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Die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
empfiehlt diese Bachelor-Arbeit
besonders zur Lektüre!
Gestresste KindesschützerInnen
Stress und Bewältigung im Arbeitsalltag des abklärenden
Kindesschutzes
„Sind meist nicht die spektakulären Sachen, es ist einfach das, was mich in
meiner Person mehr trifft, aber was das genau ist, weiss ich nicht.“ „Ich war
nie jemand der mit fliegenden Fahnen
übers Ziel hinweg schoss Kopf und
Bauch wahren immer in einem
guten Gleichge- wicht das hat mir
sicher geholfen.“ „Die Freude an der
Herausforderung ist für mich zentral,
wenn ich einmal keine Freude mehr an
meinem Beruf hätte, dann wäre das für
mich ein Zeichen aufzuhören.“
„Auch das ich mir überlege, wo liegt
die Verantwort- ung und diese
auch abgebe und nicht zu mir nehme,
das ist für mich entlastend.“ „Wenn man einen guten Austausch hat, können es
noch so schwierige Situationen sein, es belastet einem weniger.“
Simone Glur und Kathrin Junker
Bachelorarbeit der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Bachelor-Arbeit
Ausbildungsgang Sozialarbeit
Kurs VZ 2007 - 2010
Kathrin Junker und Simone Glur
Gestresste KindesschützerInnen
Stress und Bewältigung im Arbeitsalltag des abklärenden Kindesschutzes
Diese Bachelor-Arbeit wurde eingereicht im August 2010 in 4 Exemplaren zur Erlangung des vom
Fachhochschulrat der Hochschule Luzern ausgestellten Diploms für Sozialarbeit.
Diese Arbeit ist Eigentum der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie enthält die persönliche
Stellungnahme des Autors/der Autorin bzw. der Autorinnen und Autoren.
Veröffentlichungen – auch auszugsweise – bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung durch die Leitung
Bachelor.
Reg. Nr.:
III
Vorwort der Schulleitung
Die Bachelor-Arbeit ist Bestandteil und Abschluss der beruflichen Ausbildung an der Hochschule Luzern,
Soziale Arbeit. Mit dieser Arbeit zeigen die Studierenden, dass sie fähig sind, einer berufsrelevanten
Fragestellung systematisch nachzugehen, Antworten zu dieser Fragestellung zu erarbeiten und die eigenen
Einsichten klar darzulegen. Das während der Ausbildung erworbene Wissen setzen sie so in Konsequenzen
und Schlussfolgerungen für die eigene berufliche Praxis um.
Die Bachelor-Arbeit wird in Einzel- oder Gruppenarbeit parallel zum Unterricht im Zeitraum von zehn
Monaten geschrieben. Gruppendynamische Aspekte, Eigenverantwortung, Auseinandersetzung mit
formalen und konkret-subjektiven Ansprüchen und Standpunkten sowie die Behauptung in stark belasteten
Situationen gehören also zum Kontext der Arbeit.
Von einer gefestigten Berufsidentität aus sind die neuen Fachleute fähig, soziale Probleme als ihren
Gegenstand zu beurteilen und zu bewerten. Sozialarbeiterisches Denken und Handeln ist vernetztes,
ganzheitliches Denken und präzises, konkretes Handeln. Es ist daher nahe liegend, dass die
Diplomandinnen und Diplomanden ihre Themen von verschiedenen Seiten beleuchten und betrachten, den
eigenen Standpunkt klären und Stellung beziehen sowie auf der Handlungsebene Lösungsvorschläge oder
Postulate formulieren.
Ihre Bachelor-Arbeit ist somit ein wichtiger Fachbeitrag an die breite thematische Entwicklung der
professionellen Sozialen Arbeit im Spannungsfeld von Praxis und Wissenschaft. In diesem Sinne wünschen
wir, dass die zukünftigen Sozialarbeiter/innen mit ihrem Beitrag auf fachliches Echo stossen und ihre
Anregungen und Impulse von den Fachleuten aufgenommen werden.
Luzern, im August 2010
Hochschule Luzern, Soziale Arbeit
Leitung Bachelor
Abstract
IV
Die Arbeit im abklärenden Kindesschutz verlangt viel von den dort tätigen
Sozialarbeitenden. Schwierige Klientel, ungewisse Situationen und komplexe Fälle in
Zusammenhang mit Gefährdung und Misshandlung von Kindern tragen dazu bei, dass
diese häufiger Belastungen und Stress ausgesetzt sind als Sozialarbeitende in anderen
Tätigkeitsfeldern. Aufgrund dieser Belastungen müssen sie über wirksame
Bewältigungsstrategien verfügen, um ihre Arbeit längerfristig auszuüben und gesund zu
bleiben. Dabei spielen persönliche und externe Ressourcen eine zentrale Rolle, sie
tragen dazu bei, wie Belastung vom Individuum wahrgenommen wird, ob sie als Stress
bewertet wird und wie das daraus resultierende Coping erfolgt. Daneben zählt eine
Institution mit einem funktionierenden betrieblichen Gesundheitsmanagement als
wesentliche Ressource. Die Gesundheit der Mitarbeitenden liegt auch in der
Verantwortung der Institutionen.
Die vorliegende Forschungsarbeit verfolgt die Frage, welche Belastungssituationen und
Stressfaktoren von Sozialarbeitenden im abklärenden Kindesschutz genannt werden und
wie ihre Bewältigungsstrategien aussehen. Ebenfalls soll eruiert werden, welchen Beitrag
die Betriebe in Bezug auf die Themen Stress und Bewältigung leisten.
Die Ergebnisse zeigen auf, dass in Kindesschutzgruppen und auf der Amtsvormundschaft
Stress weniger häufig wahrgenommen wird als auf polyvalenten Sozialdiensten. Daneben
wird bei allen Befragten Stress nicht prinzipiell durch das Wissen um eine
Kindesgefährdung ausgelöst, sondern durch Zeitknappheit in Zusammenhang mit anderen
Faktoren wie Arbeitsmenge oder unklare Fälle.
Inhaltsverzeichnis
V
Vorwort Schulleitung ....................................................................................................... III
Vorwort Autorinnen ......................................................................................................... 1
1.
Einleitung .................................................................. 2
1.1.
Ausgangslage .................................................................................................... 2
1.2.
Motivation .......................................................................................................... 7
1.3.
Hypothese ......................................................................................................... 7
1.4.
Fragestellung ..................................................................................................... 8
1.5.
Ziel der Arbeit................................................................................................... 8
1.6.
Berufsrelevanz ................................................................................................... 9
1.7.
Adressatinnen und Adressaten ........................................................................ 10
1.8.
Aufbau der Arbeit............................................................................................ 10
2.
Theorieteil ................................................................ 11
2.1.
Grundlagen zu Stress ..................................................................................... 11
2.1.1.
Der Begriff - Definition und Entstehung ..................................................... 11
2.1.2.
Stand der Forschung .................................................................................. 13
2.2.
Ansätze aus der Stressforschung .................................................................... 13
2.2.1.
Stress als Reaktion .................................................................................... 13
2.2.2.
Stress als Reiz ........................................................................................... 14
2.2.3.
Stress als Transaktion ................................................................................ 14
2.3.
Ressourcen ..................................................................................................... 15
2.3.1.
Interne und externe Ressourcen ................................................................. 16
2.3.2.
Bedeutsame Ressourcen ............................................................................. 17
2.4.
Stressoren ....................................................................................................... 19
2.4.1.
Generell ...................................................................................................... 19
2.4.2.
Am Arbeitsplatz........................................................................................... 20
2.4.3.
Stressreaktionen im Arbeitskontext .............................................................. 22
2.4.4.
Exkurs: Anspannung und Arbeitsleistung..................................................... 23
2.5.
Folgen von Stress ........................................................................................... 24
2.5.1.
Allgemein .................................................................................................... 24
2.5.2.
Erkrankungen auf körperlicher Ebene ......................................................... 25
VI
2.5.4. Erkrankungen auf psychischer Ebene ......................................................... 26
2.6.
Coping............................................................................................................. 28
2.6.1.
Alltagsverständnis von Coping und seine Bewertung .................................. 28
2.6.2.
Bewältigungsperspektiven ............................................................................ 29
2.6.3.
Kategorisieren von Bewältigungsformen und –strategien ............................. 30
2.7.
Exkurs: Betriebliches Gesundheitsmanagement ................................................ 31
3.
Methodik ................................................................. 34
3.1.
Wahl und Begründung der Forschungsmethode .............................................. 34
3.2.
Stichprobe ....................................................................................................... 35
3.3.
Datenerhebung mittels Leitfadeninterview ......................................................... 36
3.4.
Aufbereitung und Auswertung der Daten......................................................... 37
4.
Ergebnisse ...............................................................39
4.1.
Aneignung Kompetenzen ................................................................................. 39
4.2.
Wahrnehmung von Belastung .......................................................................... 41
4.3.
Wahrnehmung von Stress ............................................................................... 41
4.4.
Stressreaktionen .............................................................................................. 43
4.5.
Ressourcen ..................................................................................................... 44
4.6.
Stressoren ....................................................................................................... 45
4.7.
Coping............................................................................................................. 46
4.8.
Betrieblicher Kontext ........................................................................................ 50
5.
Diskussion ............................................................... 54
6.
Schlussteil ............................................................... 62
6.1.
Wichtigste Befunde .......................................................................................... 62
6.2.
Schlussfolgerungen .......................................................................................... 65
6.3.
Ausblick ........................................................................................................... 67
7.
Quellen ....................................................................68
Anhang A: Glossar ........................................................ 70
Anhang B: Interviewleitfaden ............................................ 76
Anhang C: Informationsschreiben InterviewpartnerInnen......... 78
VII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Zentrale Organe des institutionalisierten Kindesschutzes ................................... 4
Tabelle 2: Mögliche Stressoren im Arbeitskontext ............................................................ 20
Tabelle 3: Chronischer Stress und körperliche Krankheiten ............................................. 26
Tabelle 4: Merkmale „gesunder“ und „ungesunder“ Organisationen ................................. 32
Tabelle 5: Übersicht Stichprobe (n) ............................................................................... 35
Abbildungsverzeichnis
Abbildung
1:
Das
transaktionale
Stresskonzept
nach
Lazarus
(Michael
Doerk,
2010)
………
15
Abbildung 2: Das Yerkes-Dodson-Gesetz (Michael Doerk, 2010) ............................... 23
Titelseite:
Die Wortzitate sind transkribierte Interviewausschnitte aus den Befragungen.
Bild: Gefunden am 14. August 2010 unter:
http://lifehacker.bizzlounge.com/wordpress/2009/01/06/strategien-gegen-denzeitstress/
Diese Arbeit wurde von Simone Glur und Kathrin Junker gemeinsam verfasst.
1
Vorwort
Nach einem ersten gelungen Start in die Themenerarbeitung der Bachelorarbeit, harzte
es zunächst bei der Organisation der verschiedenen Interviewpartnerinnen und –partner.
Die angefragten Fachleute äusserten entweder sie hätten keinen Stress oder so viel
Stress, dass sie nicht die Zeit finden, um mit den Autorinnen zu sprechen. Nach einigen
Erklärungen zeigten sich schlussendlich mehrere Personen bereit, sich auf ein Interview
einzulassen. Die nächste Schwierigkeit kam mit der Transkription der Interviews auf die
Verfasserinnen zu. Da alle Interviews in Mundart geführt wurden, mussten diese jeweils
noch ins Deutsche übersetzt werden, was ab und an nicht ganz einfach war. Mit dem
Start der Datenaufbereitung begann ein langer und harziger Prozess. Viele Diskussionen
mussten geführt werden und viele Kompromisse wurden eingegangen. Im Nachhinein
haben die Autorinnen jedoch das Gefühl, dass gerade dieser langwierige Prozess
äusserst gewinnbringend für die anschliessende Verknüpfung mit der Theorie und die
daraus folgenden Schlussfolgerungen war. Diese Arbeit hat den Autorinnen viele Einblicke
in den spannenden Bereich des Kindesschutzes gewährt, sie hat viele Überlegungen und
Gedankenregungen frei gesetzt, die aus heutiger Sicht überaus bereichernd waren und
sind. Die Autorinnen hoffen, dass der, durch die Arbeit geschulte analytische und
kritische Blick für die Arbeit in der Praxis bestehen bleibt.
Dank
Wesentlich zum Erfolg dieser Arbeit haben die Interviewten aus den Bereichen
Kindesschutzgruppen, Amtsvormundschaften und polyvalenten Sozialdiensten beigetragen.
Ihnen möchten die Autorinnen ihren besonderen Dank aussprechen, da ohne ihr
Mitwirken diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre.
Ganz herzlich bedanken möchten wir uns ebenfalls bei den beiden Dozierenden Vreny
Schaller-Peter und Michael Doerk, die uns im Rahmen einer Fachpoolsitzung mit fachlich
kompetenten Ratschlägen tatkräftig unterstützten.
Des Weiteren danken wir Andreas Papalini für die differenzierte und kritische
Begutachtung dieser Arbeit sowie für das Lektorat. Seine detaillierten und förderlichen
Kommentare trugen massgeblich zum Gelingen dieser Arbeit bei.
Grosser Dank geht auch an unsere Angehörigen, Freunde und Bekannte, die ebenfalls
am entstehen dieser Arbeit beteiligt waren. Sie hatten immer ein offenes Ohr für unsere
Nöte, Sorgen und Ängste und unterstützten uns unbeirrt. Merci an: Hans und Wies,
Niklaus und Marianne, Grosi und Grossvätu, Corinne und Nick, Ändu und all denen, die
hier nicht mehr aufgeführt werden konnten.
2
1. Einleitung
1.
Einleitung
In der Einleitung werden die Ausgangslage, die Motivation zum Thema, Hypothesen und
die daraus resultierten Fragestellungen und Ziele dargelegt. Weiter folgen die Begründung
der Berufsrelevanz sowie die Auswahl der Adressatinnen und Adressaten. Zum Abschluss
der Einleitung wird der Aufbau der Bachelorarbeit dargelegt.
1.1.
Ausgangslage
Stress am Arbeitsplatz ist allgegenwärtig. Dies bestätigt die letzte schweizerische
Gesundheitsbefragung des Bundesamtes für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2007: Zwei
Fünftel der Erwerbstätigen (41%) fühlen sich einer hohen psychischen Belastung und
ein Viertel (23%) einer grossen körperlichen Belastung am Arbeitsplatz ausgesetzt.
Arbeitet eine Person häufig unter Zeitdruck treten psychische Belastungen mit 51 bis
59% häufiger auf als bei jemandem ohne Zeitdruck. Stress und Zeitdruck werden folglich
mit 62% als häufigstes Gesundheitsrisiko genannt. Diese Zahlen belegen ein auch in der
Sozialen Arbeit bekanntes Problem. Viele Sozialarbeitende sind regelmässig mit mehr
oder weniger starken psychischen Belastungen konfrontiert und fühlen sich häufig unter
Stress. Belastungen werden, so die Theorie nach Richard S. Lazarus (2005), durch
individuelle Bewertung zu Stresssituationen wahrgenommen. Jede Person empfindet etwas
anderes als Stress; was für eine Person gut und handelbar ist, stellt für eine andere
eine Bedrohung des persönlichen Wohlbefindens dar. Demnach spielen individuelle
Persönlichkeitsmerkmale, kulturelle Hintergründe, persönliche Ressourcen oder
Wertehaltungen bei der Bewertung einer Belastung mit. Sieht sich eine Person aufgrund
der Bewertung nicht im Stande, die erfasste Bedrohung mit den vorhandenen Ressourcen
zu eliminieren, empfindet sie Stress. Jede Stresswahrnehmung ist demzufolge negativ für
die betroffene Person und deshalb wird versucht, durch Bewältigung (siehe Kapitel 2.6)
die stresshafte Situation wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Für Personen, die
regelmässig unter Stress stehen oder die anhaltendem Stress ausgesetzt sind, besteht
ein erhöhtes Erkrankungsrisiko beispielsweise für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-
Darm-Probleme, aber auch für psychische Probleme. Nach einer Studie des
Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) aus dem Jahr 2002 werden in der Schweizer
Wirtschaft jährlich rund 4,2 Milliarden Franken wegen den negativen Auswirkungen von
Stress ausgegeben. Fehlzeiten und Fluktuation sind Ursachen dieser Kosten.
3
1. Einleitung
Sozialarbeitende stehen generell Klientinnen und Klienten gegenüber, die sich in einer
Problemsituation befinden. Obwohl jede Belastung individuell und folglich subjektiv
bewertet wird, kann auch nicht generell gesagt werden, was mehr belastet und mehr
Stress verursacht. Die Autorinnen gehen trotzdem davon aus, dass aufgrund einer
spezifischen Thematik wie zum Beispiel
Kindesgefährdung oder Opfer von häuslicher
Gewalt
, emotionale Geschichten und Bilder vermittelt werden, die aufgrund dessen stärker
belasten und auch häufiger Stress auslösen. Es ist auch davon auszugehen, dass diese
stressgeprüften Sozialarbeitenden über hervorragende Bewältigungsstrategien verfügen
müssen, damit sie in diesem Berufsfeld arbeiten können.
Die folgende Arbeit wird sich mit der Thematik Kinder befassen, im Speziellen mit dem
Kindesschutz. Der Kindesschutz, so vermuten die Autorinnen, polarisiert aufgrund der
Kind-Thematik stärker als andere Bereiche. Kinder gelten als schwächstes Glied in der
Gesellschaft und sind deshalb besonders schutzbedürftig. Sozialarbeitende im
Kindesschutz sind deswegen mit verschiedenen Ansprüchen, Anforderungen und grosser
Verantwortung konfrontiert, und sollen trotzdem ihrer Arbeit das Wohl des Kindes zu
gewähren, gerecht werden.
Sind Kinder Opfer von Missbrauch oder Misshandlung löst dies starke Bilder und Gefühle
aus, die belasten und die Stress verursachen können. Kann keine adäquate Lösung
gefunden werden, entsteht daraus Hilflosigkeit und Ohnmacht. Diese Belastungen und
Stress gehören, so die Auffassung der Autorinnen, zum Alltag der Sozialarbeitenden im
Kindesschutz. Was jedoch genau belastet und was Stress auslöst, und wie die
Fachpersonen darauf reagieren, ist in der Literatur nicht in Erfahrung zu bringen. Nebst
den einzelnen Sozialarbeitenden sind die betrieblichen Rahmenbedingungen ebenfalls
zentral für Stress und Bewältigung. Die Arbeitgebenden tragen eine grosse Verantwortung
für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Arbeitnehmenden. Wie nehmen Betriebe im
Kindesschutz dies wahr oder besteht ein betriebliches Gesundheitsmanagement? Diese
Fragen konnten im Rahmen einer ersten Literatursichtung nicht eruiert werden.
Soziale Arbeit im Kindesschutz findet in der Schweiz auf verschiedenen Ebenen statt.
Um die Einbettung in der Sozialen Arbeit aufzuzeigen, soll dies nachfolgend erläutert
werden.
1.1.1.
System Kindesschutz in der Schweiz
Der
Kindesschutz
umfasst nach Christoph Häfeli (2005): "alle gesetzgeberischen und
institutionalisierten Massnahmen zur Förderung einer optimalen Entwicklung von Kindern
und Jugendlichen sowie zum Schutz vor Gefährdungen und zur Milderung und Behebung
der Folgen von Gefährdungen" (S. 127). Es besteht eine Vielzahl an Massnahmen
und Normen zur Verwirklichung des Kindeswohls. Der Begriff Kindeswohl umfasst keinen
bestimmten Rechtsbegriff und muss deshalb je nach Situation unterschiedlich ausgelegt
werden. Grundlegend wird unter Kindeswohl das geistige und seelische Wohl eines
4
1. Einleitung
Kindes verstanden. Was genau in einer bestimmten Situation dem geistig-seelischen
Wohl eines Kindes dient, ist unterschiedlich und erschwert den Fachleuten im Rahmen
einer Abklärung Empfehlungen an die Vormundschaftsbehörde zu veranlassen enorm. Zu
den wichtigsten Organen im institutionalisierten Kindesschutz zählen nach Häfeli (2005)
der
freiwillige
, der
strafrechtliche,
der
zivilrechtliche
und der
spezialisierte Kindesschutz
(vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Zentrale Organe des institutionalisierten Kindesschutzes:
Häfeli, Christoph (2005, S. 129)
Im
freiwilligen Kindesschutz
bestehen mehrheitlich freiwillige Beratungs-Angebote, wie
Jugend- und Familienberatungsstellen, die von Eltern, Kindern und Jugendlichen in
Anspruch genommen werden können. Der
strafrechtliche Kindesschutz
umfasst die
Straftatbestände des Erwachsenenstrafrechts, welche körperliche1 und psychische2
Misshandlung, sexuelle Handlungen mit Kindern und Jugendlichen3 ebenso
Vernachlässigung4 unter Strafe stellt (S. 130). Daneben greift das Jugendstrafrecht5 für
Kinder- und Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren.
In dieser Arbeit werden nur Sozialarbeitende befragt, die im zivilrechtlichen und
spezialisierten Kindesschutz arbeiten. Im
zivilrechtlichen Kindesschutz
6
tragen in erster
Linie die Eltern die Sorge und die Verantwortung für die körperliche, geistige, psychische
und soziale Entwicklung ihrer Kinder. Können die Eltern ihre Sorge nicht oder nur
1 (Art. 111 ff., 122 ff StGB)
2 (Art. 180 ff. StGB)
3 (Art. 187 ff., 213 StGB)
4 (Art. 219 StGB)
5 (Art. 82-100 StGB)
6 (Art. 307–317 ZGB)
Freiwilliger Kindesschutz
Jugend- und Familienberatungsstellen
Kommunale/regionale Sozialdienste
Erziehungsberatungsstellen
Vertrauens-
Person
Schule
Familie
Kind
Kinder-
garten
Freizeit-
organisationen
Spezialisierte Kindessschutzorgane
Interdiesziplinäre Kindesschutzgruppen
Fachstellen Kindesschutz
Elternnotruf
Strafrechtlicher Kindessschutz
Polizei, Untersuchungsbehörden
Jugendanwaltschaften, Strafgerichte
Zivilrechtlicher Kindessschutz
Vormundschaftliche Behörden
Amtsvormundschaften/Sozialdienste
5
1. Einleitung
unvollständig wahrnehmen und ist dadurch das Wohl des Kindes gefährdet, so trifft die
Vormundschaftsbehörde (S. 131) die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes.
Zentrale Elemente des zivilrechtlichen Kindesschutzes sind:
die Gefährdung muss eindeutig und erheblich sein, damit eine rechtliche Relevanz
entsteht und die Behörde zum Eingriff legitimiert und verpflichtet wird.
Im Sinne der
Subsidiariät
greift der zivilrechtliche Kindesschutz nur soweit, wie die
Eltern nicht von sich aus fähig sind, Abhilfe zu schaffen.
Die elterlichen Fähigkeiten und die Verantwortung sollen nur ergänzt und nicht
verdrängt werden nach dem Grundsatz der
Komplementarität
.
Ein Eingriff hat nach dem
Verhältnismässigkeitsprinzip
zu erfolgen. Er soll nur so
stark wie notwendig sein, um die Gefährdung abzuwenden und muss dem Grad der
Gefährdung entsprechen (S.132).
Vormundschaftliche Organe
Vormundschaftsbehörde
Die Vormundschaftsbehörde ist das zentrale vormundschaftliche Organ. Sie ist bei der
Anordnung, Aufhebung und der Durchführung vormundschaftlicher Massnahmen beteiligt.
Diese können unter anderem die Aufhebung der elterlichen Obhut, ausserfamiliäre
Platzierung von Kindern, Beistandschaften oder den Entzug der elterlichen So rge
beinhalten. In ihrem Buch betonen Adrienne Marti, Peter Mösch Payot, Kurt Pärli,
Johannes Schleicher und Marianne Schwander (2007), dass vormundschaftliche Organe
vielfältig und kantonal unterschiedlich zusammengesetzt sind. Dennoch haben alle Organe
gemeinsam, dass sie das Vormundschaftsrecht verwirklichen müssen (S. 315-316).
Nach Christoph Rüegg und Rahel Rüegg (2008) gilt es dabei zu bedenken, dass in
der Deutschschweiz die Vormundschaftsbehörde entweder durch den Gemeinderat oder
durch einen Ausschuss aus der Exekutive vertreten ist, also grösstenteils nicht aus
Fachpersonen, sondern aus Laien (S. 49). Besteht eine Kindeswohlgefährdung und die
Behörde erhält Kenntnis davon, so ist sie von Amtes wegen verpflichtet, dem
nachzugehen. Sie kann dazu eine geeignete Fachstelle mit einer Abklärung beauftragen.
Amtsvormundschaften und polyvalente Sozialdienste erhalten von Vormundschaftsbehörden
Aufträge, um gemeldete Fälle abzuklären und ihnen Bericht zu erstatten (S. 237). Die
Vormundschaftsbehörde prüft die Empfehlungen und entscheidet nach bestem Wissen und
Gewissen.
Polyvalenter Sozialdienst
Der polyvalente Sozialdienst ist für die Grundversorgung der Bevölkerung zuständig. Er
gewährleistet die politisch garantierten und gesetzlich vorgeschriebenen sozialen
1. Einleitung
6
Dienstleitungen in den Gebieten: wirtschaftliche Existenzsicherung, persönliche Hilfe
(Beratung oder Betreuung) in verschiedenen Lebenslagen und freiwillige und gesetzliche
Vertretung. Diese Aufgaben werden durch Fachleute der Sozialen Arbeit mit
unterschiedlichen Funktions- und Kompetenzprofilen übernommen. Sozialarbeitende in
polyvalenten Sozialdiensten erhalten von der Vormundschaftsbehörde einen
Abklärungsauftrag betreffend einer Gefährdungsmeldung. Im Anschluss klären sie den Fall
ab und formulieren einen Bericht mit der Einschätzung der Situation und allfälligen
Empfehlungen zuhanden der Vormundschaftsbehörde, welche dann über die notwendigen
Massnahmen entscheidet. Neben diesen Abklärungen sind die Sozialarbeitenden mit einer
Vielzahl anderer Geschäfte beschäftigt.
