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Was kann die Soziologie methodisch von der Ge-
schichtswissenschaft lernen?
(What can Sociology Learn from History about Me-
thodology?)
Nina Baur
Zusammenfassung: Mit Hilfe einer Metaanalyse histori-
scher Texte wurden Eigenheiten historischer Methodologie
herausgearbeitet und mit denen typischer sozialwissen-
schaftlicher Forschung verglichen. Ausgehend von diesem
Vergleich, kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass die So-
ziologie u. a. von der Geschichtswissenschaft Erkenntnisse
über das Verhältnis von qualitativer und quantitativer For-
schung, über die praktische Durchführung komplexer, epo-
chenübergreifender empirischer Projekte auf hohem theore-
tischen Niveau, über die Abschätzung systematischer Fehler
bei der Datenauswahl, über den Umgang mit prozessprodu-
zierten Daten sowie über die Datenaufbereitung gewinnen
kann.
Abstract: Based on a meta-analysis of historical texts, typi-
cal aspects of historical methodology have been identified
and are compared with typical sociological methodology.
Drawing on this comparison, the author concludes that so-
ciology can e.g. draw new insights from historical sciences
about the relationship of qualitative and quantitative re-
search, how to conduct complex research projects covering
long time-frames on a high theoretical level, about assess-
ing bias in samples, how to handle process-generated data
and about data preparation.
Keywords: Soziologie – Geschichtswissenschaft – Mixed
Methods – Prozessproduzierte Daten – Datenproduktion –
Datenselektion – Datenauswahl – Datenaufbereitung – Da-
ten und Theorie – Perspektivität
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1. Einleitung
Die historische Soziologie hat eine lange Tradition: Fast alle soziologischen
Klassiker wandten historische Methoden an. Im Nachkriegsdeutschland wurde
diese Tradition u.a. vom Zentrum für historische Sozialforschung fortgesetzt.
So weist HSF mittlerweile eine über dreißigjährige Geschichte der interdis-
ziplinären Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft
auf. Bereits in den ersten Ausgaben widmete sich HSF dezidiert methodologi-
schen Fragestellungen (Müller (Hg.) 1977; Best/Mann (Hg.) 1977).
Bis heute ist die historische Sozialforschung allerdings ein Randbereich der
soziologischen Forschung geblieben. Vom Mainstream der Soziologie wird sie
meist als spezielle Soziologie behandelt. So wundert es denn nicht, dass dieser
Mainstream der Soziologie nach wie vor streng zwischen Soziologie und Ge-
schichtswissenschaft zieht. Wenn ich im Folgenden von „Soziologie“ oder „Sozi-
alwissenschaft“ spreche, meine ich entsprechend auch diesen Mainstream, für den
u.a. typisch ist, dass er eben gerade nicht mit historischen Methoden arbeitet.
Wenn Forscher versuchen, eine Grenzlinie zwischen Soziologie und Ge-
schichte zu ziehen, führen sie meist eines oder mehrere der folgenden Argu-
mente an: Soziologie und Geschichtswissenschaft hätten unterschiedliche Er-
kenntnisinteressen. Soziologie widme sich dem Allgemeinen, Geschichtswis-
senschaft dem Besonderen. Soziologie wolle erklären, Geschichtswissenschaft
verstehen. Die Soziologie untersuche die Gegenwart, die Geschichtswissen-
schaft die Vergangenheit (Best 1988; Tuchman 1994, S. 322). Keines dieser
Gegensatzpaare lässt sich bei näherer Betrachtung aufrechterhalten (Best 1988;
Baur 2005, S. 21-56; 80-108). Ein weiteres, häufig verwendetes Argument ist,
dass Soziologie und Geschichtswissenschaft sich in ihren Forschungsmethoden
unterscheiden (Best 1988; Tuchman 1994, S. 322).
Betrachtet man Einführungswerke in die Geschichtswissenschaft oder die
praktische Forschungsarbeit von Historikern, zeigen sich allerdings durchaus
einige theoretische und methodische Differenzen zur Soziologie. Im Extremfall
steht nämlich eine am fern in der Vergangenheit liegenden Einzelfall interes-
sierte Wissenschaft, der keinen Gegenwartsbezug hat und über den akribisch
Daten gesammelt werden, unversöhnlich einer Disziplin gegenüber, die über-
zeitliche, abstrakte Modelle entwirft oder sich – ebenfalls auf einem sehr all-
gemeinen Niveau – ausschließlich für die Gegenwart interessiert.
Die meisten soziologischen und historischen Forschungsvorhaben lassen
sich jedoch zwischen diesen beiden Extremen verorten, so etwa Analysen des
Mauerfalls, sozialstaatlicher Entwicklungen in verschiedenen Wohlfahrtsregi-
men, der sozialen Konstruktion von Geschlecht in verschiedenen Gender Re-
gimen, des Wandels typischer Lebensläufe oder der Veränderungen typischer
Produktionsweisen vom Fordismus zum Postfordismus.
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Akzeptiert man, dass der Übergang von Geschichtswissenschaft zur Sozio-
logie fließend ist und löst man den Blick von unterschiedlichen Fachterminolo-
gien, wird sofort erkennbar, dass Historiker und Soziologen methodologisch
mehr verbindet als trennt (Best 1988). Diese Gemeinsamkeit im Forschungs-
prozess ist nicht nur oberflächlich. Forschung zielt auch auf denselben Gegens-
tandsbereich ab: das Handeln und Denken von Menschen (Wehler 1972, S. 44f.).
Entsprechend haben Soziologen und Historiker auch mit denselben oder
zumindest analogen Problemen während des Forschungsprozesses zu kämpfen.
Oft fanden Wissenschaftler der beiden Disziplinen unabhängig voneinander
Lösungen für diese Probleme. Die Lösungen sind aber meist dieselben. Bisweilen
kommt es vor, dass die Methoden, die in einer Disziplin entwickelt wurden, ausge-
reifter sind, als die der anderen. Dies liegt hauptsächlich daran, dass in den ver-
gangenen Jahrzehnten Soziologen und Historiker oft sehr unterschiedliche kon-
krete Forschungsfragen verfolgten und Datentypen verwendeten. In der prakti-
schen Forschungsarbeit stellten sich entsprechend andere methodische Probleme.
Man könnte über diese unterschiedlichen Stärken die Unterschiede zwischen
Soziologie und Geschichtswissenschaft festschreiben. Sinnvoller erscheint mir
jedoch der Versuch, aus den Stärken der jeweils anderen Disziplin zu lernen.
Aus diesem Grund untersucht der folgende Beitrag die methodologischen Ge-
meinsamkeiten zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft und geht der
Frage nach, was Soziologen methodologisch von Historikern lernen können
(was nicht bedeutet, dass nicht auch umgekehrte Lerneffekte möglich wären).1
Obgleich es weder „die“ soziologische noch „die“ historische Methode gibt,
können die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Diszipli-
nen nur herausgearbeitet werden, wenn eine grundsätzliche Vorstellung über
den Kern des methodologischen Paradigmas innerhalb der jeweiligen Disziplin
besteht. Der erste Schritt meines Methodenvergleichs bestand deshalb im Her-
ausarbeiten eines Idealtyps sozialwissenschaftlicher und historischer Sozialfor-
schung, womit keinesfalls die Kontroversen und Diversität der Debatten in den
jeweiligen Disziplinen geleugnet werden sollen.
Im Falle der Soziologie gelingt dies relativ einfach: Es existiert ein standar-
disierter Kanon des methodologischen Basiswissens, der sich in methodischen
Einführungswerken der quantitativen bzw. qualitativen Sozialforschung, im
typischen Aufbau von Methodenveranstaltungen, in den Leselisten der jeweili-
gen Sektionen der DGS, in methodologischen Debatten in Fachzeitschriften
und im Mainstream der Forschungspraxis niederschlägt. Betrachtet man diese
Methodendebatten im Überblick, so lassen sich einige typischen Merkmale
sozialwissenschaftlicher Forschung festhalten:
1 Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass
sich dieser Text nicht an historische Sozialforscher, sondern gerade an diejenigen
Soziologen richtet, die gegenwartsbezogen arbeiten und die kaum oder nur wenige
Berühungspunkte zwischen soziologischen und historischen Methoden sehen.
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1) Trennung von Theorie und Methoden: Zumindest in der Lehre werden Theorie
und Methoden weitgehend getrennt behandelt. Auch theoretische Debatten
und soziologische Methodenforschung verlaufen weitgehend getrennt (Baur
2005, S. 38-45). Verbunden werden die theoretischen und methodischen
Kenntnisse erst in den speziellen Soziologien. Die dort angesiedelten Spezial-
debatten führen oft zu methodischen Innovationen zur Beantwortung spezifi-
scher gegenstandsbezogener theoretischer Fragen, diese werden allerdings
selten in die allgemeine Methodendebatte rückgeführt (Baur 2005, S. 61).
2) Scharfe Trennung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung:
Die Methodenforschung und -lehre ist seit Jahrzehnten durch einen Paradig-
men-Krieg zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung geprägt
(Bryman 1988, Oakley 1999). So enthalten Lehrbücher zur „empirischen So-
zialforschung“ i.d.R. ausschließlich Informationen über „quantitative Sozial-
forschung“. Wenn überhaupt ein qualitatives Verfahren erwähnt wird, ist es
die Inhaltsanalyse, die ja eine „Brücke“ zwischen qualitativer und quantitati-
ver Analyse darstellt (Hollstein/Ullrich 2002). „Empirische Sozialfor-
schung“ wird „Nicht-Methodikern“ als „quantitative Sozialforschung“ prä-
sentiert. Verstärkt wird dieses Bild der Methoden dadurch, dass Lehrbücher
zu qualitativen Verfahren das Wort „empirische Sozialforschung“ i.d.R.
nicht im Titel tragen und ebenso einseitig qualitative Verfahren darstellen. In
keinem dieser Texte finden sich Hinweise auf historische Sozialforschung
(Baur 2005, S. 38-45).
3) Fokussierung auf die Phasen der Datenerhebung und –auswertung: Neben
dem Paradigmenstreit kreise der Großteil der soziologischen methodischen
Debatten in den vergangenen Jahrzehnten um Fragen der Datenerhebung und
–auswertung. Sowohl im Bereich der statistischen, als auch im Bereich der
qualitativen Analyseverfahren wurden wesentliche Methodenfortschritte erzielt.
Weitgehend ausgeblendet bleibt dagegen der Bereich der Datenaufbereitung.
4) Ideal der Zufallsstichprobe in der quantitativen Sozialforschung: Quantitati-
ve Sozialforscher versuchen i.d.R. nicht nur, eine Zufallsstichprobe herzu-
stellen, sie gehen bei der Auswertung meist auch davon aus, dass es gelun-
gen ist, eine solche herzustellen. Dies zeigt sich daran, dass die induktive
Statistik ein selbstverständlicher Bestandteil quantitativer Analysen ist. Vor-
aussetzung für die Anwendung der schließenden Statistik ist allerdings immer
eine Wahrscheinlichkeitsauswahl, d.h. es dürfen keine systematischen Verzer-
rungen etwa infolge von Nonresponse auftreten (Baur/Florian 2008). Die qua-
litative Sozialforschung sucht nach geraumer Zeit nach alternativen Daten-
auswahlstrategien, etwa eine bewusste Auswahl oder Theoretical Sampling.
