Die Themen Sexarbeit, Prostitution und Zwangsprostitution sind gesellschaftlich tabuisiert und fnden nur selten Erwähnung in Materialien bzw. Angeboten
der sexuellen Bildung (Bode/Heßling, 2015, 37). Dabei handelt es sich bei
den genannten Themenfeldern um Erscheinungen unserer Gesellschaft, von denen ein nicht unerheblicher Teil unserer Bevölkerung als Sexarbeiter*innen/
Prostituierte*r, als Kund*innen/Freier*innen, als mitverdienende Dritte, als
Täter bzw. Opfer, als Angehörige dieser Gruppen, als politische Entscheidungsträger*innen, als behördliche Ausführungskräfte, als sozialarbeiterische Unterstützer*innen oder Beobachter*innen direkt betroffen ist.1 Dass diese „Realität“
nicht in den Kanon schulischer und außerschulischer Sexualbildung einfießt,
lässt sich deutlich als Leerstelle markieren. Das Verhältnis von Prostitution,
Zwangsprostitution und Sexarbeit einerseits und von sexueller Bildung andererseits ist bislang innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung empirisch
wie theoretisch nicht beleuchtet worden.
Im Folgenden sollen daher Argumente angeführt werden, die für eine Diskursivierung der Themen Prostitution, Sexarbeit und Zwangsprostitution in
Angeboten der sexuellen Bildung plädieren. Als Grundlage für die Argumentation
dient die Verbindung der beiden Themenfelder „(Zwangs-)Prostitution und Sexarbeit als Thema sexueller Bildung“ und „Erfahrungen mit Sexarbeit/Prostitution
und Zwangsprostitution junger Frauen und Mädchen in Haft“. Mit letztgenannter
Personengruppe wurden mittels Fragebögen Erfahrungen zu den genannten
Themenfeldern erhoben, so dass hier auf das Ausmaß von Sexarbeits- bzw.
(Zwangs-)Prostitutionserfahrungen von Mädchen und jungen Frauen des Jugendvollzugs und auf ihre sexualpädagogischen Förderbedarfe aufmerksam gemacht
werden kann. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die Problematiken
menschlichen Zusammenlebens im Zwangskontext des Jugendgefängnisses aufgrund der institutionellen Gegebenheiten wie unter einem Brennglas zentriert
sind (Foucault, 1994). Diese institutionellen Gegebenheiten entsprechen fast
auf mustergültige Weise den Merkmalen totaler Institutionen, wie Goffman
(1973) sie beschrieben hat. Das hat zur Folge, dass – der Bildungsarbeit immer
immanente – Konstellationen von Macht und Unterwerfung sowie Anpassungsforderungen (u. a. Koneffke, 1995) in diesem Kontext stark verdichtet auftreten, da sich junge inhaftierte Menschen dem Machtüberhang der dort tätigen Pädagog*innen nicht entziehen können (Kaplan/Schneider, 2020). Auch ihre Lebenslagen scheinen „verdichtet“ zu sein, da hier fast ausschließlich sozial marginalisierte junge Menschen zusammenleben (müssen), die in der Regel eine
Biografe aufweisen, die von sozialem Ausschluss, Diskriminierungserfahrungen
und erheblichen strukturellen Barrieren für eine sozial akzeptierte und zufriedenstellende Lebensgestaltung gekennzeichnet sind (hierzu Stelly et al. 2014; Kaplan
und Schneider 2020).
Dies führt im induktiven Schluss zu Implikationen für eine (macht)kritische,
marginalisierungssensible Praxis der (sexuellen) Bildungsangebote innerhalb
des Systems Gefängnis, die darüber hinaus – und quasi in essentieller Weise –
Schlussfolgerungen für kritische sexuelle Bildungspraxen außerhalb des Haftkontextes, also in Schule, Einrichtungen der Jugendhilfe etc., zulassen.
Denn auch aufgrund des zu konstatierenden Forschungsdesiderats
„Erfahrungen bzgl. (Zwangs-)Prostitution bzw. Sexarbeit von Mädchen* und
jungen Frauen*“ (im Generellen und speziell im Kontext Jugendvollzug) konnte
bislang auf keine empirische Datenlage zurückgegriffen und damit kaum die
Forderung nach der Thematisierung und Diskursivierung des Sujets innerhalb
von Bildungsangeboten in- und außerhalb des Jugendvollzuges gefordert werden.
Dabei ist es common sense, dass sich sexuelle Bildung stets den Bedürfnis- und
Lebenslagen ihrer Rezipient*innen anpassen sollte.
Im Folgenden widmet sich der erste Teil dieses Aufsatzes der theoretischen
terminologischen Klärung. Darauf aufbauend wird die Studie mit Mädchen und
jungen Frauen in Haft skizziert, um im Anschluss an die Ergebnisdarstellung
Implikationen für die Praxis der sexuellen Bildung (in und außerhalb von Haft)
mit methodischen Anregungen abzuleiten.