Amtsvormundschaft
Die Vormundschaftsbehörde gibt, gleich wie dem polyvalenten Sozialdienst, der
Amtsvormundschaft Abklärungsauftrage betreffend eingegangener Meldungen über
Kindesgefährdungen. Diese werden analog der Vorgehensweise auf Sozialdiensten
abgeklärt und im Anschluss wie beschrieben Bericht erstattet.
Spezialisierte Kindesschutzorgane
Spezialisierte Kindesschutzorgane gehören nicht zum zivilrechtlichen Kindesschutz. Sie
sind aber im Gegensatz zu den breitgefächerten Angeboten des freiwilligen
Kindesschutzes ausdrücklich für den Schutz von Kindern aufgebaut und spezialisiert. Es
bestehen verschiedene Organe in diesem Bereich:
Kindesschutzgruppen in Spitälern,
Kindesschutzgruppen für Fachpersonen, Opferberatungsstellen, Fachstellen Kindesschutz
und der Kinderschutz Schweiz.
Diese einzelnen Organe werden nicht weiter erläutert, da
sie in dieser Arbeit nicht von Relevanz sind.
Stationäre Kindesschutzgruppe
Die stationären Kindesschutzgruppen sind gemäss dem Adressverzeichnis von Hilfs- und
Beratungsstellen in der Schweiz in Zusammenhang mit Kindesmisshandlung (2007) in
der Deutschschweiz in sechs Kinderspitälern angesiedelt: in Bern, St. Gallen, Basel,
Zürich, Luzern und in Aarau (S. 7-82). Alle Kindesschutzgruppen setzen sich
interdisziplinär aus Fachpersonen unterschiedlicher Gebiete im Bereich der Gesundheit
zusammen, kommentiert die Stiftung Kindesschutz Schweiz (2008) in ihrem Bericht.
Dazu zählen in der Regel je eine Fachperson aus der Sozialen Arbeit, Psychologie,
Psychiatrie, Medizin und Pflege. Bei der Feststellung einer offensichtlichen oder
möglichen Kindeswohlgefährdung wird der Fall in die Kindesschutzgruppe eingebracht und
abgeklärt; meist jedoch nur solange das Kind im Spital stationiert ist. Tritt das Kind aus
dem Spital aus, so muss die Kindesschutzgruppe entscheiden, ob sie eine
Gefährdungsmeldung bei der Vormundschaftsbehörde machen will oder nicht, wenn die
Situation noch nicht ausreichend abgeklärt werden konnte. Bei Fällen, die in den Bereich
1. Einleitung
7
des strafrechtlichen Kindesschutzes gehen, wird die Polizei eingeschaltet, dies stellt
jedoch die Ausnahme dar.
1.2.
Motivation
Ausgangslage und zentrale Motivation dieser Bachelorarbeit waren zwei Aspekte: Stress
ist in der Sozialen Arbeit ein regelmässiger Diskussionspunkt und kann ebenfalls ein
ernsthaftes Problem darstellen. Diese Ausgangslage war den Autorinnen bekannt, doch
war dabei unklar, was die Sozialarbeitenden als Stresssituation empfinden und wie sie
diese bewältigen. Diese Tatsache führte zur Motivation, im Bereich Stress und
Bewältigung eine Arbeit zu verfassen. Da die Arbeit nicht auf die gesamte Sozialarbeit
ausgeweitet werden konnte, musste eine Einschränkung erfolgen. Die Autorinnen hatten
einerseits seit Beginn der Ausbildung ein persönliches Interesse gegenüber dem Bereich
Kindesschutz und anderseits schien dieser Bereich in Bezug auf Stress und Bewältigung
viel versprechend zu sein. Aus diesen Gründen erfolgte schlussendlich die Eingrenzung
auf den Kindesschutz. Da wie eingangs geschildert anzunehmen war, dass
Sozialarbeitende im Kindesschutz extremen Belastungs- und Stresssituationen ausgesetzt
sind. Zudem bestand auch hier Unklarheit darüber, was Sozialarbeitende im Kindesschutz
genau belastet, was sie als Stress wahrnehmen und welche Bewältigungsstrategien sie
anwenden, um ihre Arbeit auszuhalten. Da Sozialarbeitende nicht nur Einzelkämpfende
sind, sondern einer Institution angehören, wollten die Autorinnen ebenfalls den
betrieblichen Rahmen mit einbeziehen. Dieser hat ebenfalls Einfluss auf die Stress- und
Bewältigungssituation und ist massgeblich verantwortlich für die betrieblichen Bedingungen.
Es stellte sich die Frage, inwiefern sich Betriebe der Stress- und Bewältigungsthematik
bewusst sind und welche Massnahmen sie diesbezüglich ergreifen. Zu diesen genannten
Gründen kam hinzu, dass sich die zu erforschende Stressthematik im Kindesschutz
abspielte. Es war ein Anliegen der Autorinnen herauszufinden ob und wie Stress und
Bewältigung diesbezüglich Einfluss nehmen. Dieses Zusammenwirken von
Sozialarbeitenden, Betrieben und Kindesschutz stellte eine grosse Motivation und
Herausforderung dar.
1.3.
Hypothesen
In Bezug auf die Ausgangslage und die motivierenden Gründe lassen sich für die Arbeit
drei Hypothesen bilden, die der Forschung zu Grunde liegen sollen.
1. Einleitung
8
Hypothese 1 Sozialarbeitende schenken dem Bereich Stress und Coping in ihrem
Arbeitsalltag aufgrund von Zeitdruck und institutionellen Bedingungen
zu wenig Beachtung und stehen daher unter starker Belastung und
Stress.
Hypothese 2 Sozialarbeitende im Kindesschutz sind dauerhaft mit stark
belastenden Situationen konfrontiert und verfügen daher über
ausgezeichnete Bewältigungsstrategien.
Hypothese 3 Stress und Coping gelten in Betrieben des Kindesschutzes als Teil
des Gesundheitsmanagements und werden von den befragten
Sozialarbeitenden bewusst wahrgenommen.
1.4.
Fragestellung
Geleitetet von den Hypothesen ergaben sich daraus eine Forschungsfrage und zwei
Unterfragen, welche mittels der qualitativen Forschung beantwortet werden:
Hauptfrage Welche Belastungssituationen und Stressfaktoren werden von
den
Befragten genannt und wie sehen ihre Bewältigungsstrategien aus?
Wie erwähnt, wurden ausgehend von der Forschungsfrage zwei Unterfragen erarbeitet,
die in unterschiedlichem Kontext zueinander stehen und die Hauptfrage differenzieren
sollen.
Unterfrage 1 Welchen Beitrag leisten Betriebe im Bereich Kindesschutz zum
Thema Stress und Coping?
Unterfrage 2 Welche negativen Auswirkungen hat Stress auf die Person und ihre
Arbeit im Bereich Kindesschutz?
1.5.
Ziel der Arbeit
Abklärungen im Kindesschutz können als sehr belastend wahrgenommen werden, so dass
sie eine hohe Professionalität in Form von Belastbarkeit und effizienten Coping-Strategien
seitens der Sozialarbeitenden abverlangen. Das Ziel dieser Arbeit ist, ein Bild über die
1. Einleitung
9
aktuellen Belastungs-
und Stresssituationen sowie die
Bewältigungsstrategien
von
Sozialarbeitenden im
Kindesschutz zu erhalten. Dafür
werden Fachleute
aus
unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen der Sozialen Arbeit im Bereich Kindesschutz befragt,
namentlich sind das Kindesschutzgruppen, Amtsvormundschaften und polyvalente
Sozialdienste. Auf der anderen Seite wird der vorherrschende institutionelle Rahmen in
Zusammenhang mit dem betrieblichen Bewusstsein für Belastung, Stress und Bewältigung
untersucht und in Kontext mit dem Stress- und Bewältigungsempfinden der
Sozialarbeitenden gestellt. Zudem soll eruiert werden, welche Rolle die Betriebe in dieser
vielschichtigen Thematik wahrnehmen. Schlussfolgernd werden Erkenntnisse bezüglich
Stress und Bewältigung für die Arbeit im Kindesschutz gezogen. Diese sollen dazu
beitragen, Risikoquellen und gelingende Bedingungen, betrieblich wie auch personell zu
benennen, um daraus Handlungsweisen für die Thematik Stress und Coping abzuleiten
und Wissenslücken zu schliessen.
1.6.
Berufsrelevanz
Stress ist im Bereich der sozialen Arbeit ein viel verwendeter Begriff. Sozialarbeitende
kennen vielerlei Belastungen sei es aufgrund von Zeitmangel, Arbeitsvolumen, schwieriger
Klientel oder anderen belastenden Situationen. Gerade Sozialarbeitende in abklärenden
Bereichen, so zum Beispiel im Kindesschutz, sind ausserordentlichen Anforderungen und
Belastungen auch aufgrund der Kinder-Gefährdungs-Thematik ausgesetzt. Die teilweise
schwerwiegenden oder auch unklaren Fälle können Sozialarbeitende vor komplizierte
Situation stellen, die viel von ihnen abverlangen, mit denen sie aber umgehen müssen.
Aus diesem Grund sind sie auf ausreichende Bewältigungsstrategien angewiesen. Diese
Strategien können durch interne oder externe Ressourcen (Vergleich Kapitel 2.3.1)
unterstützt und gefördert werden, damit sie die Arbeit kompetent, professionell und vor
allem gesund ausführen können. Die Stressproblematik ist überaus relevant, da gestresste
Sozialarbeitende, die beispielsweise unter starkem Zeitdruck stehen, nur wenig Zeit für
Abklärungen aufwenden können. In Folge dessen können sie ihre Fähigkeiten nicht voll
entfalten, was wiederum Einfluss auf die Qualität der Abklärung haben kann und darum
auf die Beurteilung des Kindeswohls abfärbt. Es ist somit aus Sicht der Profession der
Sozialen Arbeit, der Betriebe und der einzelnen Sozialarbeitenden ein Bedürfnis, zu
erfahren wie die aktuellen Stresssituationen und Bewältigungsstrategien von
Sozialarbeitenden im Kindesschutz aussehen, inwiefern der Betrieb Einfluss nehmen kann
und welche sonstigen Faktoren berücksichtigt werden müssen.
1. Einleitung
10
1.7.
Adressatinnen und Adressaten
Die vorliegende Bachelorarbeit richtet sich vorab an Sozialarbeitende im Bereich
abklärender Kindesschutz und deren Institutionen. Ferner richtet sie sich an
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie an Betriebe im Sozialbereich, und an alle,
die sich häufig mit Stress und Bewältigung konfrontiert sehen.
1.8.
Aufbau der Arbeit
Die Bachelorarbeit ist in sechs Teile gegliedert: Einleitung, Theorie, methodischer Teil,
Ergebnisse, Diskussion und Schlussteil.
Nach der Einleitung erfolgt der theoretische Teil, welcher die Begriffe Stress und
Bewältigung, Stress auslösende und Stress reduzierende Faktoren und
Bewältigungsstrategien erklärt. Ferner folgt ein Exkurs zum Thema betriebliches
Gesundheitsmanagement mit Bezug auf „gesunde“ und „ungesunde“ Organisationen. Im
methodischen Teil folgen Erklärungen über die gewählte Forschungstechnik und die
Schilderung der einzelnen Arbeitsschritte von der Erstellung des Leitfadeninterviews, der
Datenerhebung und -aufbereitung bis zur Datenauswertung. Die Ergebnisse der
Forschung werden anhand der acht Themenbereiche Aneignung Kompetenzen,
Wahrnehmung von Belastung, Wahrnehmung von Stress, Stressreaktionen, Stressoren,
Ressourcen, Coping und betrieblicher Kontext präsentiert. Im Anschluss werden sie in der
Diskussion anhand der drei Hypothesen dargestellt und mit theoretischen Grundlagen
verknüpft. Im Schlussteil werden die Forschungsfragen aufgegriffen und beantwortet und
Schlussfolgerungen für
die Praxis
gezogen.
Der
Ausblick
mit
zukünftigen
Forschungsgebieten bildet
den Abschluss der Arbeit.
11
2. Theoretischer Teil
2.
Theorieteil
Der theoretische Teil erklärt einführend den Begriff Stress und zeigt den aktuellen Stand
der Forschung auf. Weiter werden die bedeutendsten Ansätze unterschiedlicher Stress-
theorien dargelegt, mit Schwerpunkt auf das Stressmodell nach Richard S. Lazarus.
Stress auslösende und Stress mindernde Faktoren sowie Stressreaktion werden benannt
und in den Kontext Arbeit gestellt. Des Weiteren wird auf das Thema Stressbewältig
(Coping) Bezug genommen. Den Abschluss des theoretischen Teils bildet ein Exkurs
zum betrieblichen Gesundheitsmanagement.
2.1.
Grundlagen zu Stress
Die wichtigen Begriffe dieser Bachelorarbeit und der Forschungsstand werden dargelegt.
2.1.1.
Der Begriff - Definition und Entstehung
Der Begriff Stress ist in aller Munde. Im Büro, zu Hause oder bei Freunden wird erklärt,
man habe Stress und könne dies oder jenes nicht erledigen. Stress als Alltagsphänomen
wird meist in Zusammenhang und als Folge von Zeit- und Leistungsdruck genannt und
beschreibt einen Zustand der Überforderung. Der Begriff Stress entpuppt sich bei
genauerem Hinschauen aber als weitaus komplexer, als es die alltagssprachliche
Verwendung vermuten lässt.
Die Komplexität von Stress lässt sich darauf zurückführen, dass er individuell
unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird. Wie einwirkende Reize bewertet
werden und was schlussendlich als Stress empfunden wird, ist ebenso von Person zu
Person unterschiedlich, wie die Bewältigung von Stress. Im Laufe der Stressforschung
entwickelte sich eine Vielfalt an unterschiedlichen Stress-Definitionen. Zur Übersicht
haben Marcel Allenspach und Andrea Brechbühler (2005) einige Definitionen
zusammengefasst (S. 19):
Walter Cannon (1914) beschreibt Stress als „unspezifische Antwort des
Organismus auf die Störung des homöostatischen Gleichgewichts und als den
Versuch, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen.“
12
2. Theoretischer Teil
Hans Selye (1956): „Stress ist der Zustand eines Individuums (oder
allgemeiner: eines Lebewesens), das sich entweder physisch oder psychisch
bedroht sieht.“
Richard S. Lazarus und Susan Folkman (1966): „Psychologischer Stress
bezieht sich auf eine Beziehung mit der Umwelt, die vom Individuum in
Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber zugleich
Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten
beanspruchen oder überfordern“
C. Temml und Hubalek (1995): „Stress ist eine individuelle Reaktion des
Organismus auf äussere oder innere Reize, wobei die Reaktion auf den
einwirkenden Stressor abhängt von der Einstellung des Einzelnen zu den
Belastungen von der Struktur der Persönlichkeit sowie von der Stabilität des
Ichs.“
Nach Allenspach und Brechbühler (2005) stammt der Begriff Stress ursprünglich aus
der Mechanik und beschreibt die Einwirkung einer äusseren Kraft auf eine Struktur, die
sich ab einer gewissen Druckintensität zu Verformen beginnt (S. 18. Durch den
österreichisch-kanadischen Biochemiker und Pionier der Stressforschung Hans Selye
wurde der Begriff 1936 im medizinischen Sinne genannt. Er definierte Stress als
physische oder psychische Reaktion des Körpers auf Reize (Stressoren), so Brenda L.
Lyon (2005, S. 27). Seit den 1960er Jahren prägt der Amerikaner Richard S.
Lazarus und sein Team die Stressforschung und den Begriff Stress. Er betrachtet Stress
nicht an bestimmte Ereignisse gebunden, sondern an das Ergebnis einer Wechselwirkung
(Transaktion) zwischen Person und Umwelt. Diese Transaktion wird begleitet von
personabhängigen, kognitiven, emotionalen und bewältigungsbezogenen Faktoren (S.
33). Die trans-aktionale Stresstheorie führte gemäss Heidi Eppel (2007) zu einem
Paradigmawechsel in der Forschung und der Praxis. Während in den 1950er Jahren
„Stress als objektive Gegebenheit“ betrachtet wurde, sah man in den siebziger Jahren
„Stress als Ergebnis subjektiver Einschätzung“ an (S. 11-13). Stress wird heute
mehrheitlich als Spannungszustand wahrgenommen, so Louise Barthold und Astrid Schütz
(2010), der eine Diskrepanz zwischen den gestellten Anforderungen und unseren
eigenen Bewältigungskompetenzen erzeugt. Stress kann daher nicht isoliert betrachtet
werden, sondern schliesst die Umwelt, persönliche Kompetenzen, Bedürfnisse der
betroffenen Person sowie deren Möglichkeiten in Bezug auf eine Situation mit ein. Viele
Stresskonzepte haben gemein, dass sie Stress als Ungleichgewicht im Verhältnis von
Mensch und Situation betrachten.
13
2. Theoretischer Teil
2.1.2.
Stand der Forschung
So vielfältig der Begriff Stress im Alltag verwendet wird, so unterschiedlich zeigt er sich
in der Wissenschaft. Seit über 50 Jahren wird, gemäss Eppel (2007), bezüglich
Stress geforscht und trotz der langen Forschungsaktivität sind noch immer Fragen zu
klären. Die Problematik liegt in der Subjektivität der Thematik. Das Erleben von und der
Umgang mit Stress gestaltet sich sehr individuell und verändert sich im Laufe eines
Prozesses von Person zu Person (S. 165). Die heutige Stressforschung befasst sich
nach Lazarus (2005) einerseits damit, die Variable
Emotion
verstärkt ins transaktionale
Stressmodel einzubeziehen, anderseits in Erfahrung zu bringen, wie die
Bewertung
einer
Situation konkret funktioniert und wie sich dies auf soziale Beziehungen auswirkt (S.
260).
2.2.
Ansätze aus der Stressforschung
Heute gibt es unzählige Stressforschungen und -theorien. Im Folgenden werden die drei
Hauptzweige der Stressforschung beleuchtet;
Stress als Reaktion
,
Stress als Reiz
und
Stress als Transaktion
.
2.2.1.
Stress als Reaktion
Dieses Modell stammt aus den 1930er Jahren, also aus den Anfängen der
Stressforschung und wurde wie bereits erwähnt von Hans Selye entwickelt. Stress als
Reaktion definiert, ohne Einbezug der Stress auslösenden Situationen (Stressoren).
Dieses Modell konzentriert sich nach Virginia Hill Rice (2005) auf Stress als
spezifisches Syndrom, welches aus unspezifischen Veränderungen innerhalb eines
biologischen Systems entsteht (S. 52). Diese inneren Stressprozesse bezeichnet Selye
als
Allgemeines Adaptionssyndrom (AAS),
worin auch der Kern dieser Stresstheorie
liegt. Das AAS beschreibt ein koordiniertes physiologisches Antwortmuster auf Stressoren
und besteht aus drei typischen Phasen: Alarmreaktion, Widerstands- und
Erschöpfungsphase. Ein Stressor löst im Organismus eine Alarmreaktion aus, es entsteht
ein Initialschock und es regt sich eine gewisse Widerstandskraft. Die stressbetroffene
Person zeigt nun eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen in der Umwelt.
Der Körper versucht, sich an die Stressbedingungen anzupassen, dabei erhöht sich die
Widerstandskraft gegenüber dem Stressor stetig (S. 54). Lässt der Stress in dieser
Widerstandsphase nicht nach und wird zu einer längerfristigen Belastung, stösst der
Organismus an seine Grenzen. Die Erschöpfungsphase stellt sich ein, der Widerstand
kann nicht mehr aufrechterhalten werden und bricht ein. Da der Stress nicht bewältigt
wurde, treten nun erneut die anfänglichen Alarmsymptome auf, nur vermag der Körper
2. Theoretischer Teil
14
darauf nicht mehr mit Widerstand zu reagieren (S. 55). Die betroffene Person steht
dadurch unter anhaltendem Stress.
2.2.2.
Stress als Reiz
Nach Lyon (2005) beruht der reizorientierte Ansatz zu einem Grossteil auf den
Forschungen von Thomas Holme und Richard Rahe. Stress auslösende Bedingungen
werden ins Zentrum der Betrachtung gerückt ohne Einbezug der Stressreaktionen. Stress
wird ausgelöst durch drei potentielle Stressoren-Felder:
physikalische Reize
wie Lärm
oder Hitze,
arbeitsbezogene Stressoren
wie Zeitdruck oder
soziale Stressoren
wie
Konflikte bei der Arbeit. Ebenfalls können kritische Lebensereignisse wie Tod oder Geburt
Reize für eine Stressreaktion darstellen (S. 29).
2.2.3.
Stress als Transaktion
Stress ist nach Richard S. Lazarus (1995) das Resultat der Transaktion
(Wechselwirkung) zwischen Person und Umwelt. Stress wird nach dem transaktionalen
Modell als ein prozesshaftes Erleben wahrgenommen, das sich im Laufe der Zeit und im
Zusammenwirken mit unterschiedlichen Situationen verändert (S. 205). Einfluss au f die
Transaktion haben nach Lyon (2005) kognitive, emotionale und bewältigungsbezogene
Persönlichkeitsmerkmale. Ob eine Situation als stresshaft empfunden wird, hängt von der
jeweiligen individuellen Bewertung der betroffenen Person ab. Diese Bewertung erfolgt in
drei Formen: in
Primärbewertung
,
Sekundärbewertung
und
Neubewertung
(S. 33).
Bei der
Primärbewertung
, so Lyon (2005), wird das Ereignis unmittelbar bei Eintritt
bewertet in Bezug auf das Wohlbefinden der betroffenen Person. Es handelt sich um
eine eher spontane, unbewusste Einschätzung. Die Situation kann in der Folge als
belastend, irrelevant oder positiv bewertet werden. Auf positive und irrelevante Reize
reagiert die betroffene Person nicht, da sie keine Beeinträchtigung des Wohlbefindens zu
erwarten hat (S. 33). Werden ihre verfügbaren Ressourcen (siehe S. 15) jedoch
überlastet, erfolgt eine
Neubewertung
. Diese fragt, ob die Situation zu
Schädigung
oder
zu
Verlust
führt, ob eine konkrete Schädigung bereits eingetreten ist, oder ob die
Situation eine Art Gewinn oder Nutzen mit sich bringt. Kann ein Nutzen und keine
Schädigung erwartet werden, wird die Situation nicht als Stress bewertet.
Wird die Situation in der Primärbewertung jedoch als bedrohlich eingestuft, erfolgt eine
Sekundärbewertung.
Dabei prüft die Person die zur Verfügung stehenden Ressourcen und
Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten im Hinblick auf die bedrohliche Situation.
Zeigt sich bei der Sekundärbewertung, dass die Ressourcen ausreichend sind, fällt der
bedrohliche Zustand dahin. Belastungen werden erst dann als Stress wahrgenommen,
wenn die inneren oder äusseren Ressourcen der Person nicht ausreichen.
Im Laufe der
primären und der sekundären Bewertung
findet eine
Neubewertung
der
Situation statt. Primär- und Sekundärbewertungen werden in Bezug auf die Entwicklung
2. Theoretischer Teil
15
der Situation hin kontinuierlich überprüft, verändert oder umgedeutet. So kann die
ursprünglich bedrohliche Situation nach erneuter Bewertung plötzlich eine Herausforderung
darstellen oder als irrelevant betrachtet werden (S. 34). Durch die Wahrnehmung von
Stress stellen sich
Stressreaktionen
ein, diese können sich in kognitiver, emotionaler,
motorischer oder physiologischer Weise äussern.
Dieser Prozess soll mit der Visualisierung des transaktionalen Stresskonzeptes verdeutlicht
werden.
Abbildung 1: Das transaktionale Stresskonzept nach Lazarus (Michael Doerk, 2010, S. 15)
2.3.
Ressourcen
Ressourcen sind „Mittel, die eingesetzt werden können, um das Auftreten von Stressoren
zu vermeiden, ihre Ausprägung zu mildern oder ihre Wirkung zu verringern“ (Dieter Zapf
und Norbert Semmer, 2004, S. 1041 f.). Ressourcen zeichnen sich nach Eppel
(2007) dadurch aus, dass sie die Bewältigung von Stress unterstützen oder
vorhandene Risiken abpuffern lassen; grundsätzlich kommen sie nur in
Belastungskonstellationen zur Wirkung (S. 88). Nach Bartholdt und Schütz wird den
Ressourcen eine direkte oder indirekte Wirkung zugesprochen. So zeigen sich direkte
Effekte konkret in Bezug auf Stressreaktionen und Stressfolgen, die gemildert werden.
Die indirekte Wirkung von Ressourcen äussert sich in Bezug auf Stressoren: Die
Einflussnahme von Stressoren wird abgeschwächt, reduziert oder gar vermieden, dadurch
haben Ressourcen positive Effekte auf das Wohlbefinden (S. 89).
2. Theoretischer Teil
16
2.3.1.
Interne und externe Ressourcen
Grundsätzlich werden nach Bartholdt und Schütz (2010) zwei Arten von Ressourcen
unterschieden:
interne
(
personale
) und
externe (organisationale) Ressourcen
.
Die
externen Ressourcen
werden in zwei Bereiche eingeteilt:
soziale Unterstützung
und
Handlungsspielraum
.
Soziale Unterstützung
beinhaltet Merkmale der Familie und des
Weiteren sozialen Umfelds und hat einen qualitativen und quantitativen Aspekt. Die
Quantität sozialer Unterstützung wird an den strukturellen Voraussetzungen, also an den
sozialen Netzwerken einer Person gemessen. Sie sagt aber nichts darüber aus, ob die
Person von diesem Umfeld auch die nötige Hilfe erhält. Hier entscheidet die Qualität der
Unterstützung; ob ein soziales Netzwerk effektiv eine Hilfestellung bieten kann oder nicht.
Die qualitative Unterstützung zeigt sich als die bedeutsamere, da eine ineffektive
Hilfestellung der in Not geratenen Person keine Unterstützung bietet.
Der
Handlungsspielraum
ist ein weiterer zentraler Bereich der externen Ressourcen und
stellt das Ausmass der beeinflussbaren Möglichkeiten dar, die einer Person zur
Verfügung stehen. Dabei wird in der Literatur darauf verwiesen, dass eine Vielfalt
synonym verwendeter Begriffe existiert, die in ihrem Kern Bezug auf die Möglichkeit der
Einflussnahme nehmen. In dieser Arbeit wird der Begriff Handlungsspielraum verwendet.