5) Befragung und Beobachtung als bevorzugte Datenquellen: Während die
frühen Soziologen durchaus auch prozessproduzierte Daten verwendeten,
gilt spätestens seit René König die Befragung als „Königsweg der empiri-
schen Sozialforschung“, vor allem in ethnographischen Studien wird zusätz-
lich auf die Beobachtung zurückgegriffen (Scheuch 1974). Auch heute noch
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bevorzugen Soziologen Primärerhebungen und Sekundäranalysen von spezi-
fisch für sozialwissenschafliche Forschung erhobenen Befragungs- und Be-
obachtungsdaten. Dies spiegelt sich in Methodeneinführungen in die qualita-
tive und quantitative Sozialforschung gleichermaßen insofern nieder, dass
die Prinzipien der Befragung sehr ausführlich, die der Beobachtung schon
kürzer erläutert werden. Prozessgenerierte Daten werden entweder gar nicht
erwähnt oder nur auf wenigen Seiten knapp abgehandelt, was angesichts der
Komplexität dieses Datentyps
Im Fall der Geschichtswissenschaft gestaltete es sich für eine „Fachfremde“
insofern schwieriger, einen Überblick über die typische Behandlung von Me-
thodenproblemen zu erlangen, als dass die Methodenausbildung von Histori-
kern i.d.R. nicht in eigenen Methoden-Veranstaltungen, sondern im Rahmen
von allgemeinen Einführungen oder thematischen Seminaren stattfindet. Aus
diesem Grund habe ich versucht, typische Herangehensweisen von Historikern
mit Hilfe einer Metaanalyse der folgenden Texte herauszuarbeiten:2
– dem Werk bekannter Historiker, aus dem ich ihre Methodologie rekon-
struiert habe, namentlich Georges Duby, Philippe Ariès und Fernand Brau-
del. Diese Historiker habe ich ausgewählt, weil ihre empirischen Arbeiten
denen von Soziologen durchaus ähneln.
– Äußerungen dieser Historiker direkt zu Forschungsmethoden bzw. zum
Forschungsprozess.
– Einführungen in die Geschichtswissenschaft, da Historiker viele methodolo-
gische Probleme unter dem Begriff „Geschichtstheorie“ diskutieren.
– an Historiker gerichtete Methodenbücher. Hierzu gehören Einführungen in
die historische Quellenarbeit und Texte, die sich mit quantitativen Analyse-
methoden in der Geschichtswissenschaft und deren Verhältnis zu qualitati-
ven Methoden befassen.
– Texte über die Besonderheiten der historischen Methoden, den Unterschied
zwischen historischen und sozialwissenschaftlichen Methoden, das Verhält-
nis von Soziologie und Geschichtswissenschaft sowie über Möglichkeiten,
diese disziplinären Grenzen in einer historischen Soziologie zu überwinden,
2 Ich argumentiere idealtypisch: Ich bin mir wohl bewusst, dass nicht alle Historiker in allen
Punkten übereinstimmen, und dass Vieles des hier Gesagten gerade für die historische
Sozialforschung nicht gilt.. Ebenso bewusst ist mir, dass sich historische Methoden ebenso
gewandelt wie soziologische. Während beispielsweise Historiker bis etwa zum 2. Weltkrieg
vor allem qualitativ arbeiteten, wurde in Frankreich seit 1960ern verstärkt quantitativ ge-
forscht. Wie in der Soziologie gab es zunächst einen Methodenstreit, der heute aber weitge-
hend beigelegt ist. Zur methodologischen Entwicklung der historischen Soziologie, vgl.
Insbesondere Ruloff 1985 und Schröder 1994.
Um die Lesbarkeit des Textes zu erleichtern, verzichte ich im Folgenden auf Zitationen, es
sei denn bestimmte Aussagen lassen sich auf einen konkreten Autor zurückführen. Gerne
stelle ich Interessierten das vollständige Literaturverzeichnis der verwendeten Texte zur
Verfügung.
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wobei ich für diesen ganzen Bereich auch Texte von Soziologen berücksich-
tigt habe.
Im Folgenden werde ich den so konstruierten Idealtypus historischer Methodolo-
gie dem Idealtypus soziologischer Methodologie gegenüberstellen. Hierzu erörte-
re ich zunächst einige allgemeine Prinzipien des empirischen Vorgehens und
widme mich dann einzeln den Phasen des Forschungsprozesses, namentlich der
Stichprobenziehung, der Datenerhebung und der Datenaufbereitung. Ich setze
dabei typische soziologische Herangehensweisen an empirische Probleme als
bekannt voraus und beschränke mich darauf darzustellen, wie historische Me-
thodologien hiervon abweichen und was hieraus für die Soziologie folgt.
2. Allgemeine Forschungsprinzipien
2.1 Methodologischer Individualismus
Da menschliches Denken und Handeln den Ablauf der Ereignisse (= Geschichte)
bestimmen, sind diese auch Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Für So-
ziologen und Historiker ist demnach der Mensch gleichermaßen Träger der
Geschichte und damit der methodologische Individualismus oberstes Primat,
auch wenn es um die Erforschung kollektiven Handelns geht:
„[D]er gute Historiker [gleicht] dem Menschenfresser im Märchen. Seine Beute
weiß er dort, wo er Menschenfleisch wittert“ (Bloch 2002, S. 30).
2.2 Der Forschungsprozess als Spirale
Wie aber rekonstruiert man menschliches Denken und Handeln? Ebenso wie
bei Soziologen gleicht auch bei Historikern der Forschungsprozess einer Spira-
le: Ausgehend von ihrem Vorwissen formulieren Historiker eine Forschungs-
frage. Sie müssen sich für einen bestimmten Datentyp entscheiden, Datenträger
auswählen, Daten erheben, aufbereiten, bereinigen und auswerten. Durch den
Forschungsprozess gewinnen sie neues methodisches, theoretisches und inhalt-
liches Wissen. Dieses halten sie (teilweise) im Forschungsbericht fest. Die
Erkenntnisse aus diesem und früheren Forschungsprozessen gehen außerdem
als Vorwissen in künftige Forschungsvorhaben ein. Historiker bezeichnen ihr
Vorgehen allerdings mit anderen Begriffen als Soziologen. Daten heißen in der
Geschichtswissenschaft „Quellen“ oder „Spuren“, weshalb ich im Folgenden
diese Begriffe synonym mit dem Begriff „Daten“ verwende. Wenngleich His-
toriker den Begriff „Quelle“ unterschiedlich definieren, kann man doch Quel-
len als „alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen [bezeichnen], aus denen
Kenntnis über die Vergangenheit gewonnen werden kann“ (Paul Kirn 1968,
zitiert nach Opgenoorth 1997, S. 40). Vor der Auswertung überprüfen Histori-
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ker Quellen auf ihre Echtheit, bereinigen und bewerten sie bezüglich der For-
schungsfrage. Sie meinen damit dasselbe wie Soziologen mit „Datenaufberei-
tung und -bereinigung“.
2.3 Quantitatives versus qualitatives Paradigma
Wie Soziologen arbeiten Historiker und historische Sozialforscher sowohl
qualitativ als auch quantitativ (Ruloff 1985, S. 57-69; Best/Schröder 1988;
Schröder 1994): Die „histoire sérielle“ bzw. die Kliometrie sind ungefähr eben-
so alt wie die quantitative empirische Sozialforschung. Die Grenze zwischen
Soziologie und Geschichtswissenschaft lässt sich also nicht am Standardisie-
rungsgrad der Daten festmachen. Welche Herangehensweise Historiker wäh-
len, hängt von einer Reihe von Faktoren ab:
1) Nicht alle Themen eignen sich zur Quantifizierung. Für verschiedene inhalt-
liche Bereiche liegen höchst unterschiedliche Quellen vor. Beispielsweise
existieren zahlreiche historische Wirtschaftsdaten, die leicht quantifiziert
werden können, während Einstellungen und Mentalitäten nur indirekt über
qualitative Methoden erschlossen werden können. Für die Sozialwissen-
schaften gilt umgekehrt, dass – über die Einstellungs- und Meinungsfor-
schung – Einstellungen gut standardisiert erfragt werden können. Für viele
Themen z. B. aus den Bereichen der politischen Soziologie, der Lebenslauf-
forschung oder der Arbeitsmarkt- und Berufforschung stehen mittlerweile
Datensätze aus früheren sozialenwissenschaftlichen Surveys (z. B.
ALLBUS, SOEP, ISSP, ESS) oder Mikrodaten der amtlichen Statistik; (z. B.
Mikrozensus, EVS, IAB-Beschäftigungsstichprobe) für Sekundäranalysen
zur Verfügung (Diekmann 2006, S. 9, 15-16; Wirth/Müller 2006), die erlau-
ben, sowohl Einstellungen als auch faktisches Verhalten spezifischer Subpo-
pulationen zu erfassen – allerdings nur für die jeweils erfassten bzw. unter-
suchten Lebensbereiche. Auch in der Soziologie existieren Forschungsgebie-
te, die aus unterschiedlichen Gründen schwer der Quantifizierung zugäng-
lich sind, etwa weil eine spezifische Subpopulation schwer zugänglich ist
(z. B. Obdachlose, Opfer häuslicher Gewalt, Rechtsextreme) oder weil sich
die Betroffenen des gesamten Interaktionsgeflechts nicht bewusst sind bzw.
es nicht überschauen (z. B. in Organisationen oder auf Märkten).
Historiker weisen des weiteren darauf hin, dass quantitative Daten oft nur
einen bestimmten Aspekt eines Problems erhellen, quantitative und qualita-
tive Forschung also einander ergänzen. So zeigt etwa Grunow (2006) mit
Hilfe einer Ereignisanalyse, dass nach wie vor viele deutsche Frauen nach
der Geburt des ersten Kindes dauerhaft aus dem Beruf aussteigen. Die Auf-
teilung zwischen Erwerbsarbeit, Kindererziehung und Hausarbeit wird nicht
– im Sinne der Rational Choice-Theorie – zwischen Partnern ständig neu
verhandelt. Vielmehr werden sie zu Beginn der Partnerschaft und bei Geburt
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des ersten Kindes festgelegt und bleiben dann relativ stabil (Grunow 2007).
Keddi (2003) zeigt mit Hilfe einer Deutungsmusteranalyse von Leitfaden-
Interviews, warum dies so ist: Menschen verfolgen verschiedene Lebens-
themen. Beziehungen zwischen Partnern mit denselben Lebensthemen sind
besonders wahrscheinlich und beständig. Jedes Lebensthema impliziert eine
spezifische geschlechtliche Arbeitsteilung. Teilen zwei Partner dasselbe Le-
bensthema, ist relativ klar, wer was zu tun hat. Beim Lebensthema „Familie“
streben die Partner z. B. nach der Geburt des ersten Kindes das Modell des
männlichen Ernährers an, beim Lebensthema „Doppelorientierung Beruf
und Familie“ versuchen die Partner, eine möglichst egalitäre Arbeitsteilung
zu realisieren. Sobald sich die Arbeitsteilung eingependelt hat, ist sie stabil.
Qualitative und quantitative Forschung sind in diesem Fall also komplemen-
tär (Erzberger/Kelle 1999) und beleuchten unterschiedliche Aspekte eines
Problems.
2) Nicht für alle Epochen existieren quantifizierbare Daten. Insbesondere aber
für die Zeit ab dem 16. Jh. findet man sehr viele Quellen, die sich inhaltlich
und im Aufbau ähneln, deren Interpretation nicht sehr schwer ist und die
sich deshalb zur quantitativen Aufbereitung eignen. Oft sind die Daten aber
nicht in genügender Zahl vorhanden oder eignen sich nicht für die statisti-
sche Bearbeitung, da sie nur schwer vergleichbar sind (vgl. Abschnitt 3).
Dies ist für die Soziologie einerseits relevant, da zahlreiche soziologische
Theorien – etwa die Weltsystemanalyse (Wallerstein 1986) oder Moderni-
sierungstheorien (z. B. Münch 1986; Schwinn (Hg.) 2006) – über Jahr-
hunderte dauernde Prozesse modellieren. Für derartige Fragestellungen sind
Daten aus solchen Epochen erforderlich.
Andererseits liegen sozialwissenschaftliche Umfragedaten frühestens seit
1940ern vor (Baur 2004). Sollen Längsschnittsanalysen für längere Zeiträu-
me oder für neue Fragestellungen (zu denen also früher niemand befragt
wurde) durchgeführt werden, muss notgedrungen auf prozessproduzierte Da-
ten zurückgegriffen werden. Deren Zahl nimmt zwar kontinuierlich zu und
viele lassen sich leicht quantifizieren (Diekmann 2006, S. 9; Baur 2004),
dies ist aber nicht immer (leicht) möglich, z. B. wenn man Veränderungen
des Lebensstils türkischer Migranten seit den 1970ern untersuchen wollte.
