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Ebbinghaus, Bernhard
Working Paper
Dinosaurier der Dienstleistungsgesellschaft? Der
Mitgliederschwund deutscher Gewerkschaften im
historischen und internationalen Vergleich
MPIfG working paper, No. 02/3
Provided in Cooperation with:
Max Planck Institute for the Study of Societies
Suggested Citation: Ebbinghaus, Bernhard (2002) : Dinosaurier der
Dienstleistungsgesellschaft? Der Mitgliederschwund deutscher Gewerkschaften im historischen
und internationalen Vergleich, MPIfG working paper, No. 02/3
This Version is available at:
http://hdl.handle.net/10419/44299
MPIfG Working Paper 02/3, März 2002
Dinosaurier der Dienstleistungsgesellschaft?
Der Mitgliederschwund deutscher Gewerkschaften im historischen
und internationalen Vergleich*
von Bernhard Ebbinghaus
Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags zu einem Sammelband über Gewerkschaften in
Deutschland: Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels (Hrsg.), Gewerkschaften in Politik und
Gesellschaft in der Bundesrepublik. Opladen: Westdeutscher Verlag (i.V.). Für hilfreiche
Anmerkungen danke ich den Herausgebern und Teilnehmern der Autorenkonferenz sowie Anke
Hassel, Jörg Teuber und Silke Vagt am MPIfG.
Bernhard Ebbinghaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für
Gesellschaftsforschung, Köln.
Zusammenfassung
Der Mitgliederschwund sollte die deutschen Gewerkschaften alarmieren: nur noch jeder fünfte
Arbeitnehmer der noch nicht im (Vor-)Ruhestand ist, zahlt heute einen Mitgliedschaftsbeitrag,
während die anderen als Trittbrettfahrer von der Arbeit der Tarifverbände profitieren, ohne hierzu
beizutragen. Die Probleme der Mitgliederwerbung und -bindung deutscher Gewerkschaften werden
anhand der Analyse langfristiger sozioökonomischer Entwicklungen, aber auch der rapiden
Veränderungen seit der Vereinigung analysiert und im internationalen Vergleich betrachtet. Die
langfristige Mitgliederentwicklung kann zum Teil auf veränderte wirtschaftliche und politische
Bedingungen zurückgeführt werden. Auch der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft schuf
besondere Herausforderungen. Die deutschen Gewerkschaften haben im Vergleich zu nordischen
Gewerkschaftsbewegungen jedoch versäumt, die neuen Arbeitnehmergruppen hinreichend zu werben.
Der Verlust der neu gewonnenen 4 Millionen Mitglieder im Osten unmittelbar nach der Vereinigung
wurde als Sonderfall und nicht als Untergrabung des "Modells Deutschland" gesehen. Nicht nur der
Stellenabbau, auch die Aushöhlung der Mitbestimmungs- und Tarifinstitutionen haben die
betriebliche Werbungsarbeit für die Gewerkschaften erschwert.
Abstract
The German unions face disturbing membership decline. Only every fifth employee who is not yet
retired is willing to pay union dues, while the others "free ride" as they enjoy the advantages of
collective bargaining practices but do not contribute to it. The problems of membership recruitment
of German unions are placed in the context of social-economic changes and the rapid decline after
unification. In addition, the paper provides a cross-national comparison. The long-term membership
development is partly due to the changing economic and political conditions. The shift towards a
service economy poses additional challenges. But in comparison to Nordic countries, the German
trade unions have failed to recruit the new social groups. Many saw the loss of the four million
members in the East short after German unification to be an exceptional case, but few as
undermining the German "model". Not only the downsizing of firms, but also the erosion of German
labour relations - codetermination and collective bargaining - made plant level access and
membership recruitment more difficult.
Inhalt
1 Einleitung
2 Einflussfaktoren auf Gewerkschaftsmitgliedschaft
3 Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung
3.1 Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung bis zur Vereinigung
3.2 Der Mitgliederschwund seit der Vereinigung
4 Der sozialstrukturelle Wandel als Ursache des Mitgliederrückgangs
4.1 Arbeiter
4.2 Beamte
4.3 Angestellte
4.4 Frauen
4.5 Jugendliche
4.6 Rentner
4.7 Arbeitslose
5 Die deutschen Gewerkschaften im internationalen Vergleich
6 Fazit: Organisationsdefizite als Schicksal oder Herausforderung?
Literatur
1Einleitung
Die deutschen Gewerkschaften kommen zunehmend unter existentiellen Druck: Der
vereinigungsbedingte Boom von 4 Millionen Mitgliedern im Osten ist innerhalb eines
Jahrzehntes zerronnen, und im Westen setzt sich - die seit den 80er-Jahren herrschende -
Erosion der Mitgliederbasis fort. Heute sind weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich
organisiert als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Tiefstand der
Weimarer Republik ist bereits unterschritten: Nur jeder fünfte Arbeitnehmer, der noch
nicht im (Vor-) Ruhestand ist, zahlt einen Gewerkschaftsbeitrag, während auch
Nichtmitglieder von Tarifverträgen profitieren, die von den Gewerkschaften mit den
Arbeitgebern ausgehandelt werden.
Die Tatsache, dass viele Nachbarländer (vor allem Frankreich, die Niederlande, die
Schweiz und zunehmend auch Österreich) unter ähnlichen Problemen leiden und dass
Belgien und Dänemark nur dank wohlfahrtstaatlicher Organisationshilfen hiervon
verschont bleiben, sollte auch deutsche Gewerkschaftsführer beunruhigen. Bis zur
Vereinigung wurden die kurzfristigen Auf- und Abwärtsbewegungen und der relativ
stagnierende Organisationsgrad eher als Bestätigung der erfolgreichen
Institutionalisierung deutscher Gewerkschaften wahrgenommen. Auch der
Vereinigungsboom und die folgenden dramatischen Mitgliederrückgänge im Osten
wurden als Sonderfall und nicht als Untergrabung des "Modells Deutschland" gesehen.
Dass die gegenwärtigen Probleme der Mitgliederwerbung und -bindung eine tief
greifende Erosion darstellen, wird im Folgenden anhand der Analyse langfristiger
sozioökonomischer Entwicklungen, aber auch der rapiden Veränderungen seit der
Vereinigung analysiert und im internationalen Vergleich betrachtet. Zunächst werden die
Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Gewerkschaftsmitgliedern und mögliche
Organisationsstrategien erörtert (Abschnitt 2). Danach werden dann in weiteren
empirischen Analysen die Ursachen und Konsequenzen der langfristigen
Mitgliederentwicklung in der Bundesrepublik vor und nach der Vereinigung untersucht
(Abschnitt 3), bevor der soziale Wandel und die Folgen für die Organisationsbereitschaft
einzelner sozialer Gruppen näher analysiert werden (Abschnitt 4). Ein europäischer
Vergleich stellt abschließend den Organisationsproblemen der deutschen Gewerkschaften
Beispiele anderer Länder gegenüber (Abschnitt 5).
2Einflussfaktoren auf Gewerkschaftsmitgliedschaft
Die Entwicklung der Mitgliedschaft und Organisationsgrade sind von zentraler Bedeutung
für Gewerkschaften als Mitgliederorganisationen. Sie beruhen auf dem freiwilligen und
dauerhaften Zusammenschluss von Arbeitnehmern zur Durchsetzung ihrer sozialen und
wirtschaftlichen Interessen gegenüber Arbeitgebern und Staat. "Gewerkschaftliche Macht
ist Organisationsmacht, die auf Mitgliederzahlen und Mobilisierungspotentialen beruht"
(Müller-Jentsch 1997: 119). Die Gewinnung und Bindung von Mitgliedern dient nicht nur
der Bestandserhaltung, sondern ist auch Voraussetzung für gewerkschaftliches Handeln.
Einerseits bedarf jede Gewerkschaft finanzieller Ressourcen, die fast ausschließlich durch
Mitgliedschaftsbeiträge erbracht werden müssen, da gerade finanzielle Abhängigkeit vom
Staat oder von Dritten einer offensiven Interessenvertretung widersprechen würde. Eine
hohe Organisationsfähigkeit vermittelt breite gesellschaftliche Legitimation, politischen
Vertretungsanspruch und Mobilisierungsreserven für den Arbeitskampf. Je größer der
Anteil der Mitglieder an den Beschäftigten, desto eher kann eine Gewerkschaft
tarifpolitischen und gesellschaftlichen Einfluss ausüben. Andererseits sind mit steigender
potentieller Mitgliederzahl Organisationen, die vor allem Kollektivgüter erstellen und auf
freiwilliger Mitgliedschaft beruhen, dem Trittbrettfahrerproblem ausgesetzt (Olson 1965):
Das Individuum tritt nicht bei, weil es auch als Nichtmitglied die kollektiven Vorteile
genießen kann und die bereits organisierte Gruppe zu groß ist, um einen merklichen
Beitrag zu den Organisationszielen zu leisten. Der soziale Wandel, die wirtschaftlichen
Veränderungen und geschwächte politisch-institutionelle Rahmenbedingungen erschweren
zunehmend die Mitgliederrekrutierung.
Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft drückt zunächst eine formelle Beziehung
zwischen Mitglied und Organisation aus. Anders als Streikbewegungen, die auf
kurzfristiger und informeller Mobilisierung beruhen, sind Gewerkschaften auf eine
dauerhafte kollektive Bindung Gleichgesinnter ausgerichtet. Zunehmend wurde die
Beziehung zwischen Organisation und Mitglied formalisiert und professionalisiert
(Streeck 1981). Der Organisationsgrad (der Anteil an den abhängigen Erwerbspersonen
oder Erwerbstätigen, die Mitglied einer Gewerkschaft sind) gilt als ein wichtiger Indikator
für den tarif- und sozialpolitischen Vertretungsanspruch, die Mobilisierungsreserven und
die finanziellen Ressourcen von Gewerkschaften. Mitgliedschaftsdaten geben auch
Aufschluss über die Partizipation, Repräsentativität und innerorganisatorische
Abstimmungsgewichte unterschiedlicher sozialer Gruppen. In welchem Maße sich die
Mitglieder den Organisationszielen und Handlungsstrategien ihrer Gewerkschaft
verpflichtet fühlen, lässt sich jedoch nicht alleine aus der formalen Mitgliedschaft
erschließen.
Warum werden Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft? Es gibt hierzu
unterschiedliche Erklärungsansätze. Die Gründe für die individuelle Entscheidung,
Mitglied in einer Gewerkschaft zu werden, können vielfältig sein. Ökonomische Ansätze
gehen vom Idealbild eines rational handelnden homo economicus aus, der mit Hilfe eines
Kosten-Nutzen-Kalküls eine Mitgliedschaft abwägt. Soziologische Ansätze hingegen
sehen das Individuum als homo sociologicus, der eher durch soziale Normen geprägt und
in soziale Beziehungen eingebunden ist. Darüber hinaus können
organisationssoziologische und institutionelle Ansätze Aufschluss über
Organisationsstrategien und -bedingungen von gewerkschaftlicher Mitgliederrekrutierung
geben.
Vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet stellt sich die Frage, ob der erzielte Nutzen
einer Mitgliedschaft ihre Kosten (circa 1% des Brutto-Lohns) aufwiegt. Der
amerikanische Ökonom Mancur Olson (1965) hat darauf hingewiesen, dass die
wesentlichen gewerkschaftlichen Leistungen öffentliche Güter sind. Der Tarifvertrag gilt
in Deutschland auch für Nichtmitglieder: Auch wenn Tarifverträge nur selten vom
Arbeitsminister als allgemeinverbindlich erklärt werden (d.h. auch Nichtmitglieder de jure
erfasst sind), zahlen in der Regel die organisierten Arbeitgeber de facto auch
Nichtmitgliedern den Tariflohn, um keine Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt zu
geben.[1] Wegen der verbrieften "negativen Koalitionsfreiheit" ist eine
Zwangsmitgliedschaft durch den "closed shop", wie er teilweise in England noch in den
70er-Jahren üblich war, unter der bundesrepublikanischen Rechtsordnung nicht
gesetzmäßig und wird allenfalls vereinzelt informell, durch sozialen Gruppendruck,
praktiziert.