Der Handlungsspielraum zeigt sich im Arbeitskontext in Form von Entscheidungs-,
Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten auf die eine Person Einfluss nehmen kann. Zum
Beispiel kann mit der Reihenfolge der Arbeitsaufgaben variiert oder der
Arbeitsorganisation auf die eigene Leistungsfähigkeit abgestimmt werden. Darin enthalten
ist das Zeitmanagement; unter anderem können Pausen individuell eingeplant werden. Ein
hoher Handlungsspielraum hat Einfluss auf die Bewertung von Stressoren. Hat eine
Person die Überzeugung, in entsprechenden Situationen wirksame Einflussmöglichkeiten
zu besitzen, reduziert sich das Stresserleben dieser Person sogar dann, wenn diese
Möglichkeiten nicht aktiv genutzt werden oder wenn diese in Wirklichkeit gar nicht
bestehen, sondern das Individuum lediglich meint, es besitze Einflussmöglichkeiten.
Die
internen Ressourcen
beschreiben die Eigenarten einer Person und deren im Verlauf
ihrer Biografie erworbenen Merkmale als sogenannte Personenmerkmale. Darunter fallen
Qualifikationen, Fach-, Sach- und Sozialkompetenzen oder ein breites Repertoire an
Stressbewältigungsstrategien. Das Vorliegen dieser Merkmale kann die
Stresswahrscheinlichkeit reduzieren. Wie bereits erwähnt, zeigen Menschen Unterschiede
darin, wie sie Stressoren wahrnehmen und bewerten, und wie sie Stresssituationen
bewältigen. Im Gegensatz zu den internen Ressourcen bestehen, je nach
Personenmerkmalen auch personale Risikofaktoren. Darunter werden Faktoren verstanden,
die Stress verschärfen oder eine effektive Bewältigung erschweren. Die personalen
Risikofaktoren können jedoch keinesfalls als einzige Ursachen von Stress verstanden
werden. Genauso wenig ist das Fehlen von Risikofaktoren eine Garantie, keinen Stress
zu erleben (S. 90–95).
2. Theoretischer Teil
17
2.3.2.
Bedeutsame Ressourcen
Im Zusammenhang mit internen Ressourcen existieren nach Bartholdt und Schütz
(2010) einige besonders relevante
Ressourcen-Konzepte
, wie
Kompetenzen,
Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeit, Selbstwert, Optimismus, Kohärenzerleben
und
Hardiness
.
Kompetenzen
gewinnen im beruflichen wie auch im privaten Rahmen zunehmend an
Bedeutung. Gerade in der Arbeitswelt hat die Komplexität der psychischen Anforderungen
zugenommen und erfordert passende berufliche Kompetenzen. Dabei rückt neben den
Fach- und Sachkompetenzen auch zunehmend die
Sozialkompetenz
in den Vordergrund.
Sie stellt im Arbeitsalltag die Fähigkeit dar, mit dem Gegenüber Kontakt herzustellen,
Konflikte offen anzusprechen und einen angemessenen Ton zu treffen.
Da Stress als subjektiver und intensiver Spannungszustand auch aus der Befürchtung
entstehen kann, dass eine bestimmte Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig
kontrollierbar ist, spielt die
Kontrollüberzeugung
einer Person eine wichtige Rolle. Eine
Situation wird erst dann als Bedrohung empfunden, wenn die Befürchtung entsteht, sie
nicht mehr meistern zu können. Im Gegensatz dazu helfen positive Erwartungshaltungen
und internale Kotrollüberzeugungen die Entstehung von Stress, trotz vorhandener
Stressoren, zu vermeiden oder zu reduzieren (S. 97).
Bartholdt und Schütz (2010) beschreiben: „Über hohe Selbstwirksamkeitserwartung zu
verfügen bedeutet, davon überzeugt zu sein, dass eine bestimmte Handlung zum
angestrebten Ergebnis führt und man selbst in der Lage ist, diese Handlung erfolgreich
auszuführen“ (S. 98). Sie beschreiben, dass diese Gewissheit die zwei Komponenten
der Konsequenz- und der Kompetenzerwartung beinhaltet. Die Konsequenzerwartung
zeichnet sich dadurch aus, dass das Individuum die Annahme hat, dass eine bestimmte
Handlung zu einem bestimmten Ziel führt. Also zum Beispiel eine sportliche Aktivität
dazu geeignet ist, die auftretende Stressreaktion zu minimieren. Bei der
Kompetenzerwartung geht das Individuum davon aus, dass es die Fähigkeit besitzt, die
Aktivität zur Stressbewältigung auch ausüben zu können.
Als
Selbstwert
eines Menschen wird verstanden, dass eine grundsätzlich positive Haltung
gegenüber sich selbst als Person vorhanden ist. Individuen mit einem niedrigen
Selbstwert neigen dazu, sich Fehler oder Misserfolge selber zuzuschreiben. Durch
Übergeneralisierung entsteht die Annahme, dass der Misserfolg nicht auf die eine
Situation zu werten ist, sondern man generell erfolglos ist. Das hat zur Folge, dass
potentiell stresserzeugende Ereignisse als unkontrollierbarer und bedrohlicher erlebt
werden. In Studien konnte belegt werden, dass Personen mit einem niedrigen Selbstwert
stärkere physiologische Stressreaktionen zeigen als Menschen mit einem hohen Selbstwert
(S. 99).
Optimismus
beschreibt nach Bartholdt und Schütz (2010): „die Überzeugung, dass im
Leben wünschenswerte Ereignisse eintreten und die Dinge letztlich gut ausgehen werden“
2. Theoretischer Teil
18
(S. 99). Im Gegensatz zur Kontrollüberzeugung steht dabei der positive Ausgang der
Situation nicht unbedingt in Zusammenhang mit dem eigenen Handeln (S. 100).
Der
Kohärenzsinn
geht auf Aaron Antonovskys Konzept der Salutogenese zurück. Die
Salutogenese wird als Lehre der Gesundheit definiert und entstand aufgrund einer Studie
an Frauen, die ihre Wechseljahre hinter sich hatten und Überlebende von
Konzentrationslagern des zweiten Weltkrieges waren. Die Studie von Antonovsky ging von
der revolutionären Frage aus: „[…] Wie schaffen es manche dieser Menschen
einigermassen gesund zu bleiben?“ (zit. in Virgina Rice Hill, S. 210). Aus den
gewonnenen Forschungsergebnissen entstanden zwei Grundannahmen: „[…] dass
Krankheiten eine normale Erscheinung im menschlichen Leben sind und nicht
Abweichungen von der Normalität, und derjenigen, dass Gesundheit und Krankheit Pole
eines gemeinsamen Kontinuums sind“ (zit. in Alexa Franke, S. 158). So entwickelte
sich das heute anerkannte Modell der Salutogenese, als Gegenpol zur medizinisch
geprägten Pathogenese. Die Pathogenese ist die Lehre der Krankheit und setzt sich im
Gegensatz zur Salutogenese nicht mit den Ursachen einer Krankheit sondern mit der
Behandlung ihrer Symptome auseinander. Um das Kontinuum von Gesundheit und
Krankheit zu verstehen, entwickelte Antonovsky den Kohärenzsinn. Dieser kann als: „ein
grundlegendes Gefühl des Vertrauens verstanden werden und beeinflusst als globale und
andauernde individuelle Orientierung die Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen“
(zit. in Bartholdt und Schütz, 2010 S. 100). Dabei umfasst das Konzept nach
Bartholdt und Schütz (2010) die drei Komponenten der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit
und der Bedeutsamkeit. Die Verstehbarkeit ist das Vertrauen darin, dass interne und
externe Ereignisse strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind. Bei der Handhabbarkeit
geht es darum, Zuversicht über die Verfügbarkeit geeigneter Ressourcen zur Bewältigung
zu haben. Unter Bedeutsamkeit wird das Vertrauen verstanden, dass sich Anstrengung
und Engagement in der Auseinandersetzung mit Anforderungen lohnen. Menschen mit
einem hohen Kohärenzsinn werten stressreiche Geschehnisse eher als Herausforderung,
nach Misserfolgen initiieren sie schneller neue Versuche zur Bewältigung und resignieren
kaum.
In Zusammenhang mit internen Ressourcen wird auch
Hardiness
als ein weiteres
Konzept diskutiert. Es behandelt die Komponenten Engagement, Kontrolle und
Herausforderung. Dabei bedeutet Engagement an die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der
eigenen Person zu glauben, und Kontrolle, wie bereits erwähnt, die Überzeugung, Dinge
prinzipiell beeinflussen zu können. In der Herausforderung geht es darum, dass
Weiterentwicklung ein zentrales Merkmal des Lebens darstellt und Veränderung keine
Bedrohung darstellt.
Die Betrachtung der Ressourcen und der geschilderten Ressourcen-Konzepte macht
deutlich, dass sich in den einzelnen Gebieten viele Überschneidungen ergeben und sie
nicht trennscharf unterschieden werden können. Oftmals ist eine Unterscheidung zwischen
2. Theoretischer Teil
19
personalen Risikofaktoren und personalen Ressourcen schwierig, da ein und dasselbe
Konzept positiv wie auch negativ bewertet werden kann (S. 101).
2.4.
Stressoren
Die Stressoren und ihre Unterschiede werden im Generellen und in Bezug auf den
Kontext Arbeit erläutert. In einem Exkurs wird auf die Auswirkung von Anspannung auf
die Arbeitsleistung eingegangen.
2.4.1.
Generell
Stressoren sind nach Allenspach und Brechbühler (2005) Belastungen, die durch
Bewertung des Individuums Stress verursachen. Im täglichen Leben wirken verschiedene
Faktoren auf das Leben jedes Einzelnen ein. Einige Faktoren wirken schädigend, andere
hingegen schützend. Faktoren, die vor Stress schützen, gelten als Ressourcen und
Schutzfaktoren. Jene, die Stressreaktionen fördern, werden als Stressoren bezeichnet (S.
37). Wie stark ein Stressor auf eine Person einwirkt, hängt von verschiedenen
Einflüssen ab. Es spielt eine Rolle, wie unmittelbar eine mögliche Schädigung ist sowie
die Vorhersehbarkeit, die Versteh-, Erklär- und Kontrollierbarkeit einer Situation. Je nach
Handlungsspielraum einer Person fällt die Bewertung von belastenden Situationen stärker
oder schwächer aus und demnach auch der Stress. Bestimmte Faktoren können
Stressreaktionen beeinflussen; persönliche Eigenschaften, der Zustand des Organismus,
genetische Veranlagungen und die Situation zum Zeitpunkt des Einwirkens des Stressors
sind massgeblich daran beteiligt (S. 38). Eppel (2007) hält dazu fest, dass Stress
durch Reize entstehen kann, die nicht objektiv an einem Ereignis festzumachen sind,
sondern nur aufgrund der Bewertung der Person Stress auslösen. Ein und dieselbe
Situation kann demnach für verschiedene Personen Stress, Freude oder Gleichgültigkeit
hervorrufen, je nach Persönlichkeit und Biografie. Auch wird die innere Diskrepanz oft
Auslöser für Stressreaktionen. Diese entsteht zwischen den Forderungen der eigenen
Werte, Ziele und Bedürfnisse und den effektiven Fähigkeiten, Fertigkeiten und
Befindlichkeiten einer Person (S. 18-19). Es ist festzuhalten, dass in der Regel erst
das gemeinsame Auftreten unterschiedlicher Stressoren, in Kombination mit der eigenen
Bewertung der Situation, zu Stress führt.
Allenspach und Brechbühler (2005) teilen die Stressoren in zwei Kategorien: in
innere
und
äussere Stressoren
. Zu den inneren Stressoren zählen mitunter Ärger,
Versagensängste, Wut und Sorgen oder Freude, da auch positive Ereignisse Stress
auslösen können. Als äussere Stressoren gelten Faktoren wie Zeitdruck, Lärm oder
Reizüberflutungen (S. 37).
2. Theoretischer Teil
20
2.4.2.
Am Arbeitsplatz
Im Arbeitskontext gibt es viele mögliche Stressquellen, so Bartholdt und Schütz (2010).
Im Alltag und im Berufsleben ist es selten der Fall, dass Stressoren isoliert auftreten,
vielmehr wirken und beeinflussen sie sich gegenseitig. Um die unzähligen Stressoren im
Arbeitskontext zu strukturieren, wurden Klassifikationsversuche unternommen, die
Stressoren in unterschiedliche Gruppen zu gliedern. Norbert Semmer und Ivars Udris
(2004) teilen in ihrer Darstellung die Stressoren in vier Kategorien ein. Damit sich das
Kategorienraster übersichtlicher präsentiert, wurde die Kategorie „Arbeitsaufgaben und
Arbeitsorganisation“ auseinander genommen und in zwei Kategorien unterteilt, wie dies
Allenspach und Brechbühler (2005) in ihrer Darstellung des Kategorienrasters gemacht
haben (S. 40). Ausgehend von der Darstellung des Rasters in Allenspach und
Brechbühler (2005) wurden geringfügige Änderungen nach der Darstellung von Bartholdt
und Schütz (2010) vorgenommen, um den Kontext der Sozial Arbeit nachvollziehbar
abbilden zu können.
Tabelle 2: Mögliche Stressoren im Arbeitskontext (Allenspach und Brechbühler, 2005, S. 40
sowie Bartholdt und Schütz, 2010, S. 63)
Arbeitsaufgaben
Qualitative und quantitative Über- und Unterforderung
Den Fähigkeiten nicht angemessene Aufgaben
Schwerwiegende emotionale und soziale Anforderungen
Rollenstress (Rollenanforderung)
Hohe Arbeitsintensität ohne Handlungsspielräume
Mehrfachbelastungen, multiple Aufgaben
Arbeitsorganisation
Zeitdruck, Überstunden, mangelnde Planbarkeit flexibler
Arbeitszeiten
Problematisches Führungsverhalten der Vorgesetzten
Häufige Unterbrechungen, Ablenkungen
Widersprüchliche Anweisungen, schlecht vorhersehbare
Resultate, unklares Feedback
Unklare oder zu Konflikten führende Ziele
Grosse Verantwortung für Menschen
Nichtdurchschaubarkeit der Arbeitsabläufe
Nichtvorhersehbarkeit von Ereignissen
Nichtbeeinflussbarkeit von Arbeitsbedingungen
Physische Bedingungen
Umgebungsbedingungen: Lärm, Hitze, Lichtverhältnisse
Einseitige Körperhaltung
2. Theoretischer Teil
21
Soziale Stressoren
Unfaire Behandlung
Soziale Konflikte, schlechtes Arbeitsklima, Mobbing
Kooperations- und Kommunikationsbarrieren
Mangelnde soziale Unterstützung
Hohe soziale Abhängigkeit (Kooperationszwänge)
Emotionsarbeit
Umgang mit schwieriger Klientel
Organisationale Bedingungen
Geringer Status und Anerkennung
Wenig Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten
Ungenügende Informationspolitik
Unfaire Lohnpolitik
Mangelnde Zukunftsaussichten (Arbeitsplatzsicherheit,
Karrieremöglichkeiten)
Erlebte organisationale Ungerechtigkeit
Konflikt zwischen Arbeit und Privatleben
Ständige organisationale Veränderungen
Aus dem Kategorienraster sollen einzelne Punkte ausführlicher erläutert werden, da ihnen
ein besonderer Stellenwert im Arbeitskontext zugesprochen werden kann.
Rollenstress
In sozialen Strukturen wie Familie, Freizeit oder Beruf übernehmen Personen bestimmte
Rollen, so Bartholdt und Schütz (2010). Diese Rollen knüpfen an Erwartungen an, die
beispielsweise an eine berufliche Position gestellt wird. Einerseits hat eine Person, die
eine bestimmte Position innerhalb eines Betriebes inne hat Erwartungen an die eigene
Rolle, andererseits treten von aussen Erwartungen an die Rollentragenden entgegen, so
zum Beispiel von Vorgesetzten, der Behörde oder der Klientel. Sind die gestellten
Erwartungen überfordernd, unklar oder unvereinbar, erlebt die rollentragende Person einen
Rollenstress. Das Konzept des Rollenstresses definiert drei zentrale Ursachen:
Rollenkonflikt, Rollenambiguität
7
und
rollenbezogene Überforderung
.
Rollenkonflikt
tritt auf,
wenn verschiedene Personen unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen an das
Verhalten der Rollentragenden stellen. Hierzu kann das Beispiel aus der Sozialen Arbeit
genannt werden, wenn im Sinne des Triplemandats Sozialarbeitende zwischen eigenen
Erwartungen, jenen der Klientel und jenen der Behörde stehen (S. 64). Als
Rollenambiguität
wird verstanden, wenn Rollentragende über den Verantwortungsbereich in
ihrer Arbeit im Unklaren sind, wenn sie nicht über die nötigen Informationen verfügen,
um die Arbeit und die Rolle angemessen ausfüllen zu können, wenn Unsicherheit und
eingeschränkte Kontrolle die Arbeit beeinflussen, und dadurch Ohnmachtsgefühle auftreten.
Rollenbezogene Überforderung
beschreibt den Zustand, wenn Zeit und andere
7 Duden: Mehr-, Doppeldeutigkeit von Wörtern, Werten, Sachverhalten
2. Theoretischer Teil
22
Ressourcen fehlen, um die Erwartungen und Anforderungen an die eigene Rolle
genügend erfüllen zu können. Die Bedeutung von Rollenstress als Stressor ist abhängig
von den Persönlichkeitseigenschaften der Rollentragenden. Hat eine Person ein hohes
Bedürfnis nach Klarheit in ihrer Arbeit, so hat diese Person ein grösseres Problem mit
Ambiguität als Personen, die nicht gleich stark auf Klarheit angewiesen sind. Dieses
Bedürfnis wirkt sich in der Folge auf die Arbeitszufriedenheit und das Wohlbefinden aus
(S. 65).
Über- oder Unterforderung
Bei der Arbeit können Über- wie auch Unterforderungen auftreten und Stress erzeugen.
Im Bereich der Sozialen Arbeit zeigt es sich, dass eher Über- statt Unterforderung als
Stressor auftritt. Überforderung tritt dann auf, wenn eine grosse Arbeitsmenge innert
kurzer Zeit bewältigt werden muss (quantitative Überforderung) oder die gestellten
Anforderungen die eigenen Fähigkeiten übersteigen (qualitative Überforderung).
Überforderungen in zeitlichem Sinne werden oft mit dem Bewältigungsversuch „Leisten
von Überstunden“ angegangen, was, wie bereits erwähnt, zu einer Verminderung des
Wohlbefindens und zu einer Steigerung des Stresserlebens führen kann (S. 67).
Unterforderung tritt ein, wenn zu wenig zu tun ist und sich dadurch selten Gelegenheiten
für Erfolgs- oder Lernerlebnisse ergeben. Dies führt zu Monotonie und Langeweile, aber
auch zu Widerwillen gegenüber der Arbeit (S. 68).
Soziale Stressoren - Umgang mit schwieriger Klientel
Nach Wolfgang Schmidbauer (2007) haben Professionelle in der Sozialen Arbeit ein
starkes Empfinden für die Nöte und Leiden der Mitmenschen. Dies ist einerseits eine
Notwendigkeit für diesen Arbeitsbereich, andererseits kann es auch ein Grund für eine
mangelnde Abgrenzung gegenüber der Klientel sein und führt dadurch zu Überbelastung
und schlussendlich zu Erkrankungen (S. 150).
2.4.3.
Stressreaktionen im Arbeitskontext
Stressreaktionen können sich äussern, wenn Stressoren auf eine Person einwirken, laut
Eppel (2007). Die Reaktionen finden dabei auf drei Ebenen statt: der körperlichen, der
kognitiv-emotionalen und der verhaltensbezogenen (behavioralen) Ebene.
Auf der
körperlichen Ebene
stellt Stress einen normalen biologischen Verlauf dar, der
unseren Organismus in sekundenschnelle aktiviert und Energien mobilisiert, um sofort
reagieren zu können. Mit dieser Aktivierung wird die Herzfrequenz erhöht und geht, nebst
zahlreichen anderen Symptomen, mit erhöhter Muskelspannung, schnellerer Atmung und
Durchblutungssteigerung einher. Diese Aktivierung ist vom Körper als kurzfristige
Anpassung gedacht. Besteht chronischer Stress erschöpfen sich die Energiereserven, was
zu Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Magen-Darm-Trakts oder des
Immunsystems führen kann (S. 19). Auf der
kognitiv-emotionalen Ebene
äusserst sich
2. Theoretischer Teil
Stress laut Bartholdt und Schütz (2010) meist als negative Emotion. Gestresste
Personen reagieren eher unzufrieden oder verärgert, sie sind häufig unruhig und nervös,
wobei sich ebenfalls Gefühle der Schuld, Hilflosigkeit oder Ohnmacht einstellen können.
Tendenziell eher auf der kognitiven Ebene neigen gestresste Personen dazu, ihre
Stresswahrnehmung zu verändern. Die Aufmerksamkeit wird stark auf den Stressor
gelenkt, wodurch ein Tunnelblick entsteht. Dieser fördert in der Folge die
Auseinandersetzung mit dem Stressor, zugleich aber nimmt die Beobachtungsfähigkeit für
andere Reize oder neue Informationen ab. Mit dem Tunnelblick geht ein differenziertes
Gedankenkreisen bezüglich der Stresssituation, deren Folgen sowie deren Ursachen
einher. Dabei geht oftmals ein Teil der Objektivität zur Sache verloren. Teilweise stellen
sich auch irrationale Denkmuster ein. Durch die Fokussierung des Gehirns auf den
Stressor gerät es in eine Überbeanspruchung. Personen fällt es so schwer, den roten
Faden zu behalten: Es treten Denkblockaden und Blackouts auf. Tendenziell werden bei
Stresssituationen eher vereinfachte und konservative Entscheidungen getroffen, die
aufgrund der genannten eingeschränkten Objektivität teilweise auch unvollständig
durchdacht sind (S. 38–39). Die verhaltensbezogenen Stressreaktionen umfassen nach
Eppel (2007) das von aussen beobachtbare Verhalten. Häufig werden bei der Arbeit
Pausen gekürzt oder ausgelassen und es stellt sich ein eher unkoordiniertes
Arbeitsverhalten ein, bei dem mehrere Dinge zur gleichen Zeit erledigt werden.
Wesentliche Punkte wie die Planung, Übersicht und Ordnung bleiben aus. In der
Zusammenarbeit im Team ist der soziale Umgang in solchen Stresszeiten häufig von
Konflikten geprägt, es wird dem Gegenüber unter anderem ein eher aggressives und
gereiztes Verhalten gezeigt (S. 20). Alle drei Ebenen können gleichzeitig auftreten, sich
verstärken oder sich abschwächen.
2.4.4.
Exkurs: Anspannung und Arbeitsleistung
Hierbei muss unterschieden
werden, dass Stress nach
Lazarus (2005) immer eine
Unzulänglichkeit der eigenen
Ressourcen darstellt und
somit nicht positiv auf den
Arbeitsprozess und die
Arbeitsleistung einwirken kann.
Hingegen können Situationen,
die Anspannung auslösen,
positive und herausfordernde
Wirkungen auf die Arbeit
Abbildung 2: Das Yerkes-Dodson-Gesetz
(M. Doerk, 2010, S. 18)
haben, da sie als solche und
nicht als Stress
bewertet
Gar nicht - gering
Anspannung
mittel hoch - sehr hoch
23
Höchste Leistung bei
mittlerer Anspannung
Leistungsfähigkeit
2. Theoretischer Teil
24
werden. Die Erforschung von Stress und Arbeitsleistung stellt eine grosse Schwierigkeit
dar, da die Zusammenhänge sehr komplex sind. Stressbelastete Mitarbeitende wirken der
anstehenden Situation aktiv entgegenwirken und entwickeln Kompensationsstrategien. Eine
dieser Strategien ist, dass bei Belastungen die eigene Anstrengung erhöht wird. Diese
Strategie funktioniert jedoch nur bei genügender mentaler Kapazität. Ist die Kapazität
bereits begrenzt, kann die Kompensationsleistung, also dieser Mehraufwand, nur für
begrenzte Zeit erbracht werden. Aufwand und Ertrag verschlechtern sich in der Folge.
Genau dies beschreibt das Yerkes-Dodson-Gesetz: Das Arbeitsleistungsniveau ist sowohl
bei zu geringer als auch bei zu hoher Anspannung gering. Eine optimale Arbeitsleistung
kann nur bei mittlerer, persönlicher Anspannung erreicht werden, so Michael Doerk
(2010). Eine andere Kompensationsstrategie, gemäss Bartholdt und Schütz (2010),
wird damit erbracht, dass im Arbeitsverhalten weniger Aufwand betrieben wird. Bei der
Arbeit, unter dem Einfluss von Stressoren, hat die Erledigung der Arbeiten erster Priorität
„dringend und wichtig“ Vorrang. Die Kompensationsstrategien und die eigene Energie
werden somit für Arbeiten erster Priorität auf Kosten von Sekundäraufgaben eingesetzt.
Leistungseinbussen infolge Belastungen lassen sich durch die Kompensationsstrategien bei
den Arbeiten erster Priorität nur schwer festmachen, da diese nur Sekundäraufgaben
betreffen (S. 52-53). Hierzu kommt, dass Verschlechterungen bei nicht prioritären
Arbeiten keine unmittelbaren Auswirkungen haben, sondern sich erst nach einer gewissen
Zeit negativ äussern.
2.5.
Folgen von Stress
Stress und bestehende Krankheiten werden seit längerem in Verbindung miteinander
gebracht, so Barthold und Schütz (2010). Häufig wirkt chronischer Stress als Auslöser,
Beschleuniger oder Verstärker einer Erkrankung (S. 41). Die Folgen von Stress werden
im Allgemeinen erläutert und die daraus resultierenden Erkrankungen auf körperlicher und
psychischer Ebene aufgezeigt.
2.5.1.