3) Je höher der Standardisierungsgrad ist, desto stärker muss der Forscher
i. d. R. interpretieren: Häufig sind aufwändige (qualitative) Interpretations-
akte notwendig, um überhaupt zu quantitativen Daten zu gelangen. Quantita-
tiv auswertbare Daten werden aus Quellenmaterial erst konstruiert. De facto
ist damit der Interpretationsaufwand bei quantitativen Verfahren oft höher
als bei qualitativen: Man muss erst dieselben Methoden der Quellenkritik
anwenden, um bestimmen zu können, wie die Quelle interpretiert werden
darf. Darauf aufbauend muss man sich überlegen, wie man aus verschiede-
nen ähnlichen, aber nicht völlig gleichartigen Quellen Zahlen gewinnt:
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Wenn wir in Archiven mehr Berichte über Unruhen zu einem bestimmten
Zeitraum finden, heißt dies, dass es in dieser Zeit besonders viele Unruhen
gab? Oder heißt dies einfach, dass die Verfasser einfach mehr der Unruhen
notierten? Welcher Anteil der Unruhen wurde überhaupt registriert? Und
welche Art von Unruhen wurden erfasst? Blieb die Definition einer „Unru-
he“ über die Zeit hinweg immer gleich? Wenn sie sich änderte, wie wirkte
sich das auf die Berichterstattung aus? Weist die Berichterstattung Lücken
also auf? Warum? Weil bestimmte Ereignisse von den Zeitgenossen für un-
wichtig befunden wurden? Weil die Nachwelt das Wissen um diese Ereig-
nisse für unwichtig hielt oder es verdrängen wollte und die Archive oder
Teile von ihnen zerstörte? Weil bestimmte Daten in den Wirren der Zeit
durch Zufall zerstört wurden? Haben Schreiber vielleicht bestimmte Ereig-
nisse erfunden oder falsch überliefert?
All diese Fragen sind nur schwer zu klären. Sie müssen aber beantwortet
werden, bevor man aus den Quellen reliable Datensätze konstruieren kann.
Bei der Kodierung der Daten stellen sich neue Probleme: Der Historiker
wählt bestimmte Informationen aus bestimmten Quellen aus, andere werden
nicht im Datensatz erfasst.
Wie (interpretations)aufwändig die nachträgliche Konstruktion von Da-
tensätzen ist, zeigt z. B. Windolf, der mit Hilfe verschiedener Datenquellen –
darunter Geschäftsberichte und Finanzdaten – eine Unternehmensdatenbank
aufbaute und so den Wandel der Unternehmenskontrolle in Deutschland und
Frankreich Ende der 1990er nachzeichnen konnte (Beyer/Windolf 1995;
Windolf 2002). Windolf (2002) weist mit Hilfe dieser Daten nach, dass sich
derzeit der Rheinische Kapitalismus an das angelsächsische Unternehmens-
kontrollsystem annähert. In einem Folgeprojekt baute Forschungsprojekt
baut Windolf (2007) einen vergleichbaren Datensatz für die Jahre 1896,
1914, 1924, 1932 und 1938 auf (und erweiterte die Datenbasis um die USA).
Ein zweites Beispiel aus der Soziologie ist das Projekt „unempol“ (Gi-
ugni/Statham 2002): Um den Wandel des Diskurses über die Arbeitslosig-
keit erfassen zu können, kodierten Baum und Lahusen (2004) mit Hilfe eines
fast 70seitigen Codebuchs Claims über Arbeitslosigkeit, die in Zeitungsarti-
keln der SZ zwischen 1995 bis 2002 gemacht wurden. Mit Hilfe des so kon-
struierten Datensatzes kann man nachzeichnen, welche Akteure sich wann
und wo wie häufig geäußert haben und zu welchen Themen sie sich unge-
fähr geäußert haben. Man kann aufzeigen, ob und inwiefern sich diese Kons-
tellationen im Lauf der Zeit gewandelt haben (Giugni/Statham (Hg.) 2005;
Lahusen 2006). Z. B. zeigt sich für Deutschland, dass im Jahr 1997 das
Thema „Arbeitslosigkeit“ plötzlich wesentlich häufiger diskutiert wurde als
zuvor und dass die Diskussion danach wieder abflaute. Vertreter der Opposi-
tion kommen wesentlich seltener zu Wort als Vertreter der jeweiligen Regie-
rungspartei. Daneben diskutieren die Verbände stark mit, Arbeitslosenorga-
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nisationen und Privatpersonen kommen dagegen kaum zu Wort
(Baum/Lahusen 2004).
Ein guter Historiker ist sich stets bewusst, wie viel er interpretieren muss,
bis die Daten so aufbereitet sind, dass sie eine statistische Bearbeitung zulassen.
Statistikpakete haben Vieles erleichtert, schaffen aber auch neue Probleme:
„Computer (...) sind wunderbare Karteien, Gedächtnisspeicher ohneglei-
chen, unfehlbar, selektiv, immer bereit, Antwort zu geben. Aber eben nur
Karteien. Die Gefahr besteht darin, mehr von ihnen zu erwarten, auf den
Anschein der Wissenschaftlichkeit, den sie erwecken, hereinzufallen. Sie
sortieren, sie verteilen, sie zählen.“ (Duby 1992, S. 55)
Nachdem sich der Historiker eine Zeitlang auf einzelne Bestandteile fokus-
siert und sie aus dem ursprünglich unstrukturierten Datenmaterial herausge-
löst hat, muss er genau zu diesem Datenmaterial zurückkehren und ähnlich
wie bei qualitativen soziologischen Verfahren seine Daten immer wieder im
Zusammenhang, im Kontext ihrer Absichten und ihrer inhaltlichen Bedeu-
tung lesen.
Die Grenze zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren wird also flie-
ßend, sobald prozessgenerierte Daten eingesetzt werden. Trotz aller Einschrän-
kungen sehen Historiker quantitative Verfahren als nützliches Instrument, das
die Erklärungskraft von Modellen meist erhöht.
Die Schwächen vieler quantitativer Daten und die Notwendigkeit, statisti-
sche Informationen wieder in ihren Kontext einzubetten, sind keine Besonder-
heiten der Geschichtswissenschaft. Dieselben Probleme stellen sich Soziologen
(nicht nur bei der nachträglichen Konstruktion von Datensätzen): Jedes Lehr-
buch zur standardisierten Befragung weist auf typische Fallstricke hin. Sie
reichen von Fehlern in der Fragebogenformulierungen bis zu Stichprobenprob-
lemen. Im praktischen Forschungsprozess lassen sie sich häufig nicht vermei-
den. Bei qualitativ hochwertigen Datensätzen wie ALLBUS und SOEP sind
diese Mängel ausführlich reflektiert und dokumentiert. Diese Nachvollziehbar-
keit des Datenkonstruktionsprozesses ist aber leider nach wie vor nicht die
Regel. Entscheidend ist offenbar, dass diese Probleme in den beiden Diszipli-
nen auf sehr unterschiedliche Weise nach außen getragen werden: Historiker
machen i. d. R. in ihren Methodenkapiteln diese Schwächen ihrer Arbeiten
explizit. Dies gilt sowohl für quantitativ als auch für qualitativ arbeitende His-
toriker. Soziologen beschränken sich dagegen in Zeitschriftenartikeln meist
darauf zu erläutern, welcher Datensatz mit welcher Stichprobengröße verwen-
det und welche statistische Verfahren eingesetzt wurden. Werden diese Infor-
mationen z. B. über Zeitungen an ein breiteres Publikum weitergegeben, fallen
selbst diese Hinweise weg. Stattdessen müsste die methodische Reflexion an
einem viel früheren und wesentlich grundsätzlicheren Punkt ansetzen: Ist der
Datensatz, ist die einzelne Frage überhaupt geeignet, um die Forschungsfrage
zu beantworten? Inwieweit schränken Datenmängel die Aussagekraft bezüglich
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der Forschungsfrage ein? „Deshalb muss die Statistik der Messung, der Defini-
tion der Begriffe und der Qualität der Datengewinnung wieder mehr Aufmerk-
samkeit widmen“ (Diekmann 2006, S. 13).
2.4 Verhältnis von Theorie und Empirie
Gerade Probleme der Begriffsdefinition und der Messung verweisen auf die
Verknüpfung von Theorie und Forschungsmethoden. Darin, wie Theorie und
Empirie aufeinander bezogen werden, bestehen sowohl Gemeinsamkeiten als
auch Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen:
1) Das Vorwissen prägt die Perspektivität des Forschers – darin sind sich die
Vertreter beider Disziplinen einig: Erkenntnisinteressen entspringen teils
seinen eigenen Interessen, teils den gesellschaftliche Problemen seiner Zeit,
teils seinem Weltbild. Grundannahmen und Kategorien helfen, den Gegens-
tandsbereich zu strukturieren. Methodisch sauber arbeitende Forscher ma-
chen deshalb ihre theoretischen Annahmen explizit, damit diese von Fach-
kollegen überprüft werden können. Heute verfügen Soziologen über ein um-
fangreiches Arsenal an theoretischen Modellen, die Bestandteil ihres Vor-
wissens sind und auf die sie zurückgreifen können, wenn es darum geht,
empirische Ergebnisse theoretisch zu fassen. Diesbezüglich ist die Soziolo-
gie der Geschichtswissenschaft bis heute deutlich überlegen – mit Ausnahme
eines Themas: der Zeit (Baur 2005: 57-108).
2) Auch wenn der Forschungsprozess theoretisch vorgeformt ist, ist er doch
stets offen: Aus dem Studium der Quellen entstehen neue Fragen. Dem His-
toriker fallen Zusammenhänge ins Auge, die ebenfalls noch aufgeklärt wer-
den müssen. Um diese zu beantworten, benötigt der Historiker andere For-
men von Quellen. Dieses Vorgehen weist Parallelen zum Prinzip der Abduk-
tion (Reichertz 2003) in der qualitativen Sozialforschung auf. Auch die In-
duktion ist ein für die Geschichtswissenschaft typisches Verfahren: Mit Hil-
fe der Daten verfeinert der Historiker theoretische Modelle oder entwickelt
neue. Er versucht, Phänomene richtig zu benennen und Vorgänge und Tatsa-
chen, die als solche nicht strittig sind, richtig einzuordnen und zu beurteilen.
Immer wieder wechselt er zwischen Theorie und Daten. Dieselbe Zirkulari-
tät und Offenheit des Forschungsprozesses erinnert insbesondere an die
Grounded Theory in der Soziologie, die fordert, dass der theoretisch sensible
Forscher im Wechsel zwischen Datensammlung und -analyse schrittweise
eine gegenstandsverankerte Theorie entwickelt (Strauss/Corbin 1996).
3) Eine denkbare Arbeitsteilung zwischen Methodikern, Theoretikern und
praktischen Forschern wäre kontraproduktiv, weil sie den Blick für das
Neue verstellt: Um Zugang zu seinen Daten zu finden, muss der Historiker
über Theorien und Begriffsnetze verfügen. Ohne Rückbezug auf theoretische
Modelle kann er nicht empirisch arbeiten. Umgekehrt können Theorien ohne
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Wirklichkeitsbezug zwar eine interessante Gedankenspielerei sein. Ansons-
ten sind sie aber nutzlos für Wissenschaften wie die Geschichtswissenschaft
(und Soziologie), deren erklärtes Ziel die Modellierung sozialer Wirklichkeit
ist. Theoriebildung und empirisches Arbeiten gehen also Hand in Hand:
„Kein noch so gutes Buch eines Historikers kann die unmittelbare An-
schauung ersetzen, die aus der Lektüre von Quellen zu gewinnen ist. Es ist
der Unterschied zwischen demjenigen, der im Reiseführer über Paris liest,
und demjenigen, der in Paris lebt oder Paris besucht.“ (Sellin 1995, S. 53)
Auch und gerade von großen Forscherpersönlichkeiten wird deshalb erwar-
tet, sich in die Niederungen der Datenanalyse zu begeben.
