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63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
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Bessere wirtschafts-
politische Zusammenarbeit
ja – Zentralismus und
Dirigismus nein
Auf die Inhalte der jetzt not-
wendigen Reformen kommt es an,
nicht auf die Bezeichnung
Die Idee einer europäischen Wirtschafts-
regierung ist ebenso alt wie die Idee ei-
ner europäischen Währungsunion. Be-
sondere Unterstützung findet der Vor-
schlag seit langem in Frankreich. Im Vor-
feld der Währungsunion forderte die fran-
zösische Regierung 1997 unter Premier-
minister Lionel Jospin und dem damali-
gen Finanzminister und heutigen IWF-
Chef Dominique Strauss-Kahn die Ein-
richtung der Eurogruppe als Wirtschafts-
regierung. Man einigte sich damals auf
informelle Treffen der Finanzminister aus
den Mitgliedstaaten der Währungsunion.
Die Eurogruppe hat sich als wichtiges und
unverzichtbares Diskussionsforum erwie-
sen. Sie bleibt aber ein Gremium ohne
formale Entscheidungskompetenz. Da-
durch wird sichergestellt, dass alle EU-
Staaten in Entscheidungen einbezogen
werden.
Der französische Präsident Nicolas Sar-
kozy griff den Vorschlag der Eurogrup-
pe als europäische Wirtschaftsregierung
Ende 2008 erneut auf. In einer Rede vor
dem Europäischen Parlament forderte
er Treffen der Mitgliedstaaten der Wäh-
rungsunion auf Ebene der Staats- und
Regierungschefs. Eine europäische
Wirtschaftsregierung im Sinne einer ein-
heitlichen und zentralen Wirtschaftspo-
litik ist sicher keine sinnvolle Option. Die
Entwicklungen der letzten Monate ha-
ben die Eurozone aber vor ihre härtes-
te Bewährungsprobe gestellt. Sie zei-
gen, dass das bestehende Regelwerk
der Währungsunion Defizite aufweist. Es
besteht zwingender Handlungsbedarf
und kommt jetzt darauf an, die Ursachen
für die krisenhaften Entwicklungen im
Euroraum zu analysieren und die richti-
gen Lehren daraus zu ziehen. Mit wel-
chen Begriffen die notwendigen Refor-
men letztlich belegt werden, ist dabei
zweitrangig.
Das Regelwerk der Währungsunion so-
wie dessen Überwachung und Einhal-
tung hat sich als ungenügend erwiesen.
Die Haushaltsdisziplin war nicht ausrei-
chend. Vor allem aber erodierte die
Wettbewerbsfähigkeit einiger Mitglieder
der Währungsunion. Dafür müssen wir
das institutionelle Regelwerk in der EU
anpassen. Öffentliche Haushalte müs-
sen in guten Zeiten mehr vorsorgen.
Durch den Stabilitäts- und Wachstums-
pakt allein werden Anreize zu übermä-
ßiger Verschuldung vermutlich aber
nicht ausreichend eingedämmt werden
können. Der Euro-Rettungsschirm kann
Staaten dazu verleiten, sich im Ernstfall
auf Hilfe durch andere Staaten zu ver-
lassen. Notwendig ist daher vor allem,
moral hazard zu verhindern und der
»no-bail-out«-Regel wieder Glaubwür-
digkeit zu verschaffen. Dafür brauchen
wir ein Restrukturierungsverfahren für
von Zahlungsunfähigkeit bedrohte Staa-
ten. Die Politik muss die Finanzmärkte
glaubhaft davon überzeugen, dass
Gläubiger von Staatspapieren künftig
an der Beseitung von finanziellen
Schieflagen von Staaten beteiligt wer-
den. Nur so werden sie die Situation der
einzelnen Eurostaaten langfristig diffe-
renziert beurteilen und mögliche Risi-
ken in ihre Renditeforderungen einbe-
ziehen. Zum anderen muss die Wettbe-
werbsfähigkeit stärker in den Mittel-
punkt gerückt werden. Notwendige
Strukturreformen in den Mitgliedstaa-
ten müssen mit Nachdruck angestoßen
werden.
eine sinnvolle Option?