Allgemein
Nach Gert Kaluza (2007) sind für die gesundheitsschädlichen Folgen von Stress vier
zentrale Mechanismen bedeutsam:
unverbrauchte Energien, chronische Anspannung und
Stress,, geschwächte Abwehrkräfte
und
gesundheitliches Risikoverhalten
(S. 23). Im
Folgenden werden diese Mechanismen näher erläutert.
Wie bereits erwähnt, stellt Stress den Körper unter Anspannung. Es entsteht eine
Aktivierung und Energie wird freigesetzt, um rasch Fliehen oder Kämpfen zu können. Im
Kampf oder der Flucht werden die bereitgestellten Energien abgebaut. Dieser natürliche
Mechanismus ist in der heutigen Zeit nicht mehr im Gleichgewicht. Stress wird erzeugt,
2. Theoretischer Teil
25
aber durch mangelnde Aktivierung des Körpers kaum mehr abgebaut, was
unverbrauchte
Energien
erzeugt. Diese stellen in der Folge ein gesundheitliches Risiko dar, da die
aktivierten Nährstoffe im Körper zirkulieren und so die Blutgefässe zu verstopfen drohen,
was zu Gefässverengungen (Arteriosklerose) oder Gefässverschluss (Infarkt) führen
können. In der heutigen Arbeitswelt treten Stressoren meist über einen längeren Zeitraum
auf und führen zu
chronischer Belastung
. Der Organismus befindet sich dadurch über
längere Zeit in einem Aktivierungszustand und büsst so allmählich die Fähigkeit zur
Selbstregulation ein. Der Körper zeigt sich trotz regelmässig wiederkehrenden Stressoren
nicht in der Lage, sich darauf mit reduzierter Aktivierung anzupassen. Die
Erholungsfähigkeit wird derart eingeschränkt, dass der Organismus auch in
stressorenfreien Phasen nicht auf ein normales Ruheniveau herunterfahren kann. Dadurch
bleibt der Kortisolspiegel im Körper dauerhaft erhöht, was unter anderem die
Stoffwechseltätigkeit in den Muskeln verstärkt und die Säuremenge und den Säuregehalt
des Magensaftes erhöht. Diese führt häufig zu Magen-, Herz- und Kreislauferkrankungen
(S. 43). Durch die Wirkung des ausgeschütteten Kortisols werden das Immunsystem
und somit die
Abwehrkräfte geschwächt
. Der Organismus wird anfälliger für
Infektionskrankheiten und die Wundheilung wird verzögert. Die stressbedingten
Erscheinungen werden mit teilweise negativen Bewältigungsstrategien angegangen, so
steigt beispielsweise der Konsum von Tabak, Alkohol, Schmerz-, Aufputsch- oder
Beruhigungsmitteln und der Verzehr von ungesundem Essen an, gleichzeitig nimmt die
körperliche Bewegung ab. Diese Reaktion führt zu einem zusätzlichen
gesundheitlichen
Risikoverhalten
. Die genannten Bewältigungsberhalten stellen zwar Versuche dar, mehr
Zeit für die zu bewältigende Arbeit, für die Familie oder für die Ausbildung zu gewinnen,
ist aber als ungeeignet anzusehen, weil die generelle Belastbarkeit sinkt und das Risiko
für ernsthafte Erkrankungen erhöht wird (S. 46).
2.5.2.
Erkrankungen auf körperlicher Ebene
Allenspach und Brechbühler (2005) weisen darauf hin, dass Stress ernsthafte Folgen
mit sich bringen kann, wenn die Stresssituation chronisch und eine adäquate Anpassung
zur Stressreduktion schwierig wird. Breitet sich der Stress in mehrere Lebensbereiche
aus, so wird das Risiko für eine ernsthafte Erkrankung sehr hoch (S. 87). Obwohl
viele Erkrankungen, so Bartholdt und Schütz (2010), oft in Zusammenhang mit
chronischem Stress stehen, können sie dennoch nicht ausschliesslich darauf zurückgeführt
werden. Stress erhöht zwar das Auftreten von Krankheitssymptomen, persönliche und
situative Risikofaktoren und Ressourcen spielen dabei aber eine ebenso mitwirkende Rolle
(S. 47). Chronischer Stress kann mitunter zu folgenden körperlichen Krankheiten führen:
2. Theoretischer Teil
26
Tabelle 3: Chronischer Stress und körperliche Krankheiten (Bartholdt und Schütz 2010,
S. 47)
Gehirn
Einschränkung kognitiver Leistungsfähigkeit
Einschränkung Gedächtnisfunktion
Hirninfarkt
Herz-Kreislauf-
System
kardiovaskuläre Erkrankungen: Bluthochdruck, koronare
Herzerkrankungen, Herzinfarkt
kardiovaskuläre Risikofaktoren: erhöhter Blutfettspiegel,
Arteriosklerose, metabolisches Syndrom
Atmung
Bronchialasthma
Haut
Hauterkrankungen (Ekzem, Schuppenflechte)
Allergien
Muskulatur
Kopfschmerzen
Rückenschmerzen
Schilddrüse
Schilddrüsenüberfunktion
Verdauungsorgane
Störung der Verdauung
Gastritis (Magenentzündung)
Ulzera (Geschwür) an Magen und Zwölffingerdarm
Stoffwechsel
Erhöhter Blutzuckerspiegel
Erhöhter Cholesterinspiegel
Diabetes
Immunsystem
Verminderte Immunkompetenz gegenüber Infektionskrankheiten
Ungünstiger Verlauf Infektionskrankheiten
Schmerz
Verringerte Schmerztoleranz
Sexualität
Libidoverlust
Zyklusstörungen
Impotenz
bei
der
Frau,
bis
hin
zu
Unfruchtbarkeit
2.5.3.
Erkrankungen auf psychischer Ebene
Stress wirkt sich auch auf die
psychische Ebene
aus. Laut Allenspach und Brechbühler
(2005) haben die psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz in den letzten 15 Jahren
deutlich zugenommen. Sie erwähnen Rolf Heim, Arzt und Psychotherapeut am Institut für
Arbeitsmedizin (IfA) in Baden, der diese Zunahme der vermehrten Büroarbeit zuschreibt.
Diese sei psychisch besonders belastend, wobei die Teamarbeit und Teamfähigkeit sowie
die erwartete Kommunikationsbereitschaft von Heim als Stressoren gewertet werden.
Allenspach und Brechbühler weisen darauf hin, dass psychische Erkrankungen nebst
Stress meist mehrere Ursachen haben wie Persönlichkeitsfaktoren, soziale Einflüsse,
belastende Lebensereignisse und andere Variablen. Die Problematik bei psychischen
Erkrankungen äussert sich darin, dass die betroffenen Personen ihre Schwierigkeiten
2. Theoretischer Teil
lange Zeit verbergen können, was jedoch viel Energie kostet, die anderswo eingesetzt
werden könnte (S. 99). Da psychische Krankheiten in der Regel eher spät erkannt
werden, ist die Behandlung entsprechend langwieriger. Eine häufig verbreitete und
vielbeschriebene, psychische Erkrankung ist die
Depression
. Sie äussert sich meist in
Niedergeschlagenheit, Antriebsmangel, Angstzuständen, innerer Unruhe, Denk- und
Schlafstörungen. Versteckte Depressionen äussern sich häufig in exzessivem
Sportverhalten, Aggressivität und starkem Alkoholkonsum (S. 101). Als berufsbedingtes
seelisches Leiden wurde der Begriff
Burnout
vom amerikanischen Psychoanalytiker
Herbert Freudenberger in den 1970er Jahren erstmals verwendet. In Bezug auf Burnout
gibt es nach Bartholdt und Schütz (2010) zahlreiche Definitions- und
Beschreibungsversuche. Ein klar umrissenes Entstehungs- und Symptomprofil gibt es
allerdings bis heute keines. Das häufig verwendete Modell von Christina Maslach (zit. in
Bartholdt und Schütz) teilt das Syndrom Burnout in drei Komponenten: emotionale
Erschöpfung, Depersonalisation und eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Die emotionale
Erschöpfung beschreibt das Empfinden, von den Anforderungen des Berufes überfordert
zu sein (S. 58), es entsteht eine Energielosigkeit und eine innere Leere. Die
Depersonalisation äussert eine distanzierte und zynische Haltung gegenüber der Klientel
und desweilen werden soziale Interaktionen vermieden. Mit der eingeschränkten
Leistungsfähigkeit wird die eigene Überforderung bezüglich der beruflichen Anforderungen
verstanden, die nicht mehr erbracht werden können; Erfolge können nicht mehr erzielt,
Verantwortung nicht mehr länger getragen werden. Dieses Modell wurde mehrfach
weiterentwickelt. Abweichend wird im Modell von Evangelina Demerouti et al. (2001)
die emotionale Erschöpfung auch auf die physische und kognitive Ebene erweitert.
Anstelle der Depersonalisation wird Distanzierung von der Arbeit als elementare
Komponente verstanden. Sie beschreibt die negative Einstellung gegenüber der Arbeit
insgesamt, die gekoppelt ist mit Zynismus, geringer Identifikation und schwindender
Motivation mit der Arbeit und Rückzug. Eine verminderte Leistungsfähigkeit wird bei
Demerouti nicht als Komponente betrachtet, da dies eher eine Folge des Burnouts und
nicht ein Symptom darstelle (S. 59). Die Ursache eines Burnouts ist als ein
schleichender Prozess beschrieben. Dazu existieren verschiedene Modelle. Zentral scheint,
dass Burnout meist im Zusammenhang mit starker andauernder Belastung am Arbeitsplatz
einhergeht und daraus eine Erschöpfung resultiert. Burnout ist nicht nur ein Syndrom in
helfenden Berufen sondern, es können alle Berufsgruppen betroffen sein. Steden
(2008) weist diesbezüglich jedoch darauf hin, dass Personen, die wie Sozialarbeitende
Anteilnahme berufsmässig ausüben müssen über die Jahre in einen Zustand emotionaler
Überforderung geraten, da bei der Arbeit mehr an emotionaler Zuwendung abgegeben
wird, als von der Klientel zurückkommt. Hier nennt er als Warnsignale, wenn sich rasche
Ermüdung und Erschöpfung einstellen und sich die Betroffenen in einem andauernden
nervösen Spannungszustand befinden. Ebenfalls kann das Helfen-Wollen aber Nicht-
Helfen-Können zu Selbstzweifel, Versagensängsten und dem Gefühl führen, sich
vergebens für eine Klientin/ einen Klienten emotional eingesetzt zu haben (S. 246).
27
2. Theoretischer Teil
28
2.6.
Coping
Coping (Bewältigung) ist ein bedeutsamer Teil der Stressforschung und es gilt
verschiedene Aspekte zum Thema zu berücksichtigen.
Lazarus und Folkmann (2005) definieren: „Bewältigung als fortwährend sich wandelnde
kognitive und verhaltensbezogene Anstrengung zur Handhabung bestimmter externer
und/oder interner Anforderungen, die vom Betroffenen als seine Ressourcen belastend
oder überlastend bewertet werden" (zit. in Virgina Rice Hill, S. 239). Sie beschreiben,
dass bei der Feststellung eines Verlusts oder beim Erwarten einer Schädigung die
Situation von der betroffenen Person überwunden oder toleriert wird. Dabei geht es
darum, dass das Wohlbefinden und die Handlungsfähigkeit einer Person wieder
hergestellt werden oder diese sich neu orientiert und weiterentwickelt. Der prozesshafte
Ablauf zeigt Veränderungen, die sich bei der Bewältigung von Ereignissen und
Lebenssituationen für eine Person ergeben. Es entsteht ein fortlaufender Prozess der
Neubewertung und Interpretation einer Situation, und der zur Bewältigung dienenden
Strategien (zit. in Virgina Rice Hill, S. 239–243).
2.6.1.
Alltagsverständnis von Coping und seine
Bewertung
Auch hier ist die Bewertung wie bereits erwähnt ein zentraler Teil der Entwicklung.
Individuen bewerten Situationen im Hinblick auf Komplikationen, die sich für ihr
Wohlbefinden ergeben können. Daraus entsteht ein Bezugssystem aus zwei Teilen, das
sich dennoch gegenseitig bedingt. Zum einen wollen die Menschen das Geschehen so
realistisch wie möglich sehen, um es zu bewältigen, und zum anderen möchten sie es
im bestmöglichen Licht betrachten, um nicht die Hoffnung und Zuversicht zu verlieren.
Aus diesen zwei Teilen entsteht ein Kompromiss zwischen dem Leben, wie es ist und
dem Leben, wie es sein sollte. Einen grossen Einfluss auf dieses Spannungsfeld der
Bewertung haben dabei Werthaltungen, kulturelle Bindungen, Ziele, Überzeugungen und
Ressourcen sowie die Bewältigungsstrategien der Betroffenen. Des Weiteren ist es
schwierig den Prozess der Bewertung von dem der Bewältigung zu unterscheiden, da sie
ineinander fliessen. Dennoch erfolgt hier der Versuch eine Unterscheidung zu machen.
Die Bewertung einer Situation ist dann das Ergebnis eines Bewältigungsprozesses, wenn
dadurch eine gezielte Suche nach Informationen und Bedeutungen zustande kommt, mit
deren Hilfe bei Stress gehandelt werden kann.
Ein weiterer erschwerender Punkt bei der Differenzierung von Coping ist, dass nach dem
allgemeinen Alltagsverständnis Bewältigung in erster Linie mit erfolgreichem und
effektivem Handeln verbindet. In der Literatur wird dazu jedoch explizit darauf
hingewiesen, dass es keine Bewältigungsstrategie gibt, die immer entweder
effizient
oder
ineffizient
ist. Der Bewältigungsprozess und das angestrebte Resultat sind, ebenso wie
2. Theoretischer Teil
29
die Bewertung einer Situation, abhängig von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, der
Art der Bedrohung und dem aktuellen Belastungsgrad, dem eine Person ausgesetzt ist.
Daneben muss beachtet werden, dass ein Kontext- und Umweltbezug besteht und was
eine Person im Moment des Stresses denkt, fühlt und tut. Erst dann kann bewertet
werden, ob eine Bewältigungsstrategie effizient ist oder nicht (zit. in Virgina Rice Hill, S.
240–245).
Des Weiteren gilt es nach Bartholdt und Schütz (2010) bei der Bewertung der
Effizienz oder Ineffizienz von Coping im Arbeitsalltag situationale, zeitliche und Kosten-
Nutzen Aspekte zu berücksichtigen. Situationsbedingte Aspekte beinhalten, dass eine
Coping-Strategie unter gewissen Umständen effektiv oder kontraproduktiv wirkt. Auf den
Arbeitsalltag bezogen kann das heissen, bei den einen Klientinnen oder Klienten hilft es
schwieriges Verhalten anzusprechen und bei den Anderen muss es ausgehalten werden.
Auch der zeitliche Aspekt nimmt Einfluss auf das Coping-Verhalten. Zum Beispiel kann
zu Beginn des Prozesses die angewandte Coping-Strategie noch stressmindernd
einwirken, um dann im weiteren Verlauf, aufgrund einer Veränderung der Situation
und/oder der Bewertung durch das Individuum, stressfördernd zu werden. Bei den
Kosten-Nutzen Aspekten wird die Effektivität der Coping-Strategien nach Aufwand und
Ertrag gegeneinander abgewogen und in ein Verhältnis gesetzt. So könnte eine mögliche
Coping-Strategie im Arbeitsalltag sein, dass Stress, ausgelöst durch ein hohes
Arbeitsvolumen, durch Überstunden bewältigt werden soll. Dauert diese Coping-Strategie
längere Zeit an, so wird sie auf Dauer die Leistungsfähigkeit einschränken, was das
Wohlbefinden einer Person beeinträchtigen kann. Somit wird der anfängliche Nutzen des
Copings im Laufe der Zeit, und auf Kosten des Wohlbefindens, zu einer
Belastung(S.106).
2.6.2.
Bewältigungsperspektiven
In Bezug auf
Arbeit zeigt
sich
der Bewältigungsprozess nach Eppel
(2007)
mehrdimensional,
im
Sinne
der
Verantwortung des Arbeitgebenden
und der
Eigenverantwortung des Arbeitnehmenden. Daraus entstehen zwei Perspektiven der
Bewältigung: die bedingungszentrierte und die individuumszentrierte Bewältigung. Die
bedingungszentrierte Bewältigung erfolgt
überindividuell
und ist dementsprechend im
betrieblichen Rahmen eingebettet. Bei der überindividuellen Form ist davon auszugehen,
dass unter gleichen Umständen die Mehrzahl von Menschen mit Überforderung auf
dieselbe Belastungssituation reagieren würden. Bei den Belastungssituationen kann es
sich zum Beispiel um unab-änderbare betriebliche Abläufe zum Beispiel die Verteilung
und Menge der Fälle oder die Verteilung von öffentlichen Mitteln handeln. Also Dinge,
die sich durch Anstrengungen einer einzelnen Person nicht verändern lassen. Allenfalls
können sie ertragen oder leicht angepasst werden oder das Individuum verändert sein
Umfeld durch eine „Flucht“ zum Beispiel einer Kündigung des Arbeitsplatzes.
2. Theoretischer Teil
30
Daneben setzt die individuumszentrierte Bewältigung an den individuellen Anstrengungen
einer Person ein Geschehen zu bewältigen an. Dementsprechend stehen nicht
betriebliche Aspekte im Vordergrund sondern der Mensch mit seinen Ressourcen und
Coping-Strategien. In der individuellen Perspektive existieren zahlreiche Versuche eine
Übersicht oder Kategorisierung der jeweiligen Coping-Strategien zu machen. Doch ist es
bis heute den Expertinnen und Experten nicht gelungen ein einheitliches
Kategoriensystem zu entwickeln (S. 46–47).
2.6.3.
Kategorisieren von Bewältigungsformen und –
strategien
Wie bereits erwähnt existieren unzählige Versuche Bewältigungsformen zu kategorisieren,
um sie in der Forschung messbar zu machen. Diese Bemühungen scheitern immer
wieder an der Komplexität der Coping-Prozesse und der Individualität der einzelnen
Personen. In dieser Arbeit wird die Kategorisierung in Anlehnung an das transaktionale
Stressmodell nach Lazarus (2005) aufgezeigt. Dabei richtet sich die Klassifizierung
nach dem Ziel des Copings und teilt sich in zwei Bereiche auf:
problemfokussiertes und
emotionsfokussiertes Coping
.
Bei der Problemfokussierung verschafft sich die betroffene Person Informationen, anhand
deren sie ein Problem angehen kann, um so die Person-Umwelt-Beziehung wieder in
Ordnung zu bringen. Auch kognitive Strategien der Umbewertung und Neuinterpretation
von Stressursachen werden zum problembezogenen Coping gezählt.
Die emotionsfokussierte Bewältigung zielt darauf ab, mit der Stresssituation verbundene
Emotionen zu steuern, zu verringern oder neu zu bewerten, dies geschieht, ohne dass
die belastende Lage verändert wird (zit. in Virgina Rice Hill, 2005 S. 242-243).
Ausgehend von dieser Zweiteilung zeichnet sich laut Barthold und Schütz (2010)
dennoch eine weitere erschwerende Tatsache in der Kategorisierung ab. Nämlich, dass
das Individuum oft auch mehrere Coping-Strategien gleichzeitig anwendet und die
Strategien dabei verschiedene Ziele verfolgen können. Im Arbeitsalltag bewusst
Schwierigkeiten mit einer anderen Person anzusprechen, kann einerseits dazu dienen die
Ursache eines Problems zu besprechen und zu beseitigen (
problembezogenes Coping
)
und andererseits negative Gefühle anzusprechen und somit zu reduzieren
(
emotionsbezogenes Coping
). Es gilt auch zu bedenken, ob die im Stressgeschehen
gezeigte Reaktion ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist oder ob es sich um eine
situative Reaktion handelt (S. 103-104).
2. Theoretischer Teil
31
2.7.
Exkurs: Betriebliches
Gesundheitsmanagement
Der Begriff „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ umfasst viele Elemente, welche an
dieser Stelle jedoch nicht alle vertieft erläutert werden können. Dieser Exkurs dient einer
ersten Annäherung an dieses breit gefächerte Themenfeld. Er soll aufzeigen wie zentral
das betriebliche Gesundheitsmanagement in Zusammenhang mit den Themen Stress und
Coping ist und damit den Theorieteil abrunden.
Einige essentielle Elemente eines betrieblichen Gesundheitsmanagements wurden bereits
genannt wie die externen (organisationalen) Ressourcen. Ebenso wurde geschildert,
welche potenziellen Stressoren im Kontext Arbeit auftreten und welche Folgen daraus
entstehen können.
Im Sinne des betrieblichen Gesundheitsmanagements stellt nach Martin Hafen (2009)
Arbeit ein Gesundheitsrisiko beziehungsweise ein Krankheitsfaktor dar, was durch
zahlreiche Studien belegt ist. Laut der letzten schweizerischen Gesundheitsbefragung (zit.
in Hafen) aus dem Jahr 2002 leiden 44% der Arbeitnehmenden an ihrem Arbeitsplatz
unter starker nervlicher Belastung, 38% der gestressten Frauen und 21% der gestressten
Männer leiden unter starken körperlichen Beschwerden. Eine Studie der ETH (zit. in
Hafen) aus dem Jahr 1999 zeigt ähnliche Zahlen auf: 51% empfinden mehr Stress
aufgrund von zunehmendem Leistungszwang und 50% aufgrund von mehr Verantwortung.
Die Kosten für Arbeitsstress belaufen sich laut einer Seco-Studie (zit. in Hafen) aus
dem Jahr 2002 auf insgesamt 4,2 Milliarden Franken pro Jahr, wobei darin Absenzen
und Produktionsausfälle 2,4 Milliarden Franken ausmachen (S. 27). Diese Zahlen
machen deutlich, dass Gesundheit/Krankheit und Arbeit eng miteinander verknüpft sind.
Durch ein betriebliches Gesundheitsmanagement sollen gesundheitsgefährdende Risiken
durch geeignete Mittel gemindert oder unterbunden und Schutzfaktoren erhöht und
gestärkt werden. Damit überhaupt griffige Massnahmen möglich sind, bedarf es einer
genauen organisationsspezifischen Problem/Ursachen-Analyse und einer personen-
spezifischen, auf Körper, Psyche und Soziales fokussierte Ursachenprüfung. Erst dann
kommen Mittel des betrieblichen Gesundheitsmanagements zum Wirken. Diese
Massnahmen werden kategorisiert nach
Prävention, Behandlung
und
Früherkennung
(S.
26). Unter dem Begriff
Prävention
werden Handlungen verstanden, so Hafen (2007),
die ein im Moment noch nicht vorhandenes Problem verhindern oder einen momentan
positiv wahrgenommenen Zustand weiterhin erhalten sollen. Um dies zu erreichen,
fungiert die Prävention auf der Ursachenebene, auf der versucht wird kommunikativ oder
physisch in die Prozesse eines Systems einzugreifen, um Einflussfaktoren, darunter fallen
Risiko- und Schutzfaktoren, durch Massnahmen adäquat einzusetzen oder zu bearbeiten
(S. 37). Die Arbeit der Prävention richtet sich so Hafen (2007) auf die
Einflussfaktoren, indem die Risikofaktoren reduziert und die Schutzfaktoren gestärkt
2. Theoretischer Teil
32
werden sollen. Ist ein Problem vorhanden oder eingetreten und wird dies von der
Gesellschaft als unerwünscht empfunden, so tritt die Phase der
Behandlung
ein. Die
Massnahmen hierzu erfolgen auf der Problemebene und sollen bewirken, dass die
Komplikationen verschwinden oder nicht grösser wird (S. 70). Nach Hafen (2007)
zeigt sich, dass Prävention und Behandlung nicht strikt voneinander getrennt werden
können, da Prävention auch behandelnde Faktoren aufweisen kann und Behandlung
ebenso präventive Komponenten besitzt (S. 59). Die
Früherkennung
hat eine
Beobachterfunktion und nimmt keine eigentlichen Interventionen vor. Sie greift ein
zwischen Prävention und Behandlung und nimmt darin eine diagnostische Funktion wahr,
in der sie unterscheidet, ob eine
Behandlung
in einer Sache erfolgen muss oder nicht
(S. 70-71).
In Bezug auf das betriebliche Gesundheitsmanagement bestehen weitere grundlegende
zentrale Themenfelder, so Hafen(2007). Einerseits sind dies
Gesundheitsschutz und
Arbeitssicherheit
und
Prävention und Gesundheitsförderung
anderseits. Der
Gesundheitsschutz
und die
Arbeitssicherheit
sind Massnahmen die negative Folgen des
Arbeitsplatzes von vorne herein verhindern sollen, wie beispielsweise ergonomische
Gestaltung von Büroarbeitsplätzen, Lärmschutz oder Sicherheit bei der Arbeit.
Interessant ist im Zusammenhang mit betrieblichem Gesundheitsmanagement eine
Zusammenstellung von Bandura und Hehlmann (2003, zit. in Eberhard Ulich und Marc
Wülser, 2009) bezüglich Erkenntnissen über „gesunder“ und „ungesunder“
Unternehmungen (S. 269). Dies soll Aufschluss darüber geben, wo in Betrieben
Handlungsbedarf bestehen könnte oder wo die Institutionen positive Strukturen bereits
institutionalisiert haben. Die folgende Aufstellung soll in der hohen Dichte an Literatur
betreffend positiven und negativen Arbeitsbedingungen und Unternehmensmerkmalen einen
groben Überblick verschaffen.
Tabelle 4: Merkmale „gesunder“ und „ungesunder“ Organisationen (Bandura und Hehlmann,
2003, zit. in Ulich und Wülser 2009, (S. 269)
Merkmale
Gesunde Organisation
Ungesunde
Organisation
Ausmass sozialer Ungleichheit (Bildung,
Status, Einkommen)
Moderat
Hoch
Vorrat an gemeinsamen Überzeugungen,
Werten, Regel („Kultur“)
Gross
Gering
Identifikation der Mitglieder mit
übergeordneten Zielen und Regeln ihres
sozialen Systems („Wir-Gefühl“,
„Commitment“)
Stark ausgeprägt
Gering ausgeprägt
2. Theoretischer Teil
33
Vertrauen in Führung
Hoch
Gering
Ausmass persönlicher Beteiligung an
systematischer Willensbildung,
Entscheidungsfindung (Partizipation)
Hoch
Gering
Gegenseitiges Vertrauen, Zusammenhalt
unter Mitgliedern
Hoch
Gering
Umfang sozialer Kontakte jenseits primärer
Beziehungen
Hoch
Gering
Stabilität, Funktionsfähigkeit primärer Be-
ziehungen (Familie, Arbeitsgruppe etc.)