Nach Olson verbleiben somit nur noch "selektive Anreize", um das
Trittbrettfahrerproblem zu umgehen. Versicherungsleistungen sind ein solches "Klubgut",
das nur den Mitgliedern zugute kommt. Tatsächlich hatten gewerkschaftliche
Versicherungsleistungen als gegenseitige freiwillige Selbsthilfe eine lange Tradition
(Eickhof 1973). Jedoch sind die wesentlichen sozialen Risiken wie Alter, Unfall,
Krankheit und Arbeitslosigkeit zunehmend durch öffentliche Pflichtversicherungen
abgedeckt worden.[2]
Der Streikunterstützung kommt eine wesentliche Bedeutung zu; sie wird in der Regel
beitragsbezogen nur an Mitglieder ausbezahlt, was einen zusätzlichen Anreiz zur
Beitragsehrlichkeit gibt. Gerade in Branchen und zu Zeiten konfliktreicher
Tarifauseinandersetzungen ist dieser Schutz vor Lohnausfall durch Streiks sinnvoll. Es ist
jedoch für viele Arbeitnehmer schwierig, das Risiko und den Vorteil der
Streikversicherung abzuschätzen und vorauszusagen. Den tariffähigen Gewerkschaften
dienen Streikunterstützungen hauptsächlich der Durchsetzung gewerkschaftlicher
Tarifpolitik. Eine gefüllte Streikkasse vermag allein durch ihr Drohpotential zu wirken,
und es können so weitere Rücklagen gebildet werden.[3]
Eine weitere Mitgliederleistung stellt der individuelle Rechtsschutz dar, der erhebliche
finanzielle und personelle Ressourcen des DGBs in Anspruch nimmt. Obwohl
Rechtsschutz auch privat versichert werden kann, spricht vieles für den
gewerkschaftlichen Schutz und seine Spezialisierungsvorteile. Auch hier ist das Risiko
und der Nutzen einer Anspruchnahme für das potentielle Mitglied nur schwer
voraussehbar. Die meisten DGB Gewerkschaften haben als weitere Mitgliederleistung die
Freizeitunfallversicherung eingeführt, die eine bestehende Lücke im
Sozialversicherungsrecht deckt. Diese Zusatzversicherung und weitere
Mitgliedschaftsvergünstigungen wie Kreditkarten, Internetzugang und Werbungsprämien
sind jedoch allenfalls zusätzliche "goodies", die auch auf dem freien Markt erworben
werden können: Sie wiegen finanziell nicht die Kosten einer Mitgliedschaft auf.
Das Trittbrettfahrerproblem scheint durch selektive Anreize kaum lösbar, denn nur selten,
wenn das Risiko eines Arbeitskonfliktes und die Versicherungsleistungen hoch sind,
"rechnet sich" die Mitgliedschaft. Aus soziologischer Sicht ist der individuelle Nutzen
nicht der einzige Beweggrund für einen Gewerkschaftsbeitritt (bzw. -verbleib), sondern
gesellschaftliche Normen und soziale Beziehungen vermögen, gerade für bestimmte
soziale Gruppen, die Bereitschaft zur kollektiven Organisation zu erhöhen. Berufsgruppen
mit enger sozialer Bindung, die eine "occupational community" bilden, haben eine höhere
kollektive Organisationsneigung, so z.B. die Drucker, die bereits in ihrer Lehre
berufsständisch sozialisiert werden. Auch die räumliche Nähe von Arbeiten und Wohnen,
gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen und Bedrohung durch Stellenabbau haben in
der Vergangenheit eine hohe kollektive Bindung unter Bergarbeitern gefördert (Tenfelde
1992). Ebenso hatte die Streikwelle um 1969 zunächst zu einer sozialen Mobilisierung
und zu einer Ausweitung gewerkschaftlichen Einflusses auf bisher unterrepräsentiere
soziale Gruppen (z.B. ausländische Mitarbeiter) beigetragen.
Die traditionellen berufständischen und sozialen Bindungen sind durch die
Deindustrialisierung, Pluralisierung und Säkularisierung seit den 60er-Jahren zunehmend
aufgelöst worden. Seit den späten 70er-Jahren hat der Wertewandel immer mehr
kollektive Orientierungen, die eine Gewerkschaftsmitgliedschaft noch als einen "Wert an
sich" (Offe / Wiesenthal 1980) begreifen, verdrängt. Auch die These einer
Verbürgerlichung durch die Zunahme der Angestellten und Beamtenschichten und ihrer
individualistischen Orientierungen prognostiziert einen sozialkulturellen Wandel zur
postindustriellen Gesellschaft, der die Bindung an solidarische Kollektivorganisationen
erschwert. Trotzdem spielen gesellschaftliche Normen und soziale Netzwerke weiterhin
eine Rolle. Die sozialen Kontakte (Familie, Freundeskreis und Arbeitskollegen)
beeinflussen die Bereitschaft zur Gewerkschaftsmitgliedschaft, sei es durch
Beispielsfunktion, Gruppendruck oder Informationszugang. Dies kann sich jedoch zu
einer Abwärtsspirale entwickeln: Wenn die Gewerkschaftsmitgliedschaft seltener wird,
dann sinken auch die Chancen, dass ein Nichtmitglied in seinem unmittelbaren sozialen
Umfeld Kontakt zu einem Gewerkschaftsmitglied hat und damit die Wahrscheinlichkeit
eines Gewerkschaftsbeitritts.
Die Arbeitssituation ist ebenfalls von Bedeutung: Je größer und besser organisiert ein
Betrieb ist, desto leichter fällt die Werbung eines zusätzlichen Mitglieds durch Kollegen,
Betriebsräte und Vertrauensleute. Gerade in Bezug auf die Möglichkeiten der
Mitgliederwerbung im Betrieb sind die institutionell gesetzten Regeln von Bedeutung,
dies trifft besonders in den verrechtlichten deutschen Arbeitsbeziehungen zu (Streeck
1981). In der Bundesrepublik sind zwar Gewerkschaften durch die Spitzenverbände und
den Staat anerkannt, aber einige mittelständische Arbeitgeber haben noch Vorbehalte. Die
gesetzlich geregelte Betriebsverfassung ordnet zunächst einer nichtgewerkschaftlichen
Institution (dem Betriebsrat) substantielle Ordnungsrechte auf betrieblicher Ebene zu, die
in anderen Ländern von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten ausgeübt werden. Ähnlich
wie bei der Verstaatlichung von Wohlfahrtsleistungen beschneiden auch hier die staatlich
gesetzten Regelungen die Möglichkeiten der Gewerkschaften, für ihre Mitglieder
zusätzliche Funktionen zu übernehmen. Andererseits ergeben sich aus den verbrieften
Rechten dort, wo Betriebsräte gewerkschaftlich organisiert und vor allem hauptamtlich
tätig sind, in der Praxis informelle Rekrutierungsmöglichkeiten von
Gewerkschaftsmitgliedern durch Betriebsräte.
In der vergleichenden Forschung werden zur Erklärung langfristiger und struktureller
Unterschiede von Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung politökonomische
Zyklen, sozialstrukturelle Umbrüche und institutionelle Kontextfaktoren angeführt (vgl.
Ebbinghaus / Visser 1999; Hassel 1999):
Besonders ökonomische Ansätze neigen zur Betrachtung zyklischer Veränderungen
in der Tradition der "business-cycle"-Modelle (Bain / Elsheikh 1976). Danach
werden hohe Lohnabschlüsse den Gewerkschaften positiv zugeschrieben, weil sich
die Mitgliedschaft dadurch lohne ("credit effect"). Bei ansteigender Inflation
würden Arbeitnehmer aus Angst um die Erhaltung ihres Lebensstandards in die
Gewerkschaften eintreten ("threat effect"). Es gibt in dieser Forschungsrichtung
unterschiedliche Erwartungen über den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die
Mitgliedschaftsentscheidung: Einerseits kann es bei steigender Arbeitslosigkeit zu
einer "Zuflucht" zu den Gewerkschaften mit dem Ziel der Sicherung des eigenen
Arbeitsplatzes kommen, anderseits wirken sich längere Phasen der
Massenarbeitslosigkeit eher negativ auf die Stärke der Gewerkschaften aus. Auch
politische Erklärungsansätze verwenden oft Zeitreihenmodelle (Armingeon 1988),
die neben Wirtschaftsindikatoren auch politische Variablen verwenden; so wird
z.B. erwartet, dass "Linke" Regierungen die Mitgliedschaftsentwicklung positiv
beeinflussen, indem sie Organisationshilfen bereitstellen und die Bedingungen für
gewerkschaftliche Tarifpolitik verbessern. Dies soll im nächsten Teil (Abschnitt 3),
der Analyse der langfristigen Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung,
diskutiert werden.
Strukturelle Analysen hingegen sehen im sozialen Wandel die wesentliche
Erklärung für langfristige Veränderungen und Unterschiede im Querschnitt. Der
Strukturwandel moderner Gesellschaften, besonders die Tertiarisierung und
Flexibilisierung, erschwere zunehmend die Werbung und Bindung von
Gewerkschaftsmitgliedern. Dies wird auch auf Unterschiede im
Organisationsverhalten zwischen Mitgliedergruppen zurückgeführt.
Industriearbeiter, männliche Vollbeschäftigte und ältere Arbeitnehmer sind aus
soziologischer Sicht besser organisierbar als Angestellte, Frauen,
Teilzeitbeschäftigte, Jugendliche und ethnische Minderheiten. Die strukturellen
Erklärungen werden besonders im übernächsten Teil (Abschnitt 4) bei der Analyse
von Organisationsunterschieden zwischen Mitgliedergruppen behandelt.
Institutionelle Ansätze verweisen auf besondere Rahmenbedingungen, unter denen
die Wirkungszusammenhänge zyklischer oder struktureller Faktoren von den
institutionellen Bedingungen abhängen. So können die gesetzlichen Regeln und
institutionalisierten Arbeitsbeziehungsmuster bestimmen, welche negativen
Sanktionsmöglichkeiten (z.B. "closed shop") oder selektive Anreize (z.B.
gewerkschaftliche Arbeitslosenkassen) einer nationalen Gewerkschaftsbewegung zu
einem bestimmten Zeitpunkt als Organisationshilfen zur Verfügung stehen. Diese
institutionellen Rahmenbedingungen sind jedoch kaum quantifizierbar und werden
oft als gegeben vorausgesetzt. Deshalb wird besonders in historisch vergleichenden
Studien auf die unterschiedlichen institutionellen Kontexte der Arbeitsbeziehungen
verwiesen (Ebbinghaus / Visser 1999), während diese bei quantitativen Analysen
und Einzelländerstudien oft nur im Zeitverlauf (z.B. vor und nach Reformen)
thematisiert werden. Diese institutionellen Kontextbedingungen werden in den
folgenden Analysen, und besonders im letzten vergleichenden Teil (Abschnitt 4),
eine wichtige Rolle einnehmen.
3Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit heute ungefähr 8 Millionen Mitgliedern ist
der größte nationale Dachverband im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB). Innerhalb
des DGBs existieren auch die größten Einzelgewerkschaften Europas: seit der Gründung
im März 2001 die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di mit zirka 3 Millionen Mitgliedern
und die bisher stärkste Industriegewerkschaft (IG Metall) mit über 2,7 Millionen
Mitgliedern (siehe Tabelle 1). Hohe Mitgliederzahlen und Mobilisierungspotentiale
wurden seit langem als Zeichen gesellschaftspolitischer und tarifpolitischer Macht
gedeutet, auch wenn die historische Erfahrung zeigt, dass Mitgliedererfolge wieder
vergehen können. Aus der Schwächung der Gewerkschaften in der Weimarer Republik
und aus den Erfahrungen der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten zogen deutsche
Gewerkschaftsführer nach 1945 organisationspolitische und gesellschaftliche Lehren: Das
Prinzip der Einheits- und Industriegewerkschaft (unter dem Motto "ein Betrieb - eine
Gewerkschaft") sollte stärkere, dauerhaftere und einflussreichere Mitgliederorganisationen
schaffen. Im Folgenden soll zunächst die Mitgliedschaftsentwicklung und dann die
Organisationsgradentwicklung bis zur Vereinigung beschrieben werden.
