Bekannten kann etwas Neues als solches erkannt werden.
Die Öffnung des Bewusstseins muss also unbedingt am Anfang des Beobachtungsprozesses stehen,
damit man nicht in die missliche Lage kommt, dass Wichtiges unwiderruflich verloren geht.
Regel 2: Inhalt und Form der Zeichen getrennt beobachten
Wenn wir nun die relevanten Schemata gefunden haben, wenden wir uns der Exploration zu. Woraus
besteht aber die Umwelt, oder anders gesagt, welches ist aber die kleinste, abstrakte Einheit des
Beobachtungsgegenstandes? Es ist das Zeichen. Jede Wissenschaft beginnt mit der Beschreibung der
Zeichen, die von materiellen und immateriellen Gegebenheiten hinterlassen wurden. Nach Pierce
(1931, 2. 228) ist ein Zeichen "etwas, das für etwas anderes steht". In der Medizin nennt man das
Zeichen „Symptom“, in der Kriminalistik „Indiz“, in der Jagd „Spur“, sonst meistens Zeichen (in der
Meteorologie etwa: „Die Zeichen stehen auf Sturm“). Ausgehend von der Definition schreibt zweite
Regel vor, dass man jedes Zeichen sowohl vom Inhalt als auch von der Form her beschreiben muss.
Saussure (1916) hat hervorgehoben, dass die äußere Erscheinung (Signifikant) eines Zeichens mit
seiner Bedeutung (Signifikat) nichts gemein haben muss. Die Erscheinung des linguistischen
Zeichens bestehend aus den 6 Buchstaben F R O S C H hat beispielsweise nichts mit einem Tier zu
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tun. Das Wort wird ausschließlich durch die Konvention mit dem assoziiert. Der Begriff geht
hingegen in seiner Bedeutung weit über das Tier hinaus, etwa in der Metapher: „Sei kein Frosch!"
Gemäß der zweiten Regel müssen wir die duale Natur des Zeichens berücksichtigen und daher gilt
es, sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht Modelle hinzuziehen.
Die Regel des Zeichens verweist auch auf die Zulässigkeit von Deutungen. Nordby (2000, S.206)
erklärt, dass ein wichtiger Teil des Beobachtens im Erkennen der Bedeutung eines Zeichens liegt und
in der Aufgabe, es in seinem Zusammenhang zu rekonstruieren. In der Semiotik hat Eco (1994, S.48)
darauf hingewiesen, dass wir ein Zeichen immer als ein codiertes Signal innerhalb eines bestimmten
sozialen, kulturellen und individuellen Kontextes verstehen müssen. Das Zeichen erhält also seine
Bedeutung durch den Zusammenhang, in dem es steht. Im Satz: Meine Tante ist gestorbenhat
„sterben“ eine andere Bedeutung als im Satz: „Wir sind fast gestorben vor Lachen“.
Es ist eine Tatsache, dass die neutrale Beschreibung des Signifikants (der Form von Zeichen) weitaus
einfacher ist als diejenige des Signifikats (des Inhalts). Rückschlüsse auf die Bedeutung eines
Zeichens sind notwendigerweise Interpretationen. Im Zweifelsfall müssen wir somit beim
Beschreiben der Bedeutung gewisser Zeichen auf ihre Mehrdeutigkeit verweisen.
Regel 3: Zerlege das Objekt in die funktionalen Elemente seiner Struktur (den Modellen
entsprechend)
Die Eigenschaft des Zeichens, nur aus seinem Kontext heraus erklärbar zu sein, führt direkt zur
dritten Regel, die sicherstellen soll, dass der Kontext in seiner Gesamtheit erfasst wird. Man fragt
sich, wo man mit der Beobachtung eines komplexen Gegenstandes beginnen soll und wie man
wissen kann, ob alle Eigenheiten vollständig erfasst worden sind. Bierwisch (1966, S.78) meint,
„dass menschliche Äußerungen und Verhaltensweisen nicht als isolierte Einzelerscheinungen
betrachtet werden, sondern auf dem Hintergrund eines systematischen Zusammenhangs, der ihre
Struktur bestimmt.” Für die Weiterentwicklung der Prinzipien der systematischen Beobachtung
müssen wir daher mehr über Strukturen erfahren. Die Linguistik, die Wissenschaft der
Sprachstrukturen hat sich als Erste mit dem Problem der Unterteilung eines Objekts in funktionale
Einheiten befasst. So Grawitz (2001 S.318):
„Der Strukturalismus hat eine eigenständige Konzeption des linguistischen
Systems: es wird grundsätzlich als ein System von Zeichen aufgefasst […] Dieses
System entsteht als Netz von Unterschieden zwischen den Zeichen […]
Linguistische Forschung besteht von da an vor allem aus der Definition minimaler
Einheiten, welche durch ein Umwandlungs-Verfahren von einander getrennt
werden: alles was die Bedeutung verändert, wenn man es durch ein anderes
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Element ersetzt, kann als minimale Einheit aufgefasst werden.“
Minsky (1990, S.122) unterstreicht, dass jeder Struktur Funktionen innewohnen und ihre
Komponenten entsprechende Unterfunktionen vertreten. Man kann nun strukturalistische Prinzipien
auf das menschliche Verhalten schlechthin anwenden. Grawitz (2001, S.431) beschreibt die Position
des französischen Ethnologen Lévi-Strauss (1958), der diese Methode auf die Sozialwissenschaften
angewendet hat:
„[E]ine Struktur impliziert eine begrenzte Anzahl von Merkmalen. Deren
Kombination und Transformation erlaubt es, von einem System zum nächsten
überzugehen und ihre Beziehungen zu verstehen. Die Idee einer Struktur enthält ein
Element von Transformation und Vorhersage.”