Ist eine europäische Wirtschaftsregierung
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung wiederbe-
lebt. Befürwortet wird diese in erster Linie von der französischen Regierung. Aber hätte eine ge-
meinsame Wirtschaftsregierung die Krise verhindern können? Ist sie eine Option oder gibt es
Alternativen?
Rainer Brüderle*
* Rainer Brüderle ist Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie.
Zur Diskussion gestellt
Nicht nur die Staatsverschuldung, auch struktu-
relle Fehlentwicklungen müssen in den Blick
genommen werden
Die Einhaltung der Maastricht-Kriterien war die Eintrittskar-
te für den Euroraum. Darauf hatten die ursprünglichen Mit-
glieder der Währungsunion zum Stichtag der Überprüfung
der Kriterien hingearbeitet. Die Kriterien sollten eine Anpas-
sung der Länder an die Bedingungen in einer Währungs-
union sicherstellen. Die Volkswirtschaften im Euroraum soll-
ten sich zwar nicht gleichen, aber sie sollten einen ähnlichen
Grad an Arbeits- und Gütermarktflexibilität aufweisen. Nach
dem Beitritt zum Euroraum sollte dies der Stabilitäts- und
Wachstumspakt gewährleisten. Bereits kurze Zeit nach Ein-
führung des Euro lief jedoch z.B. die Entwicklung des Preis-
niveaus wieder auseinander. Die Spanne der Inflationsraten
in der Gruppe der Länder, die den Euro als erstes einge-
führt hatten, betrug im Stichjahr 1997 gerade einmal 0,7 Pro-
zentpunkte. Im Jahr 2002 lagen die höchsten und niedrigs-
ten Inflationsraten der damaligen Euroländer dann schon
3,4 Prozentpunkte auseinander. Nur sieben der zwölf Mit-
glieder des Euroraums erfüllten zu diesem Zeitpunkt noch
das Maastrichter Inflationskriterium. Einige Eurostaaten wä-
ren in den meisten Jahren nach der Überprüfung beim In-
flationskriterium durchgefallen.
Eine andere Entwicklung als das Preisniveau nahmen die lang-
fristigen Zinsen. Auch sie konvergierten im Vorfeld der Wäh-
rungsunion. Sie bewegten sich aber danach bis zum Aus-
bruch der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008 in einer
sehr engen Spanne. Investoren differenzierten im Euroraum
kaum zwischen den einzelnen Ländern. Auch Staaten mit
einer geringeren Wettbewerbsfähigkeit mussten keine nen-
nenswerten Risikoaufschläge bieten (vgl. Abb. 1). Möglicher-
weise glaubten die Finanzmarktakteure dem bail-out-Verbot
von Beginn an nicht. Erst mit der Finanz- und Wirtschaftskri-
se setzte eine Differenzierung bei den Risikoaufschlägen ein,
die auch mit den Rettungsaktionen im Euro-
raum bislang zu keiner wesentlichen Reduk-
tion der Renditespanne geführt hat.
Eine Rolle könnte dabei der fast ausschließ-
liche Fokus auf die Staatsverschuldung nach
Beginn der Währungsunion gespielt haben.