„Der Historiker darf [deshalb] kein Sitzarbeiter, kein Bürokrat der Ge-
schichte sein, sondern er muß ein Wanderer sein, der sich seiner Pflichten
als Abenteurer und Forscher bewußt ist.“ (Le Goff 2002, S. XIX)
Während Sozialwissenschaftler sich i. d. R. auf die Weiterentwicklung von
Methoden, von Theorien oder von Wissen (z. B. in einer speziellen Soziologie)
spezialisieren, versuchen Historiker i. d. R., auf allen drei Gebieten parallel zu
arbeiten. Dies ist mühsam und zeitaufwändig. Es dauert Jahre, bis der Forscher
einen Überblick über sein Themengebiet bekommt, sich das notwendige me-
thodische Handwerkszeug angeeignet hat und tief genug in seine Daten einge-
drungen ist, dass er sie so weit versteht, bis er endlich mit der weiteren Daten-
analyse beginnen kann. Der Prozess der Theoriebildung dauert entsprechend
lange. Große Historiker und historisch arbeitende Soziologen benötigten des-
halb Jahrzehnte, um ihre Modelle zu bilden. Beispiele für die Soziologie sind
Karl Marx, Max Weber, Georg Simmel und Norbert Elias, und für die Ge-
schichte Fernand Braudel, Georges Duby und Philippe Ariès.
Viele Forschungsfragen übersteigen die Möglichkeiten des einzelnen For-
schers. Historiker fokussieren deshalb meist auf ein Thema, einen bestimmten
Raum, eine Handlungsebene, eine Epoche und eine Zeitschicht.3 Fragestellun-
gen, die einen größeren zeitlichen oder räumlichen Rahmen betreffen, werden
in Gemeinschaftsprojekten bearbeitet. Beispiele sind die internationalen Groß-
projekte „Geschichte der Frauen“ (Duby/Perrot (Hg.) 1993-1995) und „Ge-
schichte des privaten Lebens“ (Ariès/Duby (Hg.) 1989-1993): Erfahrene und
renommierte Historiker erstellen den theoretischen Rahmen und unterteilen das
Projekt in Unterprojekte, deren Leitung anderen erfahrenen Forschern übertra-
gen wird. Sowohl die „Geschichte der Frauen“ als auch die „Geschichte des
privaten Lebens“ sind nach Epochen geordnet. Jedes dieser Unterprojekte wird
weiter in Teilprojekte untergliedert, die jeweils einem Experten zugeteilt wer-
den. So können Themen in einer Bandbreite und in einem Detaillierungsgrad
3 Die Zeitschicht bzw. Dauer bezeichnet die Veränderungs- bzw. Wiederholungsgeschwindig-
keit, mit der sich sozialer Wandel vollzieht. In der Geschichtswissenschaft wird klassisch
zwischen kurzer, mittlerer und langer Dauer unterschieden (Braudel 1958; Koselleck 2000).
13
empirisch bearbeitet werden, wie sie ein einzelner Forscher in seiner gesamten
Lebenszeit nicht bearbeiten könnte. Gleichzeitig beziehen sich die Themen
aufeinander – die Projektleitung wacht über die Integration in das theoretische
Gesamtmodell.
3. Stichprobenziehung
Während Soziologen das Problem der Totalausfälle fast ausschließlich im
Rahmen von Nonresponse bei Befragungen diskutieren und nach wie vor rela-
tiv wenig über Verweigerer wissen (Engel et. al. 2004; Baur 2006), haben
Historiker der Frage, welche Typen von Totalausfällen existieren, wie sie ent-
stehen und wie sich dies auf das Forschungsergebnis auswirkt, wesentlich mehr
Aufmerksamkeit gewidmet. Verzerrungen können bei der Datenproduktion,
während der Datenaufbewahrung und bei der Datenauswahl entstehen (Baur/
Lahusen 2005).
3.1 Verzerrungen bei der Datenproduktion
Bereits wenn Informationen festgehalten werden, entstehen etwaige Verzerrun-
gen. Ein Beispiel hierfür bieten die Zeitungsartikel im oben genannten Projekt
„unempol“. Aus der Fülle möglicher Nachrichten wählen Journalisten be-
stimmte aus und berichten über diese auf eine bestimmte Weise (vgl. hierzu
ausführlich Baur/Lahusen 2005):
1) Mit der Datenproduktion verbundene Ziele: Deutsche Journalisten versu-
chen, die Öffentlichkeit zu informieren, öffentliche Meinungsbildung zu un-
terstützen und staatliches Handeln hierdurch zu kontrollieren. Gleichzeitig
stehen Zeitungen angesichts von Globalisierung und Konzentration der Me-
dien immer mehr unter Wettbewerbsdruck, so dass das Ideal des investigati-
ven Journalismus oft verletzt wird und die Grenzen zwischen Informations-
vermittlung und Unterhaltung sowie zwischen Journalismus und PR immer
mehr verschwimmen.
2) Eigenschaften des Informationsmediums: Zeitungen weisen die typischen
Eigenschaften von Schriftmedien (gegenüber anderen verbalen und visuellen
Medien) auf. Darüber hinaus weisen sie spezifische Eigenheiten auf. So vari-
iert die Auswahl von Nachrichten und die Art der Berichterstattung je nach
Artikeltyp (Leitartikel, Glosse, Leserbrief usw.), Zeitungsteil (Politik, Wirt-
schaft, Feuilleton, Sport usw.) und thematischer Ausrichtung der Zeitung als
solcher. Im Sportteil wird man z. B. i. d. R. keine Informationen über Ar-
beitslosigkeit finden. Während auf Seite 3 der SZ eher die Lebenslage eines
Arbeitslosen beschrieben wird, findet man im Wirtschaftsteil eher die aktuel-
len Arbeitsmarktdaten der BA.
14
3) Der institutioneller Kontext verzerrt Zeitungsberichterstattung erstens da-
durch, dass Zeitungen rechtliche Rahmenbedingungen berücksichtigen müs-
sen (z. B. Schutz der Persönlichkeitsrechte; Regelung zu pornographischen
Darstellungen). Zweitens stehen die meisten Massenmedien einem politi-
schen Akteur nahe (z. B. ist die FAZ eher konservativ, die SZ eher linkslibe-
ral). Drittens müssen Zeitungen die Erwartungen ihrer Leser und Anzeigen-
kunden erfüllen. Institutionen haben viertens ihre eigenen Rhythmen, wie
etwa Wahlzyklen, Pressetermine usw., so dass zu bestimmten Zeitpunkten
bestimmte Themen dominieren und andere Themen verdrängen. Über eine
Korruptionsaffäre wird während der Fußball-WM wohl wesentlich weniger
ausführlich berichtet als zu anderen Zeiten.
Nicht über jedes Ereignis werden also gleichermaßen Informationen festgehal-
ten. Nur, weil über etwas keine Informationen existieren, bedeutet nicht, dass
es nicht existiert hat. Darüber hinaus sind nicht für jede Epoche alle Datenty-
pen überhaupt verfügbar. Sozialwissenschaftler analysieren häufig primär
erhobene Daten, insbesondere Befragungsdaten (Lamnek 2005: 329). Dies ist
möglich, weil sich viele empirisch arbeitenden Sozialwissenschaftler mit The-
men beschäftigen, die einen starken Gegenwartsbezug haben und es damit
relativ wahrscheinlich ist, eine Reihe von Personen zu finden, die Experten für
dieses Thema sind bzw. eine Meinung dazu haben. Sozialwissenschaftler kön-
nen Zufallsstichproben oder theoretische Stichproben von zu Befragenden
ziehen. Verlässt man den Bereich der Zeitgeschichte, gibt es keine Augenzeu-
gen für vergangene Ereignisse – also auch niemanden mehr, den man befragen
könnte. Der Forscher muss in solchen Fällen auf andere, i. d. R. prozessprodu-
zierte Daten, zugreifen (vgl. hierzu Abschnitt 4). Wie das Beispiel der Zeitun-
gen illustriert, sind Stichproben aus prozessgenerierten Daten fast immer sys-
tematisch verzerrt.
3.2 Verzerrungen bei der Datenaufbewahrung
Je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, desto schwieriger wird es,
überhaupt Quellen aufzutreiben, da bestimmte Datentypen nicht nur entstehen
müssen – sie müssen auch die Zeit überdauern. Vor allem zwei Faktoren wir-
ken dem entgegen:
1) Bewusste Zerstörung: Daten können Brand, Krieg, Raub usw. zum Opfer
fallen. Typische Situationen für solche bewusste Zerstörungen sind bei pro-
zessproduzierten Daten Regierungswechsel: Die alte Regierung zerstört Do-
kumente, die ihr schaden könnten. Bei im Rahmen von Projekten erhobenen
Daten ist z. B. denkbar, dass ein Forscher aus Datenschutzgründen nach Pro-
jektende oder am Ende seiner Dienstzeit die erhobenen Daten vernichtet.
15
2) Natürlicher Zerfall: Aufgrund von Umwelteinflüssen zerfällt jeder Daten-
träger früher oder später auf natürliche Art und Weise. Bei manchen Daten-
trägern (wie Disketten) dauert dieser Zerfallsprozess nur wenige Jahre, bei
anderen (wie Stein) Jahrtausende.
Die einzige Möglichkeit, die Daten zu retten, ist, sie so sicher wie möglich
aufzubewahren, sie zu restaurieren und sie gegebenenfalls auf einen anderen,
neueren Datenträger zu übertragen: eine Diskette zu kopieren, ein Buch abzu-
schreiben usw. Konservierungsmaßnahmen sollten allerdings nur das allerletzte
Mittel sein, denn bei jedem Kopiervorgang sind Übertragungsfehler möglich.
In Deutschland ist zumindest die Sicherung eines Großteils der Daten aus stan-
dardisierten Befragungen sichergestellt, da die GESIS ihre Archivierung über-
nimmt. Das geplante Projekt, auch qualitative Daten zentral zu archivieren,
sollte dringend realisiert werden, um einen ähnlich hohen Qualitätsstandard der
Archivierung zu erlangen.
Daten zu überliefern, ist also mit Anstrengungen verbunden. Sie bleiben nur
erhalten, wenn Menschen sie erhalten wollen, da dies häufig sehr zeitaufwän-
dig und kostspielig ist. Insbesondere bei prozessgenerierten Daten wie Akten
oder Dokumenten sollte der sie verwendende Forscher deshalb immer fragen:
Warum nehmen Menschen solche Mühen auf sich?
1) Daten werden erhalten, wenn sie noch gebraucht werden. Beispiele sind
Akten und Urkunden, die noch rechtlich bedeutsam sind; Bücher, die noch
zur Erbauung gelesen werden; Gebäude, in denen noch jemand wohnt.
2) Insbesondere Fürsten und religiöse Führer verfallen oft dem Sammeleifer.
Erst in der Neuzeit bewahren auch „gewöhnliche“ Menschen Dinge aus
Sammelleidenschaft.
3) Quellen werden erhalten, weil sie aus Sicht der Nachwelt auf die Vergan-
genheit verweisen. Beispiele sind Denk- und Grabmäler. Diese Datentypen
sind allerdings relativ neu, weil Europäer erst im 19. Jh. ein starkes histori-
sches Bewusstsein entwickelt haben. Seit dieser Zeit werden Daten auch im
Sinne der Nationalpolitik, der Denkmalpflege und des Denkmalschutzes er-
halten.