Die Strukturierung des Beobachtungsgegenstandes in die von den Modellen bekannten funktionalen
Elemente, dient dazu, die Vollständigkeit der beobachteten Menge zu gewährleisten. Sie liefert
Wegweiser, wie man vorgehen kann, wenn der Beobachtungsgegenstand zu groß ist, um auf einen
einzigen Blick erfasst zu werden. Mathematisch ausgedrückt können wir jeden
Beobachtungsgegenstand als endliche Menge von n einzelnen Elementen ansehen:
. Sobald diese Elemente definiert sind, können wir der Reihe nach eines nach
dem andern beschreiben. Die Elemente einer Interaktion kann man sich etwa durch die W-Fragen
merken: „Wer hat was, wem, womit, wo, wann, warum, und unter welchen Umständen getan?“
Wir erinnern uns daran, dass oft mehrere taugliche Modelle existieren und dass sowohl formale als
auch inhaltliche Aspekte beobachtet werden sollen. Das Prozedere muss daher mit verschiedenen
Strukturen (Mengen M1, M2, etc.) durchgeführt werden und ist mitunter aufwendig. Ein Brief wäre
in die formale Struktur: "Buchstaben, "Zahlen", "Satzzeichen", "Wörter", "Sätze", "Abschnitte",
"Rechtsschreibung", "Grammatik", "Dialekte", "Stil", "Reim" zu untergliedern und in seine
inhaltliche Struktur: "Datum", "Anrede", "Textkörper mit dem Anliegen", "Grußformel",
"Unterschrift".
Regel 4: Finde Ungereimtheiten und Widersprüche im Verhältnis zum Gesamtbild aller
Zeichen
Wir erinnern uns an die Umstände des Auftretens von unbekannten Phänomenen, dass sie nämlich in
rein zufällige Elemente eingebettet sind (Kind 1987, S.43) und dass wir den Unterschied zwischen
dem determinierten Element und dem rein Zufälligen am Anfang der Beobachtung nicht kennen
können. Einzig gewisse Widersprüche können auf die Determiniertheit der einen Sequenz im
Vergleich zum unbedeuteten Rest verweisen. Die vierte Formel der Beobachtung, diejenige des
Notierens und der Aufklärung von Ungereimtheiten und Anomalien ist die klassische Regel von
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Sherlock Holmes und Sigmund Freud. Vergessen wir dabei wiederum nicht, dass sowohl in
formaler als auch auf inhaltlicher Hinsicht auf Ungereimtheiten geachtet werden muss. Detektive
schenken den Anomalien vor allem darum viel Beachtung, weil sie den Verdacht hegen, es könnte
sich dabei um künstliche Zeichen handeln. Künstliche Zeichen besitzen einen systematischen
Stellenwert, insofern als der Täter sie absichtlich gelegt hatte, um eine Mitteilung zu machen, um die
Spuren zu verwischen, oder gar die Polizei in die Irre zu führen. Freud schrieb (1901, S.79): „Man
merkt dann mit Erstaunen ... wie der Sprechfehler die innere Unaufrichtigkeit blossgelegt hat. Das
Versprechen wird hier zu einem mimischen Ausdrucksmittel, freilich oftmals für den Ausdruck
dessen, was man nicht sagen wollte, zu einem Mittel des Selbstverrats.“
Im Gegensatz zur Holmesschen Logik ist das Aufdecken von Ungereimtheiten allerdings weder die
einzige, noch die wichtigste Art von Schlussfolgerung, um ein Problem zu lösen. Vor allem steht sie
nicht am Anfang des Beobachtungsprozesses, sondern erfolgt erst nach der Unterteilung des
Beobachtungsgegenstandes in seine funktionalen Elemente. Die Suche nach Anomalien soll nämlich
systematisch vorangetrieben werden, was auf dem Hintergrund der bereits definierten Struktur besser
gelingt, als wenn man sich vom Zufall leiten lässt. Das Aufspüren von Widersprüchen gewährleistet
nicht zuletzt eine gewisse Kontrolle, ob die Modelle adäquat ausgewählt wurden. Der Grund dafür,
dass die Holmes'sche Regel erst an vierter Stelle kommt, liegt wiederum darin, dass die betreffenden
Zeichen erst im Zusammenhang ihres Kontextes und auf der Basis einer funktionalen Struktur ihren
(ev. widersprüchlichen) Sinn entfalten.
Regel 5: Finde fehlende Zeichen
Wer ein Auto reparieren will, muss nicht bloß kaputte Teile reparieren, sondern er muss auch
fehlende Teile aufspüren und ersetzen. Dazu zieht er mit Vorteil den Konstruktionsplan bei. Die
fünfte und letzte Regel des systematischen Beobachtens bezieht sich somit auf das Aufspüren von
Dingen, die fehlen, die aber vorhanden sein sollten. Anhand der Grundelemente der Modelle
kann man eventuelle Lücken im Beobachtungsgegenstand notieren. Das
Aufspüren von Elementen, die nicht da sind, obwohl sie es sollten, schließt die Beobachtung ab.
Diese Regel soll gewährleisten, dass die Mengen M1, M2, ... der funktional relevanten Elemente
vollständig erfasst wurde.
Im Bezug auf die Relevanz des Beobachtens fehlender Zeichen, bemerkt Nordby (2000, S.63) den
Unterschied zwischen Indiz und Beweis in der Kriminalistik: “Absence of proof is not proof of
absence, but the absence of a sign can itself be a sign.”