Tabelle 1 Mitglieder in DGB Gewerkschaften, DAG, DBB und CGB (in Tsd.), 1950-
2000
West West und Ost
1950 1960 1970 1980 1990 1991 2000
DGB Gewerkschaften
IG Metall 1.352 1.843 2.223 2.622 2.727 3.624 2.763
[+GHK,GTB] [3.129] [4.212]
GHK 190 161 130 157 153 239 ~
GTB 410 355 303 294 250 348 ~
IG BCE [1.041] [1.425] 892
IGCGPK 410 520 599 661 676 877 ~~
IGBE 581 535 387 368 323 507 ~~
GL 100 90 62 56 43 42 ~~
IG BAU [507] [912] 540
IGBSE 406 426 504 533 463 777 ~~
GGLF 103 90 46 42 44 135 ~~
Ver.di (2001-)* *[2.826] *[4.317] *[2.989]
ÖTV 726 963 977 1.150 1.253 2.138 1.477
DPG 191 283 361 450 479 612 446
HBV 64 131 158 351 405 737 441
IG Medien [189] 185 245 175
IGD&P 133 141 148 144 ~~
GK 43 31 34 45 ~~
NGG 256 288 247 253 275 431 261
Transnet (GdED) 426 439 413 407 312 527 320
GEW 61 84 120 184 189 360 270
GdP (43) (83) (117) 166 163 201 188
DGB Insgesamt 5.451 6.379 6.713 7.883 7.938 11.800 7.772
(inkl. GdP) [5.494] [6.462] [6.830]
DAG* 307 450 461 495 505 585 451
DBB 190 650 721 819 799 1.053 1.200
CGB (3) 200 195 288 309 330 305
Insgesamt 5.994 7.763 8.207 9.484 9.552 13.768 9.728
[ ] Mitgliedersumme der später an/zusammengeschlossenen Gewerkschaften; ~ Anschluss; ~~
Zusammenschluss; ( ) noch nicht dem Gewerkschaftsbund angeschlossen; * Ver.di-Zusammenschluss
(inkl. DAG) März 2001.
Quellen: Müller-Jentsch, Walther / Ittermann, Peter, 2000: Industrielle Beziehungen. Daten,
Zeitreihen, Trends 1950-1999. Frankfurt: Campus; für 2000: IW Gewerkschaftsreport 2001 und
www.DGB.de; eigene Berechnungen.
3.1 Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung bis zur Vereinigung
Mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 entstand der DGB aus seinen Vorläufern in
der britischen, amerikanischen und französischen Zone und wurde in den 50er- und 60er-
Jahren zum bestimmenden gewerkschaftlichen Dachverband mit über 6 Millionen
Mitgliedern im Westdeutschland (siehe Tabelle 1). Die IG Metall, die ÖTV und die
Postgewerkschaft (DPG) wuchsen besonders schnell, während die Gewerkschaften im
Textilbereich (GTB) und Bergbau (IG BE) bereits vom Stellenabbau betroffen waren.
Neben dem DGB wurden drei konkurrierende (Dach-)Verbände gegründet: Die Deutsche
Angestellten Gewerkschaft (DAG, 1949), die an die getrennte Organisation von
Angestellten während der Weimarer Republik anknüpfte, konnte zunächst einen
Mitgliederzuwachs verzeichnen; der Deutsche Beamtenbund (DBB), der als
Standesorganisation der Beamten seine Mitgliederzahlen in der ersten Dekade gar
verdreifachen konnte; als Schlusslicht der viel kleinere Christliche Gewerkschaftsbund
(CGB), der nach der Reintegration des Saarlands (1957) entstand.
In der Zeit der Vollbeschäftigung der 60er-Jahre verlangsamten diese Verbände ihr
Wachstum oder stagnierten sogar. Damit hatten sich die Rangordnungen zwischen den
vier Lagern bis zur Wiedervereinigung eingependelt. Der DGB und seine
Mitgliedsgewerkschaften dominierten mit mehr als 80% aller Gewerkschaftsmitglieder
die westdeutsche Tariflandschaft. Nur der DBB war mit nahezu 10% aller Organisierten
und fast der Hälfte der organisierten Beamten ein gewichtiger Gegenspieler im
öffentlichen Dienst, doch hatten seine Mitglieder kein Streikrecht. Die DAG
repräsentierte Anfang der 60er-Jahre 6-8% aller Organisierten und ein Drittel der
organisierten Angestellten, verlor jedoch durch die schnell wachsende HBV, der
Dienstleistungsgewerkschaften im DGB, und die Organisationserfolge der DGB-
Industriegewerkschaften an Boden. Der CGB (2-3%) spielt bis heute kaum eine Rolle:
Selbst unter einer konservativen Regierung konnte er keineswegs die ungeteilte
Unterstützung der CDU erhalten, da der Christliche Arbeitnehmerflügel dem
Einheitsgewerkschaftsprinzip des DGBs verpflichtet war.
Die Trendwende kam mit den "Septemberstreiks" von 1969. Vor allem die IG Metall
wuchs zunächst schnell. Auch die HBV und die DGB Gewerkschaften im öffentlichen
Dienst verzeichneten ein anhaltendes Wachstum in den 70er-Jahren. Doch die
zunehmende Massenarbeitslosigkeit seit der 2. Ölkrise 1979/1980 und die konservative
Politikwende unter der Regierung Kohl seit 1982 verschlechterten nachhaltig das Umfeld
für die Gewerkschaften: Der DGB verlor zwischen 1981 und 1984 nahezu 300.000
Mitglieder (oder nahezu 4%) und konnte erst langsam, Mitte der 80er-Jahre, wieder
Mitglieder hinzugewinnen.
Tabelle 2 Anteile und Organisationsgrade für DGB Mitgliedergruppen und BRD
insgesamt, 1950-2000
West West und Ost
1950 1960 1970 1980 1990 1991 2000
Mitgliederanteile (im DGB)
Arbeiter 82,6 79,6 74,5 68,2 67,1 59,4 60,2
Angestellte 10,4 11,2 14,4 21,0 22,8 23,6 28,6
Beamte 7,0 9,2 11,1 10,8 10,0 6,9 7,2
Frauen 16,2 16,9 15,0 20,3 24,4 33,0 30,5
Jugend (-25) .. .. 14,1 14,6 13,2 11,5 *5,3
Erwerbspersonen 92,9 88,4 83,4 86,0 83,3 86,9 *81,0
Rentner 6,4 10,5 15,1 14,0 16,7 13,1 *19,0
Organisationsgrade des DGBs
Erwerbspersonen
(BOG I)
34,4 31,1 30,0 31,8 29,0 32,3 21,3
Erwerbstätige
(BOG II)
39,3 31,9 30,7 33,0 31,2 34,8 23,8
Arbeiter 45,8 40,7 40,7 47,3 48,4 48,1 36,9
Angestellte 17,8 11,7 12,6 16,3 15,1 16,6 12,6
Beamte 45,4 40,6 38,8 36,2 32,3 32,2 24,0
Frauen .. 16,1 13,6 17,5 18,8 27,1 16,2
Jugend (-25) .. .. 20,4 21,1 20,5 22,6 *10,2
Netto (ohne
Rentner: NOGI)
32,2 27,8 25,4 27,3 24,2 28,1 *17,3
Organisationsgrade anderer Verbände
Erwerbspersonen
(BOG I)
DAG 1,6 1,6 1,4 1,4 1,3 1,2 0,8
DBB 1,0 2,3 2,2 2,4 2,0 2,1 2,1
CGB 0,0 0,7 0,6 0,8 0,8 0,7 0,5
Organisationsgrade BRD insgesamt
Erwerbspersonen
(BOG I)
37,9 37,8 36,6 38,3 35,2 37,7 26,6
Erwerbstätige
(BOG II)
42,9 38,3 36,9 39,7 37,8 40,6 29,8
Netto ohne Rentner
(NOG I)
35,4 33,8 31,1 32,9 29,3 32,8 *21,6
BOG I: alle Mitglieder / abhängige Erwerbspersonen (inkl. Arbeitslose); BOG II: alle Mitglieder /
abhängige Beschäftigte (ohne Arbeitslosen); NOG I: Mitglieder im Erwerbsleben (ohne Rentner) /
abhängige Erwerbspersonen (inkl. Arbeitslose); Rentner: teilweise inkl. Arbeitslose; * Schätzungen.
Quellen: (für Mitgliederzahlen:) siehe Tabelle 1, (für Erwerbsstatistik:) Statistisches Bundesamt
(Hrsg.), Mikrozensus 1964-, (für NOG:) Bernhard Ebbinghaus / Jelle Visser, 2000: Trade Unions in
Western Europe since 1945 (Handbuch und CD-ROM), London / New York: Macmillan / Palgrave;
eigene Berechnungen.
Abbildung 1a-b Brutto- und Nettoorganisationsgrade (%),
Bundesrepublik 1950-2000
1 a
1 b
DGB (inkl. GdP), DAG, DBB und CGB; siehe Tabelle 1 und 2.
Inwiefern Gewerkschaften auch bei wachsenden Mitgliederzahlen immer noch dem
Beschäftigungswachstum hinterherhinken, zeigt der Organisationsgrad.[4] Nach dem
hohen Stand von 1951/52 nahm der Bruttoorganisationsgrad trotz wachsender
Mitgliederzahlen ab (siehe Abbildung 1). Vor allem verliert der DGB relativ zur
Beschäftigungsexpansion des "Wirtschaftswunders" um ca. 10 Prozentpunkte von 39,3%
aller beschäftigten Arbeitnehmer 1950 auf 31,9% 1960 (siehe Tabelle 2). Die Schere
zwischen den beiden Organisationsgradberechnungen (mit und ohne Arbeitslose) schließt
sich zunehmend mit Erreichen der Vollbeschäftigung, da es nun kaum mehr Arbeitslose
in der Arbeitsmarktstatistik gibt. Die findet man erst wieder mit der Rezession 1966/67.
Trotz erheblich steigender Mitgliederzahlen seit den späten 60er-Jahren nimmt der
Organisationsgrad (vor allem für die beschäftigten Arbeitnehmer) erst Mitte der 70er-
Jahren zu, also mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit nach der Ölkrise. Der Zenit ist
dann um 1980 mit einer Organisationsrate (BOG II) von 40% der abhängigen
Beschäftigten erreicht. Die Schere weitet sich wegen zunehmender Massenarbeitslosigkeit
in Folge der 2. Ölkrise (1979/80) wieder: Der Organisationsgrad für die abhängigen
Erwerbspersonen geht schneller zurück als für die Erwerbstätigen (d.h. ohne Arbeitslose
im Nenner). Auch eine Analyse des Nettoorganisationsgrades, der die Rentner
herausrechnet, zeigt ein ähnliches Verlaufsmuster, wenn auch auf einem noch niedrigeren
Niveau und mit einem stärkeren langfristigen Rückgang, da der Anteil der Rentner bis
1990 stetig zunahm (siehe Abbildung 1).
In der langfristigen Entwicklung des Organisationsgrades bis zur Vereinigung gibt es
politisch und wirtschaftlich bedingte Zyklen. Der Zusammenhang zwischen
Organisationsgradentwicklung und Arbeitslosigkeit ist jedoch nicht immer eindeutig. In
den 50er-Jahren ging das Absinken des Organisationsgrades mit der Rückkehr zur
Vollbeschäftigung einher, und spiegelbildlich gab es einen Mobilisierungserfolg während
der ersten Phase der Massenarbeitslosigkeit nach 1973. Unter der sich verschlechternden
Wirtschaftslage der 70er-Jahre suchte die "Stammbelegschaft" vermehrt in den
Gewerkschaften einen Schutz ihrer "Senioritätsrechte" (d.h. vor allem
Beschäftigungssicherung für langjährige Mitarbeiter; Streeck 1979: 98). Anderseits sank
der Organisationsgrad nachhaltig in den 80er-Jahren und wiederum im Osten nach der
Vereinigung 1990 in Folge der anhaltenden und zunehmenden Massenarbeitslosigkeit.
Anhaltende Massenarbeitslosigkeit führt auf Dauer zu Rekrutierungsproblemen, nicht nur,
weil Langzeitarbeitslose aus Enttäuschung und finanziellen Erwägungen eher aus der
Gewerkschaft austreten, sondern, weil der langfristige Stellenabbau, anders als der
konjunkturzyklische, gerade gut organisierte Branchen wie z.B. den Montanbereich
betrifft.
Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive bleibt besonders erklärungsbedürftig, warum
der Organisationsgrad gerade in den 50er-Jahren schnell sank und warum mindestens die
Hälfte dieses Verlustes in den 70er-Jahren wieder wettgemacht werden konnte. Die
Organisationserfolge um 1950/51, aber auch um 1968/69 (und selbst die
Vereinigungserfolge) scheinen zunächst auf politisch und soziale Mobilisierung zu
beruhen, nicht unähnlich anderer europäischer Länder, die in der unmittelbaren
Nachkriegszeit und in Folge der Streikbewegung in den späten 60er-Jahren einen
Mitgliederschub erfuhren. Klaus Armingeon hebt in seiner Studie (Armingeon 1987: 100)
besonders auf machtpolitische Erklärungen ab, die von einem strukturellen Konflikt
zwischen Arbeit und Kapital ausgehen und einen positiven Einfluss durch
Regierungsbeteiligung gewerkschaftsfreundlicher linker Parteien voraussetzen. Selbst
wenn der DGB als Einheitsgewerkschaft keine formelle Bindung an die SPD hat, so sind
doch ein großer Teil der Funktionäre auf beiden Seiten gleichzeitig Mitglied in Partei und
Gewerkschaft. Die Gewerkschaftsmitglieder sind ein wichtiges Wählerklientel für die
SPD, auch wenn die traditionellen sozialstrukturellen Parteibindungen seit den 70er
Jahren zurückgingen. Zeitreihenanalysen von Organisationsgradentwicklungen kommen
zu unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf den Einfluss linker Regierungsbeteiligung
neben den ökonomischen Variablen (Armingeon 1987; vgl. kritisch Schnabel 1989). Hier
bedarf eine Erklärung zusätzlicher historischer Analyse.
Eine Dämpfung gewerkschaftlicher Mobilisierungserfolge setzte nach dem
arbeitnehmerfreundlichen Montanmitbestimmungsgesetz (1951) bereits mit der
Niederlage der Gewerkschaften beim Betriebsverfassungsgesetz (1952), dem Wahlerfolg
der Adenauer-Regierung (1953), der zunehmenden Entradikalisierung der
Gewerkschaftspolitik und dem Arbeitskampfurteil des Bundessarbeitsgerichts von 1955
(u. a. Verbot des politischen und "wilden" Streiks) ein. Dies wurde noch verstärkt durch
den wirtschaftlichen Aufschwung und den Abbau der Arbeitslosigkeit. Hingegen finden
der Mitgliederaufschwung und die Organisationsgradzuwächse zeitgleich mit der sozialen
Mobilisierung durch die "wilden" Streiks und den Anfangsjahren der sozialliberalen
Koalition von 1969 bis Mitte der 70er-Jahre statt. In dieser Zeit haben sich auch die
gesamtwirtschaftlichen und betrieblichen Einflussmöglichkeiten für die Gewerkschaften
verbessert, vor allem durch die Konzertierte Aktion (1967-1977), die Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG 1972) und das Mitbestimmungsgesetz (1976)
(Streeck 1981).[5] Der konservative Regierungswechsel 1982 brachte wiederum eine
Wende im politischen und arbeitsrechtlichen Umfeld der Gewerkschaften, wenn auch die
Abwendung vom Keynesianismus bereits durch die sozial-liberale Koalition eingeleitet
wurde. Neben der national und EU-politisch betriebenen Deregulierungs- und
Privatisierungspolitik verschlechterten die umstrittene Änderung des §116
Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) von 1986 sowie eine gewisse Flexibilisierung im
Arbeitsrecht (1985) und im Betriebsverfassungsgesetz (1988) die Rahmenbedingungen für
Gewerkschaftshandeln in den 80er-Jahren, wenn auch nicht so negativ wie in
Großbritannien unter der Regierung von Margaret Thatcher.
Abbildung 2 a-d DGB Bruttoorganisationsgrade: BRD, Ost und West (%)
2 a 2 b
2 c 2 d
Nur DGB; siehe Quellen zu Tabelle 1 und 2
Abbildung 3 a-c DGB Bruttoorganisationsgrade von Arbeitnehmergruppen:
BRD, Ost und West (%)
3 a 3 b
3 c
Nur DGB; siehe Quellen zu Tabelle 1 und 2.
3.2 Der Mitgliederschwund seit der Vereinigung
Nach der Vereinigung und der Teilübernahme der FDGB Gewerkschaften bzw. der
Neuorganisation im Osten expandierten die Gewerkschaften um mehr als 4 Millionen
Mitglieder (siehe Tabelle 1). Die DGB-Gewerkschaften konnten einen Zuwachs um 3
Millionen Mitglieder im ersten gesamtdeutschen Berichtsjahr (1991) verbuchen. Aber
jedes zweite Ostmitglied verließ den DGB bereits innerhalb von nur 6 Jahren. Im Westen
setzte sich der Abwärtstrend im Westen langsam fort (2-3% jährlich). Die Deutsche
Angestellten Gewerkschaft (DAG) hat kaum durch den Osten hinzugewonnen (ca. 80.000
Neumitglieder 1990/91), und auch dieser Zuwachs war bereits nach 5 Jahren wieder
verloren (1999 arbeiteten nur 16% der DAG Mitglieder in Ostdeutschland). Nur der
Deutsche Beamtenbund (DBB) wuchs in den 90er-Jahren um 400.000 Mitglieder, davon
war die Mehrzahl wahrscheinlich im Osten. Der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB)
hat keinen merklichen Zugang durch die Vereinigung erhalten (nur 12% arbeiten in
Ostdeutschland). Nahezu alle Gewerkschaften standen vor Organisations- und
Finanzproblemen in Folge des rasanten Mitgliederschwundes und des geringen
Beitragsaufkommens. Die Gewerkschaften reagierten darauf mit dem Abbau von
Gewerkschaftspersonal, internen Organisationsreformen und grundlegenden
Umstrukturierungen der Organisationslandschaft in den letzten Jahren.[6]
Durch den überproportionalen Neuzugang an Mitgliedern im Osten brachte die
Vereinigung zunächst eine unmittelbare Verbesserung des Bruttoorganisationsgrades von
35,2% (nur Erwerbstätige: 37,8%) der alten BRD auf 37,7 (bzw. 40,6%) im vereinten
Deutschland, was dem Höchststand in Westdeutschland von 1981 entsprach (siehe
Abbildung 1). Aber bereits am Ende des Jahrzehnts war der gesamtdeutsche
Bruttoorganisationsgrad um mehr als zehn Prozentpunkte gefallen (2000: 26,6%, nur
Erwerbstätige: 29,8%). Unmittelbar nach der Vereinigung war nahezu jeder zweite
Arbeitnehmer im Osten in eine DGB-Gewerkschaft eingetreten, am Ende der 90er-Jahre
war nur noch jeder Vierte im Osten DGB-Mitglied (siehe Abbildung 2). So sank der
Bruttoorganisationsgrad für den DGB im Osten von 51,1% (bzw. 57,6%) 1991 auf 26,8%
(bzw. 33,5%) 1998.[7]
Ein Vergleich der DGB-Gewerkschaften zeigt nach dem rapiden Abschwung im Osten
eine Angleichung des Organisationsgrades an den des Westens (siehe Abbildung 2).[8]
Aber auch im Westen geht der Organisationsgrad kontinuierlich, wenn auch langsamer,
zurück. Auffallend sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Ost und West
im DGB: Die Organisationsneigung von Männern im Osten hat sich dem ihrer Kollegen
im Westen vollständig angeglichen, während der Organisationsgrad bei den Frauen im
Osten, trotz starkem Rückgang, noch immer signifikant höher liegt als im Westen. Da
dieser Vergleich sich nur auf die DGB-Gewerkschaften bezieht und zumindest der DBB
eine wichtige Rolle im öffentlichen Dienst spielt, lässt sich nicht feststellen, ob dies für
alle Organisierten zutrifft.
Die DGB Organisationsgradentwicklung für die drei Arbeitnehmergruppen zeigt, dass der
Rückgang vor allem bei den Beamten am stärksten ausgeprägt ist, danach bei den
Arbeitern und schließlich etwas weniger bei den Angestellten, da diese bereits 1990 eine
niedrigere Organisationsbereitschaft zeigten (siehe Abbildung 3). Der Organisationsgrad
der Arbeiter und Beamten in den "neuen" Ländern ist sogar unter den der "alten" BRD
gefallen. Davon hebt sich nur der Organisationsgrad unter Angestellten ab, der nach wie
vor im Osten nahezu zehn Prozentpunkte über dem des Westens liegt. Weibliche
Angestellte und Beamtinnen sind im Osten eher DGB-Mitglied als ihre Kolleginnen im
Westen.
Das schnelle Absinken des Organisationsgrades im Osten hat vielschichtige Gründe: Der
Stellenabbau durch Privatisierung, Deindustrialisierung und das Ende des Baubooms, die
partielle Verdrängung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt, die Frühverrentung von älteren
Arbeitnehmern, die auf Zeit finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die langsame
Verbeamtung in den neuen Ländern, die Verkleinerung der Großbetriebe und das
Entstehen von klein- und mittelständischen Betriebsstrukturen. Diese Veränderungen in
der Beschäftigungsstruktur schwächten die anfänglichen Organisationsvorteile ab oder
kehrten sie gar in Nachteile für die Mitgliederwerbung um. Hinzu kommen die im
Gegensatz zum Westen unterentwickelten Tarifstrukturen.[9]
Doch nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeberverbände sehen sich im
Osten einem Mitgliederschwund gegenüber (so in der Metallindustrie, siehe Schroeder
2000). Die Privatisierung ehemaliger "volkseigener" Großbetriebe und der Stellenabbau
führte zu einem Organisationsproblem der Arbeitgeberverbände. Hierdurch entstanden
viele kleinere, nicht tarifgebundene Betriebe, die für die Gewerkschaften schwer
zugänglich sind, selbst, wenn es einen Betriebsrat geben sollte.
Auch die fehlende Nähe zur SPD unter Arbeitnehmern im Osten führte zu einer
geringeren Bindung an die Gewerkschaften bzw. zu einer anderen politischen
Zusammensetzung der Mitglieder im Osten. Die Tendenz der Gewerkschaften, ihre
Sozial- und Tarifpolitik auf die westdeutsche Mehrheit auszurichten, verstärkt sicherlich
die politische Distanz von potentiellen und tatsächlichen Gewerkschaftsmitgliedern im
Osten.
4Der sozialstrukturelle Wandel als Ursache des Mitgliederrückgangs
Der langfristige Rückgang des Organisationsgrades in modernen Gesellschaften wird
bereits in den 60er-Jahren von namhaften amerikanischen Soziologen (Bell, Lipset,
Sturmthal) auf den sozialstrukturellen Wandel zurückgeführt. Gewerkschaften sind
unterschiedlich stark in verschiedenen "sozialkulturellen Milieus" (Lepsius) verankert,
und der sozialstrukturelle Wandel verschiebt die Gewichte langfristig zu Ungunsten der
Gewerkschaftsbewegung. Je mehr sich eine Gesellschaft von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft wandelt, desto mehr nehmen die Arbeitnehmergruppen zu, die
weniger kollektiv orientiert sind und seltener Mitglied einer Gewerkschaft werden.
Außerdem findet selbst in den traditionellen Arbeiterschichten, so die These von der
Verbürgerlichung, eine Auflösung der sozialen Bindungen und ein postmaterialistischer
Wertewandel statt. Auch in Deutschland zeigen sich dauerhafte Unterschiede in der
Organisationsbereitschaft unterschiedlicher Arbeiternehmergruppen. In der folgenden
Analyse sollen die drei Berufsgruppen der Arbeiter, Beamten und Angestellten verglichen
werden (siehe Abbildung 4). Außerdem wird die Organisationsneigung von Frauen,
Jugendlichen, Rentnern und Arbeitslosen thematisiert (siehe Abbildung 5).
Abbildung 4 Organisationsgrad nach Mitgliedergruppen (%)
DGB (inkl. GdP), DAG, DBB und CGB; siehe Tabelle 1 und 2.
Abbildung 5 a-b Organisationsgrade von DGB-Mitgliedergruppen (%)
5 a
5 b
Nur DGB; siehe Quellen in Tabelle 1 und 2.
4.1 Arbeiter
Arbeiter sind bis heute die bestimmende Mitgliedergruppe in den DGB-
Industriegewerkschaften. In den 50er-Jahren waren über 80% der DGB-Mitglieder
Arbeiter (meist männliche Alleinverdiener); noch heute sind es über 60% (65% im
Westen und 55% im Osten). Dabei haben nahezu alle organisierten Arbeiter das
Mitgliedsbuch einer DGB-Gewerkschaft (nur 4% sind im DBB oder CGB organisiert).