Er verstellte den Blick auf strukturelle Proble-
me und verführte die Finanzmärkte, sich be-
züglich einiger Länder in einer trügerischen
Sicherheit zu wiegen. In den Aufschwung-
jahren 2004–2008 hatten die meisten Län-
der im Euroraum ein geringeres Defizit als
3% des Bruttoinlandsprodukts, die Schwel-
le im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Die
meisten Länder, die heute im Mittelpunkt der
Sorgen um den Euroraum stehen, waren in
Bezug auf die finanzpolitischen Kriterien nicht
auffällig. So waren zum Beispiel weder Irland noch Spanien
vor 2009 je im Defizitverfahren des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts. Beide Länder erwirtschafteten zum Teil sogar
Haushaltsüberschüsse. Die Schuldenstände beider Länder
lagen bis 2008 mit Werten von rund 40% des Bruttoinlands-
produkts deutlich unterhalb der Schwelle von 60%. Der
Schuldenstand Portugals lag noch 2007 unterhalb des deut-
schen Werts. Hohe Wachstumsraten – auch bei Griechen-
land – trugen zu einem trügerischen Bild bei.
Dennoch sind die Probleme nicht aus heiterem Himmel auf-
getaucht und sind auch nicht alleine auf die Finanzmarkt- und
Wirtschaftskrise zurückzuführen. Die divergierende Preisni-
veauentwicklung im Euroraum hätte ein Alarmsignal sein kön-
nen. Sie geht nicht nur auf die unterschiedliche konjunkturel-
le Dynamik im Euroraum zurück, sondern weist auch auf die
tieferen Ursachen der krisenhaften Zuspitzung in einigen Län-
dern im Euroraum hin: strukturelle Fehlentwicklungen und
eine mangelnde Reformbereitschaft zum Abbau der unzu-
reichenden Arbeits- und Gütermarktflexibilität. Blasen im Im-
mobiliensektor und zu einseitig auf den Baubereich ausge-
richtete Wirtschaftsstrukturen, anhaltende Rigiditäten auf den
Arbeits- und Produktmärkten, eine hohe private Verschul-
dung und Löhne, die stärker stiegen als die Produktivität,
beeinträchtigten die Wettbewerbsfähigkeit einiger Länder. Ho-
he Leistungsbilanzdefizite waren die Folge. Selbst einer se-
riösen Finanzpolitik wird aber die wachstumspolitische Grund-
lage entzogen, wenn eine Volkswirtschaft kontinuierlich an
Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit verliert.
Verbesserte wirtschaftspolitische Koordinierung,
Stärkung der Haushaltsdisziplin und eine
Insolvenzordnung für Staaten
Mit der Finanzhilfe für Griechenland und dem Euro-Rettungs-
schirm hat die Gemeinschaft der Mitgliedstaaten im Euro-
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Deutschland Griechenland Irland Italien Portugal Spanien
Quelle: Reuters Ecowin.
Renditen 10-jähriger Staatsanleihen ausgewählter Euroländer
%
Abb. 1
Zur Diskussion gestellt
raum die Notbremse gezogen, um eine ernste Gefahr für die
Stabilität der Währungsunion abzuwenden. Es ist wichtig,
dass diese Programme befristet sind. Sie sind kein Einstieg
in eine europäische Transferunion und sie dürfen nicht zu
einem Ersatz für nachhaltige Reformen werden. Das Mo-
mentum für Reformen, das sich unter dem Druck der Ent-
wicklungen in den vergangenen Monaten ergibt, muss ge-
nutzt werden. Die gegenwärtigen Verhandlungen über eine
Neukonzeption der wirtschafts- und finanzpolitischen Zu-
sammenarbeit in Europa bieten die Chance dazu. Der Eu-
ropäische Rat hat dem ständigen Ratspräsidenten Herman
Van Rompuy den Auftrag gegeben, mit einer Task Force Vor-
schläge zur Reform des Regelwerks der Koordinierung im
Euroraum zu erarbeiten.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt in seiner aktuellen Aus-
gestaltung hat sich als unzureichend erwiesen, um finanz-
politische Fehlentwicklungen zu verhindern. Die Haushalts-
disziplin in den Mitgliedstaaten muss gestärkt werden. Da-
für müssen Sanktionen früher und effektiver als bislang wir-
ken und tatsächlich zur Anwendung kommen. Neben fi-
nanziellen sollten auch nicht-finanzielle Sanktionen wie der
Entzug von Stimmrechten möglich sein, wenn die Spielre-
geln der Währungsunion in grober Weise verletzt werden.
