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Kira Marrs, Andreas Boes
Arbeits- und Leistungsbedingungen
von Film- und Fernsehschaffenden
Vortrag zur Abschlusstagung des BMBF-Projekts Dienst-Leistung(s)-Arbeit
„Moderne Dienstleistungsarbeit – Mythos und Realität“
am 31. Januar 2003 in Berlin
Im Mittelpunkt dieses Vortrags stehen die Arbeits- und Leistungsbedingungen von
Film- und Fernsehschaffenden. Es wird die Frage aufgeworfen, was das Feld der Audio-
visuellen Medien zur Entwicklung „moderner Dienstleistungsarbeit“ aussagen kann.
Das Feld der AV-Medien gilt nicht nur als Inbegriff moderner Dienstleistungsarbeit.
Vielmehr kann hier auch die Wirkung gängiger Forderungen, wie die Zukunft der Ar-
beit auszusehen habe, schon heute exemplarisch studiert werden. Erstrahlt die Branche
auf den ersten Blick im Lichte der Modernität, so werde ich aufzeigen, dass dies einer
genaueren Analyse nicht standhält.
Die Arbeits- und Leistungsbedingungen sind geprägt durch Fremdbestimmung, hohe
Belastungen und Unsicherheiten. Sie scheinen eher vergangenen, überwunden geglaub-
ten Zeiten zugehörig zu sein. Bei allen zu konstatierenden Ambivalenzen fällt auch das
Votum der überwiegenden Mehrzahl der Film- und Fernsehschaffenden negativ aus.
Die Arbeitsbedingungen werden als „unfair“, ja sogar als „frühkapitalistisch“ erlebt. Die
momentane Krise der Branche, so unsere These, führt dazu, dass die Merkmale moder-
ner Dienstleistungsarbeit hier in eine „neue Ökonomie der Unsicherheit“ münden.
1. Empirische Grundlage
Die folgenden Ausführungen beruhen auf den empirischen Ergebnissen unseres Teil-
projekts zu den Arbeits- und Leistungsbedingungen im Feld der AV-Medien. Im Mit-
telpunkt unserer Untersuchungen standen die freien Film- und Fernsehschaffenden im
Bereich der Film- und Fernsehproduktion. Die überwiegende Mehrzahl der Personen in
unserem Sample, aber auch generell in diesem Bereich sind auf die Produktionsdauer
befristete Beschäftigte. Hinzu kommen Personen, die ausschließlich einer selbstständi-
gen Tätigkeit nachgehen, sowie Personen, deren Beschäftigungsstatus zwischen diesen
beiden Polen changiert.
Wir haben 30 Intensivinterviews geführt. Dabei haben wir folgende an den Drehar-
beiten beteiligten Berufsgruppen berücksichtigt: Produktion, Regie, Kamera, Licht,
Ton, Schnitt, Kostümbild, Szenenbild und Maskenbild. Ferner wurde bei der Auswahl
der interviewten Personen auf die Streuung von Geschlecht und Alter geachtet. Die In-
terviews wurden konsolidiert durch Expertengespräche, vor allem mit Vertretern von
Gewerkschaften, Berufsverbänden und anderen Branchenexperten.
Meine Ausführungen gliedern sich wie folgt: Zuerst werde ich unser Feld in den ak-
tuellen Diskurs zur modernen Dienstleistungsarbeit einordnen. Die empirischen Ergeb-
nisse zum Thema der Arbeits- und Leistungsbedingungen werde ich im zweiten Punkt
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anhand von zentralen Aspekten vorstellen, um schließlich im dritten Punkt auf die ein-
gangs aufgeworfene Frage zurückzukommen, was das Feld der AV-Medien über die
Entwicklungstendenzen moderner Dienstleistungsarbeit aussagen kann.
2. AV-Medien als Praxisbeispiel für moderne Dienstleistungsarbeit
Würde man eine Checkliste für „moderne Dienstleistungsarbeit“ erstellen, so würde die
AV-Medienbranche viele der Kriterien erfüllen. Der Grund dafür ist, dass viele Mo-
mente „traditioneller“ Arbeit hier in weiten Bereichen zurückgedrängt sind:
• Statt des Betriebs ist die Projektifizierung der Produktion audiovisueller Dienstleis-
tungen prägend.