Hoch
Gering
Soziale Kompetenz
Stark ausgeprägt und
verbreitet
Gering ausgeprägt und
verbreitet
Sinnstiftende Betätigung (Arbeit, Freizeit
etc.)
Stark Verbreitet
Weniger stark verbreitet
34
3. Methodik
3.
Methodik
Das Kapitel nimmt Bezug auf die Wahl und die Begründung der Forschungsmethode
sowie auf die Auswahl der Stichprobe, die Darlegung der einzelnen Arbeitsschritte der
Datenerhebung und -aufbereitung bis zur Datenauswertung.
3.1.
Wahl und Begründung der
Forschungsmethode
Die Forschung soll die eingangs erläuterten Fragestellungen durch Befragung von
Sozialarbeitenden aus dem Bereich Kindesschutz klären. Um der Vielschichtigkeit der zu
erforschenden Thematik gerecht zu werden und konkrete Erkenntnisse auf die Fragen zu
erhalten, wird eine qualitative Befragung als Forschungsmethode definiert. Die Autorinnen
führten die Gespräche mit den Fachpersonen anhand eines Leitfadens. Durch den
Leitfaden wird, im Gegensatz zu anderen Formen der Datenerhebung, das Gespräch von
den Interviewenden gesteuert, so Horst Otto Mayer (2004). Das hat zweierlei positive
Eigenschaften: durch den konsequenten Einsatz des Leitfadens erhalten die Befragungen
eine mehrheitlich ähnliche Struktur und die Vergleichbarkeit der Daten wird dadurch
erhöht. Zudem besteht bei einem Leitfadeninterview, die Möglichkeit des spontanen und
gezielten Nachfragens. Ausgehend von diesen Überlegungen bietet sich für die
Autorinnen die qualitative Forschungsmethode mittels Leitfadeninterviews an (S. 37).
3.1.1.
Das Leitfadeninterview als Expertinnen- und
Experteninterview
Nach Mayer (2004) eignen sich Leitfadeninterviews, im Speziellen Expertinnen- und
Experteninterviews, sehr gut, um Fachpersonen einer bestimmten Gruppe zu einem klar
definierten Sachverhalt zu befragen. Hierbei steht nicht die Person als solche im Zentrum
der Befragung, sondern vielmehr ihre Funktion als Expertin, als Experte für bestimmte
Handlungsfelder (S. 37). Obwohl sicherlich die Mehrzahl der Sozialarbeitenden
regelmässig in Kontakt mit Stress und Coping kommt, scheint es, dass Sozialarbeitende
im Kindesschutz aufgrund ihrer Tätigkeit mit Kindern, im Kontext von Gewalt und
Missbrauch, häufiger schwierigen und sehr belastenden Situationen ausgesetzt sind und
demnach adäquate Bewältigungsstrategien besitzen müssen. Aufgrund dieser
3. Methodik
35
Ausgangslage wurden Sozialarbeitende in Kindesschutzgruppen als Expertinnen und
Experten zu den Themen Stress und Bewältigung definiert. Aus den Experteninterviews
sollen Informationen über die persönliche Stress- und Coping-Wahrnehmung bei der
Arbeit eruiert werden und als Grundlage für die Beantwortung der Fragestellungen
dienen.
3.2.
Stichprobe
Um die Grundgesamtheit (N) zu ermitteln und anschliessend daraus eine Stichprobe
(n) bilden zu können, diente den Autorinnen das Adressverzeichnis von Hilfs- und
Beratungsstellen in der Schweiz in Zusammenhang mit Kindesmisshandlung des
Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV (2007). Anfänglich war das erklärte Ziel,
ein möglichst umfassendes Bild der Stress- und Coping-Situationen in
Kindesschutzgruppen im Spital zu erhalten. Für die deduktive Stichprobe (n) wurden
dementsprechend folgende Kriterien gewählt: Deutschschweiz, Sozialarbeiterin oder
Sozialarbeiter ohne Führungsaufgabe, Tätigkeit in einer Kindesschutzgruppe im Spital,
Arbeit mit Betroffenen.
Durch das Adressverzeichnis der Hilfs- und Beratungsstellen konnte eruiert werden, dass
es in sechs Deutschschweizer Spitälern Kindesschutzgruppen gibt: St. Gallen, Zürich,
Basel, Luzern, Bern und Aarau, wobei bei Letzterem keine Sozialarbeitenden im
Kindesschutz Team integriert sind. Die entsprechenden Sozialarbeitenden wurden vorerst
telefonisch kontaktiert, um so eine gewisse Nähe durch das persönliche Gespräch zu
erzeugen und dadurch die Sozialarbeitenden aktiv für eine Mithilfe zu gewinnen. Drei von
sechs Sozialarbeitenden haben sich für ein Interview bereiterklärt. Zwei Stellen waren
nicht erreichbar und eine Stelle erteilte eine Absage. Die Autorinnen durften folglich an
drei Sozialarbeitende aus Kindesschutzgruppen einen ausführlichen Informationsbrief
(siehe Anhang C) zusammen mit dem Leitfaden zustellen. Der Gesprächsleitfaden wurde
bewusst im Voraus an die Teilnehmenden gesendet, damit diese sich vorbereiten und
auf die Thematik einstellen konnten. Die Autorinnen erwarteten dadurch eine grössere
Fülle an reflektierten Informationen anstelle von Spontanantworten.
3.2.1. Probleme mit der Stichprobenwahl
Während der Durchführung der Interviews zeigte sich ein einseitiges Bild. Die Aussagen
der Interviewten Sozialarbeitenden waren einander sehr ähnlich, da alle Befragten in
vergleichbaren Strukturen arbeiteten und dadurch das Meinungsspektrum zu Stress und
Coping nur begrenzt in Erfahrung gebracht werden konnte. Aufgrund dieser Erkenntnisse
entschieden die Autorinnen die Stichprobenwahl zu erweitern auf den gesamten
3. Methodik
36
abklärenden Kindesschutz (Kindesschutzgruppen, Amtsvormundschaft, polyvalenter
Sozialdienst) im Kanton Bern zu fokussieren, da in der Deutschschweiz unzählige
Abklärungsstellen bestehen. Der Kanton Bern wurde gewählt, weil beide Autorinnen in
Bern leben. Die neue und definitive Stichprobe beinhaltet die Kriterien: Kanton Bern
(deutschsprachiger Raum), Sozialarbeiterin oder Sozialarbeiter ohne Führungsaufgabe,
abklärende Tätigkeit im Kindesschutz, Arbeit mit Betroffenen.
Damit die Vergleichbarkeit unter den Amtsvormundschaften sowie unter den polyvalenten
Sozialdiensten erreicht werden konnte, sollten Faktoren wie: Teamgrösse, Einzugsgebiet
und Tätigkeitsfeld ähnlich sein. Aus diesem Vergleich wurden fünf Amtsvormundschaften
und sechs polyvalente Sozialdienste kontaktiert. Bei den Amtsvormundschaftsbehörden
erklärten sich zwei Stellen zur Mithilfe bereit und bei den polyvalenten Sozialdiensten
drei. Wobei eine Stelle aufgrund der verspätetet eingegangenen Bereitschaftserklärung
und der bereits ausreichenden Interviewanzahl nicht berücksichtig wurde. Schlussendlich
ergab sich folgendes definitives Bild der Strichprobe:
Tabelle 5: Übersicht Stichprobe (n)
Kriterien
Kindesschutzgruppe
im Spital
Kindesschutz
Amtsvormundschaft
Kindesschutz polyvalenter
Sozialdienst
Deutschschweiz
3 Stellen:
-
Zürich
-
Bern
-
Luzern
2 Stellen:
-
Ostermundigen
-
Köniz
2 Stellen:
-
Sozialdienst Amt Laupen
-
Sozialdienst Konolfingen
Ohne
Führungsaufgabe
Arbeit mit
Betroffenen
Total 7 Stellen
3.3.
Datenerhebung mittels Leitfadeninterview
Meuser und Nagel (1997) erklären: „Der Leitfaden schneidet die interessierenden
Themen aus dem Horizont möglicher Gesprächsthemen heraus und dient dazu, das
Interview auf diese Themen zu fokussieren“ (S. 488). Der Gesprächsleitfaden setzt
sich aus einzelnen, definierten Themenfeldern zusammen, welche mit Hilfe von notierten,
offenen Fragen beleuchtet werden. Der Leitfaden (siehe Anhang B) besteht aus
folgenden fünf Themenbereichen, die vorgängig theoretisch erarbeitet wurden:
Fragen allgemein
Anstellungsdauer im Betrieb, Beruflicher Werdegang, Beschreibung der Tätigkeit
Belastung
Mögliche Belastungssituationen, Übergang von Belastung zu Stress
3. Methodik
37
Stress
Bedeutung und Wahrnehmung von Stress, Stressbegünstigende Faktoren, Indikatoren
und Anzeichen von Stress
Coping
Effektive und ineffektive Strategien, Aneignung von Bewältigungsstrategien
Stress und Bewältigung im betrieblichen Rahmen
Betriebliches Bewusstsein, Betriebliche Massnahmen und Strukturen, Nutzen
und
Optimierungsmöglichkeiten im Betrieb
Um den Interview Leitfaden auf seine Struktur und Vollständigkeit hin zu prüfen, wurde
ein Testinterview mit einer Probandin durchgeführt. Beobachtete Lücken und
Ungenauigkeiten wurden geändert oder angepasst. Die Interviews wurden in den
Institutionen der Interviewpartnerinnen und- partner realisiert. Eingangs wurde das Setting
erläutert und nochmals Bezug auf den Sinn und Zweck des Interviews genommen,
gleichzeitig wurden die Befragten erneut auf die Anonymisierung der Daten hingewiesen.
Da das Interview mittels eines digitalen Aufnahmegerätes aufgezeichnet werden sollte,
wurde vorgängig von den Interviewten das Einverständnis dazu eingeholt. Der Leitfaden
wurde wie bereits erwähnt den Sozialarbeitenden im Voraus zugestellt, damit sie sich auf
die Fragen einstimmen konnten. Dabei war das Ziel der Befragungen nicht, spontanes
Wissen einzufangen, sondern reflektiertes Wissen in Bezug auf die Thematik zu
generieren. Drei von sieben Expertinnen und Experten hatten sich vorherig nicht mit dem
Leitfaden auseinandergesetzt, sie wurden demnach spontan zu den einzelnen
Themenbereichen befragt. Ein Gespräch dauerte zwischen 40 bis 60 Minuten und bis
auf eine Ausnahme, nahmen jeweils beide Autorinnen am Gespräch teil. Simone Glur
führte durch das Gespräch und Kathrin Junker machte Notizen und stellte Verständnis-
oder Vertiefungsfragen. Kurz vor Schluss des Interviews wurde den befragten
Sozialarbeitenden das letzte Wort übergeben, um noch spontan einige Gedanken zum
Thema zu äussern. Als Dank für die Mithilfe bei den Befragungen wurde zum Abschied
ein kleines Präsent überreicht.
3.4.
Aufbereitung und Auswertung der Daten
Die digitalisierten Interviews wurden anhand der Computersoftware „Express Scribe“
transkribiert, wobei nach Mayer (2004) auf Transkriptionsregeln verzichtet werden
konnte, da in erster Linie der Inhalt der Gespräche erfasst werden sollte (S. 46).
Sämtliche Interviews wurden anonymisiert und mit den Kürzeln von
L1 – L7
versehen.
Im Anschluss wurde das Interview mit Hilfe der sechsstufigen Methode nach Mühlfeld
ausgewertet. Dieses Verfahren bietet sich an, wenn Gemeinsamkeiten und Unterschiede
3. Methodik
38
innerhalb der gleichen Thematik in Erfahrung zu bringen sind. Das Verfahren nach
Mühlfeld gliedert sich in folgende sechs Stufen:
1. Stufe: Textstellen markieren
In den einzelnen Interviews wurden jene Textstellen markiert, welche spontan
ersichtliche Antworten auf die entsprechenden Fragen zeigten.
2. Stufe: Zuordnung Kategorienschema
Der Text wurde in ein zuvor anhand des Leitfadens erarbeitetes Kategorienschema
eingeordnet. Das Kategorienschema wurde sofern sinnvoll, laufend erweitert.
3. Stufe: Innere Logik herstellen
Innerhalb der Abschnitte des Leitfadeninterviews wurde eine innere Logik zwischen
den Einzelinformationen hergestellt. Dabei wurden bedeutungsgleiche sowie sich
widersprechende Informationen miteinbezogen.
4. Stufe: Text zur inneren Logik herstellen
Ausgehend von der hergestellten inneren Logik, wurde in dieser Stufe ein Te xt dazu
verfasst. Es erfolgte nun eine noch detailliertere und präzisere Zuordnung der
einzelnen Textpassagen, wobei wiederum Unterkategorien entstanden.
5. Stufe: Text mit Interviewausschnitten
Der erarbeitete Text wurde mit passenden Interviewausschnitten versehen und mit
dem transkribierten Text erneut verglichen.
6. Stufe: Bericht
Der Auswertungstext wurde in Form eines Berichts über die Ergebnisse dargestellt,
der Bericht enthält jedoch keine Interpretationen mehr.
(S. 336-338)
39
4. Ergebnisse
4.
Ergebnisse
Im folgenden Kapitel werden die, aus den nach Mühlfeld ausgewerteten Interviews,
gewonnenen Erkenntnisse präsentiert. Die Resultate werden zur Veranschaulichung mit
anonymisierten Interviewausschnitten ergänzt und gliedern sich in sieben Themenfelder
rund um Stress und Coping. Die einzelnen Themenfelder beinhalten Aufteilungen und
Unterkategorien. Zu den sieben Themenfeldern gehören: Aneignung Kompetenzen,
Wahrnehmung von Belastung und Stress, Bewertung von Belastungen, Stressoren,
Ressourcen, Coping und betrieblicher Kontext.
Die Interviewausschnitte wurden mit der zur Anonymisierung dienenden Abkürzung L1 bis
L7 versehen, das L steht für Leitfadeninterview. Die zitierten Interviewausschnitte
entsprechen teilweise nicht der geschlechtergerechten Schreibweise wurden jedoch zu
Gunsten der Authentizität der Aussagen nicht verändert.
4.1.
Aneignung Kompetenzen
Bei der Befragung zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Stress und Coping
sowohl theoretisch wie auch praktisch erfolgt. Die befragten Personen schildern in erster
Linie eine, durch den Berufsalltag geprägte Auseinandersetzung mit den Themen und
selten durch eine theoretische Vertiefung. Die beiden Bereiche werden verständnishalber
getrennt dargestellt.
4.1.1.
Theoretische Auseinandersetzung
Zwei Personen geben an, sich eigenständig mit Fachliteratur zu den Themen Stress und
Bewältigung befasst zu haben.
L2: „Das ist nötig, da dies im Kindesschutz ein Thema ist, z.B. welche
Coping-Strategien haben Eltern? Die muss ich schon etwas kennen und
hinterfragen. Ich habe eine Zusatzausbildung in Familienberatung und -
therapie, dort wurde dies thematisiert.“
L3: „Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch einen Weg finden mit
Stress und Bewältigung umzugehen. Und das macht man automatisch beim
Arbeiten. Mit Supervision und Auseinandersetzungen darüber. Wir sind ja hier
4. Ergebnisse
40
im Spital mit schweren Verläufen von Krankheiten konfrontiert und da setzt
man sich auch mit Coping-Strategien auseinander. Und das kann dann
wieder zurückschlagen auf einen selber.“
4.1.2.
Praktische Auseinandersetzung
Die Teilnehmenden wurden ferner befragt, wie sie sich Strategien zur Bewältigung
aneignen. Dabei stellt sich heraus, dass ein Grossteil des Wissens aus der
Berufserfahrung gewonnen wird. Alle Befragten schildern, dass Supervision, der
Austausch im Team und Weiterbildungen einen wesentlichen Teil zur Wissensgewinnung
beitragen. Die Interviewten äussern, dass Kompetenzen im Umgang mit Belastungen,
Stress und Coping oftmals durch einen unbewussten Prozess angeeignet werden, meist
durch Versuch und Irrtum oder Abschauen bei Anderen.
L1: „Ich habe mich anstecken lassen von Anderen mit guten Sachen, durch
Lektüre, abschauen, zuhören und Erfahrungen sammeln oder in
Weiterbildungen.“
L2: „Ich glaube man lernt Strategien entwickeln, die für einen produktiv sind
und die anderen lässt man weg. Spezifisch im Kindesschutz muss man auf
jene aufbauen, die gelingen, die anderen weglassen.“
L3: „Durch die Auseinandersetzung in Supervisionen. Wir haben mit der
Kindesschutzgruppe Supervision, dies gibt die Möglichkeit über Fälle zu
sprechen und da zieht man immer wieder was raus.“
L5: „Mit Erfahrungen habe ich mir viel angeeignet, die Weichen wurden
schon in der Ausbildung gelegt mit den Lerngruppen, in denen man lernte,
sich zu reflektieren und Dinge auszuprobieren.“
L6: „Oft habe ich mir meine Strategien unbewusst angeeignet. Also eher auf
der Erfahrungsebene, was gut läuft wiederholen, was nicht, habe ich
verworfen. Ich kopiere auch Strategien und probiere sie dann aus.“
L7: „Ich habe mir diese Strategien im Laufe der Zeit mit der Erfahrung und
in der Auseinandersetzung mit Theorie und Alltag angeeignet. In dem man
etwas ausprobiert merkt man, ob es einem hilft oder nicht.“
4. Ergebnisse
41
4.2.
Wahrnehmung von Belastung
Mehrfach nennen die Befragten den Begriff Stress in Zusammenhang mit positiver
Anspannung. Da Stress, im Sinne der Theorie nach Lazarus, nie positiv sein kann
(siehe Kapitel 2.2.3) muss differenziert werden, dass, wenn die Befragten von Stress
sprechen, in erster Linie Anspannung oder Belastung gemeint ist.
Belastung wird von den Befragten mehrfach als eher positiv beurteilt und als Ressource
und Antrieb wahrgenommen, die die Konzentrationsfähigkeit erhöht und die Effizienz
steigert.
L1: „Stress ist eigentlich nichts Angenehmes, es gibt aber eine Grenze, bis
zu der ich es auch als nicht unangenehm empfinde.“
L5: „Ja, man könnte vielleicht schon so sagen, dass ich Stress resistent bin.
Ich habe gerne Stress und arbeite besser. Es ist selten, dass ich weniger
Stress will.“
L6: „Es ist eine Einstellungssache, wie man an Geschichten ran geht. Da
man nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung hat, muss die Zeit, die man
hat, genutzt werden und die Zeit, die fehlt, die fehlt halt dann. Nur Stress
zu haben nützt nichts. Man ist zwar manchmal belastet, wenn nicht alles
gemacht werden kann, was man machen müsste, aber wenn die Zeit nicht
reicht, dann reicht sie nicht.“
L6: „Der Begriff Stress ist aber auch stark positiv geprägt, weil ich bei zu
wenig Aufgaben zu unkonzentriertem, nachlässigem und fehlerhaftem Arbeiten
neige. Und dies kann dann anderseits Stress auslösen, wenn Dinge wieder
ausgebadet werden müssen.“
4.3.
Wahrnehmung von Stress
Stresssituationen werden von den Befragten sehr unterschiedlich gewichtet. So werden
einerseits eher alltägliche Situationen genannt, die als Stress wahrgenommen und
adäquat bewältigt werden. Darunter fällt meist Zeitknappheit verbunden mit grossem
Arbeitsaufwand.
L2: „Das Gefühl, dem nicht gerecht werden zu können, was es braucht. Ich
kann so meinen persönlichen Ansprüchen nicht genügen, nicht Arbeiten, wie
ich es wünsche und gut finde.“
4. Ergebnisse
42
L4: „Stress ist für mich negativ besetzt und äussert sich so, dass ich vor
lauter Bäumen den Wald nicht sehe und so den Fällen nicht gerecht werden
kann.“
L5: „Wenn ich das Gefühl habe, ich habe die Übersicht über die Fälle, die
ich betreue, nicht mehr und nachlässig werde. Ich habe so eine Vorstellung
wie in gewissen Situationen das Vorgehen sein soll und wenn ich es da
nicht schaffe die Termine abzumachen, die ich will, am Ball zu bleiben und
es an der Oberfläche bleibt, bin ich nicht mehr zufrieden.“
L7: „Wenn man Hochdruck hat, wenn man im Feld ist und die Zeit zur Vor-
und Nachbereitung fehlt. Dann finde ich immer, die Arbeit hat nicht die
gleiche Qualität. Und wenn man den Anspruch hat, dass man gute Qualität
liefern will, so erzeugt das bei mir Stress […].“
Anderseits werden Situationen geschildert, die die Befragten stärker belasten, die über
die alltäglichen Stresserfahrungen hinausgehen. Alle Befragten äussern eine stärkere
Stresswahrnehmung, wenn Anspannung längerfristig und ohne Aussicht auf Entspannung
ist und sich zudem eine Kumulation von Stressereignissen einstellt. Gemein haben alle
Aussagen, dass Stress nicht an eine Situation gebunden ist, sondern sehr individuell
empfunden wird. Mehrfach wurde als starke Stressbelastung die erschwerte eigene
Abgrenzung bezüglich intensiven, schwierigen Fällen genannt. Damit verbunden werden
Kontrollverlust oder -mangel, ein tangiertes Verantwortungsgefühl sowie das Aushalten
von unklaren Situationen und Ohnmacht als starker Stress wahrgenommen. Vier
Sozialarbeitende aus Kindesschutzgruppen empfinden das Tragen von alleiniger
Verantwortung in der Entscheidungsfindung als überaus belastend, sie ziehen es vor,
Entscheidungen im interdisziplinären Team zu fällen. Im Gegensatz dazu äussern zwei
Sozialarbeitende, die häufig Entscheidungen selber treffen müssen, dass sie dies nicht
als Stress empfinden.
L2: „Alleine entscheiden zu müssen, eine Situation falsch einzuschätzen
„Kann ich die Konsequenzen abschätzen?“ Wenn man keine saubere
Einschätzung machen kann über eine Gefährdung; die Verantwortung, die
man dabei trägt, und die man nicht teilen oder abgeben kann. Dies kann
schon belastend sein. Solche Situationen, in denen man sich verantwortlich
fühlt, gehen einem noch mehr nach, auch zu Hause.“
L3: „Sind meist nicht die spektakulären Sachen, es ist einfach das, was mich
in meiner Person mehr trifft, aber was das genau ist, weiss ich nicht.“
4. Ergebnisse
43
L4: „Wenn der Stress anhaltend ist. Auch ist es für mich nicht haltbar
längerfristig nicht genug Zeit zu haben, um einen Fall sauber abzuklären und
ihm nicht die nötige Aufmerksamkeit widmen zu können. Wenn ich mein
Verantwortungsbewusstsein nicht genug wahrnehmen kann.“
L5: „Wenn ich bei kleinen Kindern […] entscheiden muss, ob man platziert
oder nicht. Wenn alle Lösungen „gleich schlecht“ sind oder Vorschläge der
Eltern in bester Absicht kommen aber keine Lösung bringen. Wenn man dann
einen Entscheid treffen muss und damit die Zukunft eines Kindes besiegelt.
Dieses Abwägen und nur zwischen zwei Übeln wählen zu können und am
Schluss irgendjemand einfach dafür bezahlen muss, meist ist es ja dann das
Kind, das sind Entscheide, die ich sehr ungern fälle und manchmal lange
zuwarte.“
L6: „Anderseits bei Fällen, bei denen man nicht ins System rein kommt. Man
merkt, da stimmt etwas nicht, aber die Familiengeheimnisse werden so gut
behalten, dass keine Hilfe rein kommen kann. Und da muss man sich halt
sagen, dass die halt noch eine Runde brauchen, und es so stehen lässt im
Wissen darum, dass da Schreckliches passiert aber man einfach irgendwie
nichts machen kann. […] Mich belasten Situationen, die man nicht lösen
kann, bei denen es scheinbar keine Lösung gibt, die kann ich nicht
akzeptieren im Zusammenhang mit Kindern!“
L6: „Das Schlimmste für mich ist aber, wenn die wichtigen Pfeiler meines
Lebens, Job und Familie am Wanken sind, wenn sich dort Ungleichgewichte
ergeben. Oder wenn ich dazu noch krank bin. Das ist dann meist nicht gut.“
L7: „[…] Also Probleme auf den verschiedensten Ebenen, die es zu
bewältigen, zu bewerten und zu diskutieren gibt. Diese Fälle sind etwas nicht
Alltägliches, das den Rahmen sprengt, sowohl von der Komplexität wie auch
von der Brisanz her.“
4.4.
Stressreaktionen
Stresssituationen lösen Reaktionen aus, die durch kognitive, emotionale, körperliche, und
motorische Symptome wie Nervosität, Schlafstörungen und Gedankenkreisen in
Erscheinung treten. Die Interviewten zeigen als Reaktionen bei Stress ähnliche
Verhaltensweisen. So werden vermehrt Pausen ausgelassen oder gekürzt und die
Konzentration wird gänzlich auf die anstehende Arbeit gelegt, so dass alles andere
4. Ergebnisse
44
sekundär wird. Ein wichtiger Moment, bei dem die Befragten merken, dass sie unter
starker Anspannung stehen, ist, wenn sie Fälle oder Situationen gedanklich nach Hause
nehmen.