Der Arbeiteranteil innerhalb des DGBs spiegelt noch heute im Westen den Arbeitsmarkt
der 60er-Jahre wider, da die zunehmende Zahl von Angestellten und Beamten entweder
überhaupt nicht oder außerhalb des DGB organisiert ist. Der überwiegende Anteil (zwei
Drittel) der organisierten Arbeiter ist im sekundären Sektor tätig, ein Viertel im
öffentlichen Dienst und nur relativ wenige im privaten Dienstleistungsbereich. Neben dem
Bergbau als klassischem Beispiel für eine räumlich konzentrierte und durch besondere
Arbeitsrisiken zusammengeschweißte "occupational community" sind auch Arbeiter in
größeren Industrie- oder bürokratischen öffentlichen Betrieben leichter organisierbar als
solche im Handwerk und in kleineren Betrieben. Einerseits sind die Arbeitsbedingungen
eher kollektiv geprägt und bürokratisch geregelt, und anderseits nehmen die Dichte,
Freistellung und Kompetenzen von Betriebsräten mit der Betriebsgröße zu.
Der Organisationsgrad von Arbeitern ist überdurchschnittlich (siehe Abbildung 4):
Zwischen 40 und 50% der Arbeiter sind in den letzten fünf Jahrzehnten gewerkschaftlich
organisiert gewesen. Dabei folgten die Organisationserfolge unter den Arbeitern den
gleichen Schwankungen wie der allgemeine Trend; der Aufwärtstrend der 70er-Jahre ist
jedoch ausgeprägter. Hier wirken sich die verbesserten gewerkschaftlichen
Zugangsmöglichkeiten durch die Mitbestimmungsreformen aus. Die DGB-
Gewerkschaften vermögen es, den Arbeiterorganisationsgrad bis Ende der 80er-Jahre bei
50% zu halten (siehe Abbildung 3). Die Vereinigung brachte 1991 kaum einen Zugewinn,
weil der Organisationsgrad durch den Stellenabbau besonders schnell im Osten und etwas
langsamer im Westen fiel; er liegt heute, wie in den 60er-Jahren, bei 40% für
Gesamtdeutschland (siehe Abbildung 4). Der Stellenabbau durch
Rationalisierungsmaßnahmen und internationalen Wettbewerb wirkte sich negativ auf die
Mitgliederentwicklung der Industriegewerkschaften im produzierenden Gewerbe aus.
4.2 Beamte
Der Organisationsgrad der Beamten war traditionell relativ hoch, sank aber über die Zeit
stetig. In den 50er-Jahren war fast jeder Beamte (nahezu 90%) Mitglied einer DGB-
Gewerkschaft oder der "Standesorganisation" (DBB) (siehe Abbildung 4). Seitdem nahm
der Organisationsgrad fast kontinuierlich ab bzw. stagnierte seit der Vereinigung. Heute
sind nur noch 2 von 3 Beamten organisiert, das entspricht dem Durchschnitt aller
Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst. Da Beamte kein Streikrecht besitzen und ihre
Verbände keine Tarifverhandlungen führen, sondern nur zu Konsultationen mit den
öffentlichen Arbeitgebern eingeladen werden, nimmt für sie die Lobbyarbeit eine
besondere Rolle ein. Es werden nicht nur Gehaltsfragen, sondern auch
Arbeitsbedingungen, Stellenplanung und Ruhegehaltsregelungen durch den Gesetzgeber
bestimmt. "Standespolitik" wird dadurch erleichtert, dass ein hoher Anteil Parlamentarier
verbeamtet ist und der Dienstherr auch Beamter ist. Somit kann es zu einer Vermischung
von Interessenlagen und Verantwortlichkeiten kommen. Das Personalvertretungsrecht im
öffentlichen Dienst hilft hier bei der Rekrutierung von Mitgliedern. Der öffentliche Dienst
als bürokratische Großorganisation mit auf die Dienstzeit bezogenen Aufstiegs- und
Entlohnungssystemen lässt den Beamten eine korporative Interessenpolitik auf Bundes-,
Länder- und kommunaler Ebene als notwendig erscheinen. Da aber das Dienstrecht und
die Besoldung ein kollektives Gut darstellen, das auch den Nichtorganisierten zugute
kommt, verwundert der geringe Anteil von Trittbrettfahrern. Hier mag eine Rolle spielen,
dass jeder Dienstbereich ein eigenes Interesse hat, Planstellen zu sichern und deshalb jede
Beamtengruppe einen Anreiz hat, sich gut zu organisieren.
Der Anteil der Beamten unter den DGB-Mitgliedern entspricht heute ungefähr ihrem
Anteil an allen beschäftigten Arbeitnehmern (7-8%). Im Gegensatz zur Organisation der
Angestellten bleibt für den DGB der DBB als Standesorganisation der Beamten ein
ernsthafter Konkurrent. In der alten Bundesrepublik waren durchgehend mehr Beamte im
DGB als im DBB organisiert, seit der Vereinigung kam es jedoch zu einem Rückgang der
Beamten unter den DGB-Mitgliedern und einem weiteren Zuwachs beim DBB. Der
Anteil der Beamten lag im DGB bis in die 80er-Jahre um 10%. Auch wenn die Beamten
im DGB insgesamt in der Minderheit sind, so bilden sie heute nahezu die Mehrheit in den
kleineren Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Wegen der geringeren Verbeamtung
und Teilprivatisierung ist deren Anteil vor allem im Osten niedriger.[10] Auch im DBB
sank der Anteil der Beamten von traditionell um 90% nach der Vereinigung auf nur 70%.
4.3 Angestellte
Angestellte sind weniger geneigt, sich gewerkschaftlich zu organisieren: Nur jeder fünfte
Angestellte ist in einem Berufsverband, die Arbeiter sind hingegen doppelt und die
Beamten dreimal so oft organisiert. Vor der Vereinigung betrug der Organisationsgrad im
öffentlichen Dienst unter den "Kopfarbeitern" (Angestellte und Beamte) über 60%,
während weniger als 20% der Angestellten in der Privatwirtschaft organisiert waren
(Visser 1989). Die "Kragenlinie" zwischen Arbeitern und Angestellten geht historisch auf
die sozialpolitische Trennung in der Sozialversicherung vor dem ersten Weltkrieg und die
organisationspolitische Spaltung in den Weimarer Gewerkschaftsbewegungen zurück,
jedoch haben sich die sozialpolitischen Unterschiede und standespolitischen Differenzen
in den bundesrepublikanischen Nachkriegsjahren abgeschwächt (Kocka 1981). Trotzdem
hat sich der Organisationsgrad der Angestellten kaum verbessert (siehe Abbildung 2),
allenfalls im öffentlichen Dienst, während er in der Privatwirtschaft eher abnimmt.
Obwohl der DGB die meisten Angestellten organisiert, stellen diese wegen des relativ
niedrigen Organisationsgrades nur eine Minderheit innerhalb des Dachverbandes dar
(siehe Abbildung 5). Vor der Vereinigung war nicht einmal jedes vierte DGB-Mitglied
ein Angestellter, seitdem sind es ca. 42% im Osten und um 30% insgesamt. Gerade unter
den Industriegewerkschaften sind die technischen und kaufmännischen Angestellten in
der Minderheit, ganz anders im Dienstleistungssektor.[11] Die DAG hat gerade in der
Industrie Mitgliedsanteile verloren, während sie im öffentlichen Dienst auf ein Drittel
stiegen. Die DAG ist nicht nur der HBV gegenüber, sondern auch zunehmend der ÖTV
gegenüber ein Konkurrent geworden, was vor allem nach den Mitgliederverlusten in den
90er-Jahren (siehe Tabelle 1) einen Zusammenschluss nahe legte. Mit der Gründung von
Ver.di ist die über ein Jahrhundert andauernde organisatorische Konkurrenz von
Angestelltenverbänden faktisch überwunden, wenn man von den geringfügig
organisierten Angestellten im CGB und DBB absieht. Im Gegensatz zur IG Metall sind
die Mitglieder der neuen Ver.di mehrheitlich keine Arbeiter, sondern Angestellte (55%)
und Beamte (9%). Trotzdem bleibt der Organisationsrückstand bei den Angestellten in
der Privatwirtschaft weiterhin um ein Dreifaches hinter dem öffentlichen Sektor zurück.
Den Gewerkschaften fällt der Zugang besonders in den kleinbetrieblichen privaten
Dienstleistungsbranchen schwer, da diese eine geringe Durchdringung gewerkschaftlich
organisierter Betriebsräte und hohe Anteile von Frauenbeschäftigung, Teilzeit- und
prekären Beschäftigungsverhältnissen aufweisen.
4.4 Frauen
Die Gewerkschaften waren bis in die späten 60er-Jahre hinein fast ausschließlich
Männerdomänen: Mehr als 80% der DGB-Mitglieder waren Männer. Dies war einerseits
eine Folge der um die Hälfte niedrigeren Erwerbsquote von Frauen, andererseits war dies
durch den geringeren Organisationsgrad bedingt (siehe Abbildung 5). Die Tarif- und
Sozialpolitik bezog sich primär auf das "Normalarbeitsverhältnis" männlicher
Vollverdiener und ging noch von einer patriarchalisch geprägten "Normalfamilie" aus, in
der Frauen sich mit der Heirat, aber spätestens ab dem ersten Kind aus dem Berufsleben
zurückzogen. Der Frauenanteil vergrößerte sich mit der Bildungsexpansion Ende der
60er-Jahre zunächst für die GEW. Mit zunehmender Erwerbsbeteiligung von Frauen seit
den 70er-Jahren nahm auch der Frauenanteil für einige DGB-Gewerkschaften im
öffentlichen Dienst und ebenso für DBB, DAG und HBV zu. Die Vereinigung brachte
dem DGB zunächst einen Zuwachs von 2 Millionen weiblichen Mitgliedern im Osten, in
der Folge jedoch eine rapide Abnahme (um 3/4 des Zugewinns) innerhalb nur einer
Dekade.
Selbst wenn man die niedrigeren Erwerbsquoten berücksichtigt, waren Frauen bis in die
70er-Jahre erheblich weniger organisiert als Männer: nur jede fünfte Arbeitnehmerin
gegenüber nahezu jedem zweiten männlichen Kollegen. Die Verlaufsmuster der
Organisationsgrade von Frauen und Männern waren jedoch in den ersten Jahrzehnten
nahezu identisch. Erst in den 80er-Jahren liefen die Rekrutierungstrends auseinander, als
bei Frauen die Organisationsquote weiterhin stieg, während sie bei Männern sank.
Weibliche Erwerbstätige sind im Allgemeinen überproportional in niedrig organisierten
Branchen (Einzelhandel, Textilbereich und privaten Dienstleistungsbereich) beschäftigt
und eher in solchen Angestelltenberufen anzutreffen, die weniger organisiert sind.[12] Der
höhere Anteil von Teilzeitbeschäftigung und prekären Arbeitsverhältnissen unter Frauen
erschwert die Mitgliederwerbung und dauerhafte Bindung an eine Gewerkschaft. Es gibt
auch weiterhin Defizite in der Mitgliederwerbung von Frauen, dem Anteil von weiblichen
Mandatsträgern und der Vertretung von frauenspezifischen Interessen. Der niedrigere
Organisationsgrad verstärkt die Unterrepräsentanz innerhalb der Verbände: Noch 1990
war nur jedes vierte DGB-Mitglied eine Frau, seit der Vereinigung ist es nun jedes dritte
Mitglied des DGBs und fast jedes zweite DGB-Mitglied im Osten.
4.5 Jugendliche
Organisationsdefizite bei der Jugend können kaum aufgeholt werden, selbst wenn die
Organisationsbereitschaft bis zu einem mittleren Alter noch ansteigt. Der Eintritt in das
Berufsleben – die Ausbildungsstelle und/oder das erste Anstellungsverhältnis – sind
wesentliche Einschnitte und Sozialisationserfahrungen im Lebensverlauf. Wer in dieser
Phase von der Mitgliedschaft überzeugt werden kann, verbleibt auch eher und länger in
der Gewerkschaft. Je länger jedoch jemand unorganisiert bleibt, desto geringer ist die
Chance, dass noch ein Betritt erfolgt. Deshalb sollte die DGB Mitgliederstatistik eher die
Gewerkschaftsfunktionäre beunruhigen: Mitte der 80er-Jahre lag der Anteil der DGB-
Jugend (bis 25 Jahre) noch um 15%, nahm dann langsam ab, und nach der Vereinigung
fiel der Anteil rapide um zwei Drittel auf heute circa 5%.[13] Der Rückgang ist teilweise
durch die demographische Entwicklung bedingt: Heute sind im Westen wie im Osten die
jüngeren Jahrgänge kleiner als früher. Die längeren Bildungswege sowie die
Jugendarbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen führen zu einem späteren
Berufseinstieg. In der Vergangenheit hatten die Dienstleistungsgewerkschaften
unterschiedlich starken Zulauf von Jugendlichen, doch näherten sich in den vergangen
Jahren fast alle DGB-Gewerkschaften der niedrigen 5% Marke.