Welche Gegenstände der Aufbewahrung für wert erachtet werden, ist ebenfalls
dem sozialen Wandel unterworfen, wie das Beispiel von Gebäuden (die im
Rahmen stadtsoziologischer Forschung wertvolle Informationen liefern kön-
nen) zeigt: In den 1950ern und 1960ern wollten die meisten Deutschen in Neu-
bauwohnungen mit modernen Fenstern, Zentralheizung und fließendem Wasser
wohnen. Sie rissen viele alte Häuser ab, um Raum für neue zu schaffen. Nur
Gegenden wie z. B. Franken waren wirtschaftlich so schwach entwickelt, dass
sich die Menschen die modernen Häuser nicht leisten konnten. Die ostdeutsche
Regierung ließ bewusst die Innenstädte zerfallen, um die Menschen in die
16
Neubaugebiete am Stadtrand zu locken. Heute sind gerade diese alten Häuser
ein unschätzbarer Luxus. Städte wie Bamberg, Weimar und Potsdam wurden
zum Weltkulturerbe ernannt – der geänderten Wertschätzung alter Gebäude
entsprechend, sollen sie nun erhalten werden. In Städten wie Stuttgart und
Frankfurt findet man dagegen fast nur noch Neubauten – auch wenn es die
alten Häuser auch hier einst gab. Dass sich das Interesse für bestimmte Daten
im Lauf der Zeit mehrmals ändern kann, verringert die Wahrscheinlichkeit,
überhaupt Daten zu finden, je weiter man in die Vergangenheit geht.
3.3 Verzerrungen bei der Datenauswahl
Selbst wenn die Daten noch existieren, muss der Forscher sie erst einmal fin-
den und die richtige Auswahl aus ihnen treffen. Hat er sie gefunden, muss er
beurteilen, warum gerade diese Daten erhalten und welche anderen möglicher-
weise verloren gegangen sind. Hier steht er vor dem Problem des hermeneuti-
schen Zirkels (I): Um Daten finden und den Selektionsprozess bei ihrer Bewah-
rung beurteilen zu können, muss der Forscher schon sehr viel über die Ge-
schichte eines Staates wissen. Akten und Urkunden lagern beispielsweise
i. d. R. in Archiven, aber in welchen? Staatliche Archive, Städte, Universitäten,
Kirchen, Unternehmen, Gewerkschaften, Parteien, Rundfunkarchive, aber auch
Privatpersonen sammeln häufig Akten eines bestimmten Typs. Hat der For-
scher einen relevanten Archivtyp identifiziert, ist die nächste Frage: Wie sind
die Akten auf verschiedene Archive desselben Typs verteilt, wie innerhalb
eines Archivs geordnet? Ältere Akten sind häufig thematisch geordnet (Perti-
nenzprinzip), jüngere nach Herkunft (Provenienzprinzip). Nach welchen Krite-
rien werden Akten kassiert? Archivare, aber auch Handbücher können bei der
Suche nach bestimmten Akten helfen. Häufig aber stößt ein Forscher zufällig
auf bestimmte Akten.
Wie schon durch das Beispiel des Diskurses über die Arbeitslosigkeit angedeu-
tet, stellen sich all diese Probleme auch in der Soziologie. Unter anderem ist es
in der Forschungspraxis eine große Herausforderung, Bevölkerungsstichproben
zu ziehen (ASI (Hg.) 2006). „Repräsentative“ Stichproben der Markt- und
Meinungsforschung sind z. B. zumindest bei Panels oft keine Zufallsstichpro-
ben. Die in den letzten Jahren in Mode gekommenen Online-Stichproben sind
willkürliche Stichproben (Behnke et. al. 2006). Selbst bei als Zufallsstichpro-
ben konzipierten Stichproben kommt es i. d. R. zu Ausfallquoten von bis zu 50
% (Schnell 1997). Diese Ausfälle hängen oft systematisch mit dem For-
schungsinteresse zusammen, weshalb die systematische Reflexion des Verzer-
rungsprozesses auch für die Soziologie hilfreich und notwendig ist.
17
4. Datenerhebung
4.1 Befragungsdaten
Für Historiker ist die Befragung auch in der Forschungspraxis nur ein Datenty-
pus von vielen (wobei im Rahmen der Oral History durchaus Befragungen
durchgeführt werden). Im Vergleich mit anderen Datenformen zählen Histori-
ker aufgrund der Selektivität der Wahrnehmung und des Vergessens, die die
Aussagen von Menschen verzerren (vgl. hierzu auch Fuchs-Heinritz 2000),
Befragungen über eigene Meinungen und selbst gemachte Erfahrungen als
höchst unzuverlässige Datenquelle. Dies gilt umso mehr, wenn sich der For-
scher – wie in den Sozialwissenschaften – für Gruppen von Menschen interes-
siert: Ob Meinungen und Erinnerungen von Menschen vergleichbar sind, muss
von Fall zu Fall entschieden werden, ist aber immer höchst fraglich.
Die Irrtumsrisiken bei Befragungsdaten verschärfen sich, wenn man die Zeit
berücksichtigt, die zwischen Geschehen und Befragung berücksichtigt. Je wei-
ter man den Blick in die Vergangenheit richtet, desto wahrscheinlicher ist es,
dass niemand mehr die Ereignisse aus erster Hand miterlebt hat. Dies kann
unter Umständen sehr schnell geschehen, wenn z. B. in Organisationen ein
Personalwechsel stattgefunden hat und die früheren Stelleninhaber nicht mehr
auffindbar sind. Auch ein Biographie- oder Lebenslaufforscher, der gescheiter-
te Beziehungen untersucht, kann Schwierigkeiten haben, beide ehemaligen
Partner aufzufinden, wenn diese den Kontakt zueinander abgebrochen haben.
In solchen Fällen kann der Forscher allenfalls Menschen finden, denen Au-
genzeugen ihr Geschichte erzählt haben. Das Wissen einer Person wurde also
auf eine andere übertragen. Bei dieser Datenübertragung können sich Fehler
einschleichen, und Geschichten können ein Eigenleben entwickeln. Je öfters
eine Geschichte erzählt wurde, desto weniger hat sie i. d. R. mit den tatsächli-
chen Ereignissen zu tun.
Diese Verzerrungsprozesse sind wiederum weder zeitlich noch kulturell in-
variant: In Kulturen ohne Schriftkultur ist die Wissensweitergabe i. d. R. stark
reglementiert. In jeder Generation geben die Alten als Träger der Vergangenheit
ihr Wissen an die Jungen weiter. Sie schulen das Erinnerungsvermögen der Jun-
gen, erzählen Geschichten so oft und achten so genau auf den exakten Wortlaut,
dass sich viele Gesetze, Geschichten, Legenden über Jahrhunderte kaum verän-
dern (Kramer 1978; Trossbach 2000). Diese Achtung vor traditionellen Texten ist
heute jedoch weitgehend verloren gegangen: Moderne westliche Erzähler sol-
len originell und kreativ sein, ihre Geschichten ausschmücken. Dank digitalem
Terminkalender ist ein exaktes Erinnerungsvermögen nicht mehr besonders
wichtig. Sofern sie nicht schriftlich fixiert sind, wandeln sich Geschichten
heute sehr schnell, so dass es entscheidend ist, Augenzeugen aufzutreiben.
Nicht nur konkrete Geschichten werden von Generation zu Generation wei-
tergegeben sondern auch das kollektive Gedächtnis. Das kollektives Gedächt-
18
nis rekonstruiert vergangene Geschehnisse, bewahrt sie und setzt sie in Bezug
zu gegenwärtigen Ereignissen. Es formt Erwartungen, die der Vergangenheit
und der Gegenwart entgegengebracht werden (Halbwachs 1985). I. d. R. erfasst
es Ereignisse umso genauer, je näher sie an der Gegenwart liegen – für die
Zeitgeschichte interessieren sich die meisten Menschen mehr als für das Mit-
telalter (Pollmann 1998), dies gilt aber nicht immer: Einzelne Ereignisse und
Epochen ragen in der kulturellen Erinnerung heraus. Die Franzosen haben z. B.
bis heute nicht die Schmach der deutschen Kaiserkrönung in Versailles verges-
sen. Der Nationalsozialismus und der Mauerfall sind Fixpunkte, um die das
deutsche Geschichtsbewusstsein kreist. Oft sind diese Erinnerungen unbewusst.
Erst durch gezieltes Nachfragen fördert man ihre Natur zutage. So verabscheu-
en fast alle Europäer Ratten – eine Folge der Pestepidemie um 13. Jh.
Das kollektive Gedächtnis umfasst weiterhin nicht nur Erinnerungen an Er-
eignisse sondern auch Bräuche, Lebensweisen, Institutionen, Rollenmuster. In
ihnen werden typische Lösungen für typische Probleme verfestigt. Diese Insti-
tutionen erleichtern die Bewältigung des Alltags. Auch auf diese Aspekte der
Erinnerung kann der Forscher zugreifen, wobei dies immer schwerer wird, da
das kollektive Gedächtnis infolge der Beschleunigung sozialen Wandels immer
instabiler wird (Lübbe 1990; Cavalli 1991; Heitmeyer 1991; Osten 2006).
4.2 Prozessproduzierte Daten
Da sich Historiker meistens mit Themen beschäftigen, zu denen sie weder
Interaktionsmuster beobachten noch Personen befragen können, müssen sie
zwangsweise alternative Quellen finden, aus denen man Erkenntnisse für
menschliches Handeln und Denken ziehen könnte, so etwa Akten, Urkunden,
Literatur, Poesie, Musik, Karten, Filme, Fotografien, Malerei, Skulpturen, aber
auch die gebaute Umwelt (z. B. Gebäude und Landschaften), Alltagsgegens-
tände (z. B. Waffen, Geschirr, Werkzeuge) und bis heute fortlebende Tatsachen
und Muster wie unsere Sprache, Bräuche, Institutionen. Die fremdsprachlichen
Bestandteile unserer Muttersprache sagen z. B. sehr viel über regelmäßigen,
vergangenen Umgang mit Menschen anderer Regionen aus. Man kann sagen ...
„(...) dass die ganze Welt, in der wir leben, historische Quelle oder – wie man
auch sagen kann – Überlieferung ist. Die Welt ist Geschichte. Man muß nur se-
hen lernen. (...) Jede Tradition verweist als solche zurück auf ihre Ursprünge und
auf ihr Fortwirken bis in die Gegenwart. Insofern ist die heute bestehende Tradi-
tion eine unmittelbare Erkenntnisquelle für geschichtliches Leben.“ (Sellin
1995, S. 45).
Auf welche Datentypen ein Forscher zurückgreifen kann, hängt dabei stark von
der untersuchten Epoche ab. In Europa zeugen bis zum 10. Jh. fast ausschließ-
lich archäologische Funde von vergangenem sozialen Leben: Landschaften,
Gebäude, Friedhöfe, in Stein gehauene, auf Stein gemalte Darstellungen und
relativ verwitterungsresistente Alltagsgüter wie zu Scherben zerfallene Krüge
19
oder vom Rost zerfressene Schwerter. Die Schrift war mit der Völkerwande-
rung weitgehend verloren gegangen. Vom 10. Jh. zeugen bereits mehr Bauten,
und die Zahl der schriftlichen Quellen, vor allem aus Klöstern, nimmt zu.
Zwischen 1300 und 1350 veränderten die Menschen in wenigen Jahrzehnten
drastisch ihre Lebensweise, was sich auch auf die Datenlage auswirkt: Die
Menschen interessierten sich stärker als früher für Gegenstände und Äußerlich-
keiten. Die Kunst wandte sich dem Realismus zu. Die Malerei wurde zur wich-
tigsten Kunstgattung – weshalb ab nun zahlreiche Bilder möglichst realistisch
Menschen in sozialen Zusammenhängen darstellen. Literarische Darstellungen
widmen sich mehr und mehr dem Privatleben. Die Zahl der schriftlichen Do-
kumente und Archive nimmt zu. Der Staat wurde immer mächtiger und stärker.
Ab dem 14. und 15. Jh. versuchen Herrscher, ihre Bürger immer lückenloser
zu kontrollieren und ihre Ressourcen effizienter zu nutzen. Sie führten Unter-
suchungen durch, um herauszufinden, was in den Köpfen ihrer Bürger vorging.
Sie verlangten Auskunft über Besitz und Eigentum. Sie protokollierten alle
internen Vorgänge. Die Zahl der Akten explodiert.
