Singen gehört zu den ältesten Unterrichtsfächern der Menschheitsgeschichte (Nolte & Weyer, 2011), die damit verbundenen Zielsetzungen unterlagen jedoch einem steten Wandel (Gruhn, 2003). In unserer Zeit wird dem schulischen Singen eine zunehmende Popularität attestiert (z.B. Jank, 2008; Oberschmidt, 2016) und auch in der wissenschaftlichen Musikpädagogik hat Singen im Musikunterricht wieder verstärktes Forschungsinteresse auf sich gezogen (z.B. Blanchard, 2022; Günster, 2023; Imthurn, 2023; Puffer, 2022). Gleichzeitig sind „viele didaktische Fragen“ (Lehmann-Wermser, 2017, S. 90) in Bezug auf das schulische Singen nach wie vor ungeklärt.
Die vorliegende Dissertation untersucht die Frage, welche Zielvorstellungen von Klassensingen den Fachdiskurs zum Zeitpunkt der Untersuchung auf unterschiedlichen Ebenen bestimmen. Unter Klassensingen wird dabei eine unterrichtliche Praxis verstanden, die im Klassenverband und im regulären Unterricht an allgemeinbildenden Schulen stattfindet. Die Arbeit fokussierte besonders den Musikunterricht in den Jahrgangsstufen 5 und 6, der in Bezug auf die stimmliche Entwicklung junger Menschen eine Reihe didaktischer Herausforderungen mit sich bringt. Nicht betrachtet wurde das Singen im Rahmen von Musikklassen und anderen Formen des erweiterten Musikunterrichts (vgl. Pabst-Krueger, 2021, S. 162).
Um die oben genannte Forschungsfrage zu beantworten, wurden die Positionen von Akteur*innen aus dem Fachdiskurs sowie der Bildungsadministration gesichtet, systematisiert und mit denen von Musiklehrkräften abgeglichen. Dazu erfolgte zunächst eine Dokumentenanalyse (Hoffmann, 2018; Noetzel et al., 2018) von 13 fachdidaktischen bzw. fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen, um ein Kategoriensystem von Zielvorstellungen zu entwickeln. Das entstandene Analyseraster gliedert die Ziele in musikbezogene (mit den Subkategorien originäre und derivative) Ziele und nicht-musikbezogene Ziele (Transfereffekte). Dieses Kategoriensystem bildete die Grundlage für die weiteren Arbeitsschritte.
Im zweiten Teil wurden die zum Untersuchungszeitpunkt (Frühjahr 2022) gültigen curricularen Vorgaben der Jahrgangsstufen 5 und 6 aller Bundesländer und Schularten mittels inhaltlich strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022) analysiert. Dabei zeigte sich trotz heterogener Ausprägungen ein gemeinsamer Fokus auf Liedauswahl und die Entwicklung von Stimm- und Singkompetenz. Weitere bedeutsame Zielsetzungen umfassen die Veranschaulichung theoretischer Fachinhalte, kreative stimmliche Experimente sowie außermusikalische Transfereffekte wie die Förderung sozialer Kompetenz und selbstregulativer Fertigkeiten.
Auf Grundlage der so gewonnenen Ergebnisse wurde ein Fragebogen entwickelt, um zu erheben, welchen Zielen von Klassensingen Musiklehrkräfte welche Relevanz und Realisierbarkeit zuerkennen. An der im Herbst 2023 durchgeführten Onlinebefragung nahmen N = 222 vorrangig aus Bayern stammende Musiklehrkräfte teil, von denen 87 % über einen Abschluss im Unterrichtsfach Musik oder für ein Lehramt an Gymnasien verfügen. Die Befragten wurden zunächst gebeten, die aus ihrer Sicht wichtigsten Ziele des Klassensingens frei zu benennen. Anschließend schätzten sie die Relevanz und Realisierbarkeit von 31 Zielformulierungen ein, die aus Fachliteratur und Curricula abgeleitet worden waren. Die Ergebnisse zeigen einerseits Übereinstimmungen mit den curricularen Vorgaben, etwa bei der Bedeutung von Stimm- und Singkompetenz. Andererseits offenbaren sie markante Unterschiede: Besonders hohe Zustimmung fanden Ziele wie der Spaß am Singen, das Gemeinschaftserlebnis oder der mittelfristige Kompetenzzuwachs der singenden Gruppe. Demgegenüber wurden konkrete kurzfristig erreichbare Ziele wie intonatorisch oder rhythmisch korrektes Singen deutlich weniger relevant eingeschätzt.
Diese Diskrepanz zwischen den in Curricula und Literatur betonten Grundlagenkompetenzen und den von Lehrkräften als prioritär empfundenen Zielen wirft Fragen nach der tatsächlichen Umsetzung im Unterricht und den dahinterliegenden professionellen Überzeugungen auf. Die Ergebnisse zeigen, dass Lehrkräfte in hohem Maße selektiv mit den an sie herangetragenen Zielvorgaben umgehen. Die Studie liefert somit nicht nur einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Zielklarheit und Unterrichtsqualität im Musikunterricht, sondern eröffnet auch Perspektiven für die Professionalisierung von Musiklehrkräften im Hinblick auf das Klassensingen.