Selbst bei Berücksichtigung der kleineren Jahrgangsstärken zeigt der Organisationsgrad
des DGBs den gleichen Rückgang (siehe Abbildung 5): Noch vor der Wende war jeder
fünfte Beschäftigte bis 25 Jahre in einer DGB-Gewerkschaft organisiert, doch dann ging
der Organisationsgrad rasch zurück. Heute ist es nur noch jeder Zehnte. Die Ursachen
sind vielschichtig. Jugendliche haben Schwierigkeiten, eine Ausbildungsstelle oder einen
Normalarbeitsplatz zu finden; die Zunahme an Teilzeit- bzw. befristeten Arbeitsverträgen;
der Wandel hin zu wenig organisierten Dienstleistungstätigkeiten, der gerade jüngere
Altersgruppen betrifft; Entwicklungen wie individualistische Werthaltungen und
Politikverdrossenheit, das Verschwinden von sozialkulturellen Milieus zeigen sich
besonders im Osten bei den spezifischen Arbeitsmarktproblemen von Jüngeren.[14] Ob
die Attraktivität einer kollektiven Solidargemeinschaft durch neue Dienstleistungs- und
Kommunikationsangebote (z.B. "chat room"-Angebote) unter Jugendlichen erhöht
werden kann, kann heute kaum abschließend beurteilt werden. Vermehrte Jugendarbeit
und die Werbung junger Arbeitnehmer ist unerlässlich, jedoch ist dies umso schwerer, je
mehr die Gewerkschaften in ihrer Mitgliederstruktur und im Funktionärsapparat
überaltern.
4.6 Rentner
Überaltern die Gewerkschaften? Heute ist nahezu jedes fünfte DGB-Mitglied im (Vor-)
Ruhestand. Mit Eintritt des Ruhestands bleibt ein Großteil der Mitglieder ihrer
Gewerkschaft treu, zumal sie einen geringen Beitrag bezahlen dürfen und weiter
Mitgliedsleistungen erhalten (z.B. Rentenberatung). "Weitgehend unbeabsichtigt und
unbemerkt hat sich der Deutsche Gewerkschaftsbund mit seinen Mitgliedsorganisationen
zu einer der größten deutschen Seniorenorganisationen entwickelt" (Künemund 1994: 32).
Die Einzelgewerkschaften unterscheiden sich in Bezug auf die branchenspezifischen
Altersstrukturen und Frühverrentungstrends (vgl. Künemund 1994: Tab. 2.1, S. 33).[15]
Die Vereinigung hatte zunächst eine gewisse Verjüngung gebracht (1991: DGB 13%),
gerade für die Spitzenreiter (Transnet und IG BE ca. 30%); doch sind in den 90er-Jahren
besonders durch den hohen Anteil von Austritten von jüngeren Mitgliedern in
Ostdeutschland die Seniorenanteile wieder gestiegen.
4.7 Arbeitslose
Die deutschen Gewerkschaften sahen bisher die Organisation von Arbeitslosen als
weniger dringlich an, da sich die Gefahr des untertariflichen Lohndumpings in der
bundesrepublikanischen Tariflandschaft dank Tarifbindung der Arbeitgeber, staatlicher
Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung faktisch nicht stellt. Bis in die 80er-
Jahre hinein wurden Arbeitslose kaum von den Gewerkschaften umworben, so dass ihr
Anteil bis zur Wende bei den meisten DGB-Gewerkschaften unterhalb der
Arbeitslosenquote lag.[16] Die gewerkschaftlich Organisierten sind im Allgemeinen
weniger häufig arbeitslos als nicht Organisierte, da sie meist eine bessere berufliche
Qualifikation aufweisen und besser durch Betriebsräte geschützt werden können
(Armingeon 1987: 77; vgl. Streeck 1981: 90).
Der massive Stellenabbau nach der Vereinigung führte jedoch zu einer bis dahin
unbekannten Zunahme von Arbeitslosen: Die Arbeitslosigkeit beträgt im Osten das
Doppelte (1998: 19,8%) des Westens (10,5%). Es bildeten sich zunehmend
Arbeitsloseninitiativen, zu denen Gewerkschaften wie die IG Metall Koordinationsstellen
schufen. Der Anteil der arbeitslosen Mitglieder hat nicht nur zugenommen, sondern liegt
im Osten überproportional hoch. So waren 1998 12,3% aller IG-Metall-Mitglieder auf
Arbeitssuche, jedoch 30,7% der Ostmitglieder. Zumindest ältere Arbeitslose verblieben
im Osten eher in der Gewerkschaft, während jüngere Arbeitssuchende kaum Mitglied
geworden sind.
Der Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die Mitgliederentwicklung zeigt in empirischen
Zeitreihenanalysen widersprüchliche und uneindeutige Ergebnisse (Armingeon 1987;
Schnabel 1989). Eine Studie legt gar nahe, dass zumindest vor der Vereinigung sich die
"positiven und negativen Einflussfaktoren im wesentlichen ausgleichen und dass der
Nettoeffekt der Arbeitslosigkeit auf die gewerkschaftliche Mitgliederstärke gering ist."
(Schnabel 1993: 219). Das heißt jedoch nicht, dass Gewerkschaften einem Anwachsen der
Arbeitslosigkeit indifferent gegenüberstehen sollten. So ist die Organisation von
Arbeitslosen aus politischen Gründen geboten, aber bei Ressourcenknappheit und geringer
Neigung sind gerade die jüngeren Arbeitssuchenden relativ schwer zum Eintritt in die
Gewerkschaft zu bewegen.
Tabelle 3 Nettoorganisationsgrade in Westeuropa, USA und Japan, 1960-1995
Nettoorganisationsgrad (%) Wachstum (%)
1960 1980 1995 1960-1980 1980-1995
Schweden 70,7 78,2 87,5 +10,6 +11,9
Finnland 29,3 70,0 78,8 +138,9 +12,6
Dänemark 60,2 77,5 78,1 +28,7 +0,8
Belgien 40,7 56,6 59,8 +39,1 +5,7
Norwegen 51,6 54,1 52,5 +4,8 –3,0
Irland 43,8 55,3 41,0 +26,3 –25,9
Österreich 57,8 50,8 38,9 –12,1 –23,4
Italien 22,2 44,4 32,4 +100,0 –27,0
UK 43,5 52,2 32,1 +20,0 –38,5
Deutschland 34,2 33,6 26,5 –1,8 –21,1
Japan 32,2 30,3 23,8 –5,9 –21,5
Niederlande 41,0 32,4 22,9 –21,0 –29,3
USA 28,9 21,1 14,9 –27,0 –29,4
Frankreich 19,2 17,1 8,6 –10,9 –49,7
Quelle: Bernhard Ebbinghaus / Jelle Visser, 2000: Trade Unions in Western Europe since 1945
(Handbuch und CD-ROM). London / New York: Macmillan / Palgrave; eigene Berechnungen.
Nettoorganisationsgrad: aktive Mitglieder (ohne Rentner) / abhängige Erwerbspersonen.
5Die deutschen Gewerkschaften im internationalen Vergleich
Im Vergleich zu den westeuropäischen Gewerkschaftsbewegungen nehmen die deutschen
Gewerkschaften einen unteren Mittelplatz in Bezug auf den Organisationsgrad ein und
sind, wie viele andere, vom langfristigen Mitgliederschwund betroffen (vgl. Ebbinghaus /
Visser 2000). Es bestehen sehr markante Unterschiede im Organisationsniveau zwischen
den westeuropäischen Gewerkschaftsbewegungen, und einige Länder weichen gar vom
allgemeinen negativen Trend ab (siehe Tabelle 3). Besonders auffallend ist, dass in
einigen nordischen Ländern und in Belgien trotz steigender Arbeitslosigkeit der
Mitgliedschaftstrend positiv verläuft. In diesen Ländern wird die
Arbeitslosenversicherung gewerkschaftlich verwaltet (das so genannte "Genter Modell");
dabei wird sie zunehmend vom Staat subventioniert.
Auch wenn die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft keine Voraussetzung für den Beitritt
einer Sozialversicherung ist, so wird den Gewerkschaften diese kollektive Schutzfunktion
positiv zugeschrieben. In Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern wurde diese
Selbsthilfefunktion vom Staat übernommen. Die einmal verlorene Funktion kann kaum
wiedergewonnen werden. Trotzdem versuchen gerade amerikanische und britische
Gewerkschaften mit neuen freiwilligen Versicherungen selektive Anreize für
Mitgliederwerbung anzubieten, doch blieben durchschlagende Erfolge bisher aus.
Mitgliedschaftszwang ("closed shops") und Abkommen zum Lohnabzugsverfahren, die
noch gelegentlich in den nordischen Ländern und Irland vorkommen und in
Großbritannien seit Thatcher eingeschränkt wurden, konnten sich in Deutschland aus
rechtlichen Gründen nicht durchsetzen.
Aus vergleichender Perspektive ist für die Mitgliederrekrutierung der gewerkschaftliche
Zugang auf betrieblicher Ebene von zentraler Bedeutung (vgl. Ebbinghaus / Visser 1999).
Wiederum sind die nordischen Gewerkschaften ein positives Beispiel: Anders als in der
dualen Vertretungsstruktur der Bundesrepublik sind die nordischen Vertrauensleute die
wesentlichen Arbeitnehmervertreter auf Betriebsebene und schließen auch Tarifverträge
mit dem Arbeitgeber ab. Das Zusammenspiel von institutionalisierten
Kollektivverhandlungen auf zentraler und dezentraler Ebene stärkt die nordischen
Gewerkschaften, der hohe Organisationsgrad gibt ihnen dabei genügend
Durchsetzungsmacht. Der höhere Organisationsgrad der österreichischen Gewerkschaften
erklärt sich ebenfalls durch die bessere Vertretung und tarifvertragliche Funktion der
Betriebsebene. Anderseits zeigt der langfristige Mitgliederschwund in den Niederlanden,
dass die Einbindung der Gewerkschaften in korporatistische Arrangements kein Ersatz für
Mitgliederwerbung auf Betriebsebene sein kann. Auch in Deutschland zeigt sich eine
zunehmende Schwächung der Mitbestimmungsinstitutionen. Die Betriebsratsnovellierung
2001 durch die rot-grüne Regierung zielt auf gewisse Erleichterungen bei der
Durchsetzung von Betriebsräten in den schwerer organisierbaren Branchen, ob sie jedoch
eine merkliche Verbesserung des gewerkschaftlichen Betriebszugangs und der
Mitgliederrekrutierung bewirken kann, wird sich erst in der Zukunft zeigen.
Die Folgen des Strukturwandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft haben
einerseits zu einer Ausweitung des besser organisierbaren öffentlichen Dienstes,
anderseits zu einem Zuwachs im unterorganisierten privaten Dienstleistungssektor und
von Angestelltentätigkeiten geführt. Die meisten Gewerkschaftsbewegungen haben eine
starke Stellung im öffentlichen Dienst erworben, der jedoch seit den 80er-Jahren der
Deregulierung, Privatisierung und Strukturreform ausgesetzt ist. Selbst in Großbritannien,
wo der konservative Umbau am weitesten fortgeschritten ist, liegt der Organisationsgrad
im "public sector" noch dreimal so hoch wie in der Privatwirtschaft. Wie bereits gezeigt,
ist in Deutschland der öffentliche Dienst (insbesondere die Beamten) ebenfalls besser
organisiert als die Angestellten im privaten Dienstleistungssektor. Im Gegensatz zu den
Jahren der Expansion des Wohlfahrtsstaates wird die Beschäftigung im relativ gut
organisierten öffentlichen Dienst in der Zukunft stagnieren oder gar zurückgehen.