Auch wenn solche Informationen fehlen, existieren oft mehr Quellen, als
man denkt. Sobald wir das Haus verlassen, befinden wir uns in einer gewach-
senen Umwelt: Menschen haben sie in der Vergangenheit zu einem bestimmten
Zweck geformt: um zu wohnen, um sich zu entspannen, um jemanden zu ver-
ehren usw. Allein schon eine Landschaft kann uns sehr viel über gegenwärtige
und vergangene Handlungsmuster erzählen, wenn wir uns nur die Mühe ma-
chen, sie zu deuten.
Die Datenfülle der heutigen Zeit ist nicht nur Segen, sondern auch Fluch.
Die Unmenge von Informationen, die uns jeden Augenblick umflutet, verstellt
häufig den Blick auf das Wesentliche. Hinzu kommt, dass wir als Zeitgenossen
in die Geschehnisse eingebunden sind. Während wir uns von Ereignissen in der
nahen Vergangenheit kaum distanzieren können, können wir Ereignisse in der
fernen Vergangenheit viel klarer sehen.
Daten zu erheben, ist für Historiker also mit viel Aufwand und Mühe ver-
bunden. Von ihrer Kreativität im Aufspüren von Daten können sich Soziologen
inspirieren lassen, denn oft können aus anderen Datentypen auch andere Arten
von Informationen gewonnen werden.
Alle Bemühungen, Daten zu finden, die den Forscher seinem Forschungsziel
ein Stück näher bringen, können scheitern. Manche Informationen sind auf
immer verloren. Der Forscher hat keinerlei Möglichkeit, sie zu rekonstruieren.
Solche Lücken sollte der Forscher offen zu geben, statt sie zu vertuschen zu
versuchen:
„Die Erforscher der Vergangenheit sind nämlich keine völlig freien Menschen.
Die Vergangenheit ist ihre strenge Gebieterin. Sie läßt nicht zu, daß sie etwas
über sie in Erfahrung bringen, das sie ihnen nicht (...) preisgegeben hat. (...) Es
ist nie angenehm, ‚ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen‛ sagen zu müssen.
Man darf es erst sagen, nachdem man mit ganzer Kraft, verzweifelt gesucht hat.
20
Aber es gibt Momente, in denen die oberste Pflicht des Wissenschaftlers (...)
darin besteht, sich in sein Nichtwissen zu fügen und es auch ehrlich zuzugeben.“
(Bloch 2002, S. 68-69)
5. Datenaufbereitung und -bereinigung
Sozialwissenschaftliche Methodenbücher beschäftigen sich i. d. R. mäßig mit
Stichprobenproblemen, ausführlich mit Problemen der Datenerhebung und
überspringen dann die Phase der Datenaufbereitung und -bereinigung. In der
empirischen Praxis nimmt zwar die Datenaufbereitung i. d. R. sehr viel Zeit in
Anspruch, dies beschränkt sich aber meist (bei qualitativer Sozialforschung)
auf Transkription der Interviews, Ordnen sowie Einlesen in ein QDA-
Programm bzw. (bei quantitativer Sozialforschung) auf Einlesen der Daten in
eine Datenbank, Auffinden und Beseitigung fehlender Werte und gefälschter
Interviews sowie Umformen der Variablen für die Auswertung.
Dieser in der Forschungspraxis bereits relativ hohe Zeitaufwand ist gering
gegenüber dem, den Historiker auf die Datenaufbereitung verwenden. Letztere
reflektieren wesentlich stärker die Stärken und Schwächen bestimmter Daten-
typen im Verhältnis zueinander und in Bezug auf die spezifischen Daten und
das spezifische Forschungsthema. Die Datenbereinigung und aufbereitung ist
für sie eine, wenn nicht die zentrale Phase des Forschungsprozesses, wobei sie
hier bei qualitativer und quantitativer Forschung gleichermaßen eine interpreta-
tive Herangehensweise wählen.
Grundsätzlich ist allen Daten gegenüber ein gesundes Misstrauen ange-
bracht. Jede Quelle verschleiert den Blick auf das, was Menschen tatsächlich
gedacht oder getan haben. Um die Aussagekraft der Quelle beurteilen zu können,
unterteilen Historiker die Phase der Datenaufbereitung in kleinteilige Schritte
(Theuerkauf 1997, S. 19):
1) Der ersten Annäherung an die Quelle folgt die ...
2) ... Quellenanalyse, also die Untersuchung der einzelnen Merkmale der Quelle.
3) In der Phase der Quellensynthese (oder Quelleninterpretation im engeren
Sinne) betrachtet der Forscher die Quelle in ihrer Gesamtheit und ordnet sie
in soziale Zusammenhänge ein.
4) Die Quellenkritik dient dazu, unter Berücksichtigung der Quellenanalyse
und -synthese Werturteile und Tatsachen zu erschließen, also festzustellen,
was die Quelle bezüglich des Forschungsinteresses aussagt.
5) Es folgt ein Vergleich mit anderen Quellen(gruppen und –sorten).
6) Am Ende der Datenaufbereitung steht eine zusammenfassende Charakteris-
tik der Quelle.
21
Das Beispiel von alten Dokumenten zeigt, wie aufwändig und problembehaftet
diese Forschungsphase ist: Nachdem der Forscher seine Quellen aus verstreu-
ten Archiven zusammengesucht hat, muss er schwer entzifferbare Handschrif-
ten transkribieren. Um das Dokument lesen zu können, muss er die Sprache
beherrschen, in der es geschrieben ist. Wurde das Manuskript nachträglich
korrigiert oder durch Einschübe ergänzt, muss der Forscher den Autor dieser
Zusätze identifizieren. Existieren mehrere Versionen desselben Textes, muss er
Entwürfe vom fertigen Dokument, dieses wiederum von späteren Kopien un-
terscheiden und diese Texte zeitlich ordnen. Sind Texte nicht datiert, muss er
die Entstehungszeit ermitteln oder zumindest eingrenzen. Der Forscher muss
überprüfen, ob die Quelle echt ist. Er muss kenntlich machen, was inhaltlich
zusammengehört und worauf sich welche Texte beziehen. Werden Namen und
Orte genannt, muss er diese identifizieren und beschreiben. Sorgfältige For-
scher erstellen einen Regest, eine knappe Inhaltsangabe, die über den Inhalt
jeder Quelle informiert. Ein Zeit-, Personen- und Sachregister erleichtert das
spätere Auffinden von Informationen. Damit andere diese aufwändige Arbeit
nicht wiederholen müssen, stellen Historiker häufig Quelleneditionen für ande-
re zur Verfügung. Derart gut aufgearbeitete Daten sind in der quantitativen
Sozialforschung nur vereinzelt (z. B. ALLBUS), in der qualitativen Sozialfor-
schung gar nicht erhältlich.
Verwendet ein Historiker eine Quellenedition, überprüft er zunächst, welche
Konzeption sie hat und was das für sein eigenes Forschungsinteresse bedeutet,
also z. B. ob die Daten auch so vollständig wie möglich sind und ob bei der
Erstellung der Quellenedition Fehler gemacht wurden. Dasselbe sollten Sozi-
alwissenschaftler auch tun, wenn sie Sekundärdaten analysieren. Doch wer
macht sich wirklich die Mühe, Daten des Statistischen Bundesamtes, der
GESIS oder des DIW kritisch zu hinterfragen? Selbst wenn der Forscher diese
Überlegungen anstellt, finden sie praktisch nie ihren Weg in den Forschungsbe-
richt – bei Historikern dagegen schon.
Die nächste Frage, die sich ein Historiker stellt, ist: Wie aussagekräftig sind
diese spezifischen Daten bezüglich der Forschungsfrage? Wie sehr kann man
den Fragen, die die Quelle zu beantworten scheint, tatsächlich trauen? Ver-
fälscht der Urheber Informationen, interpretiert der Forscher die Quelle richtig?
Der Historiker versucht also zu verstehen, was der Urheber der Quelle mit
dieser bezweckt hat, was die Quelle über den Wirklichkeitsbereich aussagt, für
den sich der Forscher interessiert (vgl. hierzu auch Lamnek 2005, S. 59-77).
Mit Hilfe der Methode des (Sinn-)Verstehens versucht der Forscher, Tatsachen
zu identifizieren:
„Die Geschichtswissenschaft, so kann man sagen, dient der Erforschung der
Vergangenheit. Die Vergangenheit ist ein wirklich abgelaufenes Geschehen, das
sich ohne unser Zutun vollzogen hat, ein Meer von Tatsachen, die sich teils
gleichzeitig, teils nacheinander ereignet haben. Die Ermittlung von Tatsachen
22
erscheint demnach als eine vordringliche, vielleicht als die zentrale Aufgabe der
Geschichtswissenschaft.“ (Sellin 1995, S. 17)
Die Absichten des Urhebers der Quelle kann der Forscher nur unter drei Be-
dingungen verstehen:
1) Er muss die spezifischen Eigenschaften des Datenträgers kennen. Will je-
mand beispielsweise über ein bestimmtes Ereignis und seine Meinung hierzu
berichten, hat er bei geschriebenen Texten ganz andere Möglichkeiten als
bei einem Bild. Da Sozialwissenschaftler sich so sehr auf die Befragung
konzentrieren, wissen sie oft wenig über die Eigenheiten anderer Datenträger.
2) Eine Quelle kann nur in ihrem Entstehungskontext verstanden werden. Dies
gilt sowohl für die Deutung des Mediums selbst wie auch für die Absichten,
die hinter dem Inhalt stehen, der mit Hilfe des Mediums transportiert wird
(wie bereits die obigen Erläuterungen zur Selektivität der Datenproduktion
zeigen). Briefe beispielsweise wurden im Mittelalter vor allem zu offiziellen
Anlässen verfasst. Erst in der Neuzeit nahm der persönliche Brief an Bedeu-
tung zu. Entsprechend haben sich Formtraditionen verändert. Kennt ein For-
scher diese nicht, bleibt ihm der Sinn eines Briefes verschlossen. Aber auch
die Menschen haben sich verändert – ihre Motive und Absichten, ihre Art zu
denken und zu handeln. Das Konzept der romantischen Liebe wurde bei-
spielsweise erst im 18. Jh. erfunden. Weiß ein Forscher dies nicht, deutet er
möglicherweise Briefe aus früheren Epochen mit Denkmustern, die nicht
denen der damaligen Zeitgenossen entsprechen. Auch in diesem Fall kann er
den Brief nicht richtig verstehen.
Hier stellt sich das Problem des hermeneutischen Zirkels (I) sowie das
Nähe-Distanz-Problem: Nur mit Hilfe von Daten aus der Vergangenheit
kann der Forscher Hinweise darauf bekommen, wie Menschen damals ge-
handelt und gedacht haben könnten. Diese Daten kann er aber erst verstehen,
wenn er schon relativ viel über diese Gesellschaft Bescheid weiß. Wegen ih-
rer starken Fixierung auf die Zeitgeschichte ihrer eigenen Gesellschaft ist
dieses Problem Sozialwissenschaftlern selten bewusst. Bei der Interpretation
von Daten greifen sie unbewusst auf ihr Alltagswissen zurück. Dieses er-
leichtert ihnen das (Sinn-)Verstehen, im Gegensatz zu Themen, die dem
Forscher relativ fremd sind: Randgruppen ihrer eigenen Gesellschaft, andere
Länder oder Ereignisse, die so weit in der Vergangenheit liegen, dass die
Forscher sie nicht mehr selbst erlebt haben. Umgekehrt erleichtert die größe-
re Distanz zu diesen Themen dem Forscher, Ereignisse neutral wahrzuneh-
men und zu beurteilen.
3) Geschichtswissenschaftler unterscheiden zwei Quellenformen, um das Aus-
maß der Reaktivität ihrer Daten abschätzen zu können: Überreste (unwill-
kürliche Überlieferung) und Traditionen (willkürliche Überlieferung).
Überrest sind alles, was unmittelbar aus dem Lebensvollzug hervorge-
gangen ist und absichtslos erhalten geblieben ist, z. B. sämtliche Gegenstände,
23
die zu praktischen Zwecken erstellt wurden. Schriftliche Texte wie Akten
und Urkunden gehören häufig zu Überresten. Überreste sind nicht reaktiv:
Sie wurden nicht für die Nachwelt geschaffen, sondern für die damals leben-
den Menschen für praktische Zwecke. Überreste sind umso schwerer zu in-
terpretieren, je weniger der Forscher über die untersuchte Gesellschaft weiß.