Dem bislang vernachlässigten Kriterium des Schuldenstan-
des muss stärkere Beachtung geschenkt werden. Staaten
mit einem besonders hohen Schuldenstand müssen in die
Pflicht genommen werden, ihre Verschuldung verbindlich
abzubauen.
Der Fall einer drohenden Zahlungsunfähigkeit einzelner Euro-
Mitgliedstaaten muss klar geregelt werden. Nur wenn die
Konsequenzen einer Schuldenkrise klar sind – für den be-
troffenen Staat genauso wie für Investoren auf den Finanz-
märkten – setzen wir die richtigen Signale für eine entschlos-
sene Krisenprävention. Mit einer Insolvenzordnung für Staa-
ten, die einen Forderungsverzicht (»haircut«) von Investoren
enthält, verdeutlichen wir, dass Gläubiger für ihr Engage-
ment in einzelnen Ländern die Haftung übernehmen müs-
sen. Sie haben dadurch einen Anreiz, langfristig stärker und
frühzeitiger als vor der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise
nach der Position der einzelnen Staaten zu differenzieren.
Gleichzeitig werden damit die Erwartungen auf eine siche-
rere Kalkulationsgrundlage gestellt. Ein Insolvenzverfahren
darf aber nicht dazu genutzt werden, um sich lästiger Schul-
den zu entledigen. Auch überschuldete Mitgliedstaaten müs-
sen klare Konsequenzen ziehen. Sie müssen dazu verpflich-
tet werden, ein Sanierungskonzept mit Maßnahmen zur
Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen umzusetzen,
das die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen
wieder herstellt. Erst dadurch wird die no-bail-out-Regel der
Verträge wieder glaubwürdig.
Die aktuellen Entwicklungen im Eurogebiet haben die gra-
vierenden Schwächen der wirtschaftspolitischen Koordi-
nierung in Europa offen gelegt. Wenn wir künftig verhin-
dern wollen, dass strukturelle Fehlentwicklungen in ein-
zelnen Mitgliedstaaten die Währungsunion als Ganzes
schwächen, müssen wir diese Fragen auch auf europäi-
scher Ebene aktueller, konkreter und prominenter anspre-
chen als bisher.
Die Task Force unter dem Vorsitz von Herman van
Rompuy soll neben einer Reform des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes auch die Reform der Koordinierungs-
verfahren im Bereich der so genannten »strukturellen« Po-
litiken (z.B. Wettbewerbspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Inno-
vationsförderung etc.) voranbringen. Ein Überwachungs-
verfahren soll ebenso wie ein Warnmechanismus zur früh-
zeitigen Wahrnehmung von Fehlentwicklungen implemen-
tiert werden. Doch es reicht nicht aus, Reformen nur in-
nerhalb des bestehenden Verfahrens vorzunehmen. Wir
brauchen vielmehr ein neues, effektiveres Verfahren der
wirtschaftspolitischen Überwachung, das unabhängig von
der finanzpolitischen Koordinierung des Stabilitäts- und
Wachstumspakts ist. Ein solches Verfahren muss über kla-
re Strukturen, Regeln und gegebenenfalls auch über Sank-
tionsmöglichkeiten verfügen.