L1: „Wenn ich an meinem freien Tag Kopfschmerzen habe oder wenn ich
nicht mehr Einschlafen kann. […] Wenn ich schlecht herunterfahren kann, ich
studiere daran herum.“
L2: „Bei Stress ziehe ich mich eher zurück, lasse halt Pausen aus, kürze
den Mittag und reduziere Gespräche zwischendurch. Ich befasse mich dann
nicht gerne mit Bagatellen, konzentriere mich auf das Wesentliche. Manchmal
bin ich auch reizbarer als sonst.“
L4: „Ein Anzeichen für Belastung ist, wenn ich mental Fälle mit nach Hause
nehme.“
L5: „Anzeichen sind, wenn ich mit den Eltern keine Geduld mehr habe und
deshalb gewisse Aggressionen entwickle, ich kann emotional nicht mehr
mitgehen und werde bestimmend. Dieser Moment ist da, wenn ich schlecht
schlafe, oder beginne, von der Arbeit zu träumen.“
L6: „Bei zu starker Belastung machen sich körperliche Anzeichen sichtbar wie
Schlafschwierigkeiten, ich lasse Pausen weg, es entsteht Druck auf der Brust,
schwerer Atem und ich fühle mich weniger entspannt. Mein ganzer Körper ist
in Anspannung und ich habe dann auch mehr Wadenkrämpfe.“
4.5.
Ressourcen
Ressourcen sind grundlegende Fähigkeiten, die im Berufsalltag einen Nutzen für die
Befragten darstellen, indem sie Stress und Belastungen vorbeugen oder ihnen entgegen
wirken. Mehrfach genannt wird die Eigenschaft Besonnenheit, also in hektischen
Situationen die Ruhe bewahren zu können. Ebenfalls wird von vier Personen ihre Freude
am Beruf und an der Herausforderung als wichtig gewertet, daneben wird die Fähigkeit
für eine gesunde Abgrenzung zur Arbeit und zu den Fällen angeführt. Stress mindernd
wirkt laut den Befragten ebenfalls, wenn man sich organisieren und abgrenzen kann,
ebenso der kollegiale Austausch auf beruflicher und privater Ebene, um Unklarheiten und
schwierige Situationen im Gespräch zu thematisieren und Verantwortung zu teilen. Als
gewichtigen Faktor nennen die Sozialarbeitenden des Weiteren die Akzeptanz und die
Wertschätzung ihrer Arbeit innerhalb des Teams und im Betrieb.
4. Ergebnisse
45
L1: „Wir haben viele tragische Fälle aber ich habe Freude an meinem Beruf,
und wenn ich jemandem eine Treppe geben kann, an der er sich wieder
heraufarbeiten kann, dann ist das toll.“
L2: „Allenfalls kann etwas delegiert werden. Ich kann gut und realistisch
planen. Kann meinen Arbeitsalltag gut strukturieren, zwar relativ sec, aber es
funktioniert. Ich kann mich gut organisieren und abgrenzen.“
L2: „In der Kindesschutzgruppe wird es eher thematisiert, wenn Personen an
ihre Grenzen kommen. Ich hole mir das, was ich brauche, nehme mir
manchmal auch raus die Psychiaterin anzurufen und mit ihr einen Kaffee
trinken zu gehen.“
L5: „Wir haben sehr viel Autonomie und eine hohe Akzeptanz, unsere Arbeit
wird geschätzt.“
L5: „Die Freude an der Herausforderung ist für mich zentral, wenn ich
einmal keine Freude mehr an meinem Beruf hätte, dann wäre das für mich
ein Zeichen aufzuhören.“
L6: „Ich bin von Natur aus hart im Nehmen, also charaktermässig. Mich
bringt nicht so schnell etwas aus der Ruhe und bin recht belastbar.“
L7: „Ich war nie jemand der mit fliegenden Fahnen übers Ziel hinweg schoss
Kopf und Bauch wahren immer in einem guten Gleichgewicht das hat mir
sicher geholfen.“
4.6.
Stressoren
Im Umgang mit Stress nennen die Befragten unterschiedliche Stress begünstigende
Faktoren. Übereinstimmend lässt sich aus den Antworten aller Beteiligten festhalten, dass
Zeitknappheit eine Grundlage für Stress darstellt. Meist wird Zeitknappheit in
Zusammenhang mit einem oder mehreren Faktoren benannt wie Ansprüche an sich
selbst und an die eigene Arbeit, Perfektionismus oder geringe Erfahrung.
Institutionsabhängig zeigt sich, das an die Mitarbeitenden gestellte Arbeitsvolumen als
Stress erzeugend. Sozialarbeitende auf polyvalenten, generalistisch geprägten
Sozialdiensten nennen deutlich mehr Stressfaktoren in Zusammenhang mit hohem
Arbeitsvolumen und Zeitknappheit, als die anderen Befragten, welche auf spezialisierten
Stellen arbeiten.
4. Ergebnisse
46
L1: „Es ist immer Zeitknappheit und ein weiterer Punkt zum Beispiel grosse
Arbeitsmenge, Druck seitens der Klientel, persönliche Schwierigkeiten […] und
das führt zu einer Kumulation.“
L2: „Das Gefühl, dem nicht gerecht werden zu können, was es braucht. Ich
kann so meinen persönlichen Ansprüchen nicht genügen, nicht Arbeiten, wie
ich es wünsche und gut finde.“
L4: „Verantwortung, Zeitknappheit aber auch Perfektionismus, dass ich die
Arbeit auch gut mache. Stress ist für mich ein grosser Zeitdruck in Bezug
auf die Fälle. Ich habe das Gefühl, den Fällen nicht genug gerecht zu
werden, es kann nur das nötigste gemacht werden. […] Ich kann häufig nicht
länger an einem Fall arbeiten, kann nur das Dringendste erledigen.“
L7: „Zu viel auf einmal, zu wenig Zeit zum Vorbereiten, zu wenig Zeit zum
Nachbereiten.“
4.7.
Coping
Im Gebiet Coping werden von den Interviewten sehr unterschiedliche Strategien
aufgezählt, um mit Stress und belastenden Situationen umzugehen. Die Vielfalt der
genannten Bewältigungsstrategien spiegelt die Individualität der Teilnehmenden wieder. Sie
zeigt bildlich auf, wie schwer es fällt, Bewältigung in ein bestimmtes Schema zu
kategorisieren. Die Autorinnen haben nach den zwei, in der Theorie beschriebenen
Kategorien von Lazarus der problembezogen und emotionsbezogen Copings, eine
Einteilung vorgenommen. In dem Bewusstsein, dass unterschiedliche Bewertungen dazu
führen können, dass eine Coping-Strategie beiden Gebieten zugeordnet werden kann.
Aufgrund der Fülle der Antworten werden Schwerpunkte nach den meistgenannten
Aussagen gesetzt.
4.7.1.
Problemorientiertes Coping
Im problemorientierten Bereich wird von den Interviewten im speziellen die Abgrenzung
als zentraler Aspekt betont. Sie wird in unterschiedlichen Formen gestaltet, wie durch
bewusste Alltagsrituale oder durch rationalisieren von Problemen, indem diese von der
emotionalen zur kognitiven Ebene verschoben werden. Weiter nennen die Befragten als
wichtige Strategien Pausen einzuschalten, auch wenn viel Arbeit ansteht, ebenso wie am
Abend pünktlich nach Hause zu gehen und nicht ständig Überstunden zu leisten. Es
4. Ergebnisse
47
wird als wichtig erachtet das Privatleben von der Arbeit zu trennen zum Beispiel werden
arbeitsbezogene Diskussionen zu Hause von vielen vermieden.
L2: „Auch, dass ich mich privat nicht gross mit sozialpolitischen Themen
befasse und engagiere, dies würde mir dann zu viel. Ich merke, dies mache
ich am Arbeitsplatz, das ist gut, aber zu Hause möchte ich wie ein anderes
Umfeld haben. Eine klare Abgrenzung ist wichtig für mich.“
L2: „Wenn ich Heim komme, wechsle ich immer meine Kleidung, das ist ein
Ritual. Und abends bevor ich zu Bett gehe, gehe ich duschen. Dies hat für
mich viel mit Psychohygiene zu tun, etwas abwaschen. Der Nutzen, den ein
Ritual bringen kann, sollte nicht unterschätzt werden.“
L3: „Ich bin ein Mensch, der sich grundsätzlich gut distanzieren kann; das
habe ich auch gelernt, damals als ich mit Fixern zusammengearbeitet habe;
das geht gar nicht anders. Diese Arbeit kann man nur machen, wenn man
allen Dingen ihren Platz geben kann – also das Problem des Fixers ist sein
Problem, nicht meins. Das kann ich gut, es gelingt nicht immer gleich gut.“
L5: „Verdrängen hilft zum Beispiel, wenn einer meiner Fälle in der Presse
ist, blättere ich in der Zeitung drüber hinweg, gehe dem aus dem Weg. Ich
grenze mich dann auch ab, deklariere klar, dass ich nicht darüber sprechen
will.“
4.7.2.
Emotionsorientiertes Coping
Beim emotionsbezogenen Coping zeigt sich erneut eine grosse Vielfalt an
unterschiedlichen Strategien, wenn sie denn von den Befragten auch nicht als
emotionsbezogen definiert werden.
Zupacken Zuwendung holen und Kompensation
In folgenden Aussagen erzählen die Befragten von emotionsbezogenem Coping wie
Zupacken, sich Zuwendung holen und Kompensation von hoher Arbeitsmenge durch
Mehrarbeit.
L2: „Weniger ist mehr: bei schwierigen Sachen ist es oft gut eine Pause zu
machen, Feierabend zu machen, wenn die Arbeitszeit erreicht ist, auch wenn
noch nicht alle Arbeit erledigt ist.“
L5: „In dieser Zeit (grosser Stress) habe ich mich so organisiert, dass ich
mehr arbeiten kam. Wenn ich die Wahl habe zu Hause zu putzen oder
4. Ergebnisse
48
Arbeiten zu gehen, weil Dringendes ansteht, dann setzte ich bei der Arbeit
Prioritäten, da ich auch eine Verantwortung trage.“
Aktivität
Viele nutzen Aktivitäten im privaten Umfeld als Entspannung. Solche Aktivitäten steigern
den Stressabbau und fördern das Wohlbefinden. Ablenken und auch Verdrängen werden
hier als positive Strategien angesehen.
L1: „Gartenarbeit, walken, wandern, das ist das Beste, der Stress gehört in
die Beine […]. Dann mache ich auch noch autogenes Training.“
L2: „Ich habe mir mein Umfeld schon eingerichtet, dass es mir wohl ist. Ich
habe meine Hobbys, meine Familie, Freunde, die mir gute Unterstützung
geben. Ich denke, dies ist etwas ganz Wichtiges.“
L2: „Heimgehen und abschalten. Der Ausgleich im Privaten: Joggen gehen,
in den Garten.“
L3: „Kulturell mache ich sonst noch viel, Konzerte, Theater einfach dieser
ganze Bereich, der ist sehr aktiv. Das ist grundsätzlich wichtig für eine
solche Arbeit, ein aktives Privatleben.“
L4: „Ich spiele auch Unihockey und gehe joggen, da kann ich gut Dampf
ablassen.“
L5: „Mein Privatleben hilft mir sehr. Ich habe vier Kinder, und wenn ich
dann zu Hause bin, dann habe ich gar keine Zeit mehr. Auch sind wir alle
sehr viel unterwegs und so kann Grübeln gar keinen Raum bekommen.“
L5: „Joggen ist für mich sehr wichtig, gibt mir Boden, ich mache sehr viel
Sport.“
L6: „Wichtig für mich sind Singen und Kochen, es entspannt mich.“
Humor
Von sieben Befragten äusserten vier, dass für sie Humor zum Spannungsabbau genutzt
wird. Es ermöglicht den Sozialarbeitenden die Umstände und sich als Person weniger
ernst zu nehmen und erleichtert ihnen den Zugang zur Klientel.
L1: „Humor ist sehr wichtig, über sich selber lachen können, das entspannt.“
4. Ergebnisse
49
L2: „Bei uns in der Kindesschutzgruppe spielt der Humor eine grosse Rolle.“
L5: „Humor ist eine Möglichkeit; aber nie auf die Klientel bezogen.“
L6: „Humor ist wichtig, ab und zu etwas spassig nehmen. Auch mit der
Klientel bin ich humorvoll, das ist oft einfacher und auch für die Klientel
weniger belastend. Bei mir ist Humor häufig ein Schlüssel zum Ziel, wenn es
passt! Ich merke dann manchmal auch von der Klientel, dass dies für sie
gut ist und gut ankommt. Dies bestätigt mich dann und gibt mir auch Kraft.“
Aufschlussreich ist, dass die Frage nach konkreten Emotionen in der Bewältigung, von
den Befragten als eher erfolglos bewertet wird. Nur zwei von sieben interviewten
Personen, äussern überhaupt Strategien, wie Weinen oder auch mal wütend werden. Bei
den anderen werden diese Strategien nicht erwähnt oder negativ konotiert, da es für sie
keinen Platz in ihrem Berufsalltag hat.
L1: „Auch mal schimpfen oder wütend werden, sofern man weiss warum,
dann wird das auch toleriert.“
L6: „Wut kenne ich auch, wobei ich das wenn möglich bei den Klienten
direkt deponiere und ihnen erkläre, was mir nicht passt oder was nicht in
Ordnung ist. Ich versuche einfach, vieles in der Situation selbst zu lösen.“
L6: „Wenn ich völlig überfordert bin, kann es auch sein, dass ich in die
Trauer gehe, mal weine. Ich bin schon sehr emotional und spontan, es
kommt immer etwas und staut sich dann nicht so an.“
Ineffektives Coping
Wie in Kapitel 2.6.1 ausgeführt wird Coping im Alltagsverständnis in erster Linie mit
erfolgreichem und effektivem Handeln in Verbindung gebracht. Die Autorinnen
interessieren sich jedoch auch für die ineffektiven Seiten von Bewältigung, also was die
Interviewten als ineffizient ansehen in der Bewältigung. Bei fünf von sieben Befragten
kristallisiert sich heraus, dass alle Coping-Strategien auch negativ sein können, wenn
das Mass nicht mehr stimmt, wenn zu viel oder zu wenig gemacht oder unterlassen
wird.
L1: „[…] Alles, was wir bis jetzt aufgezählt haben, ist kontraproduktiv, wenn
man es nicht mehr im Griff hat und nicht mehr reflektieren kann und es mit
einem durchgeht. Alles das positiv ist, wird negativ, wenn es zu viel wird.“
L4: „Wenn ich wütend auf die Klientel werde und sie beschuldige, natürlich
nicht direkt. Aber das bringt einem im Fall nicht weiter, das macht es nur
4. Ergebnisse
50
schwerer. Weil die Klientel ja allenfalls Gründe für sein Handeln hat. Es ist
aber schwer, den Schalter umzulegen und es anders zu betrachten.“
L5: „Humor ist negativ, wenn er nicht wertschätzend und achtend ist, das
wäre für mich eine Alarmstufe, wenn ich in solchen Momenten mit Zynismus
oder Ironie reagieren würde.“
L6: „Anstatt mir Ruhezeiten einzubauen, suche ich Ablenkungen, die mich
wiederum stressen, weil es ein weiterer Termin ist, den man einhalten muss.
Somit überfordere ich mich noch mehr.“
L7: „Je länger man in dem Beruf ist, desto mehr grenzt man sich ab. Die
Abgrenzung ist etwas sehr Wichtiges. Es besteht aber die Gefahr, dass die
Abgrenzung so gross wird, dass man das Gespür für das Gegenüber
verliert.“
4.8.
Betrieblicher Kontext
4.8.1.
Betriebliches Bewusstsein
Bei der Bewältigung von Stress trägt nicht nur das Individuum die alleinige
Verantwortung, auch der Betrieb als Arbeitgeber nimmt eine wichtige Rolle ein. Er setzt
die Regeln für die Zusammenarbeit, hat Rechte und Pflichten. Eine der Pflichten ist, den
Arbeitnehmenden zu schützen. Die Arbeitgebenden der befragten Personen sind grosse
Spitäler, mit mehreren hundert Mitarbeitenden, mittelgrosse Sozialdienste und kleine
Verwaltungsbereiche (Amtsvormundschaften) mit einzelnen Mitarbeitenden. In vier von
sieben Institutionen besteht ein betriebliches Gesundheitsmanagement, so in drei Fällen
im Spital und in einem Fall auf einem Sozialdienst, der als Teil innerhalb der
öffentlichen Verwaltung angegliedert ist. Das betriebliche Bewusstsein für Stress und
Coping schätzen alle der sieben Befragten in ihren Institutionen als eher gering ein.
Wobei Coping einen marginal höheren Stellenwert im Betrieb zu haben scheint als
Stress. Von der Mehrheit der Befragten Personen wird bemängelt, dass es in ihrer
Selbstverantwortung liegt, sich in prekären Situationen Hilfe zu holen oder diese
einzufordern und nicht der Betrieb sensibilisiert dafür ist.
L1: „Wir haben ein offizielles Gesundheitsmanagement in der ganzen
Gemeindeverwaltung, man hat die Möglichkeit in ein Fitnesstraining zu gehen
und es wird sehr darauf geachtet, wie man im Büro sitzt. Man kann auch
mit gesundheitlichen Anliegen vorsprechen und wird ernst genommen.“
4. Ergebnisse
51
L1: „Zu Stress besteht ein Bewusstsein, zu Coping weniger. In unserer
Institution ist noch keine Kultur vorhanden und jeder ist für sich selber
verantwortlich das einzufordern, was es braucht. Vielleicht wehren wir uns zu
wenig.“
L2: „Es existiert ein eher marginales Bewusstsein für Coping und Stress im
Betrieb. Grundsätzlich besteht ein betriebliches Gesundheitsmanagement, das
aber eigentlich keine Auswirkungen auf meine Arbeit hat.“
L3: „Ich wünschte mir ein grösseres Bewusstsein, dass unsere Arbeit Stress
erzeugt. Jeder weiss, dass es so ist, aber wenn es um konkrete
Massnahmen zur Gesundheitsförderung geht, ist es schwierig. Vom Spital her
sind wir einfach zu wenig institutionalisiert, jeder muss auf sich selber
aufpassen. Es gibt Ansätze für ein betriebliches Gesundheitsmanagement
[…].“
L7: „Das Spital hat ein betriebliches Gesundheitsmanagement. Es gibt
Kursangebote, bei häufiger Krankheit gibt es ein Gespräch, in dem man
anschaut, warum man krank war. Dies ist aber auch zweischneidig, weil man
fast nicht wagt, krank zu sein.“
4.8.2.
Wahrnehmung Gesundheitsmanagement
Obwohl alle Betriebe Supervisionen, Intervisionen, Teamsitzungen, Chefgespräche und
Teamanlässe regelmässig durchführen, werden diese von den Befragten nicht als Teil
des betrieblichen Bewusstseins erkannt und wahrgenommen. Der Nutzen dieser Gefässe
wird jedoch von allen sieben Interviewten als hoch und wichtig eingestuft. Nebst den
offiziellen Gefässen wird mehrfach der inoffizielle Austausch in Form von
Türrahmengesprächen genannt. Dieser häufig spontane Austausch stellt für die Befragten
den höchsten Nutzen dar und wird im betrieblichen Kontext als besonders unterstützend
bei der Bewältigung betrachtet, da so individuelle Anliegen und Schwierigkeiten im
kleinen Rahmen geklärt werden können. Mehrfach genannt werden Pausen als wichtige
Inseln in der Hektik des Berufsalltags. Für einige gelten Pausen als das
schützenswertendste Gut im betrieblichen Kontext.
L1: „Die Türrahmengespräche sind wichtig, damit man nicht nur ein
Einzelkämpfer ist.“
4. Ergebnisse
52
L2: „Weniger ist mehr: Bei schwierigen Sachen ist es oft gut eine Pause zu
machen oder Feierabend zu machen, wenn die Arbeitszeit erreicht ist, auch
wenn noch nicht alle Arbeit erledigt ist.“
L3: „Es gibt Supervision (Einzeln und in der Gruppe), Intervision,
Teamsitzungen, Teamanlässe und bei rechtlichen Problemen kann man auch
ein Rechtsdienst hinziehen. Ich muss dies einfach einfordern, muss aktiv
werden und zu meinem Vorgesetzten gehen, wenn ich ein Problem habe und
Hilfe brauche, dann hat man keine Mühe Unterstützung zu erhalten.“
L3: „Wahnsinnig wertvoll sind vor allem die Kaffeepausen, die mache ich
immer. Und da will ich auch nicht über Fälle reden, da rede ich über Ferien,
Kleider und so weiter, das ist wirklich wichtig.“
L4: „Es gibt Chefgespräche formell und informell, der Austausch im Team,
wobei stets alle Türen offen sind und so ist die Hürde gering, um sich
austauschen zu können. Der Austausch ist auch ein Teil der Betriebskultur
[…].“
L6: „Ich finde ich es wichtig zu reden und abzuladen, zum Beispiel in Form
von Türrahmengesprächen.“
4.8.3.
Führungsstil
Vier der sieben Befragten geben an, dass für sie der Führungsstil in Bezug auf Stress
und Coping im Betrieb eine zentrale Rolle spielt. Der Führungsstil wird von den
Befragten unterschiedlich empfunden und wahrgenommen. Einerseits wird bemängelt, dass
die Führung mehr Verantwortung wahrnehmen sollte, um die einzelnen Mitarbeitenden zu
unterstützen und zu schützen. Andererseits wird von den einen Befragten bemängelt,
dass es oft zu Ungerechtigkeiten kommt, indem zum Beispiel immer die gleichen
Personen entlastet werden und Unterstützung erhalten. Auch empfindet die Mehrheit der
Interviewten den Führungsstil ihrer Vorgesetzten, als offen und positiv. Interessanterweise
beurteilen jene befragten Personen, welche den Führungsstil als adäquat beschreiben,
dass sie sich grundsätzlich nicht gestresst fühlen in ihrer Arbeit. Im Gegensatz dazu
stehen jene Personen, die sich eher gestresst fühlen, dem Führungsstil in ihrem Betrieb
eher kritisch gegenüber.
L1: „Es ist eine Führungsaufgabe beim betrieblichen Bewusstsein etwas zu
ändern. Heute wird es auf den Einzelnen zurückgeworfen […].“
4. Ergebnisse
53
L6: „Es ist schwierig ein Rezept zu finden, das für alle stimmt. Ich stelle die
Tendenz fest, dass, wenn man allzu fest mit dem eigenen Stress hausiert
auch dementsprechend entlastet wird. Und andere, die nicht jammern, werden
nicht entlastet.“
L6: „Ich merke, dass es Mitarbeiter gibt, die über Jahre hinweg das gleiche
Stressproblem haben. Dabei handelt es sich nicht um ein betriebliches
Problem, sondern um ein individuelles, und wenn die Leitung dafür keine
angemessenen Handlungsweisen findet, werde ich deshalb mit Mehrarbeit
belastet.“
4.8.4.
Teamkultur
Nebst dem Führungsstil zeigt die Befragung, dass die Teamkultur im betrieblichen
Rahmen eine elementare Rolle einnimmt. Bezogen auf diesen Aspekt wird von den
Befragten geäussert, dass ein gutes kollegiales Klima bei der Arbeit eine wichtige Stütze
für die einzelnen Mitarbeitenden darstellt. Wird einander vertraut, herrscht ein offenes,
wohlwollendes, humorvolles und unterstützendes Klima trägt dies zum Wohlbefinden des
Einzelnen bei. Die Sozialarbeitenden äussern, dass eine gute Teamkultur Stress zu
reduzieren vermag und bei der Bewältigung helfen kann.
L5: „Wir wissen, dass wir einander Sorge tragen müssen in dieser Arbeit.“
L6: „Das kollegiale Klima trägt zu meinem Wohlbefinden bei der Arbeit bei.
Ich habe dadurch Vertrauen, kann mich öffnen und fühle mich wohl. Ich
weiss, dass da vieles Platz hat.“
L6: „Ich bin einfach sehr froh, dass ich hier im Betrieb authentisch und
kongruent sein kann, dies hat Platz und baut für mich Stress ab, so dass er
sich nicht aufstaut.“
L7: „Etwas vom wichtigsten bei uns ist, dass wir frei von der Leber weg
sprechen können. Wir sind ein gutes Team mit einem starken Wir-Gefühl, wir
Vertrauen einander.“
54
5. Diskussion
5.
Diskussion
In diesem Kapitel werden die Forschungsergebnisse aufgegriffen, anhand der drei
Hypothesen erörtert und mit theoretischen Erläuterungen verknüpft.
5.1.
Hypothese 1
Obwohl Stress und Coping nicht eindeutig voneinander getrennt werden können, lösen
die Autorinnen die beiden Bereiche der verständlichkeitshalber voneinander, um
differenzierte Aussagen über die Gebiete zu machen.
Die Aneignung von Wissen über Stress erfolgt von den Fachpersonen einerseits über
Fachliteratur und andererseits über die alltägliche Berufspraxis. Dadurch, dass nur zwei
von sieben Personen geäussert haben sich mit Stress theoretisch zu befassen, könnte
davon ausgegangen werden, dass sich Sozialarbeitende grundsätzlich wenig mit dem
Thema auseinandersetzen. Dem ist nicht so, denn die Fachleute betonen, dass ihnen
Belastung, die zu Stress wird in ihrem Berufsalltag sehr häufig begegnet. Sei es bei der
Klientel, bei Kolleginnen und Kollegen oder aus eigenen Erfahrungen. Gerade bei
Klientinnen und Klienten betonen die befragten Sozialarbeitenden, sei es besonders
wichtig, aufmerksam und wachsam auf Anzeichen von Anspannung oder Stress zu
achten.
Die Sozialarbeitenden auf Amtsvormundschaften und im Kinderspital schenken, bis auf
eine Ausnahme, dem Thema Stress auf der persönlichen Ebene wenig Beachtung. Sie
äussern aber auch eher wenig bis selten, gestresst zu sein. Sie empfinden ihren
beruflichen Alltag als Herausforderung, was auf das theoretische Konzept Hardiness
zurückzuführen ist. Dabei wird Bezug auf die Komponenten Engagement, Kontrolle und
Herausforderung genommen. Das heisst, sie scheinen an ihre eigene Wichtigkeit und
Bedeutsamkeit in der Fallarbeit zu glauben (siehe Kapitel 2.3.2). Des Weiteren
besitzen sie die Kontrollüberzeugung, Dinge beeinflussen zu können. In den Gesprächen
spiegeln sie eine hohe Selbstüberzeugungskompetenz wieder, was als eine ausgeprägte
interne Ressource gewertet werden kann. Laut ihren Aussagen setzen sich die Befragten
grösstenteils nicht für ihre persönlichen Zwecke mit dem Thema auseinander, sondern
eher im Hinblick auf die Klientel. Sie betonen, dass die persönliche Auseinandersetzung
Sozialarbeitende schenken dem Bereich Stress und Coping in ihrem Arbeitsalltag
aufgrund von Zeitdruck und institutionellen Bedingungen zu wenig Beachtung und stehen
daher unter starker Belastung und Stress.