Im Gegensatz zu Überresten wurden Traditionen mit der Absicht verfasst,
der Nachwelt etwas über historische Ereignisse zu vermitteln. Sie sind des-
halb besonders vorsichtig zu interpretieren: Die Berichterstatter können sich
nicht nur täuschen, sie können versuchen, den Adressaten bewusst irrezufüh-
ren. Sie können Ereignisse unvollständig berichten, weil ihnen bestimmte
Dinge unwichtig waren oder ihre damaligen Adressaten sie aufgrund des
gemeinsamen sozialen Kontexts ohnehin kannten. Praktische Ziele finden
Eingang in solche Berichte. Ebenso färben persönliche Interessen Berichte,
insbesondere bei Berichten über sich selbst (wie Autobiographien und Me-
moiren). Alle standardisierten Befragungen sind Tradition.
Ob eine Quelle Überrest oder Tradition ist und wie aussagekräftig sie ist,
hängt außerdem vom Erkenntnisinteresse des Historikers ab. Aus Dieter
Bohlens Autobiographien kann man wohl wenig sachlich korrekte Informa-
tionen über die Eigenschaften anderer Prominenter ziehen – bezüglich dieser
Forschungsfrage sind die Texte Tradition. Untersucht dagegen ein Forscher
das Kommunikationsverhalten von Prominenten, sind sie Überrest und kön-
nen wertvolle Hinweise geben.
Daten und Fakten sind also nicht einfach so gegeben, sondern von Menschen
konstruiert und müssen entsprechend interpretiert werden. Um die Qualität und
Aussagekraft von Quellen beurteilen zu können, müssen Forscher sich in die
Quellen vertiefen, Kontextinformationen einholen, sie wieder und wieder lesen,
sie immer wieder kritisch hinterfragen.
Trotz aller Entschlüsselungsbemühungen kann der Forscher die spezifische
Perspektivität seiner Daten nie vollständig überwinden. Deshalb sollte der
Forscher immer verschiedene Datentypen triangulieren (Flick 2005). In diesen
Punkten ähneln sich historische Methoden und Methoden qualitativer Sozial-
forschung. Historiker haben gegenüber qualitativen Sozialforschern einen
entscheidenden Vorteil im methodischen Arsenal: Eine Reihe historischer
Hilfswissenschaften erleichtert den Zugang zum Verständnis zu Daten. Die
Geographie in Form von Landschaftskunde, Siedlungskunde und politischer
Geographie zeugt vom menschlichen Handeln im Raum. Die Chronologie
erlaubt, Zeit zu messen und menschliches Handeln in den Zeitverlauf einzu-
ordnen. Mit Hilfe der Prosopographie identifizieren Historiker bestimmte Per-
sonen, mit Hilfe der Genealogie ordnen sie sie in Beziehungs-, insbesondere
Verwandtschaftsnetzwerke ein. Weitere Hilfswissenschaften ermöglichen den
Zugang zu bestimmten Quellentypen, so z. B. die Papyrologie, die Epigraphik,
die Paläographie, die Numismatik und Geldgeschichte, die Sphragistik, die
24
Heraldik, die Symbolgeschichte, die Kunstgeschichte, die Sprachwissenschaf-
ten und die Archäologie.
Die hier dargestellte Sorgfalt bei der Datenbereinigung und -aufbereitung ist
keine bloße Empfehlung, sondern absolute Handlungsmaxime für gute For-
schung. Schließlich steht und fällt mit der Qualität der Daten die Validität der
gesamten Untersuchung. Dies gilt für qualitative und quantitative Forschung
gleichermaßen: Um die Gültigkeit seiner Daten sicher zu stellen, müsste der
quantitative Forscher alle Interpretationsschritte vornehmen, die qualitative
Forscher vollziehen, bevor er überhaupt beginnt, einen Fragebogen zu erstellen.
Dies verdeutlicht z. B. Braudel (1967) in seiner „Geschichte der Preise“. Die
Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses steigt, wenn die Anstrengungen,
die zur Sicherung der Datenqualität unternommen wurden, aber auch die un-
überwindbaren Mängel der Daten im Endbericht dokumentiert werden.
6. Datenanalyse
6.1 Verstehen und Erklären
Am Ende einer gelungenen Datenaufbereitung ist der Forscher der Antwort auf
folgende Fragen ein Stück näher gekommen: Von welchen Tatsachen, Ereig-
nissen, Vorgängen berichtet jede einzelne Quelle? Welche sind unumstößlich,
welche unsicher, welche frei erfunden? Wie genau erhellt die Quelle diese
Geschehnisse? Wann und wo haben sie stattgefunden? In welchen weiteren
Kontext sind sie einzubetten? Welche Meinung hat der Autor zu diesen Ereig-
nissen? Wie interpretiert er sie? Welches Weltbild hat er? Was bezweckt er mit
der Quelle? Warum? Wie hat die Quelle auf Zeitgenossen gewirkt? Mit ande-
ren Worten: Der Forscher versteht die Quelle besser als vorher. In der Herme-
neutik ist der Übergang zwischen Datenaufbereitung und analyse fließend.
Wie der qualitative Sozialforscher wechselt der Historiker immer wieder zwi-
schen Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse.
Nachdem der Historiker die einzelne Quelle zu begreifen glaubt, setzt er sie
in Verbindung mit anderen Quellen. Der Blick auf die Gesamtheit erleichtert
ihm, die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Quelle genauer zu überprüfen und sie
besser zu verstehen (Hermeneutischer Zirkel II). Gleichzeitig kann der Histori-
ker nun das Verständnis der damaligen Zeit auf eine höhere Abstraktionsebene
bringen, indem er mit seinen Interpretationen weitergeht:
1) Wenn sich der Forscher für Meinungen oder Denkmuster interessiert, ver-
sucht er, aus der Gesamtheit der Quellen typische Denkmuster eines einzel-
nen Menschen oder von Menschengruppen der damaligen Zeit herauszuar-
beiten. Aus den Dispositionen Einzelner wiederum abstrahiert er typische
Dispositionen von Gruppen.
25
2) Interessiert sich der Forscher für Handlungen, reiht er Ereignisse zu Episo-
denketten aneinander. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Aneinander-
reihung nicht willkürlich sein darf. Der Forscher muss die Ereignisse gemäß
seiner Forschungsperspektive sorgsam gewichten und ordnen, also in Bezug
zueinander setzen: Ereignisse können dabei alle gleich wichtig sein, nämlich
wenn man sie für sich nimmt, z. B. eine Erfindung oder ein Nationalfeiertag.
Sie können für eine bestimmte Episodenkette (den Verlauf einer Revolution;
die Entwicklung der Technik, die Europäisierung der Gesellschaft) bedeu-
tender oder unbedeutender sein. Sie können schließlich auch je nach Per-
spektive unterschiedlich wichtig sein, z. B. je nachdem, wie man eine Episo-
denkette (Revolution) beurteilt. Wie ein Ereignis bewertet wird, hängt also
vom Erkenntnisinteresse ab. Nachdem der Historiker einzelne Ereignisketten
rekonstruiert hat, kann er Handlungsmuster herausarbeiten. Bringt er diese
wieder auf eine höhere Abstraktionsebene, kristallisieren sich Strukturen (al-
so Handlungszyklen), geordnete Transformationen und Brüche heraus (Baur
2005, S. 125-137). Auch hier typisiert der Forscher wieder.
Unabhängig davon, ob sich der Historiker für Denk- oder Handlungsmuster
interessiert, bildet er also im Zuge seiner Interpretationsarbeit Idealtypen. Je
mehr er abstrahiert und interpretiert, desto stärker geht er vom Verstehen über
zum Erklären, wobei hier „erklären“ nicht ein Zusammenhänge zwischen Vari-
ablen sondern von Mustern in Fallgeschichten bedeutet (Abbott 2001): Er setzt
Denk- und Handlungsmuster zueinander in Bezug. Warum sind sie gleich
geblieben? Warum haben sie sich verändert? Warum haben sie sich so verän-
dert und nicht anders? „Erklären“ und „Verstehen“ werden dabei nicht als
Gegensätze gesehen:
„Wir trennen zwar die Anwendungsbereiche von Verstehen und Erklären, aber
nicht so prinzipiell, daß beide sich gegenseitig ausschließen: als ob man entwe-
der etwas nur verstehen oder nur erklären könnte. Oft ist beides vonnöten. Wir
müssen die Motive eines Menschen beispielsweise verstehen, um uns sein Han-
deln auch erklären zu können, wie wir uns umgekehrt etwas erklären müssen,
um es anschließend auch verstehen zu können. Beides gehört zusammen.“
(Goertz 1995, S. 105)
Aus dieser Sicht ist zu kritisieren, dass insbesondere quantitative Sozialforscher
häufig auf hermeneutische Verfahren verzichten. Zwar müssen diese Verfahren
nach wie vor erweitert und verbessert werden. Wer aber auf geschultes Verste-
hen verzichtet, interpretiert stattdessen unreflektiert.
6.2 Begriffsbildung und Standortgebundenheit
Im Zuge der Theoriebildung stehen Historiker und Sozialwissenschaftler glei-
chermaßen vor dem Problem, wie stark abstrahiert werden darf und soll. In der
Geschichtswissenschaft wird diese Frage vor allem unter dem Gesichtspunkt
26
der Begriffsbildung diskutiert: Um Denk- und Handlungsmuster fassen zu
können, müssen Forscher sie benennen. Einen Begriff zuzuweisen, bedeutet
aber, einen impliziten Vergleich anzustellen, da neu erkannte Phänomene mit
im Sprachhorizont bereits bekannten verknüpft werden. Um falsche Assoziati-
onen und Schlüsse zu vermeiden, müssen Begriffe besonders sorgfältig gewählt
werden, denn die Perspektive, unter der historische Tatsachen gesehen und
interpretiert wird, wandelt sich selbst, da jedes Erkenntnisinteresses normativ
überformt ist. Überzeitliche, ahistorische Wahrheiten sind für Historiker eine
Illusion.
Tatsachen bleiben Tatsachen. Die Geschichte selbst liefert aber die Maßstä-
be, um Tatsachen zu interpretieren. Welche Maßstäbe sollte man also wählen,
welche Begriffe? Zwei Perspektiven bieten sich besonders an: die der Zeitge-
nossen und die der heutigen Menschen. Die Begrifflichkeiten der Zeitgenossen
können uns heute fremd sein. Umgekehrt können aber heutige Begriffe zentrale
Aspekte von Phänomenen verschleiern. So meinen wir heute mit „Liebe“ die
romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Im Mittelalter hielt man diese
Form der Zuneigung nur zwischen Personen des gleichen Geschlechts für mög-
lich. Die Beziehung zwischen Frauen und Männern wurde dagegen als hierar-
chisch-sexuelle gesehen, die den Zweck hatte, Kinder zu zeugen (Duby 1985;
1989; 1999). Fasst man diese Beziehung mit unseren heutigen Begriffen von
„Liebe“, führt man den Leser irre.
6.3 Methodenpluralismus
Statt „der“ historischen Methode vertreten Historiker einen ausgesprochenen
Methodenpluralismus. So erklärt Fernand Braudel (1967l, S. 14): „Die eine
gute Methode gibt es nicht“, und Sellin (1995, S. 93-94) führt aus:
„Es gibt nur methodische Grundsätze, die sich je nach Fragestellung und Quel-
lenbestand zu spezifischen Methoden konkretisieren. Oder anders gesagt: Die
historische Methode ist ein Komplex von allgemeinen Maximen, die sich in den
je verschiedenen Anwendungen in konkrete Regeln differenzieren. (...) Diese
methodischen Grundsätze lassen sich charakterisieren als Aufgabe, die jeweils
ermittelten Befunde nach dem Kriterium der Lebenswirklichkeit und Lebens-
wahrscheinlichkeit zu einer plausiblen Erklärung zu verknüpfen.“
Jedes Verfahren erfasst einen bestimmten Aspekt der Realität besonders gut.