• Nicht das „Normalarbeitsverhältnis“, definiert als unbefristetes Vollzeit-
Beschäftigungsverhältnis, ist vorherrschend, sondern der Einsatz von flexiblen Frei-
en Mitarbeitern.
• Die traditionellen Formen kollektiver Interessenvertretung entfalten kaum noch
Wirkung.
• Auch der diagnostizierte Wandel der Erwerbsorientierungen von instrumentellen
Verdiensterwartungen hin zu neuen Ansprüchen an Selbstbestimmung und Selbst-
verwirklichung, bezogen auf die Arbeit, aber auch auf die Verbindung von Arbeit
und Leben, hat zentrale Bedeutung.
Den Befürwortern einer „neuen Kultur der Selbstständigkeit“ und der „Ich-AG“ könnte
gerade dieses Feld als Praxistest dienen, um zu prüfen, welche gesellschaftlichen Impli-
kationen diesem Moment der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ innewohnen.
Zudem bieten die AV-Medien sehr aufschlussreiches Anschauungsmaterial, um zu
studieren, wie sich die Arbeits- und Lebensbedingungen für Beschäftigte entwickeln,
wenn sie sich nahezu „frei“ von den „Zwängen“ der deutschen Mitbestimmung und
entsprechender Regulierungsmechanismen entfalten können.
3. Arbeits- und Leistungsbedingungen
Im Folgenden werde ich unsere empirischen Ergebnisse zu den Arbeits- und Leistungs-
bedingungen anhand der zentralen Aspekte Arbeitszeit, Arbeitsort, Leistungssituation,
Leistungssteuerung, Belastungen, Krankheit und Alter sowie Vereinbarkeit von Arbeit
und Privatleben kurz darstellen.
Arbeitszeit
Auf den ersten Blick zeichnen sich in diesem Feld die Arbeitszeiten durch zwei Merk-
male aus: Sie sind hochgradig flexibel und extensiv. Symptomatisch für die Arbeitszei-
ten im Feld der AV-Medien ist folgende Aussage eines Oberbeleuchters:
„Sehr flexibel. Sieben Tage die Woche, Tag und Nacht im Endeffekt. Also: Alles
ist möglich. Und zum Teil auch sehr lange. 12 oder 14 Stunden sind keine Selten-
heit.“
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Dass diese Arbeitszeiten sowohl nach Produktionen als auch nach Berufsgruppen variie-
ren können, bedarf keiner weiteren Erwähnung.
Die Arbeitszeiten bewegen sich nur sehr knapp, häufig auch gar nicht mehr im Rah-
men des Arbeitszeitgesetzes. Dies bestätigt auch eine Studie der Filmschaffenden-
Verbände (2000). Sie kam zu dem Ergebnis, dass in den 151 erfassten Produktionen
2.125 Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz stattgefunden hatten.
Die Arbeitszeiten sind nicht nur extensiv und flexibel, sie sind zudem fremdbe-
stimmt. Während der Dreharbeiten wird der Arbeitsbeginn und das – wohlgemerkt: vor-
aussichtliche – Arbeitsende durch die Tagesdisposition vorgegeben. Überstunden erge-
ben sich meist erst im Laufe des Tages und werden vom Produzenten bzw. von seinem
Produktionsleiter angeordnet. Zeitautonomie ist ein Fremdwort. Diese Arbeitszeiten
gehen einher mit hohen Belastungen und Schwierigkeiten für die Vereinbarkeit von
Arbeit und Privatleben.
Arbeitsort
Das Stichwort Flexibilität trifft auch auf den Arbeitsort zu. Fast keiner der Film- und
Fernsehschaffenden kann es sich leisten, nur Filme im Umkreis des Wohnortes anzu-
nehmen. Räumliche Flexibilität stellt ein Muss dar. Reisen haben dabei zwei Seiten: sie
gelten für manche als Anreiz, als ein ‚Kick‘ ihrer Arbeit. Gleichzeitig führen auch sie zu
Problemen mit der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben.