Außerdem ist der deutsche "Sozialversicherungsstaat" weniger dienstleistungsintensiv als
der nordische Wohlfahrtsstaat, der gerade für Frauen Erwerbsmöglichkeiten im gut
organisierten öffentlichen Dienst schafft.
Die Organisation des privaten Dienstleistungssektors und der Angestellten in der Industrie
wird deshalb in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Der hohe Organisationsgrad
der nordischen Gewerkschaften wäre heute unmöglich ohne die Organisationserfolge
unter den Angestellten des privaten Sektors. Spezielle Angestellten- und Akademiker-
Verbände entstanden als kollektive Reaktion auf die Organisationserfolge der
Arbeitergewerkschaften. Diese funktionale Interessendifferenzierung und der Wettbewerb
von Partikularinteressen um Verbandseinfluss in der Tarif- und Sozialpolitik erlaubte
auch die Mobilisierung der politisch heterogeneren Angestelltenschichten. In Belgien und
Österreich sind heute die Angestelltenverbände die größten Mitgliedsverbände innerhalb
ihres Gewerkschaftsbundes. In Deutschland hat der Zusammenschluss zur
Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di die bisherige "standespolitische" Fragmentierung mit
Ausnahme der Beamten überwunden. Ob eine solche Mega-Gewerkschaft auch Erfolg bei
den Angestellten im privaten Dienstleistungssektor erzielen kann, wird sich erst in der
Zukunft zeigen. Die neuen Medien, vor allem das Internet, eröffnen hier neue
Möglichkeiten der Mitgliederkommunikation und informationsgestützter Dienstleistungen,
die gerade die Angestellten ansprechen könnten.
Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft ermöglicht auch die zunehmende Beteiligung
von Frauen am Erwerbsleben. Die nordischen Länder sind nicht nur führend in der
Beteiligung von Frauen am Arbeitsleben, sondern auch in ihrer gewerkschaftlichen
Einbindung. Heute bestehen, trotz verbreiteter Teilzeitarbeit, keine
geschlechterspezifischen Unterschiede im gewerkschaftlich gut organisierten Dänemark
oder Schweden. Die skandinavischen Gewerkschaften sind überdies Vorreiter in der
Öffnung gewerkschaftlicher Führungspositionen für Frauen. Aber auch in Großbritannien
haben sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede angeglichen, wenn auch durch ein
Absinken des männlichen Organisationsgrads; Frauen stellen nun 45% aller britischen
Gewerkschaftsmitglieder.
In Deutschland wie in anderen kontinentaleuropäischen Ländern besteht weiterhin eine
erhebliche geschlechtsspezifische Mobilisierungs- und Vertretungslücke. Noch immer
sind Frauen in der Minderheit: Seit der Vereinigung sind ein Drittel der DGB-Mitglieder
Frauen (ähnlich wie im österreichischen Gewerkschaftsbund), während
Arbeitnehmerinnen nur ein Viertel der niederländischen Gewerkschaftsmitglieder (wie im
DGB vor der Wende) repräsentieren. Gewerkschaften in romanischen Ländern
veröffentlichen erst gar nicht die niedrigen Mitgliederzahlen der Frauen, die teilweise von
der niedrigeren Beschäftigtenrate herrührt. Auch heute ist nur jede fünfte Arbeitnehmerin
(im Vergleich zu jedem dritten Arbeitnehmer) in Deutschland gewerkschaftlich
organisiert.
Tabelle 4 Mitglieder- und Organisationsgradentwicklung in der Bundesrepublik
Organisationsgrade
BRD
insgesamt
Mitglieder
(Tsd.)
Rentner
(%)
Erwerbs-
personen
(BOG I)
ohne Rentner
(NOG I)
Erwerbstätige
(BOG II)
1950 5.994 6,4 37,9 35,4 42,9
1952 6.778 7,2 40,5 37,6 45,0
1960 7.763 10,5 37,8 33,8 38,3
1969 7.979 15,4 36,4 30,8 36,7
1978 9.280 14,1 38,8 33,3 40,4
1990 9.620 16,7 35,2 29,3 37,8
1991 13.768 13,1 37,7 32,8 40,6
2000 9.728 18,8 26,6 21,6 29,8
Jährliche Veränderungen (%)
1950-52 +6,3 +6,1 +3,5 +1,9 +2,4
1952-60 +1,7 +4,7 –0,9 –2,4 –2,0
1960-69 +0,3 +4,4 –0,4 –1,1 –0,5
1969-78 +1,7 –1,0 +0,7 +1,3 +1,1
1978-90 +0,3 +1,4 –0,8 –0,8 –0,6
1990-01 +43,1 –21,7 +7,3 +12,2 +7,5
1991-00 –3,8 +4,1 –3,8 –4,1 –3,4
Organisationsgrade (Erwerbstätige: BOG II) (BOG I)
Frauen Arbeiter Angestellte Beamte DGB
1950 .. 45,8 27,8 65,9 34.4
1952 .. 47,3 29,2 74,3 35.9
1960 20,3 41,6 21,0 82,6 31.1
1969 17,7 40,5 20,7 75,9 29.6
1978 22,1 49,2 23,0 71,6 32.4
1990 24,4 49,7 21,3 64,6 29.0
1991 31,8 49,3 22,3 64,3 32.3
2000 22,8 37,6 17,7 66,0 21.3
Jährliche Veränderungen (%)
1950-52 .. +1,6 +2,4 +6,2 +2.2
1952-60 .. –1,6 –4,0 +1,3 –1.8
1960-69 –1,5 –0,3 –0,2 –0,9 –0.5
1969-78 +2,5 +2,2 +1,2 –0,7 +1.0
1978-90 +0,8 +0,1 –0,6 –0,8 –0.9
1990-01 +30,4 –0,8 +5,1 –0,5 +11.4
1991-00 –3,6 –3,0 –2,6 +0,3 –4.5
Quelle: bis 1990: Westdeutschland, ab 1991: Ost und West; siehe Tabelle 1 und 2.
6Fazit: Organisationsdefizite als Schicksal oder Herausforderung?
Mitglieder- und Organisationsgradentwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland
lassen sich nur zum Teil mit wirtschaftlichen und politischen Veränderungen erklären.
Der Rückgang während der 50er- und 60er-Jahre ging, anders als prognostiziert, mit
sinkenden und niedrigen Arbeitslosenquoten einher, während sie in den 70er-Jahren
(1969-1978), in den Jahren steigender Massenarbeitslosigkeit, zunächst relativ zur
Beschäftigung anstiegen. Entsprechend den Erwartungen zeigt sich erst in den 80ern und
vor allem seit der Vereinigung, dass massiver anhaltender Stellenabbau zu einem
merklichen Rückgang des Organisationsgrades führt, und dies nicht nur im Osten. Auch
im Westen hat er nun die Stammbelegschaften erreicht.
Die politischen Zyklen begleiten durchaus den Mitgliedertrend (siehe Tabelle 4): Die
langen konservativen Regierungsjahre beendeten den Nachkriegsboom (bis 1952) und die
sozialliberale Koalition (mit ihren Mitbestimmungsreformen) trug zu den
Organisationserfolgen bei, während die konservative Wende (1982) die Erosion der
Mitgliederstärke (um -0,8% von 1978 bis 1990) einleitete. Mit der Vereinigung ergaben
sich kurzfristige Mitgliedergewinne im Osten um 4 Millionen, die innerhalb einer Dekade
vor allem in Folge des massiven Stellenabbaus wieder zerronnen sind. Sie stellten
zunächst den kontinuierlichen Rückgang im Westen (für den DGB um 2-3%) in den
Schatten. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die spezifische Problemlage des
Ostens stellen die deutschen Gewerkschaften heute vor eine bisher unbekannte
Herausforderung. Auch der politische Wechsel mit der Abwahl der Regierung Kohl
(1998) und die rot-grüne gewerkschaftsfreundliche Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes (2001) scheinen bisher keinen Umschwung in der
Mitgliederwerbung eingeleitet zu haben.
Soziologische Erklärungen der langfristigen Mitgliederentwicklung heben auf die
sozialstrukturellen Veränderungen ab, die jedoch oft auch von politischen und
organisationsstrategischen Entscheidungen abhängen. Der Ausbau des öffentlichen
Dienstes mit seinen erleichterten Organisationsbedingungen hatte zunächst zu den
Organisationserfolgen der 70er-Jahre beigetragen. Danach verschlechterten der
Einstellungsstopp, die Privatisierungen und die eingeschränkte Verbeamtung in
Ostdeutschland die gewerkschaftlichen Organisationsbedingungen. Noch nachteiliger
haben sich die Deindustrialisierung und der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft
ausgewirkt. Sie führten zu einem Rückgang der gut organisierten Industriearbeiterschaft
(von 70% 1950 auf unter 40% heute) und einem Anstieg der nur schwer organisierbaren
Angestelltenberufe (von 23% auf über 50%), besonders im privaten Dienstleistungssektor.
Jedoch war es nicht alleine die sozialstrukturelle Umschichtung, sondern auch das
Absinken der Organisationsneigung in allen drei Arbeitnehmergruppen seit der
Vereinigung (so unter den Arbeitern von 49% auf 38%), der zu dem merklichen
Rückgang führte.
Zur Erklärung des umfassenden Mitgliederrückgangs bedarf es auch der Berücksichtigung
des Wandels der institutionellen Rahmenbedingungen, die sich negativ auf das
Organisationsumfeld auswirkten und unter denen es den Gewerkschaften immer schwerer
fiel, erfolgreiche Organisationsstrategien zu entwickeln. Neben der sozialen und
politischen Mobilisierung der frühen 70er-Jahre, führten die Reformen der
Mitbestimmung zu den Organisationserfolgen unter Arbeitern und öffentlich Bediensteten
in den 70er-Jahren. In den 80er- und vor allem 90er-Jahren haben die zunehmende
Erosion dieser institutionellen Betriebsverfassung, sowie die zunehmende Tarifflucht,
Flexibilisierung und Deregulierung, die flächendeckende betriebliche Mitgliederwerbung
erheblich erschwert. Wesentliche Voraussetzungen für betriebliche Mobilisierung und
Mitgliederwerbung im Betrieb sind die indirekten Organisationshilfen durch
gewerkschaftsnahe Betriebsräte. Ob die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes von
2001 diese Bedingungen gerade im wachsenden Bereich von Kleinbetrieben und im
Dienstleistungssektor wesentlich verbessert und zu einem ähnlichen Mitgliederzuwachs
wie die Reformen der 70er-Jahre beiträgt, erscheint angesichts der moderaten
Änderungen eher zweifelhaft.
Der internationale Vergleich verdeutlicht darüber hinaus, dass der Mitgliederrückgang der
90er-Jahre zwar durch die besondere Situation nach der Vereinigung verstärkt wurde,
aber dass die deutschen Gewerkschaften vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie
viele ihre Nachbarn. Anderseits zeigt die Erfahrung der skandinavischen Gewerkschaften
auf, dass durchaus Organisationserfolge auch unter den Angestelltenberufen erzielt
werden können und dass Frauen trotz Teilzeitarbeit und prekären Arbeitsbedingungen
gleichermaßen organisierbar sind wie ihre männlichen Kollegen. Der sozialstrukturelle
Wandel muss wegen der Abnahme der traditionellen Kernmitgliedschaftsgruppen nicht
zwangsläufig zu einem Mitgliederverlust führen. Organisationserfolge in neuen sozialen
Gruppen setzen jedoch eine bewusste Öffnung und modernisierte Organisationsstrategie
voraus.
Eine Neuorientierung ist sicherlich geboten. Ohne eine Umkehr des gegenwärtigen
Abwärtstrends (um jährlich 3-4%) würde der Nettoorganisationsgrad in der
Bundesrepublik von heute noch über 20% innerhalb von weniger als 20 Jahren auf unter
10% fallen. Das ist der gegenwärtige Stand der schwachen französischen
Gewerkschaften. Der rapide Rückgang des Organisationsgrades im Osten hat sich
schrittweise auf den gesamtdeutschen Trend einpendelt. Aber selbst im Westen verlieren
die DGB Gewerkschaften noch graduell um 2-3% jährlich an Mitgliedern (davon bis zu
2% unter Arbeitern), und nichts deutet auf eine Verlangsamung dieses Trends. Die in
weniger als 10 Jahren verlorenen 4 Millionen Mitglieder im Osten und das bereits seit den
80er-Jahren in Westdeutschland langsam abbröckelnde Organisationspotential können nur
mit beträchtlichen Anstrengungen wiedergewonnen werden.