Der Forscher sollte eine ganze Reihe verschiedener Erhebungs- und Auswer-
tungsverfahren kennen und aus diesen das für seine Forschungsfrage und Daten
angemessenste Verfahren auswählen. Die Verfahren können sowohl quantitativ
als auch qualitativ sein. Häufig werden diese Methoden auch in anderen Wis-
senschaften angewandt. Bisweilen kann die Erkenntnis in einem Themenbe-
reich dazu dienen, einen anderen methodisch zu erschließen. So erlauben ar-
chäologische und philologische Befunde, Quellen besser zu erschließen. Histo-
riker greifen Methoden, die andere Forscher entwickelt haben, auf, entwickeln
27
diese ständig weiter und erfinden neue Methoden. Entscheidend ist, ob eine
verwendete Methode der Fragestellung oder den Quellen angemessen ist. Trotz
aller Innovationen im methodischen Bereich verwenden Historiker i. d. R.
Interpretationstechniken, die denen qualitativer Sozialforscher ähneln oder gar
gleichen. Bei quantitativen Analysen greifen sie auf dieselben statistischen
Verfahren wie quantitative Sozialforscher zu, wie ich an anderer Stelle gezeigt
habe (Baur 2005).
Oberster Grundsatz jeder Datenanalyse ist aber: Theorien können höchstens
falsifiziert oder bezweifelt werden. Die Quellen geben nur Hinweise darauf,
was nicht der Fall ist, was wir nicht sagen können. Historiker bleiben den Quel-
len deshalb nur negativ verpflichtet: Die Quellen haben ein Vetorecht.
7. Zusammenfassung
Der Methodenvergleich zeigt, dass die Mainstream-Soziologie in einer Reihe
von Punkten methodisch methodologisch durchaus von der Geschichtswissen-
schaft und der historischen Sozialforschung lernen kann. Sollten diese Anre-
gungen Ernst genommen warden, hat dies aber durchaus Folgen sowohl für die
Organisation der praktischen Forschung, als auch für mögliche künftige Stoß-
richtungen der Methodenforschung:
6) Forschergemeinschaften erlauben, auch theoretisch anspruchsvolle Frage-
stellungen über den Verlauf langfristiger sozialer Prozesse im internationalen
Vergleich zu bearbeiten. Eine Spezialisierung auf bestimmte Epochen und
Regionen erweist sich hierbei als sinnvoller als eine Trennung zwischen
Theoretikern, Methodikern und praktisch arbeitenden Forschern. Ein Bei-
spiel dafür, dass diese Arbeitsform auch in der Soziologie möglich ist, bietet
das GLOBALIFE-Projekt (Buchholz et al. 2008). Diese Projektform wird
wahrscheinlich künftig an Bedeutung gewinnen, da insbesondere international
vergleichenden Fragestellungen nur so gleichzeitig tief und breit bearbeitet
werden können. Sie erfordert allerdings die Bereitschaft von Forschern, die
eigene Fragestellung stringent in den Gesamtprojektrahmen einzuordnen.4
7) Der Übergang zwischen qualitativer und quantitativer Forschung ist fließend.
Qualitative und quantitative Methoden haben gleichermaßen ihre Daseinsbe-
rechtigung. Welche Methode geeigneter ist, hängt dabei von den verfügbaren
Daten und von der spezifischen Forschungsfrage ab. Methoden sollen den
4 Dies ist kein Plädoyer dafür, nur noch solche Arbeitsformen zu verfolgen – im Gegenteil:
Es ist eine Stärke der Soziologie als Wissenschaft, dass verschiedene Forscher dasselbe
Problem aus unterschiedlichen Perspektiven behandeln, neue Fragen an bekannte Probleme
stellen und sich bislang weitgehend unerforschten Gegenstandsbereichen widmen. Das Ar-
gument ist vielmehr, dass eine stärkere Zusammenarbeit in Kooperationsprojekten diese
klassischen Arbeitsweisen der Soziologie ergänzen können.
28
Forscher nicht beschneiden, sondern ihm ermöglichen, seinem Erkenntnisin-
teresse näher zu kommen: Denk- und Handlungsmuster aufzudecken, zu
verstehen und zu erklären. Es wäre folglich durchaus gewinnbringend, den
„Krieg der Paradigmen“ (Bryman 1988, Oakly 1999) endlich beizulegen und
die soziologische Methodenforschung stärker darauf zu konzentrieren, wie
sich qualitive und quantitative Forschung in der Forschungspraxis sinnvoll
verbinden lassen. Dass Entwicklung bereits mitten im Gange ist, zeigt die
Debatte um den Methoden-Mix (Tashakkori/Teddlie (Hg.) 2002; Bryman
(Hg.) 2006; Creswell/Plano Clark 2006) im angelsächsischen Raum und die
Gründung der neuen Zeitschrift „Journal of Mixed Methods Research“.
8) Historiker reflektieren und verdeutlichen i. d. R. Stichprobenprobleme we-
sentlich stärker als Sozialwissenschaftler dies tun. Insbesondere werden In-
formationen bei der Datenproduktion, während der Aufbewahrung und
durch die Auswahl im Rahmen der Datenerhebung systematisch verzerrt.
Auch die quantitative Sozialforschung wird sich künftig stärker Gedanken
um Bias und Nonresponse machen müssen, da die Ausschöpfungsquoten bei
Umfragen seit Jahren sinken (Baur 2006) und in den vergangenen Jahren
verstärkt Datenformen analysiert werden, bei denen der Forscher die Daten-
produktion oder Stichprobenziehung nicht vollkommen selbst kontrolliert,
wodurch sich die Gefahr von systematischen Verzerrungen erhöht. Beispiele
sind Online-Befragungen (Baur/Florian 2008) oder Verwaltungsdaten.
9) Neben Befragungen bieten sich insbesondere prozessgenerierte Daten als
Informationsquelle an. Häufig sind Texte, Bilder, die geschaffene Umwelt,
Alltagsgegenstände, die Sprache, Bräuche, Institutionen usw. aussagekräfti-
ger als Interviews. Zudem liefern diese Quellen Informationen, wenn Befra-
gungen oder Beobachtungen nicht möglich sind. Um unvermeidbare Stich-
proben- und Datenprobleme besser in den Griff zu bekommen, bedienen
sich Historiker intensiv der Datentriangulation.
Auch in einer Reihe spezieller Soziologien werden prozessgenerierte Da-
ten (wie etwa Dokumente) häufig genutzt, so etwa in der Organisationsso-
ziologie oder der Soziologie des Sozialstaats. Im Gegensatz zur Befragung
und Beobachtung existieren allerdings kaum systematische methodologische
Reflexionen, wie mit diesen Daten umzugehen ist. Eine der wenigen Aus-
nahmen bilden die Diskussionen in den ersten Jahren von HSR (Müller
(Hg.) 1977; Best/Mann (Hg.) 1977; Bick et al. (Hg.) 1984), die aber mittler-
weile auch über zwanzig Jahre alt sind. Eine Debatte darüber, inwiefern die
damaligen Erkenntnisse noch Bestand haben bzw. welche Veränderungen
sich infolge des Siegeszugs des Computers und des Internets ergeben haben,
ist längst überfällig.
Dies ist umso dringlicher, als dass prozessgenerierte Daten voraussicht-
lich in den nächsten Jahren aus einer Reihe von Gründen wieder an Bedeu-
tung gewinnen werden: Erstens machen staatliche Stellen nach und nach
Verwaltungsdaten nach und nach der Wissenschaftsgemeinschaft in Form
29
von aufbereiteten Datensätzen zugänglich, so dass diese leicht (re-)analysiert
warden können (Wirth/Müller 2006). Beispielefür Deutschland sind die Sci-
entific Use Files des Mikrozensus sowie die Daten des iab und der Deutschen
Rentenversicherer. Diese Verfügbarkeit eröffnet zwar neue Potenziale für die
Forschung, erhöht aber gleichzeitig die Gefahr, dass im Umgang mit pro-
zessproduzierten Daten unerfahrene Forscher sich auf die statistischen Ana-
lysen konzentrieren, ohne sich Gedanken über die Beschaffenheit der Daten
und Fehler in den Daten zu machen. Zweitens widmen sich Sozialwissen-
schaftler wieder verstärkt auch empirisch Meso- und Makrofragen. Für sol-
che Fragestellungen eignen sich prozessgenerierte Daten oft besser als Be-
fragungen und Beobachtungen (Scheuch 1974). Drittens versuchen Soziologen
(wieder) zunehmend, längerfristige soziale Prozesse wie Innovationen und
Entwicklungspfade empirisch zu fassen. Auch für diese Fragestellungen sind
prozessproduzierte Daten häufig von Vorteil (Baur 2005).
10) Der Datenaufbereitung ist wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als
dies in der Soziologie gemeinhin üblich ist. Zur Datenaufbereitung gehören
die Annäherung an die Quelle, die Quellenanalyse, -synthese, -kritik, Trian-
gulation und die Erstellung einer zusammenfassenden Charakteristik der
Quelle. Um die Aussagekraft der Quelle beurteilen zu können, muss der For-
scher die Eigenschaften des Datenträgers, den institutionellen Kontext ken-
nen sowie wissen, ob die Daten absichtsvoll oder zufällig erhalten wurden.
Mehodologisch berühren sich hier Fragen zum Umgang mit prozessgenerier-
ten Daten mit Fragen zur Datenaufbereitung. Zusätzlich bietet sich eine ver-
stärkte Vernetzung der soziologischen Methodenforschung mit der For-
schung zu Data Mining und Data Warehousing (Han/Kamber 2006) in der
Informatik an.
Danksagung
Ich danke Siegfried Lamnek, Wilhelm H. Schröder und Heinrich Best für die
konstruktiven Vorschläge zur Verbesserung des Manuskripts und Marie-
Monique Huster für die Unterstützung bei der Korrektur und Formatierung.
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Zur Autorin
Nina Baur, Dr. rer. pol., ist Junior-Professorin für Methoden soziologischer
Forschung am Institut für Soziologie an der Technischen Universität Berlin.
Forschungsschwerpunkte: qualitative, quantitative und historische Methoden;
Zeitsoziologie, Sozialstrukturanalyse (insbesondere Verhältnis von Ge-
schlechterbeziehungen, Arbeitsmarkt und Sozialstaat), Wirtschaftssoziologie
(insbesondere Märkte).
Ausgewählte Publikationen: „Stichprobenprobleme bei Online-Umfragen“, in:
Nikolaus Jackob/Harald Schoen/Thomas Zerback (Hg.): Sozialforschung im
Internet. Methodologie und Praxis der Online-Befragung, Wiesbaden: VS
Verlag (mit Michael J. Florian 2008); „Multivariate Analysis“, in: George
Ritzer (Hg.): The Blackwell Encyclopedia of Sociology, Oxford: Blackwell
Publishing Ltd. (mit Siegfried Lamnek; 2007); „Empirische Methoden der
Politikwissenschaft“, Paderborn: Schöningh (mit Joachim und Nathalie Behn-
ke; 2006); „Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeit-
lichkeit sozialen Handelns“, Wiesbaden: VS-Verlag, ausgezeichnet mit dem
Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und dem E.ON
Kulturpreis Bayern (2005); „Einzelfallanalyse“, in: Lothar Mikos/Claudia
Wegener (Hg.): Qualitative Medienforschung, Konstanz: UVK (mit Siegfried
Lamnek; 2005).
Kontakt:
Nina Baur
Professorin als Juniorprofessorin für Methoden soziologischer Forschung
Institut für Soziologie
Technische Universität Berlin
Sekretariat FR 2-5
Franklinstr. 28/29
10587 Berlin
Tel.: (030) 314-79467
Fax: (030) 314-79494
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E-Mail: nina.baur@tu-berlin.de
URL: http://www2.tu-berlin.de/~soziologie/Crew/baur/