Mit Ausnahme reiner Studioaufnahmen wechselt der Arbeitsort während des Projekts
häufig. Gedreht wird an jedem nur erdenklichen Ort. Dabei ist der Arbeitsort a) nicht
mit dem einer Bürotätigkeit zu verwechseln und b) sollte man nicht nur das Bacardi-
Feeling der Werbung vor Augen haben. Gerade Außendreharbeiten gehen mit Belastun-
gen einher. Nicht nur, dass manchmal keine Toilette vorhanden ist, die Film- und Fern-
sehschaffenden sind auch den Witterungsbedingungen wie Kälte, Hitze, Wind und stun-
denlangem Regen relativ schutzlos ausgesetzt.
Leistungssituation und Leistungssteuerung
Die tägliche Leistungssituation während der Dreharbeiten ist geprägt durch hohen
Leistungs- und Zeitdruck. Auf der Basis des Drehplans wird für jeden einzelnen Dreh-
tag ein Tagespensum festgelegt. In der Realität wird meist so lange gedreht, bis das täg-
liche Pensum erfüllt ist. Im Durchschnitt sind das beispielsweise drei bis vier Minuten
eines Fernsehspiels pro Tag. Die hohe Verbindlichkeit dieser Leistungsvorgaben ergibt
sich aus budgetären Gründen, z.T. aber auch aus organisatorischen, wenn Schauspieler
oder Motiv am nächsten Tag nicht mehr zur Verfügung stehen. Durch den zunehmen-
den Kostendruck der Produktionen wird die Anzahl der Drehtage reduziert. Für die
Film- und Fernsehschaffenden führt dies zu einer weiteren Erhöhung des Leistungs- und
Zeitdrucks, um das tägliche Pensum zu schaffen.
Selbstorganisation – und die damit einhergehende Zunahme von Handlungs- und
Entscheidungsspielräumen auf der unmittelbaren Arbeitseinsatzebene – gilt als zentrales
Merkmal „moderner Dienstleistungsarbeit“. Im Feld der AV-Medien finden wir aller-
dings eine andere Situation. Dieser Bereich ist streng hierarchisch organisiert. Entschei-
dungs- und Handlungsspielräume oder gar Kreativität sind auf den unteren Ebenen
Fremdwörter. Vorherrschend ist das Prinzip von Befehl und Gehorsam.
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Die Leistungssteuerung wird von einem Kameraassistenten wie folgt charakterisiert.
„Das Filmgeschäft würde ich immer mit der Bundeswehr vergleichen: Da gibt es
einen, der schafft an, und du hast zu tun. Und du fragst nicht warum, du machst
auch keine Vorschläge, sondern es wird einfach das getan, was man dir sagt“
(Kameraassistent).
Für viele Film- und Fernsehschaffende gilt es, sich den rigiden Anordnungen ohne Dis-
kussion und Widerspruch unterzuordnen, wie es ein Produzent in folgendem Interview-
ausschnitt verdeutlicht:
„Und es gibt bei uns auch im Grunde genommen gar keinen großartigen Wider-
spruch. Widerspruch heißt einfach einen anderen Job machen. Da kann man auch
nicht diskutieren. Da wird auch nicht diskutiert“ (Produzent).
Belastungen
Die physischen und psychischen Belastungen der Arbeit werden als Raubbau an den
Kräften wahrgenommen. Entgegen den Vorstellungen, die mit moderner Dienstleis-
tungsarbeit oder mit einem „Glamourberuf“ oft verbunden werden, handelt es sich vor
allem im Bereich von Kamera und Licht auch um körperliche Arbeit. Ein Kameraassis-
tent beschreibt seine Situation wie folgt:
„In meinem Beruf bist du eigentlich auch ein Kuli, also du musst sehr viel tragen.
Das heißt, du bewegst am Tag viele, viele Tonnen, weil die Koffer und das Ar-
beitsgerät sehr schwer sind. Die Dinge sind allerdings auch sehr unhandlich. Und
das ist alles sehr schlecht, hauptsächlich für den Rücken, ja, für Gelenke einfach“
(Kameraassistent).
Ferner werden von vielen Film- und Fernsehschaffenden Arbeitsort und Witterungsbe-
dingungen als belastend wahrgenommen. Hohe Belastungen resultieren auch aus den
überlangen Arbeitszeiten, bei denen oft keine regelmäßigen Pausen eingehalten werden,
sowie aus dem permanenten Zeitdruck. Als psychisch belastend wird zudem der Turnus
von Phasen der Konzentration während der Szene und teilweise sehr langen Wartezeiten
beispielsweise wegen Umbauten geschildert.