Es muss Sache einer eigenständigen »strukturpolitischen
Ratsformation« sein, die unabhängig und auf gleicher Au-
genhöhe mit der finanzpolitischen Überwachung des
ECOFIN-Rates agiert. Fehlentwicklungen müssen poli-
tisch hochrangiger und öffentlichkeitswirksamer als bis-
her thematisiert, eine ungeschminkte Diskussion über die
Folgen der Fehlentwicklungen ermöglicht und Reformen
der betroffenen Mitgliedstaaten eingefordert werden. Der
Wettbewerbsfähigkeitsrat könnte hier seinem Namen ge-
recht werden und zukünftig diese Rolle übernehmen. Dort
müssen die notwendigen Prüfkapazitäten und -verfahren
etabliert werden. Durch die Zuarbeit unterschiedlicher
Ratsformationen würde der Europäische Rat der Staats-
und Regierungschefs als höchstes Entscheidungsgremi-
um erstmals in die Lage versetzt, sich ein gleichgewich-
tiges und umfassendes Bild der finanz- und wirtschafts-
politischen Situation in Europa zu verschaffen und dem-
entsprechende Impulse zu setzen bzw. Entscheidungen
zu treffen. Nur der Europäische Rat kann letztlich das
notwendige politische Gewicht und die notwendige Öf-
fentlichkeitswirksamkeit sicherstellen, um gebotene Re-
formen wirkungsvoll zu unterstützen. Dabei sollte die Ko-
ordinierung der Wirtschaftspolitik nicht auf die Länder
des Euroraums beschränkt werden. Es gilt, Länder früh-
zeitig einzubinden, die den Euro noch nicht eingeführt
haben.
Dabei geht es aber weder um Zentralisierung von Entschei-
dungen oder Detailsteuerung noch um eine »one size fits
all«-Politik. Die Prinzipien von Subsidiarität, Eigenverantwor-
tung und nationaler Souveränität sind auch zukünftig strikt
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Zur Diskussion gestellt
zu wahren, denn eine sinnvolle und klar abgesteckte Auf-
gabenteilung zwischen der EU-Ebene und den Mitgliedstaa-
ten ist Voraussetzung für den Erfolg einer verbesserten wirt-
schaftspolitischen Koordinierung.
Die EU-Staaten müssen als Gemeinschaft wachsam sein
und frühzeitig wirksam auf die Korrektur drohender struk-
tureller Fehlentwicklungen hinwirken. Für eine weitergehen-
de Zentralisierung der Wirtschaftspolitik gibt es keinen
Grund. Die für die jeweilige Situation eines Mitgliedstaats
bestmögliche Ausgestaltung von Strukturreformen gelingt
am ehesten in nationaler Verantwortung und entsprechend
der nationalen Gegebenheiten. Der Versuch, von zentraler
Warte aus maßgeschneiderte Lösungen für jeden Mitglied-
staat zu finden, wäre aufgrund enormer Informationskos-
ten und letztlich nicht zu überwindender Informationspro-
bleme kostspielig und ineffizient. Vor allem sollten Effizienz-
vorteile einer dezentralen Suche und eines Entdeckungs-
wettbewerbs um die jeweils beste Lösung nicht aufgege-
ben werden.
Mit diesen Reformen ergibt sich ein Dreiklang von Rahmen-
bedingungen, durch die die Währungsunion in ruhiges Fahr-
wasser gelenkt werden kann. Meine Vision für eine stabile
Entwicklung der Währungsunion beruht auf drei Grundpfei-
lern: Eine verbesserte wirtschaftspolitische Überwachung
begrenzt strukturelle Fehlentwicklungen und initiiert Struk-
turreformen, die eine ausgewogene Wirtschaftsentwicklung
der einzelnen Eurostaaten und des Euroraums als Ganzes
sichern. Ein gestärkter Stabilitäts- und Wachstumspakt si-
chert solide Staatsfinanzen. Und eine Insolvenzordnung für
Staaten sorgt dafür, dass die Akteure der Finanzmärkte ge-
nauer hinsehen als bisher und eine stärkere und frühzeiti-
gere disziplinierende Wirkung sowohl bei öffentlicher als auch
privater Verschuldung ausüben.
Welchen Namen man dem Ergebnis dieser Reformen dann
geben möchte, ist zweitrangig. Eine europäische Wirtschafts-
regierung im Sinne einer einheitlichen und zentralen Wirt-
schaftspolitik ist keine sinnvolle Option.