IV. Unvoreingenommes und stetiges Erheben von Daten
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In der Phase des Beobachtens wollten wir umfassend und kritikfrei alles registrieren, was relevant
sein könnte. Erst nach dem Erfassen möglichst vieler Elemente, können wir herausfinden, welche
unter ihnen möglicherweise determiniert sind. Unvoreingenommenheit als eine der wichtigsten
Voraussetzungen, unter denen Erkenntnis stattfinden kann, wurde vom Beirat des Instituts für
angewandtes Nichtwissen in der ersten Nummer der ungewußt gefordert: "gerade auch die
Auswertung von Informationen ohne die Erkenntnis, welche Informationen für die Erreichung eines
Ziels relevant sein werden, ist zu berücksichtigen" (Beirat 1992). Unvoreingenommenheit ist
besonders darum nötig, weil wir gemäß Bataille davon ausgehen müssen, dass das, was wirklich neu
und relevant ist, uns sehr oft nur wie eine Verschmutzung oder eine Störung vorkommt.
Nicht in allen Fällen gelingt es, in einem einzigen Durchgang alle Daten zu erfassen. Es kommt vor,
dass trotz aller Systematik eine wichtige Information, die auf eine neue Spur verweist, erst am
Schluss auftaucht oder bemerkt wird. Gewisse Informationen können sich nur wechselseitig erhellen
(Seiffert 1983, Bd. 2, S.123). Im Sinne des hermeneutischen Zirkels muss der Kreislauf der
systematischen Beobachtung der Daten unter Umständen mehrmals durchlaufen werden.
V. Die Abduktion: Hypothesen bilden
Der Begriff der Abduktion, oder das Formulieren einer Hypothese, wurde von Peirce 1866 als
Ergänzung zur Deduktion und Induktion in die Logik eingeführt. Abduktion schließt von einem
vorgegebenen Resultat und einer möglichen oder spontan formulierten Regel auf einen konkreten Fall
(Peirce 1960 (2), 461-516, 619-644, 694-751).
Hypothesen stellen sich bereits während des Beobachtens ein: man notiert sie sich am besten laufend,
um sie später auf ihre Plausibilität testen zu können. Die Hypothesenbildung (zum Beispiel im
Kriminalfall) lässt sich grundsätzlich nicht auf mechanische Regeln zurückführen, sie bleibt ein
kreativer und letztlich unerklärbarer Prozess. Wirth (2005, S. 3) schrieb:
„Es ist ein epistemologischer Gemeinplatz, dass das Neue, also die „Entdeckung“,
die „Erfindung“, der „Einfall“, nicht planbar ist. Schon in Lichtenbergs
Aphorismen heißt es: „Alle Erfindungen gehören dem Zufall an, die eine näher, die
andere weiter vom Ende, sonst könnten sich vernünftige Leute hinsetzen und
Erfindungen machen, so wie man Briefe schreibt“. Die gleiche Auffassung vertritt
die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts. So schreibt Popper in seiner Logik
der Forschung, dass es „eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas
Neues zu entdecken, nicht gibt“.“
Für eine gelungene Abduktion empfiehlt es sich mit einem Brainstorming, verschiedene Varianten
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von Hypothesen aufzustellen und nicht bloß eine Einzige. Oft ist es übrigens schwieriger, Ideen für
gute Modelle und für die beste Strukturierung im Beobachtungsprozess zu entwickeln als (mehr oder
weniger wilde) Hypothesen zum Gesamtbild des Falles aufzustellen.
Verschiedene Wissenschaftler haben sich zur Frage geäußert, wie die Ideenbildung im konkreten Fall
erleichtert werden könne. Was tun, wenn man gar nichts weiß? Popper (1979, S. 390) hat
vorgeschlagen: Man beginne mit irgendwelchen willkürlichen, vereinfachten oder sogar untauglichen
Lösungsvorschlägen und versuche, diese durchzuarbeiten, zu kritisieren und schlussendlich zu
verbessern. Diese Empfehlung imitiert das Vorgehen der Natur, die ebenfalls in zwei grundsätzlich
verschiedenen Prozessen, nämlich blind variation und selective retention, Neues kreiert (Campbell
1960).
Weiter erhalten wir durch die Bataillesche Idee der heterogenen Sphäre (als Gegensatz zum großen
Bereich der wissenschaftlich wohl erforschten und beschriebenen Phänomene) Hinweise, wo wir
überhaupt suchen müssen, um Neues zu entdecken. Wir müssen uns nämlich weg von den etablierten
Theorien bewegen und uns dem „Abfall“, den „Verunreinigungen“, den „Störfaktoren“ und
besonders heute – dem „politisch Unkorrekten“ zuwenden. Die Schlussfolgerungen, die man aus den
Überlegungen Batailles ziehen kann, münden direkt in die Theorie Kuhns (1962). In sehr vielen
Fällen sind Themen, die sich für die Erforschung von wirklich Neuem eignen, genau diejenigen, die
im Kreis der Peers zunächst wenig bis keine Anerkennung versprechen. Beide Autoren verweisen
somit implizit darauf, dass Originalität nicht ausschließlich eine kognitive Fähigkeit ist, sondern
durch die Charaktereigenschaft Zivilcourage entscheidend gefördert wird. Wer etwas Neues
entdecken will, darf keine Angst davor haben, sich innerhalb der herrschenden Ideologie „die Hände
schmutzig zu machen“.
Der Ethnopsychoanalytiker Devereux (1988) legt in seiner Monographie Angst und Methode in den
Verhaltenswissenschaften den Akzent auf die Tatsache, dass sozialwissenschaftliche Daten immer
und bei allen Forschern Auslöser persönlicher Ängste und Widerstände sind, weil sie deren
Selbstbild und Beziehungsmuster beeinflussen und mitunter in Frage stellen könnten. Meistens sind
die Widerstände unbewusst und werden gerade von Intellektuellen mit intelligenten
Rationalisierungen abgewehrt. Sofern sie nicht gründlich analysiert werden, stehen sie der Kreativität
im Wege und verzerren die Wahrnehmung und die Interpretation.