Indikator für die Belastungssituation ist, dass eine kontinuierliche Beschäftigung den
Film- und Fernsehschaffenden unter diesen Bedingungen kaum möglich erscheint. Eine
Phase der Regeneration nach Beendigung der Dreharbeiten wird als unerlässlich ange-
sehen, um sich von den Strapazen zu erholen.
Allerdings ergeben sich psychische Belastungen nicht nur aus der unmittelbaren Ar-
beitssituation. Die Unsicherheiten, die sich aus der Situation als Freie Mitarbeiter erge-
ben, stellen eine permanente Belastung dar. Sie alle haben kein unbefristetes Arbeits-
verhältnis und kein kontinuierliches Einkommen. Wann ihr nächstes Projekt sein wird,
wann sie wieder Geld verdienen werden, ist meist ungewiss. Vor allem die finanzielle
Unsicherheit führt bei manchen Personen zu Existenzdruck und Existenzängsten: „Wa-
rum ruft mich niemand mehr an?“, „Bin ich nicht gut genug?“, „Kenne ich nicht die
richtigen Personen?“ und „Werde ich meine Miete bezahlen können?“ Dies sind hand-
feste Sorgen, die viele der Film- und Fernsehschaffenden haben.
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Krankheit und Alter
Ein Ausdruck für die erlebte Unsicherheit vieler Film- und Fernsehschaffenden ist die
Tabuisierung von Krankheit und Alter. Während der Dreharbeiten gilt das Motto
„Kranksein, das gibt es nicht“ – zumindest nicht während des Projekts. Ansonsten stellt
Krankheit für viele eine bedrohliche Risikolage dar. Als symptomatisch kann die fol-
gende Aussage eines Filmemachers betrachtet werden:
„Was ich gerne verdränge, ist natürlich die absolute Unsicherheit dessen, was ist,
wenn du mal ernsthaft krank wirst. Also das ist dann in der Tat schon bedrohlich“
(Filmemacher).
Eine weitere Unsicherheit ist in dieser Branche das Alter bzw. das Älterwerden, und
dies nicht nur aufgrund der meist schlechten Altersversorgung. Für viele stellt sich die
Frage, wie lange sie den Anforderungen gewachsen sein werden – wie lange sie die
Leistungsanforderungen noch erfüllen können bzw. noch zu erfüllen bereit sind. Der in
dieser Branche ausgeprägte Jugendkult, bei dem Hip-Sein und „die richtige Sprache
sprechen“ oft mehr zählt als Erfahrung, verschärft diese Situation.
Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben
Obgleich für viele der Film- und Fernsehschaffenden Arbeit und Leben keine getrenn-
ten Sphären sind, stellt ihre Vereinbarkeit ein zentrales und häufig genanntes Problem
dar.
Der Lebenszusammenhang vieler Film- und Fernsehschaffender strukturiert sich in
einem Wechsel von Zeiten des intensiven und extensiven Arbeitens in Produktionen
und Zeiten von relativer Freizeit. Während der Dreharbeiten gibt es kaum eine Chance
auf ein Privatleben. Die ‚freien‘ Zeiten wiederum werden überlagert durch die Notwen-
digkeit zur Regeneration und zur Vermarktung der eigenen Arbeitskraft. Hier gilt das
Gebot der ständigen Erreichbarkeit und Verfügbarkeit für potentielle Projekte, so dass
der Rhythmus der Arbeit auch die Freizeit beeinflusst.
Partnerschaften, Kinder, aber auch Freundschaften lassen sich nicht ohne weiteres
entsprechend diesem Wechsel synchronisieren. Ein Kameramann verdeutlicht die Situ-
ation:
„Man kann nicht auf Vorrat zusammen sein, also beide Seiten leiden darunter,
wenn es kein Zusammenleben gibt. Das ist schwierig, das ist wirklich schwierig.
Und ich muss auch sagen, da gehen sehr, sehr viele Beziehungen und Familien
kaputt daran, weil diese Bedingungen so extrem sind. Es werden von allen sehr
viele Opfer verlangt“ (Kameramann).