Europa am Scheideweg: Wirtschaftliche
Koordinierung ja – Wirtschaftsregierung
nein
In Europa erschallt derzeit immer lauter der Ruf nach einer
europäischen Wirtschaftsregierung. Die Befürworter meinen,
nur dadurch lasse sich Europa und der Euro dauerhaft zu-
sammenhalten. Aber, stimmt diese Argumentation? Oder ver-
stecken sich dahinter nicht auch andere Überlegungen?
Der Zusammenbruch der Finanzmärkte und die daraus fol-
gende Weltrezession haben uns schmerzhaft vor Augen ge-
führt, dass wir in Deutschland die eigenen Geschicke nicht
mehr allein in der Hand haben. Wir leben in einer globalisier-
ten und höchst vernetzen Welt. Hinzu kommt eine neue Er-
fahrung: Verwerfungen in einem Sektor können schnell auf
das ganze System übergreifen. Außerdem ist deutlich ge-
worden: Neben den haushaltspolitischen Ungleichgewich-
ten machen auch gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte
die europäische Wirtschaft in Krisen anfälliger.
Diese Ungleichgewichte haben den politischen Wettstreit
um die richtige Philosophie für die Europäische Union erst
richtig entfacht: Die Diskussion über eine europäische Wirt-
schaftsregierung ist eröffnet.
Dabei geht es um weit mehr als die Frage, ob an der Neu-
ausrichtung 16 oder 27 Staats- und Regierungschefs be-
teiligt werden sollen oder ob erst Institutionen erschaffen
werden, noch bevor über die Ziele Klarheit hergestellt wird.
Es geht auch um deutlich mehr als die Frage nach der Be-
zeichnung für dieses Projekt, auf die Bundeskanzlerin Mer-
kel im Anschluss an den Europäischen Rat vom 17. Juni so
vieldeutig erklärt haben soll: »Alle waren sich darüber einig,
dass wir eine engere Koordinierung brauchen. Und das nen-
nen Deutschland und Frankreich jetzt eben Wirtschaftsre-
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Georg Fahrenschon*
* Georg Fahrenschon ist Bayerischer Staatsminister der Finanzen.
Zur Diskussion gestellt
gierung.« Solche rhetorischen Zugeständnisse machen erst
recht misstrauisch: Geht es wirklich nur um die Etikette?
Oder doch um Kernfragen, die bislang unbeantwortet sind?
Was verbirgt sich also hinter dem Begriff der engeren Ko-
ordinierung, der Wirtschaftsregierung?
Geht es Frankreich – zugespitzt formuliert – um ein trojani-
sches Pferd, einen wohlklingenden Begriff, hinter dem sich
nicht akzeptabler staatlicher Dirigismus verbirgt? Eine eu-
rokratische Steuerungsstelle, die den europäischen Unter-
nehmen Exportzahlen vorgibt, die der Europäischen Zen-
tralbank ihre Unabhängigkeit nimmt und die Tarifparteien
entmachtet? Oder geht es, wie es Deutschland anstrebt,
um ein rein überwachendes Gremium, das sich bei der stär-
keren wirtschaftspolitischen Koordinierung aller 27 EU-Mit-
gliedstaaten lediglich auf die Grundzüge der Wirtschafts-
politik beschränken soll?
Bis Herbst hat EU-Präsident Herman Van Rompuy Zeit, mit
seiner Task Force ein Konzept für eine Verstärkung der wirt-
schaftspolitischen Koordinierung in Europa und damit eine
Idee für eine europäische Wirtschaftsregierung vorzulegen.
Eine kurze Zeit und eine höchst anspruchsvolle Aufgabe,
weil sich alle Vorschläge an einer entscheidenden Frage mes-
sen lassen müssen: Kann Europa durch eine Wirtschafts-
regierung tatsächlich stärker und wettbewerbsfähiger wer-
den? Oder begeben wir uns in den Strudel eines reißenden
Flusses ohne Wiederkehr?