VI. Hypothesen auf ihre Plausibilität überprüfen
Wer nun kritiklos Daten sammelt und fröhlich zahlreiche Hypothesen in die Welt stellt, geht natürlich
das Risiko ein, sich in Spekulationen zu versteigen. In der vierten Phase müssen einerseits eine
kritische Bewertung der einzelnen Informationen und andererseits Plausibilitätsüberlegungen zu
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möglichen Hypothesen angestellt werden. Nordby (2000, S.32) verweist in seinem Zitat auf diesen
Schritt: “Abduction, Peirce says, is the proposing of some explanation that is likely in itself (7.202)
but that must be tested before anyone can be fully justified in accepting it.” Die Kritik soll sich nicht
bloß auf isolierte Details fixieren, sondern alle vorhandenen Elemente in ihrem jeweiligen Kontext
berücksichtigen.
In vielen Fällen ist entweder grundsätzlich kein direkter Beweis möglich (z.B. bei Prognosen), oder
es müssen – vor dem Vorliegen von empirischen Beweisen Entscheidungen gefällt werden, die
festlegen, in welche Richtung weitere Forschungen gehen sollen. Zum Beispiel in der Kriminalistik
oder der Geschichtswissenschaft, müssen wir auf der Basis von Indizien Plausibilitätsüberlegungen
zu verschiedenen Hypothesen anstellen, die dann wegweisend sind. Dabei stellt man eine Hypothese
"H0" ihrer Antithese ("Nicht-H0") konkret gegenüber (das Wetter wird "schön" oder "nicht schön").
Da jedes Indiz für sich alleine genommen, allzu vieldeutig ist und nur in seinem jeweiligen Kontext
interpretiert werden kann, ist für die Plausibilitätsabschätzung eine Verdichtung der Informationen
unerlässlich. Diese erreicht man, indem man in einer Tabelle in der ersten Spalte alle Indizien für H0
aufführt, in der zweiten, alles was man noch nicht zu einer Hypothese zuordnen kann und in der
dritten alle Indizien, die gegen H0 sprechen. So erhält man einen ersten Überblick über die Lage,
wenn es nicht möglich ist, die jeweiligen Alternativen in kurzer Zeit zu überprüfen.
Wenn die objektive Wahrheit nicht einfach zu bestimmen ist, oder wenn es sie nicht gibt, dienen
Plausibilitätsüberlegungen nicht zuletzt dazu, das weitere Vorgehen möglichst ökonomisch zu
gestalten. In einer kriminalpolizeilichen Ermittlung muss man beispielsweise Entscheidungen fällen,
wo und mit wie viel Aufwand weiter ermittelt werden soll.
VII. Zur Illustration: Anleitung für das Lösen von Sudoku-Rätseln
Zur Illustration des Vorgehens nehmen wir uns die Sudoku-Rätsel vor (japanisch 数独). Diese
Weiterentwicklungen des lateinischen Quadrats bestehen aus 81 Feldern, die man mit den Zahlen 1
bis 9 füllen muss. Wipikedia (2005) berichtet über die Herkunft des Rätsels:
„Im April 1984 erschien diese Art von Puzzle in Japan in einer monatlichen
Rätselzeitschrift des Nikoli-Verlags unter dem Titel "Sūji wa dokushin ni kagiru",
was etwa soviel heißt wie: "Die Ziffern dürfen nur einmal vorkommen". Abgekürzt
heißt es dann Sudoku (sū = Ziffer, doku = einzeln). Mathematisch untersucht
wurden solche Quadrate in allgemeiner Form im 18. Jahrhundert vom Schweizer
Mathematiker Leonhard Euler.“
Abb. 3: Sudoku aus dem Handelsblatt vom 16. Juni 2005
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Die leeren Felder sind so zu ergänzen, dass die Zahlen 1 bis 9 in jeder Zeile und in jeder Spalte genau
einmal vorkommen. Zusätzlich dürfen die Zahlen 1 bis 9 auch innerhalb jedes 3x3 Unterquadrates
ebenfalls nur einmal vorkommen.
Die Quadrate werden in der Regel so konstruiert, dass es genau eine Lösung gibt. Das Beispiel aus
dem Handelsblatt könnte selbstverständlich auch ohne die systematische Beobachtung gelöst
werden. Es dient der Illustration, wie man ein Problem grundsätzlich angehen kann, wenn man noch
keine Tricks und Anleitungen kennt. Zunächst wird man es mit Ausprobieren versuchen. in Die
Schwierigkeit dabei ist, herauszufinden, welches die ersten Schritte sind und welche man auf später
verschieben kann oder muss. Wer rein heuristisch vorgeht, verliert sich in Details und braucht zu viel
Zeit, um die Lösung zu finden. Systematisches Beobachten definiert nun die ersten fünf Schritte, um
Probleme und Lösungswege besser einzugrenzen, bevor man allenfalls anfängt, auszuprobieren.
Nach der Anwendung der fünf Regeln erhalten wir ein Gesamtbild, das erste Schlüsse erlaubt.
1. Modelle hinzuziehen
Auf der Suche nach einem Modell wird man vielleicht zuerst auf das Kreuzworträtsel stoßen. Dieses
stellt sich dann aber als wenig ergiebig heraus. Die Modellsuche hängt oft von einer guten Idee ab.