Der Wunsch nach einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie erweist sich vor allem für
die weiblichen Film- und Fernsehschaffenden als sehr schwer realisierbar – zumindest
wenn die Einkommenssituation es nicht erlaubt, Dienstleistungen zur Versorgung der
Kinder in Anspruch zu nehmen, oder wenn die Hauptverantwortung nicht vom Partner
bzw. einer anderen Person übernommen wird. Ein sicherlich nicht repräsentatives, aber
gleichwohl eindrucksvolles Indiz ist, dass manche der männlichen Befragten unseres
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Samples Väter waren, wohingegen keine einzige der weiblichen Befragten ein Kind
hatte.
Fassen wir zusammen: Die Arbeits- und Leistungsbedingungen zeichnen sich durch
Fremdbestimmung, hohe Belastungen und zahlreiche Unsicherheiten aus. Es scheint, als
führte der Weg in die Zukunft geradewegs in die Vergangenheit!
4. Entwicklungstendenzen „moderner Dienstleistungsarbeit“
Ich komme jetzt zurück zu der am Anfang aufgeworfenen Frage: Was sagen die be-
schriebenen Arbeits- und Leistungsbedingungen über die Entwicklungstendenzen mo-
derner Dienstleistungsarbeit aus? Der Befund ist ernüchternd. Das alles hat wenig mit
einer Arbeits- und Lebenssituation zu tun, die durch Selbstbestimmung, Autonomie und
Kreativität geprägt ist.
Jetzt werden viele von Ihnen sicherlich die berechtigte Frage stellen, ob wir hier
nicht zu sehr Schwarzmalerei betreiben und ob es denn aus der Sicht der Film- und
Fernsehschaffenden gar nichts Positives zu berichten gibt. Die Antwort lautet: Doch,
das gibt es.
Und zwar: die spezielle Teamtätigkeit, das Reisen, die ständige Abwechslung, eben
kein „Normalarbeitsverhältnis“ zu haben, das Hobby zum Beruf zu machen, die Mög-
lichkeit der kreativen Selbstverwirklichung, der Traum vom Film oder auch schlicht die
Zugehörigkeit zur Medienbranche.
Und dennoch: Bei allen notwendigen Differenzierungen halten wir an unserer Ge-
samteinschätzung fest und sehen uns darin durch unsere Interviews bestätigt. Die Ar-
beits- und Leistungssituation wird von der überwiegenden Mehrzahl der Film- und
Fernsehschaffenden nicht nur als unfair, sondern gar als „Kohlengrube des 19. Jahrhun-
derts“, „Sklaverei“, „Sittenwidrigkeit“ oder „Ausbeutung“ bezeichnet.
Insgesamt heißt das: Die positiven Bewertungen der Arbeits- und Lebenssituation
bestehen weiterhin. Sie werden allerdings zunehmend durch negative Erfahrungen über-
lagert.
Unsere These ist, dass eben die Merkmale moderner Dienstleistungsarbeit, welche in
der Phase des Booms durchaus Chancen für die Verwirklichung der Arbeits- und Le-
bensansprüche vieler Film- und Fernsehschaffender boten, in der Phase der Krise ihr
destruktives Potential entfalten. Dies will ich zum Abschluss kurz ausführen.
Status Freier Mitarbeiter
Eine befristete Beschäftigung in ständig wechselnden Projekten und ungeregelte Zu-
gangs- und Aufstiegswege beinhalten für die freien Film- und Fernsehschaffenden prin-
zipiell nicht nur Risiken. Im Gegenteil: Die positiven Erwartungen an die Arbeit in die-
sem Feld sind in hohem Maße daran geknüpft, dass die freie Tätigkeit Raum für Selbst-
bestimmung lässt und die schwache Verregelung von Arbeit und Karrierewegen weit-
gehende Gestaltungsspielräume eröffnet. Der Status eines freien Film- und Fernseh-
schaffenden wird unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen eher als Chance denn
als Risiko erlebt.
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Aber eben die darin angelegten Unsicherheiten hinsichtlich der Beschäftigungs- und
Einkommensmöglichkeiten mit der Angewiesenheit auf Folgeprojekte entfalten unter
den Bedingungen der Krise verstärkt ihr destruktives Potenzial. Denn diese Unsicher-
heiten bezüglich derzeitiger und zukünftiger Erwerbsmöglichkeiten stellen einen simp-
len, allerdings mächtigen leistungspolitischen Hebel dar.