55
5. Diskussion
mit Stress auch für die Klientinnen und Klienten nutzbringend eingesetzt werden kann.
Wenn die eigenen Grenzen bezüglich Stress und Bewältigungsstrategien benannt sind, ist
es möglich, dass die Klientel darin unterstützt wird, ihre Grenzen und
Bewältigungsstrategien auch bewusster wahrzunehmen und allenfalls anzupassen. Im
Gegenzug dazu besteht bei den Fachleuten auf polyvalenten Sozialdiensten ein relativ
hohes Bewusstsein für Stress. Aber auch hier hat sich die Annahme der Autorinnen
nicht bestätigt, da sich die Sozialarbeitenden gerade wegen Zeitdruck und institutionellen
Rahmenbedingungen mit Stress auseinandersetzen und nach Möglichkeiten suchen, den
Stress zu mildern. Beispielsweise in dem sie versuchen, ihr Zeitmanagement zu
optimieren, Mehrarbeit zu leisten sowie sich stärker abzugrenzen oder Arbeiten zu
delegieren.
Zum Thema Coping besteht entgegen unserer Annahme bei allen Befragten ein hohes
Bewusstsein. Es zeigt sich, dass die Interviewten keine Unterscheidung zwischen
Ressourcen und Coping machen und auch die Literatur zeigt auf, dass es schwierig ist,
die beiden Bereiche trennscharf zu beurteilen. Bei den internen Ressourcen kann davon
ausgegangen werden, dass eine Person vieles bereits mitbringt. Wichtiger erscheint in
diesem Zusammenhang, der Handlungsspielraum, der einen starken Einfluss darauf hat,
wie frei sich eine Person den Arbeitsplatz und die Umgebung organisieren kann. Zum
Bereich Bewältigung äussern die Fachpersonen, dass es einerseits ein wichtiger
Bestandteil ihrer täglichen Arbeit beinhaltet, aber auch für die persönliche Abgrenzung
sehr zentral ist. Die Autorinnen unterscheiden hier nach den problem- und
emotionsbezogenen Bewältigungsstrategien, wobei die Befragten diese Unterscheidung
nicht als bedeutend werteten. Alle Teilnehmenden legen jedoch grossen Wert darauf, ihre
Strategien zu nutzen und Neues zu erlernen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich alle Befragten mit Stress und Coping
auseinandersetzen.
56
5. Diskussion
5.2.
Hypothese 2
Der erste Teil der Annahme kann verneint werden, da Sozialarbeitende im Kindesschutz
nicht dauerhaft mit stark belastenden Situationen konfrontiert sind. Die Befragten aus dem
Bereich Kindesschutz äussern klar, dass der Umgang mit belastenden Situationen nicht
zu einem Anstieg der Belastung und in einem weiteren Schritt zu Stress führt. Wie
bereits erwähnt, sehen sie ihre Arbeit als Herausforderung und gehen somit nach dem
Konzept der Kohärenz davon aus, dass sie die Situation handhaben können. Sie
verfügen demnach über geeignete Mittel wie Ressourcen und Bewältigungsstrategien. Hier
wird deutlich, wie stark die Bewertung einer Situation Einfluss auf die individuelle
Einschätzung nimmt. Von den Autorinnen wurde angenommen, dass die
Auseinandersetzung mit Kindern, die stark gefährdet sind, als belastend empfunden wird.
Dabei äussern die Fachleute, dass nicht das Wissen oder die Bilder um die
Kindsgefährdung zu einer erhöhten Anspannung führt, sondern wenn sie eine wichtige
Entscheidung diesbezüglich alleine und ohne Rücksprache im Team treffen müssen. Sie
erklären, dass dadurch ihr Verantwortungsgefühl tangiert wird und daraus die Unsicherheit
entsteht, dem Wohle des Kindes nicht gerecht zu werden. Dies erzeugt für sie Stress.
Allerdings äussern alle Befragten Bedenken dem Wohl des Kindes nicht gerecht zu
werden, aufgrund von hohem Arbeitsaufwand, Zeitdruck und Entscheidungszwang. Dabei
setzen sie sich mit erheblichen eigenen Ansprüchen und einem ausgeprägten
Verantwortungsgefühl auseinander und erzeugen dadurch eine enorme Belastung.
Entlastend wirkt bei den Befragten, dass sie über breit gefächerte Möglichkeiten verfügen,
um Druck entgegenzuwirken. Zum einen werden beispielsweise in Kindesschutzgruppen
Gespräche selten alleine geführt. Des Weiteren verfügen diese über die Möglichkeit, im
interdisziplinären Team die unterschiedlichen Sichtweisen anderer Fachgebiete, wie zum
Beispiel die der Medizin oder der Psychologie, herbei zu ziehen. Ein weiterer Stress
mindernder Faktor ist, dass durch die Vertiefung und die Spezialisierung im Kindesschutz,
Sicherheit und Kompetenzen gewonnen werden können. Die fachliche Kompetenz für
diesen speziellen Bereich kann vertieft bearbeitet werden und wird als Teil der inneren
Ressourcen (Fachkompetenz) gestärkt.
Im Gegenzug sehen sich Sozialarbeitende auf polyvalenten Sozialdiensten aber auch auf
Amtsvormundschaften dazu gezwungen, Entscheidungen grösstenteils alleine zu treffen.
Sie können nicht auf ein fundiertes Netz von involvierten Helfenden zurück greifen.
Gerade durch das breite und generalistisch geprägte Arbeitsfeld auf einem polyvalenten
Sozialdienst, besteht für die Sozialarbeitenden nur erschwert die Möglichkeit
Sozialarbeitende im Kindesschutz sind dauerhaft mit stark belastenden
Situationen
konfrontiert und verfügen daher über ausgezeichnete Bewältigungsstrategien.
57
5. Diskussion
Fachkenntnisse spezialisiert und vertieft zu erarbeiten, da sie als Fachpersonen in vielen
Gebieten Wissen vorweisen müssen. Diese Tatsache stellt für die Interviewten nach ihren
Aussagen ein potentieller Stressor dar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass
Sozialarbeitende aus dem spezialisierten Kindesschutzbereich unter ähnlich hoher
Anspannung stehen würden, wenn sie mit den gleichen Bedingungen konfrontiert wären,
wie Sozialarbeitende auf polyvalenten Sozialdiensten.
Der zweite Teil der Annahme kann mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden. Alle
Befragten verfügen aus Sicht der Autorinnen über ausgezeichnete Bewältigungsstrategien.
Doch was ist unter ausgezeichneten Bewältigungsstrategien zu verstehen? Nach Lazarus
gibt es, wie in Kapitel 2.6 erwähnt, keine Coping-Strategien, die unter allen Umständen
effizient oder inneffizient sind. Was heisst, dass es auch hier darum geht, die Situation
ständig neu zu bewerten, zu interpretieren und sich um zu orientieren. Dabei scheinen
alle Befragten über diese Fähigkeiten, als Teil ihrer inneren Ressourcen zu verfügen.
Wann und warum sie zeitweise nicht auf diese Ressource zurückgreifen können, zeigt
sich erst, wenn sie eine Situation nicht bewältigen können. Als eine der bedeutsamsten
Ressourcen in diesem Bereich nennen alle Befragten die soziale Unterstützung. Was
sowohl die familiäre Umgebung wie auch den Arbeitsumkreis einschliesst. Alle Befragten
berufen sich dabei auf den kommunikativen Austausch, der ihnen die Möglichkeit gibt,
sich zu beraten, um Entscheidungen differenziert und nicht alleine zu treffen. Dazu
gehört auch Verantwortung zu teilen und Gefühle wie Wut und Aggression los zu
werden. Hier wird erneut deutlich, wie wenig trennscharf Coping und Ressourcen sind.
Denn das Abladen oder sich beraten lassen, kann anstelle einer Ressource auch zu den
emotions- und problemorientierten Bewältigungsformen gezählt werden.
Anhand der ausgeprägten inneren Ressourcen, welche die Befragten vorweisen, lässt sich
aufzeigen, wie wichtig auch dieser Aspekt ist, um den Prozess der Einschätzung und
Wertung einer Situation und somit einer effizienten Bewältigung zu erlauben. Dabei
scheinen alle befragten Fachpersonen auf ihre inneren Fähigkeiten zu vertrauen. Also im
Sinne der Kohärenz, die Situation zu verstehen und einordnen zu können, das
Geschehen richtig handhaben zu können und darauf zu vertrauen, dass sich die
Anstrengung und das Engagement in der Situation lohnen. Barthold und Schütz (2010)
betonen, dass Menschen, die einen hohen Kohärenzsinn haben, belastende Geschehnisse
eher als Herausforderung bewerten (S. 100). Was sich in dieser Arbeit anhand der
Befragungen deutlich herauskristallisierte.
58
5. Diskussion
5.3.
Hypothese 3
Die befragten Sozialarbeitenden zeigen mit ihren Aussagen ein interessantes aber
doppeldeutiges Bild auf. Die Mehrheit der Befragten schildert, dass in ihrer Institution ein
betriebliches Gesundheitsmanagement existiert, doch ist ihnen nicht bekannt, was dieses
genau beinhaltet und im Konkreten bezweckt. Die Befragten spüren bezüglich des
bestehenden Gesundheitsmanagements kaum einen Einfluss auf ihre Arbeit und äussern
den Eindruck, dass ihr Betrieb in Bezug auf Stress und Coping nur ein marginales
Bewusstsein zeigt. Die Wahrnehmungen der Personen, welche in einer Institution ohne
offizielles Gesundheitsmanagement arbeiten, decken sich mit den Aussagen ihrer
Kolleginnen und Kollegen auch sie empfinden nur wenig Bewusstsein seitens ihrer
Institutionen zur Thematik Stress und Coping.
Obwohl nach Aussagen der befragten Sozialarbeitenden die Institutionen kaum
Bewusstsein zeigen, wurde von den Sozialarbeitenden eine Fülle an Gefässen genannt,
die ihnen im Berufsalltag als Team oder auch als Einzelpersonen zur Inanspruchnahme
zur Verfügung stehen. Aus theoretischer Sicht stellen diese Gefässe Massnahmen im
Sinne des betrieblichen Gesundheitsmanagements dar und verfügen über präventiven wie
auch behandelnden Charakter, je nach Stand der Situation, in der sich eine Person
befindet. Die zur Verfügung stehenden Gefässe sollen dazu beitragen, Risikofaktoren zu
mindern, zu beseitigen oder abzuschwächen, um dadurch Belastungen und Stress zu
reduzieren und Bewältigungsstrategien zu fördern. In diesem Punkt sind sich auch die
Befragten einig, denn Sie sprechen den Gefässen einen sehr hohen Stellenwert und
Nutzen zu. Woher kommt nun diese Diskrepanz zwischen den Aussagen der Befragten
und der tatsächlichen Situation in den Betrieben? Eine mögliche Erklärung dafür scheint
naheliegend, nämlich, dass in der Sozialen Arbeit Teamsitzungen und Supervisionen seit
längerem institutionalisiert sind und bereits als Gegebenheiten erachtet werden, weshalb
sie nicht mehr als konkrete Angebote der Institution erkannt werden.
Werden Gefässe als positive Faktoren bewertet, stellen sie Ressourcen im
organisationalen Kontext dar. Ressourcen sind Schutzfaktoren und sollen im Sinne des
betrieblichen Gesundheitsmanagements vermehrt und gestärkt werden. Ressourcen zählen
zu den zentralen Elementen des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Udris et al. (zit.
in Ulich und Wülser, 2009) unterscheiden im Arbeitskontext zwischen personalen und
Stress
und
Coping
gelten in
Betrieben
des
Kindesschutzes
als
Teil
des
Gesundheitsmanagements und werden von den befragten Sozialarbeitenden bewusst
wahrgenommen.
59
5. Diskussion
organisationalen Ressourcen. Als organisale oder externe Ressourcen gelten einerseits die
Situationskontrolle
, das heisst, wenn Arbeitnehmende einen hohen Handlungsspielraum in
Form von Entscheidungs-, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten haben, auf die Einfluss
genommen werden kann; ebenso, wenn sie über Freiheiten und Autonomie verfügen (S.
39). Andererseits zählt ebenfalls die soziale Unterstützung als organisale Ressource,
wobei betriebliche Voraussetzungen für eine solche Unterstützung gegeben sein müssen
und auch ein soziales Netzwerk besteht, welches effektiv hilfreich und unterstützend ist
(S. 40). Die Befragten nannten die informellen Gespräche, so beispielsweise
Türrahmengespräche, als wichtigste Unterstützung und Hilfe innerhalb des Betriebes. Die
Aussagen machen deutlich, dass die Sozialarbeitenden in Institutionen arbeiten, in denen
einerseits die Voraussetzungen für informelle Gespräche vorhanden sind und diese von
der Führung offensichtlich toleriert, teilweise gar gefördert werden, zum anderen aber
auch, dass Mitarbeitende vorhanden sind, die als Einzelpersonen oder als Team
Unterstützung bieten können. Alle Befragten schätzen ihr Team als wichtige Stütze, es
besteht ein grosses Vertrauensverhältnis. Die Sozialarbeitenden der Amtsvormundschaften
und der Sozialdienste geben zu bedenken, dass der Führungsstil der Vorgesetzten Stress
mindern oder begünstigen kann. In Institutionen, in denen sehr viel Stress
wahrgenommen wird, wird der Führungsstil von den Befragten stärker kritisiert als in
anderen Stellen.
Die personalen Ressourcen, wie sie in Kapitel 2.3 beschrieben werden, helfen die
beruflichen Herausforderungen zu meistern. Nebst der Kontrollüberzeugung,
Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Robustheit, Optimismus und Hardiness knüpft das
Kohärenzerleben nach Antonovsky (siehe Kapitel 2.3.2), so Ulich und Wülser, genau
an die personalen Ressourcen an (S. 42-49). Dies konnte auch in den Befragungen
wiederkehrend festgestellt werden. Von sieben befragten Personen äusserten sechs
Personen mehrmals Aussagen in Bezug auf die genannten personalen Ressourcen, wie
auch auf das Kohärenzerleben.
Die Befragung hat gezeigt, dass die Institutionen der befragten Sozialarbeitenden positive
betriebliche Strukturen schaffen und durchaus gute Arbeitsbedingungen herrschen. Gemäss
Ulich und Wülser (2009) sollen im Hinblick auf das betriebliche
Gesundheitsmanagement Schutzfaktoren gestärkt und Risikofaktoren vermindert werden
(S. 39). Alle Betriebe sprechen den befragten Sozialarbeitenden ein hohes Mass an
eigenständigem Handeln, Denken und Planen zu. Ebenso verfügen sie über einen hohen
Handlungsspielraum, über Autonomie und Mitspracherecht. Nach Ulich und Wüsler gelten
vollständige Aufgaben, welche von Anfang bis Ende begleitet werden, geeignete
räumliche Bedingungen und adäquate Gratifikationen als Gegenwert für die berufliche
Verausgabung durch Geld, Wertschätzung oder berufliche Statuskontrolle als weitere
zentrale Elemente eines betrieblichen Gesundheitsmanagements (S. 39).
5. Diskussion
60
Trotz der guten Arbeitsgestaltung nennen mehrere der befragten Personen wiederholt
Stresssituationen ausgelöst durch Zeitdruck, Arbeitsmenge oder auch schwieriger Klientel.
Aufgrund der hohen Anforderungen an das Tun und Handeln der Sozialarbeitenden
erfahren diese teilweise unvermeidbare Stresssituationen. Sozialarbeitende auf
polyvalenten, generalistisch geprägten Sozialdiensten nennen deutlich mehr Stressfaktoren
in Zusammenhang mit hohem Arbeitsvolumen und Zeitknappheit als die Befragten, in
Kindesschutzgruppen. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass hier nur eingeschränkte
Kontrollmöglichkeiten bestehen, aber auch, dass auf generalisierten Stellen die
Aufmerksamkeit nicht gezielt auf eine Thematik gerichtet werden kann, sondern die
Sozialarbeitenden häufig abgelenkt wird durch andere nicht themenbezogene Arbeiten und
sich so keine wirkliche Routine einstellen kann. Es gibt bestimmte, wiederkehrende
Stresssituationen die nicht beeinflussbar oder vermeidbar sind. Beispielsweise können
abzuklärende Gefährdungsmeldungen nicht lange aufgeschoben werden, da sie einer
Abklärung bedürfen. So stapelt sich die Arbeit, währenddessen die Arbeitnehmenden
stetig am Abarbeiten sind. Diese quantitative Überforderung erfordert nach Batholdt und
Schütz (2010) personenbezogene Massnahmen, damit die Mitarbeitenden
handlungsfähig und gesund bleiben (S. 121). Anforderungen können folglich zu hoch
und zu komplex sein, dass in der Folge eine qualitative Überforderung eintritt. Durch
eine Steigerung der Anstrengung wird von den Sozialarbeitenden versucht, die
Überforderung zu bewältigen. Diese Kompensationsstrategie kann auf lange Sicht nicht
erfolgreich sein, wenn sich die Arbeitsmenge oder die Komplexität oder Undurchsichtigkeit
eines Falles nicht reduziert. Das Stresserleben wird dadurch verstärkt und es entsteht
eine psychische Ermüdung (S. 67-68). Die Interviews verdeutlichten, dass die
Befragten, welche auf polyvalenten Sozialdiensten tätig sind, stärker von quantitativer
Überforderung betroffen sind als solche auf Amtsvormundschaften oder im Kinderspital.
Sie klagen vermehrt über ein hohes Arbeitsvolumen und Zeitmangel. Bezüglich der
qualitativen Überforderung ergaben sich keine deutlichen Unterschiede. Die
Sozialarbeitenden aus dem Kinderspital berichteten jedoch marginal weniger über
qualitative Überforderung als ihre Kolleginnen und Kollegen. Diese geringe Abweichung
begründen die Sozialarbeitenden aus den Spitälern damit, dass in Bezug auf eine
Misshandlung oder ein Missbrauch im Spital meist medizinische Beweise vorliegen und
deshalb die Ungewissheit geringer ist als bei anderen abklärenden Stellen.
Mit Blick auf das transaktionale Modell nach Lazarus lässt sich erkennen, dass ein
Betrieb (Umwelt) mit seinen positiven oder negativen Arbeitsbedingungen und
-belastungen in Transaktion mit den persönlichen, biografischen Eigenschaften einer
Person (Ressourcen/Stressoren) steht und die Wahrnehmung und Bewertung von
Situationen sowie die Bewältigung von Stress beeinflusst. Aus diesen Überlegungen
verdeutlicht sich, dass alle Stränge in einem Betrieb in sich verknüpft sind und in einem
wechselwirkenden Prozess stehen, in dem sie sich kontinuierlich gegenseitig beeinflussen
und voneinander abhängig sind. Daraus lässt sich grundlegend schliessen, dass für ein
5. Diskussion
61
funktionierendes Gesundheitsmanagement, nebst den betrieblichen Massnahmen und des
Führungsstils, die personellen Ressourcen der einzelnen Mitarbeitenden einbezogen
werden müssen. Sie sind wichtige Voraussetzungen für die Nutzung von
Handlungsspielräumen und anderer Aspekte gelungener Arbeitsgestaltung.
62
6. Schlussteil
6.
Schlussteil
Das Kapitel rund um den Schlussteil bildet die Abrundung der Bachelorarbeit. In einem
ersten Schritt werden die Forschungsfragen beantwortet, im Anschluss daran erläutern die
Autorinnen ihre Schlussfolgerungen mit Empfehlungen für Sozialarbeitende und die dazu
gehörenden Institutionen für den Bereich Kindesschutz und im letzten Teil erfolgt der
Ausblick.
6.1.
Wichtigste Befunde
Die wichtigsten Befunde werden durch die Beantwortung der Hauptfrage und der zwei
Unterfragen erläutert.
6.1.1.
Hauptfrage
Belastungssituationen und Stressfaktoren können nur schwer voneinander unterschieden
werden, entscheidend ist, wie das Individuum die Belastung bewertet. Aufgrund dessen
urteilt es darüber, ob die Situation als Belastung oder Stress taxiert wird. Diese höchst
individuelle Angelegenheit wird durch interne und externe Ressourcen beeinflusst sowie
durch Merkmale wie Werte, Haltungen, kulturelle Hintergründe und vielem mehr.
Dennoch zeigt sich anhand der fundierten Nachforschungen und Untersuchungen, dass
von allen Befragten ähnliche bis gleiche Belastungssituationen geschildert werden, die
potentiell zu Stresssituationen werden können, wenn mehrere Indikatoren
zusammenkommen oder aufeinander treffen. Als Beispiele zählen: Zeitmangel, komplexe
Fälle, längerfristige Anspannung ohne Aussicht auf Entspannung und das Aushalten von
unklaren Situationen.
Anders als von den Autorinnen gedacht, sind es nicht die Bilder von Misshandlungen
und Missbrauch an Kindern, also die eigentliche Kindesgefährdung, die bei den
Fachleuten Stress auslöst. Sondern es ist die Unsicherheit dem Wohle des Kindes nicht
gerecht zu werden aufgrund von mangelnder Zeit, Multikomplexität der Fälle, ein zu
grosses Arbeitsvolumen, geringe Erfahrung und erschwerte betriebliche Bedingungen wie
hohe Fluktuation und mangelnde Teamarbeit. Behindernd können dabei auch
Welche Belastungssituationen und Stressfaktoren werden von den Befragten genannt und
wie sehen ihre Bewältigungsstrategien aus?
63
6. Schlussteil
überfordernd, hohe eigene Ansprüche und persönliche Verantwortung, ohne die
Möglichkeit diese zu teilen, einwirken.
Hinsichtlich der Coping-Strategien zeigt sich hier erneut eine breite Palette an
verschiedenen Möglichkeiten, um mit Stresssituationen umzugehen. Die Einteilung erfolgt
wie im Kapitel 2.6 erwähnt in emotions- und problemorientierte Strategien. Wobei sich
diese häufig so vermischen, dass eine trennscharfe Unterteilung kaum möglich ist. Eine
Bewältigungsstrategie kann als emotionales Ventil zum Dampf-Ablassen dienen
(emotionsorientiert) und gleichzeitig auch dazu, einen Fall kognitiv zu erörtern, um so
ein Problem zu klären (problemorientiert). Häufig genannte Coping-Strategien sind zum
Beispiel Aktivitäten wie Sport, Rituale, Entspannung oder kulturelle Ablenkungen; des
Weiteren Humor und der kollegiale Austausch als Psychohygiene und Kompensation
durch Mehrarbeit.
6.1.2.
Unterfrage 1
Die besuchten Institutionen verfügen über bedeutende, positive betriebliche Bedingungen.
Den Sozialarbeitenden wird ein relativ grosser Handlungsspielraum zugestanden; sie
verfügen über hohe Entscheidungs-, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten, auf welche
sie Einfluss nehmen können. Beispielsweise durch Freiheiten im Zeitmanagement, durch
Einfluss auf Zieldefinitionen oder durch eine hohe Partizipation innerhalb der Betriebe.
Eher schwierig gestalten sich für Betriebe und auch für Sozialarbeitende die
Kontrollmöglichkeiten bezüglich der eingehenden Fallmenge. Fälle im Kindesschutz stellen
meist Gefährdungen dar, die nicht ohne Weiteres und über längere Zeit liegen gelassen
werden können und einer Abklärung bedürfen. Diese Einflüsse können vom Betrieb her,
trotz des Bewusstseins für Stress, kaum gesteuert werden.
Daneben leisten Betriebe einen zentralen Beitrag im Umgang mit Stress und Coping,
indem sie verschiedenste Gefässe wie Supervisionen, Teamsitzungen, Chefgespräche,
oder Intervisionen zur Verfügung stellen. Schwierigkeiten und Belastungen können dort
angesprochen werden, wodurch ein aufkommendes Problem früh erkannt, oder ein
Bestehendes behandelt werden kann. Ebenso wichtig sind die von den Betrieben
unterstützen Türrahmengespräche, sie stellen für die Befragten den effektivsten Nutzen
bezüglich Stress und Coping dar. Die positiven Strukturen und die mehrheitlich positiv
benoteten Führungsstile der Vorgesetzten tragen dazu bei, dass innerhalb der Teams
durchwegs positive und vertrauensvolle Beziehungen entstanden sind, die als
wertschätzend, tragend und konstruktiv empfunden werden.
Die Betriebe zeigen ihre Wertschätzung und Anerkennung gegenüber den
Sozialarbeitenden, indem sie ihnen Kompetenzen und Vertrauen zusprechen. Diese Art
Welchen Beitrag leisten Betriebe im Bereich Kindesschutz zum Thema Stress und
Coping?
64
6. Schlussteil
von Gratifikation wird von den Sozialarbeitenden als eine Würdigung ihrer Leistungen
bezüglich der teilweise starken psychischen Belastungen durch die Arbeit, äusserst
geschätzt.
6.1.3.
Unterfrage 2
Welche negativen Auswirkungen hat Stress auf die Person und ihre Arbeit im Bereich
Kindesschutz?
Die Folgen von Stress sind weitreichend und vielfältig. Stressreaktionen beeinflussen die
Sozialarbeitenden und damit verbunden entwickeln sich Auswirkungen auf ihre Arbeit. In
einem ersten Schritt löst der Körper beim Auftreten von Stress eine Alarmreaktion aus
und der Organismus aktiviert in sekundenschnelle Energien, damit er auf die „Gefahr“
reagieren kann. Dabei erhöht sich die Muskelspannung, eine schnellere Atmung setzt ein
und die Durchblutung intensiviert sich. Eigentlich als kurzfristige Lösung des Körpers zur
Flucht gedacht, verursacht chronischer Stress neben etlichen anderen Erkrankungen
häufig Herz-Kreislauf-Probleme, Magen-Darm-Erkrankungen und Nacken-Rücken-
Beschwerden. Oft reagieren die befragten Sozialarbeitenden bei Stress verärgert und
unzufrieden, unruhig und nervös auf ihre Umwelt, dabei sind ihnen Gefühle der
Ohnmacht und Hilflosigkeit ebenfalls bekannt. Psychische Erkrankungen treten als Folge
von chronischem Stress in Kombination mit Persönlichkeitsfaktoren, sozialen Einflüssen,
belastenden Lebensereignissen und andere Variablen auf.