Beim Sudoku erinnert die quadratische Struktur äußerlich an das Schachspiel. Wir stellen daher die
beiden Spiele nebeneinander, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu entdecken. Das physische
"Nebeneinander-Stellen" von Beobachtungsobjekt und Modell scheint so banal, dass man sich
vielleicht versucht fühlen könnte, darüber hinweg zu gehen. Das soll man aber nicht tun! In gewissen
Fällen verbirgt sich das Wesentliche nämlich in einem Detail, das sonst unbemerkt bleibt.
Abb. 4: Vergleich mit dem Modell des Schachspiels
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(Modell aus http://chess.about.com/library/ble12set.htm)
Das Schachspiel hat als Elemente einerseits das Brett mit den identifizierbaren Feldern (8x8=64
Elemente) und andererseits die schwarzen und weißen Figuren (2 mal 16 Elemente). Das Sudoku hat
ebenfalls Felder, aber 9x9=81 und nicht 64, und anstatt mit Figuren spielt man mit der Zahlenmenge
M={1,2,3,4,5,6,7,8,9}. Aus dem Vergleich mit dem Schachbrett, können wir den Schluss ziehen,
dass es sinnvoll ist, die Felder des Sudoku nach Zeile und Spalte zu bezeichnen, damit man jedes
identifizieren kann. Nebenbei sei erwähnt, dass noch andere Modelle möglich sind, etwa
geographische Landkarten.
2. Inhalt und Form trennen
In der Mathematik sind Zeichen eindeutig definiert, d.h. der Inhalt ist durch seine Form bestimmt und
es gibt es nur eine Form für jeden Inhalt. So müssen wir hier die Trennung zwischen Inhalt und
Form nicht vollziehen.
3. Elemente der Struktur definieren
Mit dem Benennen der Zeilen und Spalten sind noch nicht alle Elemente erfasst, denn die Zahlen, die
in die Felder gehören, sind ebenfalls Elemente der Struktur.
Abb. 5: Jedes einzelne Element in die Struktur einordnen
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Wir fügen also alle fehlenden Zahlen zusammen in die unbesetzten Felder ein (Abb. 5).
4. Ungereimtheiten und Widersprüche finden
Weil die Zahlen 1 bis 9 je nur einmal vorkommen dürfen pro Zeile, Spalte und Unterquadrat, sind
beim Einfügen aller fehlenden Elemente viele Widersprüche entstanden, die wir nun auflösen
müssen. In der ersten Zeile löschen wir überall die 8 und die 9, in der zweiten Zeile die 1,3,4 und die
5 und so weiter. Nach der Bereinigung der Zeilenwidersprüche fangen wir mit den Spalten an. Wir
beginnen mit der obersten Zeile. Im Feld b9 müssen wir die Zahlen 2,3,5,6 eliminieren, denn sie
kommen in der Spalte b bereits schon einmal vor. Im Feld d9 müssen wir die 4 streichen, im e9 die
1,4,5 etc. Im dritten Durchlauf bereinigen wir die Unterquadrate. Zuletzt können wir erneut in den
Zeilen und Spalten einige Widersprüche entdecken und erhalten die Abbildung 6.
Abb. 6: Widerspruchsbereinigung nach Unterquadraten, Spalten und Zeilen
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Nun sind einige Felder (i3, h1, g5, g6) eindeutig bestimmt; andere enthalten nur noch zwei
Alternativen.
5. Fehlendes finden
Jetzt geht es um das Aufspüren von Unterquadraten, in denen eine Zahl in allen außer einem einzigen
Feld fehlt. In der Abbildung 6 kann man das Feld i4 isolieren, welches als Einziges innerhalb des
Unterquadrats g4 bis i6 die Zahl 4 enthält. In allen andern Feldern dieses Unterquadrats (g4, h4, g5,
h5, i5, g6, h6, i6) fehlt die 4. Jetzt kann man die Varianten 1,3 und 8 im Feld i4 streichen. Diese
Bereinigung führt dann dazu, dass man auf der Zeile 4 und der Spalte i je weitere Felder präzisieren
kann (z.B. das Feld i9, wo man die Zahl 4 streicht).
Das Prozedere des Aufspürens einzigartiger Zahlen innerhalb eines Unterquadrats, einer Spalte oder
einer Zeile muss in mehreren Durchgängen vollzogen werden, was dann wiederum zu neuen
Widersprüchen führt. So kommen wir Schritt für Schritt zur Abbildung 7, die nun weder
Ungereimtheiten, noch überzählige Elemente enthält.
Am Ende der Weisheit angelangt
Es kann vorkommen sowohl im Leben und als auch in der Wissenschaft dass man mit seiner
Weisheit am Ende ist. Wenn kein Rezept für weitere Schritte zur Verfügung steht, kommen wir nicht
umhin, Plausibilitätsüberlegungen anzustellen. In vielen beruflichen Entscheidungen, wie zum
Beispiel jenen, die sich auf eine Vorhersage der Zukunft beziehen, hilft nur noch der „gesunde
Menschenverstand“ oder die Statistik. Oft sind auch ökonomische Kriterien einzubeziehen, d.h.
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welche Wege führen mit dem geringsten Aufwand unter günstigen Umständen zum Ziel.
In Abbildung 7 lohnt es sich offensichtlich mehr, mit einem der zwölf Felder, die nur noch zwei
Alternativen (b9, a7 etc.) enthalten, zu experimentieren als mit denjenigen, die mehrere Alternativen
(a1, d3 etc.) enthalten. Logischerweise können wir irgendein Feld mit nur zwei Alternativen nehmen
(hellblau) und eine davon willkürlich festlegen. Selbst wenn wir die Falsche gewählt hätten (und
somit einige der Zahlen 1-9 mehr als einmal pro Zeile, Spalte oder Unterquadrat vorkämen), wäre das
Rätsel gelöst, weil wir ja dann wüssten, dass die andere Alternative die Richtige sein muss.