Machen die Film- und Fernsehschaffenden während der Dreharbeiten Fehler, sind sie
renitent oder legen sie nicht die geforderte Leistungswilligkeit und Leidensfähigkeit an
den Tag, so handeln sie sich dabei nicht nur eine schlechte Leistungsbeurteilung ein.
Die Konsequenzen sind schwerwiegenderer Natur: Ihre Erwerbsmöglichkeiten in der
Branche können davon bedroht werden. Dies gilt nicht nur für den jeweiligen Arbeitge-
ber bzw. Auftraggeber, der sie dann unter Umständen nicht mehr engagieren wird. Ge-
rade in den regional organisierten Arbeitsmärkten der Branche, wo vieles über Hörensa-
gen funktioniert, kann dies verheerende Folgen haben.
Die mit dem Beschäftigungsstatus einhergehenden Unsicherheiten machen die freien
Film- und Fernsehschaffenden prinzipiell schutzlos und erpressbar; die derzeitige Krise
bringt dies verstärkt ans Licht.
Fehlen kollektiver Mitbestimmungsstrukturen
Genau hier kommt ein weiteres Merkmal einer vermeintlich modernen Dienstleistungs-
arbeit ins Spiel: das weitgehende Fehlen traditioneller kollektiver Mitbestimmungs-
strukturen. Das Feld der AV-Medien ist, bis auf die großen Rundfunkanstalten und Pro-
duktionsfirmen, weitestgehend „frei“ von kollektiven Mitbestimmungsstrukturen. Sie
wirken hier meist nur indirekt. Allerdings führt dies gerade nicht zu einer vermehrten
Selbstbestimmung. Oder wenn man so will: Die Formel „Selbstbestimmung ersetzt
Mitbestimmung“ greift hier nicht.
Was sich zeigt, ist eine weitgehende Entsolidarisierung unter den Film- und Fernseh-
schaffenden. Und die allermeisten sind eben nicht in der Lage, ihre Interessen selbst
durchzusetzen. Die Gründe hierfür sind die mit dem Beschäftigungsstatus einhergehen-
de Unsicherheit und fehlende Absicherung sowie die prinzipielle Austauschbarkeit der
Personen. Im Konkurrenzkampf unter den Kollegen kommt es zu einer Abwärtsspirale,
in der Schmutzkonkurrenz und Preisdumping zunehmen und eine immer weiter gehende
Entsolidarisierung bewirken.
Bei vielen Film- und Fernsehschaffenden hat sich ein gewisser Fatalismus hinsichtlich
der Gestaltbarkeit ihrer Arbeits- und Leistungsbedingungen ausgebreitet. Obgleich sie
die Gewerkschaften nicht ablehnen, ist ihre Sicht von der Erfahrung geprägt, dass diese
ebenso wie Berufsverbände und auch informelle kollektive Vereinbarungen an der Rea-
lität weitestgehend gescheitert sind.
Wenn Betrieb und Festanstellung als zentrale Merkmale abhanden kommen, findet
sich im Feld der AV-Medien eine Vielzahl atomisierter Einzelkämpfer. Der Wunsch
nach Solidarität scheitert oftmals daran, dass sie in Konkurrenz zueinander stehen, wenn
es um die Vergabe von Projekten geht. Und gerade im Falle einer Krise steht sich jeder
selbst am nächsten.
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5. Krise und „neue Ökonomie der Unsicherheit“
Zusammengefasst: Unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise in der Branche führen
die Merkmale moderner Dienstleistungsarbeit zu einer „neuen Ökonomie der Unsicher-
heit“.
Unter diesen Bedingungen geraten die von Selbstbestimmung und Autonomie ge-
prägten Arbeits- und Lebenskonzepte der Film- und Fernsehschaffenden in einen Wi-
derspruch zu ihrer realen Arbeits- und Leistungssituation. Diesen Widerspruch wieder-
um können viele unter den gegebenen Bedingungen nicht positiv auflösen.
Bar jeglicher Mittel, ihre Interessen durchzusetzen, drohen sie in den Strudel einer
Abwärtsspirale zu geraten. Wohin das führt, wagen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht zu prognostizieren. Wie in manchen Filmen bleibt auch hier das Ende offen.