Durch Stress fokussiert sich der Blick nur noch auf die Stressursache und verliert
dadurch die Beobachtungsfähigkeit für anderes. In der Folge geht die Objektivität zur
Sache verloren, es stellen sich Konzentrationsschwierigkeiten und Denkblockaden ein. In
Zeiten des Stresses neigen Menschen dazu, vereinfachte und eher konservative
Entscheidungen zu treffen, auch werden Beschlüsse aufgrund der eingeschränkten
Objektivität nur unvollständig durchdacht. Ebenfalls neigen die befragten Sozialarbeitenden
dazu, aggressiv oder gereizt auf die Umwelt zu reagieren oder wider besseren Wissens,
Pausen zu kürzen und Mehrarbeit zu leisten. Hält dieser Zustand längere Zeit über an,
so kann die Arbeitsqualität massiv in Mitleidenschaft gezogen werden. In Anbetracht
dessen, dass Stress die Objektivität und den gesamten Blickwinkel zum Fall einschränkt
und Entscheidungen unbewusst beeinflusst, ist davon auszugehen, dass dies
Auswirkungen auf die Qualität der Abklärung einer Kindeswohlgefährdung hat. Es ist
unklar, ob Sozialarbeitende, die über einen längeren Zeitraum unter Stress stehen, ihrem
Auftrag und ihrer Sorge um das Wohl der Kinder gerecht werden können.
65
6. Schlussteil
6.2.
Schlussfolgerungen
Das Berufsfeld im Bereich Kindesschutz ist für Sozialarbeitende höchst anspruchsvoll und
stellt eine grosse Herausforderung dar. Es bestehen viele Belastungs- und
Stresssituationen im Arbeitsalltag, ebenfalls werden hohe persönliche und von aussen
hergetragene Ansprüche an die Sozialarbeitenden gestellt.
6.2.1.
Empfehlungen an Sozialarbeitende
Für Fachleute im BereichKindesschutz ist ein gesunder Kohärenzsinn
elementar,
ermöglicht dieser ihnen im Bezug auf Kindesmissbrauch und – misshandlung darauf zu
bauen, dass sie Ereignisse strukturieren und erklären können. Sie behalten das
Vertrauen in ihre Fähigkeiten und werden nicht in die Machtlosigkeit gedrängt. Trotz
schwieriger Situationen sehen sie ein, dass sich ihr Engagement in jeder Hinsicht lohnt.
In den Untersuchungen zeigt sich, dass Erfahrung im Beruf und eine hohe
Fachkompetenz im Kindesschutz Stress mindern. Aus diesem Grund empfehlen die
Autorinnen einerseits, einen vertieften Austausch mit Kolleginnen und Kollegen oder auch
Fachpersonen zu pflegen und anderseits, fachspezifische Weiterbildungen zu besuchen,
um die persönlichen Kompetenzen zu erweitern und das Selbstvertrauen zu stärken.
Die Arbeit in diesem Gebiet verlangt ausgeprägte interne Ressourcen. Eine davon ist die
Fähigkeit sich gegenüber schwierigen Fällen, Anforderungen und Ansprüchen von aussen
und ebenfalls zwischen Arbeit und Privatleben, abgrenzen zu können. Die
Sozialarbeitenden sollen bei regelmässigen Belastungen und Stress ihre Vorgesetzten
darüber informieren und sensibilisieren, sie sollen aufzeigen, wie stark die psychische
Beanspruchung ist und adäquate Verbesserungsmöglichkeiten ansprechen oder einfordern.
Aus den erarbeiteten Befunden lassen sich allgemeingültige Ansätze ableiten, die
Fachpersonen und –stellen dienen können:
Bei multikomplexen Fällen soll zwingend das „Vieraugenprinzip“ verwendet werden, also
Fallanalysen und Entscheidungen in Absprache mit einer anderen Fachperson ausgeführt
werden. Allenfalls müssen Ratschläge und Meinungen von externen Fachpersonen
eingeholt werden, diese Arbeitsform mindert Stress auch hinsichtlich der eigenen
Verantwortung und ermöglicht diese zu teilen.
Sozialarbeitende müssen ihre eigenen Grenzen kennen und diesbezüglich ehrlich mit sich
sein. Wenn eine Situation, eine Entscheidung oder eine Handlung die eigenen
Fähigkeiten zur Beurteilung übersteigt, müssen sie dies ernst nehmen und klar gegenüber
ihrer vorgesetzten Stelle zu deklarieren. Es ist zentral, dass sie auf ihre innere Stimme
hören und sich und ihre persönlichen Grenzen ernst nehmen, um nicht auszubrennen.
66
6. Schlussteil
6.2.2.
Empfehlungen an Institutionen
Stress muss innerhalb einer Institution Thema sein und diskutiert werden. Stress ist
keine „Einzelerkrankung“, er ist Alltagsgeschäft im Sozialwesen. Dieser Tatsache muss
entsprechend Rechnung getragen werden. Die Arbeitgebenden sind dafür verantwortlich,
Stress in ihrem Betrieb offen und vorurteilsfrei anzusprechen. Erst wenn Stress als
Problematik und als erheblicher gesundheitsschädigender Faktor erkannt wird, kann
präventiv gearbeitet werden, indem beispielsweise ein betriebliches
Gesundheitsmanagement erarbeitet und implementiert wird. Dabei muss der Arbeitgebende
darauf achten, dass Ansätze zur Veränderung gemeinschaftlich erarbeitet werden,
(Vergleich Kapitel 2.) um die Kooperation der Arbeitnehmenden zu gewährleisten.
Institutionen sollen den Sozialarbeitenden weiterhin einen hohen Handlungsspielraum
zusprechen. Die Arbeit wird dadurch als wertvoll empfunden und zeigt Wertschätzung und
Anerkennung von betrieblicher Seite her bezüglich der Leistungen der Sozialarbeitenden.
Sozialarbeitenden ermöglicht es, ihren Kohärenzsinn zu stärken und Herausforderungen
entgegen zu nehmen, um letztendlich motiviert und zufrieden bei der Arbeit zu sein. Das
„Vieraugenprinzip“ soll, wie bereits erwähnt, als Instrument verwendet werden. Die
Arbeitgebenden können so ihre Mitarbeitenden entlasten, indem sie bei heiklen
Entscheidungen die Verantwortung teilen können und dadurch nicht in eine belastende
Überforderung geraten. Im Gegenzug gewinnt der Betrieb Sicherheit gegenüber den
getroffenen Entscheidungen seiner Fachleute, da sie diese in Rücksprache getroffen
haben.
Bei den befragten Fachleuten fiel auf, dass in deren Institutionen bereits wirksame und
gute Strukturen zur Stressminderung vorhanden sind. Dennoch gibt es Gebiete, die noch
weiter optimiert werden können. So ist es eine Führungsaufgabe, dass neue
Mitarbeitende sorgfältig, nach Kompetenzen und Ressourcen geprüft, ausgewählt werden.
Führungspersonen sollen für ihre Rolle ausreichend geschult und auf ihre Verantwortung
und ihre Pflichten gegenüber den Arbeitnehmenden sensibilisiert werden. Gerade in
belastenden Berufsfeldern sollen hohe Leistungen der Mitarbeitenden in Form von
Gratifikationen durch Geld, Wertschätzung/Anerkennung oder sozialem Status entgolten
werden. Um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, darf die Frage der Fallzählung und
Fallverteilung nicht ausser Acht gelassen werden, entscheidet sie doch über das
Arbeitsvolumen und die empfundene gerechte Fallverteilung der Arbeitnehmenden.
Zusammenfassend ist den Institutionen ein bewusst ausgearbeitetes betriebliches
Gesundheitsmanagement zu empfehlen, um den Betrieb vor finanziellen Einbussen und
personellen Ausfällen zu schützen und die Mitarbeitenden als kostbarstes Gut einer
Institution, gesund zu erhalten.
67
6. Schlussteil
6.3.
Ausblick
In dieser Bachelorarbeit konnte nachgewiesen werden, welche Belastungen und
Stresssituationen Sozialarbeitende in Kindesschutzgruppen, auf Amtsvormundschaften und
auf polyvalenten Sozialdiensten wahrnehmen und welche Bewältigungsstrategien sie
anwenden. Zusätzlich wurde festgestellt, welche negativen Auswirkungen Stress auf die
Arbeit und auf eine Person hat. Es wurde in Erfahrung gebracht, ob in den Institutionen
im Kindesschutz betriebliche Gesundheitsmanagements bestehen und sie ihre Rolle und
Verantwortung gegenüber den Sozialarbeitenden bezüglich Stress und Coping
wahrnehmen. Die Forschung hat gezeigt, dass das Thema Stress bei Sozialarbeitenden
im Kindesschutz, sicherlich aber auch in anderen Bereichen, ein tägliches Übel ist.
Dennoch wird die Thematik Stress im Berufsalltag kaum als wirkliches Problem
thematisiert, sondern grösstenteils als „Berufskrankheit“ hingenommen. Im Sinne der oben
aufgeführten Empfehlungen an die Sozialarbeitenden und an die Institutionen muss dem
Thema Stress mehr Raum und Gewicht gegeben werden.
Viele Fragen wurden mit vorliegender Arbeit geklärt; genauso viele Fragen sind daraus
resultierend aufgetaucht. Im Rahmen einer künftigen Bachelorarbeit wäre es interessant,
diesen Themen nachzugehen. Weiterführend könnte vertieft werden, ob eine
Spezialisierung im Kindesschutz eine professionellere Handhabung der Tätigkeit ermöglicht
und die Spezialistinnen und Spezialisten in diesem Gebiet dadurch weniger unter Stress
leiden als andere. Des Weiteren könnte ein Vergleich gemacht werden in Bezug auf das
Stressempfinden der Sozialarbeitenden und deren Fallzahlen, auf den Gebieten
Sozialdienst wirtschaftliche Sozialhilfe und Sozialdienst mit polyvalenter Gewichtung. Diese
Forschung hätte zum Ziel die erstgenannte Forschung zu verdichten, indem sie innerhalb
eines Bereichs, also Sozialdienst, zwischen generalistischen und spezialisierten
Aufgabenfeldern forscht.
68
7. Quellen
7.
Quellen
Allenspach, Marcel & Brechbühler, Andrea (2005).
Stress am Arbeitsplatz. Theoretische
Grundlagen, Ursachen, Folgen und Prävention
. (1. Auflage 2005). Bern: Verlag
Hans Huber.
Bartholdt, Louise; Schütz, Astrid (2010).
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Bewältigung und Prävention.
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Bundesamt für Sozialversicherungen [BSV]. (2007).
Kinderschutz. Adressverzeichnis
von Hilfs- und Beratungsstellen in der Schweiz in Zusammenhang mit
Kindesmisshandlung
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Bundesamt für Statistik [BFS]. (2007).
Schweizerische Gesundheitsbefragung
. Gefunden
am 10. August 2010 unter http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx
Doerk, Michael (2010).
Persönliche Ressourcen
. Unveröffentlichtes Unterrichtsskript.
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Hafen, Martin (2009).
Sozialarbeit und Gesundheit
. Unveröffentlichtes Unterrichtsskript.
Hochschule Luzern Soziale Arbeit.
Hafen, Martin (2007).
Grundlagen der systemischen Prävention. Ein Theoriebuch für
Lehre und Praxis.
Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.
69
7. Quellen
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Heide Filipp (Hrsg.),
Kritische Lebensereignisse
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Lazarus, Richard S. (2000). Stress, Bewältigung und Emotionen: Entwicklung eines
Modells. In Virginia Hill Rice (Hrsg.),
Stress und Coping (Astrid Hildenbrand,
Übers.)
(1. Auflage, S. 231–263) Bern: Hans Huber. (
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In Virginia Hill Rice (Hrsg.),
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(1.
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. London, New Dehli 2000).
Schmidbauer, Wolfgang (2007).
Das Helfersyndrom – Hilfe für Helfer
. Reinbeck bei
Hamburg: Rowohlt.
Marti, Adrienne; Mösch Payot, Peter; Pärli, Kurt; Schleicher, Johannes & Schwander,
Marianne (2007).
Recht für die Soziale Arbeit. Grundlagen und ausgewählte
Aspekte.
Bern: Haupt Verlag.
Rüegg, Christoph & Rüegg, Rahel (2008).
Leitfaden für vormundschaftliche
Mandatsträger. Das Handbuch mit Checklisten für das Führen einer Erwachsenen-
schutzmassnahme inklusive Sozialversicherungsrecht
. Bern: Haupt Verlag.
Stiftung Kindesschutz Schweiz (2008).
System Kindesschutz in der Schweiz.
Gefunden
am 10. August 2010 unter http://www.kinderschutz.ch/cmsn/files/Kindesschutz_
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Ulich, Eberhard & Wüsler, Marc ( 2009).
Gesundheitsmanagement in Unternehmen.
Arbeitspsychologische Perspektiven.
(3. überarb. Aufl.). Wiesbaden: Gabler.
Anhang A: Glossar
70
Anhang A: Glossar
Allgemeines Adaptionssyndrom - AAS
Anpassung des Organismus an die Stresssituation
Äussere Stressoren
äußere Anforderungen, die der Organismus bewältigen und sich daran anpassen muss.
Bedingungszentrierte Bewältigung
Bewältigung im betrieblichen Rahmen
Behaviorale Stressreaktionen
Verhaltens Stressreaktionen: von aussen beobachtbare Verhalten.
Behandlung
Massnahmen die auf der Problemebene bewirken, dass Komplikationen verschwinden
/nicht grösser werden.
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Ein systematisches Vorgehen zur Förderung von Gesundheit in Unternehmen, öffentlichen
Verwaltungen und Non-Profit-Organisationen.
Bewältigung Coping
Wiederherstellung des Wohlbefindens und der Handlungsfähigkeit einer Person und/oder
Neuorientierung oder Weiterentwicklung.
Bewertung
Vorgang, der den Wert von etwas abschätzt, festlegt
Burnout
Zustand emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und
eingeschränkter
Leistungsfähigkeit.
Depression
Emotionaler Zustand, der durch große Traurigkeit, Besorgtheit, Gefühle der Wertlosigkeit
und der Schuld, sozialen Rückzug, Schlafstörungen, Appetitmangel, sexuelles
Desinteresse und entweder körperliche und seelische Trägheit oder aber auch Erregung
und Unruhe gekennzeichnet ist.
Anhang A: Glossar
71
Emotionsfokussiertes Coping
Mit der Stresssituation verbundene Emotionen steuern, verringern oder neu bewerten.
Externe Ressourcen
Beinhalten: Soziale Unterstützung und Handlungsspielraum
Fach- Sach- und Sozialkompetenzen
Gesamtheit der Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen und Werthaltungen,
über die eine Person als Voraussetzung für eine ausreichende Breite in der beruflichen
Einsetzbarkeit verfügen muss.
Freiwilliger Kindesschutz
Freiwillige Beratungs-Angebote, wie Jugend- und Familienberatungsstellen, die von Eltern,
Kindern und Jugendlichen in Anspruch genommen werden können.
Früherkennung
Greift ein zwischen Prävention und Behandlung und nimmt darin eine diagnostische
Funktion wahr, in der sie unterscheidet, ob eine Behandlung in einer Sache erfolgen
muss oder nicht
Gefährdungsmeldung
Meldung bezüglich der physischen, psychischen und seelischen Gefährdung des Wohles
eines Kindes
Handlungsspielraum
Ausmass der beeinflussbaren Möglichkeiten, die einer Person zur Verfügung stehen.
Hardiness
Beinhaltet Komponenten Engagement, Kontrolle und Herausforderung und den Umgang
damit.
Individuumszentrierte Bewältigung
Die individuellen Anstrengungen einer Person ein Geschehen zu bewältigen.
Innere Stressoren
Gefühle und Ängste (positiv wie negativ)
Interne Ressourcen
Repertoire an Stressbewältigungsstrategien, Eigenarten, und Qualifikationen einer Person:
Fach-, Sach- und Sozialkompetenzen.
Anhang A: Glossar
72
Kindesschutz
Bedeutet alle gesetzgeberischen und institutionalisierten Massnahmen zur Förderung einer
optimalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie zum Schutz vor
Gefährdungen und zur Milderung und Behebung der Folgen von Gefährdungen
Kindesschutzgruppen
In Spitälern angesiedelte interdisziplinäre Fachgruppen, die bei einer Kindesgefährdung
das Kindeswohl beurteilen.
Kindeswohl
Geistig und seelische Wohl eines Kindes.
Kohärenzerleben
Grundlegendes Gefühl des Vertrauens welches als globale und andauernde individuelle
Orientierung die Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen beeinflusst.
Kompetenz
Befähigung / Fähigkeit
Kompetenzerwartung
Annahme, dass das Individuum die Fähigkeit besitzt die Aktivität zur Stressbewältigung
auszuüben.
Komplementaritätsprinzip
Massnahmen müssen ergänzend und nicht verdrängend sein.
Konsequenzerwartung
Annahme, dass eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Ziel führt.
Kontrollüberzeugung
Überzeugung, dass eine Situation kontrollierbar ist.
Neubewertung
Situation wird von Individuum neu beurteilt.
Optimismus
Überzeugung, dass im Leben wünschenswerte Ereignisse eintreten und die Dinge letztlich
gut ausgehen.
Organisationale Ressourcen
beinhalten: Soziale Unterstützung und Handlungsspielraum
Anhang A: Glossar
73
Pathogenese
Krankheitsentstehung: Lehre der Krankheit
Personenmerkmale
Qualifikationen, Fach-, Sach- und Sozialkompetenzen, ein breites Repertoire
an
Stressbewältigungsstrategien
Personale (interne) Ressourcen
Repertoire an Stressbewältigungsstrategien, Eigenarten, und Qualifikationen einer Person:
Fach-, Sach- und Sozialkompetenzen.
Prävention
Handlungen, die ein im Moment noch nicht vorhandenes Problem verhindern oder einen
momentan positiv wahrgenommenen Zustand weiterhin erhalten sollen.
Primärbewertung
Unmittelbare Bewertung bei Eintritt eines Ereignisses, in Bezug auf das Wohlbefinden der
betroffenen Person.
Polyvalenter Sozialdienst
Zuständig für die Grundversorgung der Bevölkerung und gewährleistet die
politisch
garantierten und gesetzlich vorgeschriebenen sozialen Dienstleitungen.
Problemfokussierte Coping
Die betroffene Person verschafft sich Informationen, anhand deren sie ein Problem
angehen kann, um so die Person-Umwelt-Beziehung wieder in Ordnung zu bringen.
Ressourcen
Mittel, die eingesetzt werden können, um das Auftreten von Stressoren zu vermeiden,
ihre Ausprägung zu mildern oder ihre Wirkung zu verringern
Rollenambiguität
Unklarheit über Verantwortungsbereich in der Arbeit, wenn nicht die nötigen Informationen
vorhanden, um die Arbeit und die Rolle angemessen auszufüllen, wenn Unsicherheit und
eingeschränkte Kontrolle die Arbeit beeinflussen, und dadurch Ohnmachtsgefühle auftreten.
Rollenkonflikt
Verschiedene Personen stellen unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen an das
Verhalten der Rollentragenden.
Anhang A: Glossar
74
Rollenstress
Die gestellten Erwartungen an eine Person sind überfordernd, unklar oder unvereinbar,
somit erlebt die rollentragende Person einen Rollenstress.
Salutogenese
Gesundheitsentstehung: Lehre der Gesundheit
Sekundärbewertung
Die Person prüft die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Bewältigungsfähigkeiten
und -möglichkeiten im Hinblick auf die bedrohliche Situation.
Selbstwert
Das Vorhandensein einer grundsätzlich positiven Haltung gegenüber sich selbst als
Person.
Selbstwirksamkeit
Die Überzeugung, dass eine bestimmte Handlung zum angestrebten Ergebnis führt und
man selbst in der Lage ist, diese Handlung erfolgreich auszuführen.
Soziale Unterstützung
Merkmale der Familie und des Weiteren sozialen Umfelds, es hat einen qualitativen und
quantitativen Aspekt.
Strafrechtlicher Kindesschutz
Umfasst die Straftatbestände des Erwachsenenstrafrechts, welche körperliche und
psychische Misshandlung, sexuelle Handlungen mit Kindern und Jugendlichen ebenso
Vernachlässigung unter Strafe stellt.
Stressoren
Belastungen, die durch Bewertung des Individuums Stress verursachen
Stressreaktionen
Reaktionen aufgrund von Stress, die sich in kognitiver, emotionaler, motorischer oder
physiologischer Weise äussern.
Subsidiarität
Jede gesellschaftliche und staatliche Tätigkeit ist ihrem Wesen nach unterstützend und
ersatzweise eintretend, das heisst das die höhere staatliche oder gesellschaftliche Einheit
nur dann helfend tätig wird und Funktionen der niederen Einheiten an sich ziehen darf,
wenn deren Kräfte nicht ausreichen, diese Funktionen wahrzunehmen.
Anhang A: Glossar
75
Transaktion
Ergebnis einer Wechselwirkung (Transaktion) zwischen Person und Umwelt.
Verhältnismässigkeitsprinzip
Schutz vor übermäßigen Eingriffen des Staats in die Grundrechte, insbesondere auch in
die allgemeine Handlungsfreiheit.
Vormundschaftsbehörde
Zuständig für Anordnung, Aufhebung und Durchführung vormundschaftlicher Massnahmen.
Zivilrechtlicher Kindesschutz
Die Eltern tragen die Sorge und die Verantwortung für die körperliche, geistige,
psychische und soziale Entwicklung ihrer Kinder, können sie ihre Sorge nicht oder nur
unvollständig wahrnehmen und ist dadurch das Wohl des Kindes gefährdet, so trifft die
Vormundschaftsbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes.
76
Anhang B: Interviewleitfaden
Anhang B: Interviewleitfaden
1.
Fragen allgemein
Wie lange sind Sie in diesem Bereich bereits tätig? Arbeitspensum?
Beruflicher Werdegang? (Bildung, Weiterbildung..)
Beschreibung der Arbeit, Tätigkeit, Einsatzbereich
Haben Sie sich mit den Themen Stress und Coping bereits theoretisch
auseinandergesetzt?
2.
Fragen zu Belastungssituationen
Was empfinden Sie als Belastungssituation?
Wie sehen Situationen aus, die Sie nur schwer aushalten können und die Sie
übermässig belasten?
3.
Fragen zu Stress
Was bedeutet für Sie Stress? Wie äussert sich bei Ihnen Stress? (Symptome)
Was sind für Sie stressbegünstigende Situationen? (z.B. Zeitknappheit…)
Ab wann empfinden Sie Belastung als Stress? Wie merken Sie
das?
Anzeichen/Indikatoren?
77
Anhang B: Interviewleitfaden
4.
Fragen zu Bewältigung:
Welche Strategien zur Bewältigung von Stress helfen Ihnen?
In der Theorie zum Thema Coping werden problemorientierte und emotionsorientierte
Bewältigungsformen genannt. Welche Bewältigungsformen kennen Sie von sich, nebst
den bereits erwähnten?
Welche ihrer (auch unbewussten) Strategien sind für Sie eher ineffektiv?
Wie haben Sie sich diese Bewältigungsformen angeeignet?
Inwiefern mussten Sie aufgrund der schwierigen Situationen schon Hilfe einfordern
oder/und grundlegende, berufliche Entscheidungen treffen?(z.B. Fälle abgeben)
5.
Stress und Bewältigung im betrieblichen
Rahmen:
Inwiefern besteht zu den Themen Stress und Coping in Ihrem Betrieb ein
Bewusstsein? Auf betrieblicher Ebene? Auf individueller Ebene?
Welche betrieblichen Strukturen helfen Ihnen besonders in der Bewältigung?
Welche Gefässe stehen dem Team und dem Einzelnen zur Verfügung? Supervision?
Intervision? Teamanlässe? Türrahmengespräche? (Werden diese toleriert /
gefördert?)
Welche Veränderungen oder Anpassungen wünschen Sie sich in Ihrem Betrieb, damit
Sie schwierige Situationen adäquat bewältigen können?
78
Anhang C: Informationsschreiben
Simone Glur
Kathrin Junker
Hochschule Luzern
Soziale Arbeit
simone.glur@hslu.stud.ch
kathrin.junker@hslu.stud. ch
Luzern, April 2010
Sehr geehrte Damen und Herren
Wir sind zwei Studierende der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Im Rahmen unserer
Bachelor-Arbeit erforschen wir die Themen Stress und Coping aus Sicht der
Sozialarbeitenden in Kindesschutzgruppen, Amtsvormundschaften und polyvalenten
Sozialdiensten. Wir wollen der leitenden Frage nachgehen, was Sozialarbeitende in
Kindesschutzgruppen, auf Amtsvormundschaften und polyvalenten Sozialdiensten als
Stressfaktoren in ihrer Arbeit wahrnehmen und wie sie belastende Situationen
bewältigen.
Mittels eines Leitfadeninterviews möchten wir Befragungen im Umfang von rund einer
Stunde durchführen. Die Befragungen sind anonym und dienen der Feldforschung. Die
darin gemachten Aussagen werden mit den theoretischen Grundlagen zu Stress und
Coping verglichen und sollen Wissenslücken aufdecken und Schlussfolgerungen zu den
Themen Stress und Coping im beruflichen Alltag ermöglichen. Abschliessend sollen
daraus Empfehlungen und mögliche weitere Hypothesen generiert werden.
Damit die Themen Stress und Coping in Kindesschutzgruppen, auf Amtsvormundschaften
und polyvalenten Sozialdiensten beforscht werden können, hoffen wir auf Ihre
Unterstützung.
Herzlichen Dank und freundliche Grüsse
Simone Glur
Kathrin Junker