Abb. 7: Mit Systematik kommt man nicht mehr weiter
Aus ökonomischer Sicht möchten wir ein Feld so auswählen, dass nachher ein möglichst geringer
Aufwand resultiert und wir nach dem Festlegen der einen Zahl möglichst viele andere auf einen Blick
eliminieren können. Man sieht, dass die beiden Alternativen 1/7 und 2/7, die je vier mal vorkommen,
die häufigsten sind. Von den einzelnen Zahlen, die noch zu bestimmen sind, ist die 7 die häufigste
(9x) und die 1 die zweithäufigste (7x). Somit wählen wir mit Vorteil ein Feld mit den Alternativen
1/7, zum Beispiel b9. Zum Zweck der Demonstration können wir auch noch Überlegungen anstellen,
welche der beiden Zahlen 1 und 7 man zuerst festlegen soll. Für die Hypothese (H0), dass die Zahl 7
in Feld b9 das Rätsel am schnellsten auflöst, erhält man folgende Tabelle (Abb. 8):
Abb. 8: Indizien pro und kontra die Hypothese H0, dass b9=7 die ökonomischste Art ist, das
Rätsel zu lösen
Für H0 Neutrale Indizien Gegen H0
1b9 gehört zu den Feldern mit
nur noch 2 Alternativen
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2
b9 gehört zu den Feldern mit
der Auswahl 1/7 und 2/7, die
am häufigsten vorkommen
3
Die Zahlen 3 und 9 stehen
weitaus weniger häufig zur
Wahl als die 7, die 1 und
die 2
4
Die 7 ist die häufigste noch
unbestimmte Zahl (9x), die 1
die zweithäufigste (7x).
Daraus ist b9 als Feld besser
gewählt als f1, f8, g8, g9 mit
der Alternative 2/7
5
Es gibt 3 andere Felder (a6,
a7, d4), die dieselben
Bedingungen erfüllen wie
b9. Eines davon könnte
ökonomischer sein.
6
In der betreffenden Zeile,
Spalte und im Unter-quadrat
ist die Zahl 7 häufiger
unbestimmt als die 1. Daher
sind die Odds dass die Zahl
7 in Feld b9 die Richtige ist
(1:6), kleiner als die Odds,
dass es die 1 ist (1:5).
Aus Tabelle der Hypothesenüberprüfung wird nun klar, dass die Wahl des Feldes b9 nicht schlecht
ist, dass aber unsere Chance, mit der 7 richtig zu liegen, kleiner ist als diejenige mit der 1. Wir wählen
also die 1. Tatsächlich hat diese Überlegung direkt zur Lösung geführt (Abb. 9).
Abb. 9: Lösung anhand der experimentellen Bestimmung von Feld b9 nach
Plausibilitätsüberlegungen
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VIII. Ausblick
Der Mensch tut sich schwer mit dem, was er nicht weiß, und zwar ganz besonders der
Wissenschaftler. Nicht zufällig wird der Anfang wissenschaftlicher Tätigkeit, das Stadium vor der
Theorienbildung, im Universitätsbetrieb kaum thematisiert. Vorschnell tendieren wir dazu,
Erklärungen zu liefern, oder wir befassen uns ausschließlich mit dem, was wir bereits zu kennen
glauben. Das Unbekannte manifestiert sich denn auch häufig als ungewollte Störung der Dinge, als
Verschmutzung der alten „Wahrheit“. Im Bewusstsein unserer Schwäche können wir uns aber durch
systematisches Vorgehen mehr Halt geben, um das Stadium der Ungewissheit durchzuhalten und um
einigermaßen unvoreingenommen ein möglichst vollständiges Inventar der Zeichen zu erstellen. Erst
ein solches ist eine solide Basis für die Abduktion glaubhafter Hypothesen.
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Literatur
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Matthes & Seitz. (Originale 1933/4, 1956).
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1916).
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a.M.: Suhrkamp TB..
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Wirth, U. (2003), Die Phantasie des Neuen als Abduktion. Deutsche Vierteljahresschrift 77, Heft 4,
591-618.
... Die Wissensgesellschaft konzentriert sich auf eine mechanistische Verabreichung von disziplinierter und portionierter Information und ignoriert ihr eigenes Fundament. Die frühen Phasen klassischen wissenschaftlichen Arbeitens -Theoriebildung, Formulierung von Hypothesen und Antithesen -sind im Wesentlichen Nichtwissensmanagement; und es fragt sich, warum diesem in der Hochschulbildung so wenig Gewicht zukommt (Haas 2005). In manchen Disziplinen scheint gar mit der Zunahme an existierender Information eine gewisse Theoriefeindlichkeit genährt zu werden. ...
... Die Wissensgesellschaft konzentriert sich auf eine mechanistische Verabreichung von disziplinierter und portionierter Information und ignoriert ihr eigenes Fundament. Die frühen Phasen klassischen wissenschaftlichen Arbeitens -Theoriebildung, Formulierung von Hypothesen und Antithesen -sind im Wesentlichen Nichtwissensmanagement; und es fragt sich, warum diesem in der Hochschulbildung so wenig Gewicht zukommt (Haas 2005). In manchen Disziplinen scheint gar mit der Zunahme an existierender Information eine gewisse Theoriefeindlichkeit genährt zu werden. ...