Die spezifische Problemlage des Ostens mag zwar die dramatischen Rückgänge dort
erklären, sie schwächen jedoch auch die Verbände über den Osten hinaus und verdeckten
bisher eher den langfristigen Niedergang des deutschen Organisationsmodells. Selbst
unter den Stammbelegschaften von Industriebetrieben und unter den Beschäftigten des
öffentlichen Dienstes verlieren die deutschen Gewerkschaften an Rückhalt: Der
Organisationsgrad der Industriegewerkschaften ist unter den Arbeitern, Angestellten und
Beamten auf den niedrigsten Stand seit Gründung der Bundesrepublik gefallen. Immer
mehr Arbeitnehmer profitieren vom Schutz des Flächentarifvertrages und bewerten die
Rolle der Gewerkschaften (in Umfragen) durchaus positiv. Nur wenige sind jedoch bereit,
diese Gemeinschaftstätigkeit durch ihre Mitgliedschaft zu unterstützen. Auch wenn
selektive Unterstützungsleistungen und Beratungsangebote "nur für Mitglieder" die
Attraktivität eines Gewerkschaftsbeitritts erhöhen könnten, sind aus finanziellen und
arbeitsrechtlichen Gründen die Möglichkeiten ihres Ausbaus über die Kernleistungen
hinaus begrenzt.
Die Aussichten für die Zukunft sind angesichts der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt
noch düsterer. Als ein zunehmender Nachteil zeigen sich die Organisationsdefizite
deutscher Gewerkschaften bei Frauen und Jugendlichen, bei Angestellten- und
Dienstleistungsberufen, bei Teilzeitbeschäftigten und Arbeitlosen, sowie bei Beschäftigten
in Kleinbetrieben. Konzentrationsbewegungen in Richtung Multibranchengewerkschaften
à la Ver.di können zwar knapper gewordene Ressourcen effizienter einsetzen, es muss
jedoch bezweifelt werden, ob die weniger organisierten Berufe und sozialen Gruppen sich
in solchen Großorganisationen mit ihren partikularen Interessen adäquat repräsentiert
sehen. Bis heute spiegeln sich in den gewerkschaftlichen Mitgliedschaftskarteien die
Sozialstrukturen vergangener Zeiten wider. Die überdurchschnittlichen Anteile älterer
männlicher Industriearbeiter und Beamter zeigen sich auch in den politischen
Forderungen, wie z.B. bei der "Rente mit 60" der IG Metall. Jüngere Arbeitnehmer
werden dadurch sicherlich nicht gewonnen. Nach einer aktuellen Umfrage im Auftrag der
IG Metall stimmen 60% der Mitglieder (und 70% der Nichtmitglieder) dem Satz zu, dass
die Industriegewerkschaft aufpassen müsse, den Anschluss an die Zukunft nicht zu
verlieren (Eichler 2000).
Das Dilemma der von Mitgliederschwund betroffenen deutschen Gewerkschaften besteht
darin, sich gleichzeitig für neue soziale Gruppen und Interessenlagen öffnen zu müssen,
während sie weiterhin und zunehmend unter erschwerten Rahmenbedingungen ihre
Tarifarbeit für die noch mobilisierbaren Kernmitgliedschaftsgruppen betreiben müssen.
Ob gegenwärtige Organisationsreformen und mögliche Neuorientierungen der
Gewerkschaftspolitik ausreichen, den Trend umzukehren, wird sich erst in den nächsten
Jahren erweisen. Die niederländischen Gewerkschaften vermochten nach einer
Modernisierung ihrer Organisation und Politik den lang anhaltenden Niedergang
zumindest aufzuhalten. Ob ein solches "holländisches Wunder" auch in der
Bundesrepublik möglich ist, liegt zum Teil in den Händen der Gewerkschaften selbst.
Aber auch der Staat und die Arbeitgeber können einem schleichenden Dahinschwinden
der Mitgliederbasis der größten sozialen Interessenorganisation, die zum
gesellschaftlichen wie betrieblichen sozialen Frieden in der Bundesrepublik beigetragen
hat, kaum indifferent gegenüberstehen.
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Fußnoten
*Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags zu einem Sammelband über Gewerkschaften
in Deutschland: Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels (Hrsg.), Gewerkschaften in Politik und
Gesellschaft in der Bundesrepublik. Opladen: Westdeutscher Verlag (i.V.). Für hilfreiche
Anmerkungen danke ich den Herausgebern und Teilnehmern der Autorenkonferenz sowie Anke
Hassel, Jörg Teuber und Silke Vagt am MPIfG.
1Anstrengungen einzelner DGB-Gewerkschaften, in den 60er Jahren tarifvertragliche
Sonderklauseln für ihre Gewerkschaftsmitglieder durchzusetzen, scheiterten. „Das Haupthindernis
dabei war weniger der Widerstand der betreffenden Arbeitgeberverbände als vielmehr die von
den Arbeitsgerichten verteidigte Rechtsordnung mit ihrem Prinzip der‚ negativen
Koalitionsfreiheit‘“ (Streeck 1979: 83-84).
2Auch die gewerkschaftliche Zusatzversorgung wurde durch die Rentenreform 1957 und die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in den 60er Jahre ihrer Notwendigkeit entzogen, andererseits
konnte dadurch die verbleibende Streikversicherung ausgebaut werden (Streeck 1979).
3Da für Beamte kein Streikrecht besteht, haben die DBB Verbände keine Streikkassen und
niedrigere Beitragssätze.
4Der Organisationsgrad misst den Anteil der Arbeitnehmer, die Gewerkschaftsmitglied sind. Es
ergeben sich unterschiedliche Berechnungsarten: Beim Bruttorganisationsgrad wird die Anzahl
der Mitglieder entweder im BOG I zu allen abhängigen Erwerbspersonen (inkl. Arbeitslose im
Nenner) oder beim BOG II zu allen abhängigen Beschäftigte (ohne Arbeitslosen im Nenner) in
Beziehung gesetzt, beim Nettoorganisationsgrad (NOG I) werden die Rentner und andere
inaktive Gruppen (z.B. Studenten) aus den Mitgliedszahlen herausgerechnet (siehe auch Müller-
Jentsch / Ittermann 2000 und Ebbinghaus / Visser 2000).
5Die verbesserten Zugangsmöglichkeiten durch das BetrVG 1972 (vgl. Streeck 1981: 224-226)
zeigt sich am deutlichsten an den Zugewinnen der IG Metall (sie wuchs von 1969 bis 1974 um
ein Drittel).
6Vor der Vereinigung kam es nur zu einem Zusammenschluss von IG Druck & Papier und
Gewerkschaft Kunst zur IG Medien (1989). Danach schlossen sich IG BSE und GGLF zur IG
BAU (1996) zusammen, gefolgt von IG Chemie, IG BE, Gew. Leder zur IG BCE (1997), und
zuletzt erfolgte im März 2001 die Gründung von Ver.di durch ÖTV, DPG, HBV, IG Medien und
außerhalb des DGBs: DAG. IG Metall nahm hingegen die viel kleineren Gewerkschaften GTB
(1998) und GHK (2000) auf.
7Leider sind Zeitreihen zum Ost/Westvergleich nur für den DGB vorhanden (vgl. Müller -Jentsch /
Ittermann 2000: Tabellen C); die DAG hatte 1991 19%, der CGB 1991 nur 3%, der DBB 1990
19,9% Mitglieder in den neuen Bundesländern (Fichter / Reister 1996: 313). Die Anteile sanken
in der DAG wie auch beim DGB wieder, aber sie stiegen beim DBB. Der Organisationsgrad für
alle vier Verbände im Osten liegt wahrscheinlich um ein Zehntel höher als für den DGB alleine.
8Dies trifft am deutlichsten für den Bruttoorganisationsgrad (BOG I) des DGB zu, der die
wachsende Zahl der Arbeitslosen im Osten in die Zahl der Erwerbspersonen im Nenner mit
einschließt, während sich für die abhängig Erwerbstätigen (BOG II) ein langsamerer Abstieg und
ein höheres Niveau abzeichnet (dies ist jedoch teilweise ein statistisches Artefakt: die Mitglieder
ohne Arbeit sind unbekannt und so nicht herausgerechnet worden).
9Im Osten sind 1999 43% der Beschäftigten ohne Tarifvertrag, und 74% der Betriebe sind ohne
Tarifbindung im Vergleich zu 27% der Beschäftigten und 52% der Betriebe im Westen
(Tarifhandbuch 2001: 92-93).
10 Der Beamtenanteil im Westen lag 1998 bei GdP 85,7%, GEW 67,3%, DPG 55,1% und Transnet
(wegen der Privatisierung nur noch) 20,7%, im Vergleich: ÖTV 5,4% und DGB 8,9%. Im Osten
sind mit der Ausnahme der GdP (78,0%), die Anteile wegen der geringen Verbeamtung gering:
GEW 7,8%, DPG 7,8%, Transnet 0,1%, ÖTV 1,3% und DGB 3,5%. Vgl. (Müller-Jentsch /
Ittermann 2000: Tabellen C).
11 Vgl. die Angestelltenanteile (1999) in der IG Metall: 17,2%, IG BCE: 20,6%, IG BAU: 10,7%,
mit den Gewerkschaften im Dienstleistungssektor: HBV: 88,6%, ÖTV: 53,0%, bzw. Ver.di
(2001: 55%); siehe www.dgb.de und www.verdi-net.de.
12 Zu strukturellen Faktoren für die Varianz zwischen männlichen und weiblichen
Organisationsgraden siehe die multivariate Analyse von Windolf / Haas (1989).
13 Seit 1997 weichen einige Einzelgewerkschaften von der DGB-Altersgrenze ab (IG Medien: 26,
ÖTV, HBV, Transnet: 27, GdP: 30), die Mitgliederdaten wurden hier um 1/5 bereinigt. DAG hat
bis 1992 jugendliche Mitglieder ausgewiesen (bis 1991: bis 24, 1992: bis 27); bis zur Wende
waren dies 9% aller DAG-Mitglieder. 12% der DBB-Mitglieder sind Jugendliche (bis 27), 11%
im CGB sind Jugendliche (1995); vgl. Niedenhoff / Pege 1997 und IW Gewerkschaftsreport.
14 Der Organisationsanteil unter der jüngeren Bevölkerung (18-34) sank um zwei Drittel von 27%
1993 auf nur 9% 1998, während der Anteil im Westen von 14% auf 11% zurückging (Bundesamt
1999: Tab. 6, S. 536).
15 Spitzenreiter im DGB waren noch vor 1990 die Gewerkschaften im Bergbau (IGBE: 41% der
Mitglieder in 1989 waren Senioren) und bei der Bundesbahn (Transnet: 35%) und mit gewissem
Abstand (ca. 20%) folgten Polizei (GdP) und Bauwirtschaft (IG BSE). Ein geringer Anteil (unter
7%) findet sich bei den Dienstleistun
g
s
g
ewerkschaften HBV, der Lehrer
g
ewerkschaft GEW und
der IG Medien, während die IG Metall, die ÖTV und die meisten Industriegewerkschaften
dazwischen lagen, wie auch der DGB insgesamt (16%).
16 Es gibt keine einheitliche Arbeitslosenstatistik der DGB-Gewerkschaften. Nach den
Gewerkschaftsberichten schwankte der Anteil der Arbeitslosen um 1984/85: DPG und GdP unter
1%, Transnet 1,3%, IG Metall 3,2%, IG CGPK 4,3%, ÖTV 5,4%, GTB: 5,5%, GEW 6,7%,
GGLF 6,9%, HBV 7,4%, NGG und IG BSE ohne Angaben (vgl. Armingeon 1988: Tab. 4.21
und Berichte der Gewerkschaften). In wichtigen DGB-Gewerkschaften wurde erst in den 80er
Jahren der Zutritt für bis dahin unorganisierte Arbeitslose ermöglicht (IG Metall: 1983, ÖTV und
HBV: 1988, vgl. Hassel 1999: 87).
Copyright © 2002 Bernhard Ebbinghaus
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MPI für Gesellschaftsforschung, Paulstr. 3, 50676 Köln, Germany
MPIfG: MPIfG Working Paper 02/3
http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp02-3/wp02-3.html
[Zuletzt geändert am 29.03.2007 11:00]