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Vorsichtigere, behutsamere und auf Nachhaltigkeit zielende Entscheidungen sind ein Grundanliegen der Umweltbildung. Umweltbildung ist nicht prinzipiell wissensorientiert, sondern oft ganz wesentlich erfahrungs- und erlebnisbetont, wobei sie nutzt, dass hohe Komplexität am realistischsten unbewußt erfass- und verarbeitbar ist. Allerdings ist weiterhin in der schulischen Bildung, aber auch in vielen Bereichen der Umweltkommunikation unterschiedlichster Akteure, die auf Verhaltensänderungen der Bürger*innen abzielen, ein wissensbasierter Ansatz recht dominant. Deshalb soll im Folgenden über die Grenzen einer wissensbasierten (Umwelt-) Bildung nachgedacht werden. Kann es eine nichtwissensbasierte Bildung geben, oder handelt es sich um ein effekthaschendes Oxymoron? Fehlt uns am Ende eine Nichtwissensfertigkeit, um in der aktuellen Welt zu bestehen bzw. um sie erfolgreicher zu einer besseren zu transformieren? Ergibt sich aus der Wissensfixierung unserer Gesellschaft gar eine Zwanghaftigkeit, von der es sich zu befreien gilt? Weniger Wissen, mehr Vernunft?
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Eine strategische Risikoperspektive würde, wenn die unternehmerische Institution nur auf sich selbst bezogen wäre, bestenfalls moderate Ergebnisse liefern. Daher ist es empfehlenswert, dass sich die in der Organisation beauftragten Personen intensiv mit der Geschäftstätigkeit, dem Umfeld und den relevanten strategischen prozessualen Aspekten auseinandersetzen, um ein umfassendes Verständnis bezüglich des Unternehmens entwickeln zu können. Darauf aufbauend beginnt die eigentliche Tätigkeit der Antizipation, Identifikation, Bewertung/Klassifikation und Reaktion auf die (noch) unscharfen und zunehmend konkreter werdenden Ereignisse mit negativer Auswirkung auf die eigentliche Geschäftstätigkeit. Die Design-Gestaltung auf strategischer Ebene ermöglicht umso mehr einen Erfolg auf den nachgelagerten Stufen, je intensiver das Unternehmen, dessen Kontext, interne und externe Interaktionen wie auch die potenziellen Einwirkungen auf und Abweichungen von der Zielerreichung akzeptiert, verstanden, analysiert und behandelt werden.
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Anonyme Schreiben sind zunächst ungefragte, spontane Kommunikationen. In der forensischen Psychologie behandeln wir sie als Sprech-Handlungen (Austin 1962/1980, S. 40ff). Die Bedeutung solcher Texte erschließt sich somit nur aus dem Wortlaut und ihrer speziellen Inszenierung zusammen. Was den Wortlaut anbetrifft, so bildet er im Sinne der Relevanz- Theorie (Sperber & Wilson 2008) die von der Autorenschaft gewählte Form, um ihre Botschaft so gut wie möglich zu vermitteln; genauer gesagt: so gut sie es mit den ihr zur Verfügung stehen kognitiven, technischen und sozialen Mitteln überhaupt kann. Wir gehen davon aus, dass jedes Detail frei gewählt wurde und seine psychologische Bedeutung hat. In anderen Worten: „auch was überflüssig scheint, ist es in Wirklichkeit nicht“ (übersetzt aus Sapir 1999). Vorsicht ist allerdings geboten, weil wir a priori nicht wissen, ob ein Text aus der Feder einer einzigen Person stammt, oder ob mehrere Personen mitgewirkt haben.
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Die Aufklärung eines Kriminalfalles ist der wissenschaftlichen Aufgabe der klinischen Medizin weitgehend analog. Erstens besteht sie im genauen Beobachten der Tatsachen (anhand von Augenschein und Gesprächen und kombiniert mit (technischen) Untersuchungen). Zweitens stützt sich die Interpretation der Beobachtungen in beiden Gebieten sowohl auf naturwissenschaftliche als auch geisteswissenschaftliche Tatsachen, Theorien und Methoden. Die heutige Universität steckt enorme Anstrengungen in die Vermittlung des riesigen Theoriengebäudes der jeweiligen Disziplin, wohingegen das wissenschaftliche Beobachten - als Grundlage der Arbeit – leider wenig Aufmerksamkeit erhält. Dadurch besteht eine gewisse Gefahr, dass in der praktischen Anwendung nur gerade die aller offensichtlichsten und spontan erzählten Fakten zusammen mit den Resultaten der Standard-Untersuchungen, in die Diagnose einfliessen. Wenn aber das Fundament der klinischen Arbeit vernachlässigt wurde, kann keine Theorie - und sei sie noch so raffiniert - einen missratenen Fall mehr retten. Die folgenden Ausführungen sollen das wissenschaftliche Denken während der Bestandesaufnahme und der Interpretation der Krankheitszeichen verbessern. Es geht um die Frage: wie muss ein Beobachtungsvorgang strukturiert sein, damit er nicht beliebig „herumflattert“, sondern systematisch erfolgt? Das „systematische Beobachten“ ist zudem ökonomisch relevant, damit bei dünner Faktenlage nicht mit teuren Tests und Untersuchungen ins Blaue hinaus untersucht wird.
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Systematic Observation is a meta-cognitive tool to establish an inventory of all signs of evidence from documents, photographs and other case material. The procedure was first developed for criminal investigations (Haas 2003) and consists in the application of five easily memorised formulas which help professionals, analysts and investigators to be more proficient observers. The rules are: I. Compare the object of observation to models, standards, theories or similar cases II. Separate formal aspects from the contents and analyse them both separately III. Structure the object into functional elements and explore each of them IV. Explore anomalies, inconsistencies, contradictions, mistakes or coincidences V. Discover the absence of signs (with models and after structuring the object). After going through the process of systematically registering every important detail, we are able to draw first hypotheses. Every hypothesis should then be checked for its plausibility by listing systematically every sign speaking for it in one column, every indeterminate sign in a middle column and every sign against it in a third column. This procedure creates more transparency for the situation and prevents us from paying selective attention to some isolated parts of the evidence. This, in turn, provides good grounds for constructive discussions about the decisions to be taken. The present chapter has shown how this method can be applied in the area of counter-terrorism. First, we have seen that Systematic Observation can be used to analyse threats (written or electronically recorded)and to distinguish ‘terrorist’ from other general criminal activity. Second, we have considered how Systematic Observation can serve as a preventative tool to help private sector institutions to identify suspicious transactions and improve the effectiveness of their compliance systems.
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Anonyme Schreiben sind zunächst ungefragte, spontane Kommunikationen. In der forensi-schen Psychologie behandeln wir sie als Sprech-Handlungen (Austin 1962/1980, S. 40ff). Die Bedeutung solcher Texte erschließt sich somit nur aus der Kombination ihres Wortlauts und ihrer speziellen Inszenierung zusammen. Was den Wortlaut anbetrifft, so bildet er im Sinne der Relevanz-Theorie (Sperber & Wilson 2008) die von der Autorenschaft gewählte Form, um ihre Botschaft so gut wie möglich zu vermitteln; genauer gesagt: so gut sie es mit den ihr zur Verfügung stehenden kognitiven, technischen und sozialen Mitteln überhaupt kann. Wir gehen davon aus, dass jedes Detail frei gewählt wurde und seine psychologische Bedeutung hat. In anderen Worten: „auch was überflüssig scheint, ist es in Wirklichkeit nicht“ (übersetzt aus Sapir 1999). Vorsicht ist allerdings geboten, weil wir a priori nicht wissen, ob ein Text aus der Feder einer einzigen Person stammt, oder ob mehrere Personen daran mitgewirkt haben. Für die kriminalistische Auswertung von inkriminierten Schreiben stellt die Analyse des Materials im Hinblick auf gender-relevante Aspekte ein Gesichtspunkt unter mehreren dar. In einem Gutachten wird nach vielen anderen möglichen Merkmalen der Urheberschaft eines anonymen Textes ebenfalls gesucht, etwa besonderen Fähigkeiten, (Aus-)Bildung und Intelli-genz, Muttersprache (Nationalität), Alter, Wohnort, Mobilität, delinquente Vergangenheit und Vorstrafen, psychische Störungen und medizinische Probleme, Verfügbarkeit von Waffen, technische Kenntnisse, Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, politische Gesinnung, Weltan-schauung und Religion, Motive, Gefährlichkeit, etc. Die Kategorie „Gender“ spielt aber in politischen und arbeitsrechtlichen Zusammenhängen, sowie bei häuslicher Gewalt eine be-sonders wichtige Rolle.
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Five easily memorized formulas of Systematic Observation help the analyst to be a more proficient observer and to make sure that nothing has been left out. They are: I. Compare the object of observation to models or to similar cases. II. Separate formal aspects from the contents and analyze them separately. III. Structure the object into functional elements, and explore every one of them. IV. Explore inconsistencies, contradictions, mistakes, or astonishing coincidences. V. Discover the absence of signs (negative signs of evidence). Only after going through the process of systematically registering every import detail, we are able to draw first hypotheses. Then, hypotheses must be checked for their plausibility in listing systematically every sign for and every sign against them, as well as all indeterminate signs, too, in order to get a clear view of the case, and to ensure the best use of the available intelligence. It is true that the consequent use of those formulas demands a considerable initial effort which can only be afforded in cases of some importance. But with experience and routine analysts will grasp much more signs of evidence right from the beginning, and save themselves a lot of unnecessary work that can be caused by pursuing wrong assumptions. In the long run, the assembled inventory of signs evidence does not loose its value. Undoubtedly, by applying the presented rules of systematic observation, the result of our work will be of higher analytical value.
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Systematisches Beobachten ist ein 5 Stufiger Algorithmus, der dazu dient, den semantischen und formellen Gehalt von Texten und Bildern mit Hilfe allgemein akzeptierter kriminalistischer Prinzipien zu untersuchen. Er wird am Beispiel eines Anthraxbriefes vorgeführt.
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Le "Cours" de Saussure constitue un ouvrage clé pour quiconque s'intéresse au langage et aux langues ; il est considéré comme fondateur de la linguistique moderne. C'est là que se trouvent exprimés pour la première fois certains des concepts les plus féconds de la linguistique : oppositions binaires (langue/parole, signifiant/signifié, synchronie/diachronie), arbitraire du signe. Ces concepts seront largement affinés ou contestés, et nourriront la réflexion de générations de linguistes. Avec la reproduction de l'édition originale de 1916 établie par les élèves de Saussure d'après leurs notes, le lecteur trouvera un appareil critique complet dû à Tullio de Mauro, dont une biographie de Saussure et des notes. Les commentaires sont particulièrement instructifs, car ils font apparaître les violentes critiques qui ont suivi la publication du "Cours", ainsi que l'influence considérable qu'il a exercée et continue d'exercer. Ce livre peut être lu sans connaissances préalables en linguistique. "–Guillaume Segerer"
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Der Aufsatz beantwortet die Frage, ob es eine den Künsten und Wissenschaften gemeinsame Phantasie des Neuen gibt, im Rückgriff auf das Peircesche Konzept der Abduktion. Die Abduktion wird dabei zum einen als epistemologische „Strategie der Innovation”, zum anderen als „ästhetische Operation” ausgezeichnet, die im Spannungsfeld von Assoziation, Einbildungskraft, Urteilskraft und Witz steht.
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  • H Haas
Haas, H. (2003), Observer et rédiger des documents en psychologie légale. Reihe: Actualités psychologiques N° 14, Institut de psychologie, Université de Lausanne.
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  • K Popper
Popper, K. (1979), La connaissance objective. Paris: Champs-Flammarion. (Original 1972).