Die Gefahren einer europäischen Wirtschaftsregierung sind
jedenfalls derzeit deutlich sichtbarer als die Chancen auf ei-
ne wirkliche Stärkung Europas:
Gefahr 1: Europas Wettbewerbsfähigkeit wird
nivelliert statt gestärkt
Eine europäische Wirtschaftsregierung französischer Prägung
birgt die Gefahr, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der
Mitgliedstaaten auf Mittelmaß zu nivellieren. Ganz im Ge-
gensatz dazu müssen wir stattdessen täglich im globalen
Wettbewerb bestehen können. Die europäische Politik darf
sich deshalb nicht an irgendeinem europäischen Durchschnitt
orientieren, sie muss sich vielmehr an den internationalen
Wettbewerbern wie China, Indien und auch den USA mes-
sen. Für den Abbau der Ungleichgewichte bedeutet das: Er
kann nicht über eine Schwächung der Starken funktionie-
ren. Die Starken müssen den Schwächeren aufzeigen, stär-
ker zu werden. Aufgabe der wettbewerbsschwachen Länder
ist es umso mehr, umgehend strukturelle Reformen, zum Bei-
spiel auf den Produkt- und Arbeitsmärkten oder im Bereich
der sozialen Sicherungssysteme einzuleiten.
Denn eine Nivellierung nach unten kann nie die Lösung sein:
Sie würde unsere Wettbewerbfähigkeit zerstören – zur Freu-
de der Konkurrenz in Amerika, China, Südamerika oder In-
dien. Wir alle in Europa wären dann die Verlierer. Es muss
aber um das Gewinnen gehen.
Gefahr 2: Die Unabhängigkeit der Europäischen
Zentralbank wird gefährdet
Jegliche Schritte hin zu einer einheitlichen Wirtschaftsre-
gierung könnten auch die Unabhängigkeit der Europäischen
Zentralbank (EZB) beeinträchtigen.
Die Unabhängigkeit der EZB von politischen Institutionen
ist aber wesentlich dafür, dass die EZB ihr vorrangiges Ziel
– die Gewährleistung der Preisstabilität – erreichen kann.
Preisstabilität ist Voraussetzung für das reibungslose Funk-
tionieren der Marktwirtschaft, für nachhaltiges Wirtschafts-
wachstum und hohe Beschäftigung. Preisstabilität erhält zu-
gleich in sozialpolitischer Hinsicht den Wert von Renten, Löh-
nen und Versorgungsbezügen.
Eine erfolgreiche stabilitätsorientierte Geldpolitik braucht
eine unabhängige Zentralbank, da die Politik naturge-
mäß auch andere Ziele wie Wachstum und Beschäfti-
gung verfolgt.
Deshalb ist jeglicher Einflussnahme auf die EZB von politi-
scher Seite oder einer Verschiebung ihrer Prioritäten weg
von Preisstabilität hin zu Wachstum Einhalt zu gebieten.
Die Unabhängigkeit der EZB und ihr vorrangiges Ziel der
Preisstabilität sind wertvolle Güter, die gerade wir in Deutsch-
land mit aller Entschlossenheit verteidigen müssen.
Gefahr 3: Europa wird zur Transferunion
Die heutige Währungsunion darf sich nicht morgen in eine
Transferunion wandeln, schon gar nicht schleichend. Ein
Europa als Transferunion hätte keine Zukunft. Allerdings: Je
enger und intensiver die Wirtschaftspolitik koordiniert wird,
umso schwerer wird es, den Grundsatz der Eigenverantwor-
tung in den Mitgliedstaaten aufrechtzuerhalten. Zu betörend
ist das süße Gift, Verantwortung abzuschieben. In Bayern
erfahren wir mit dem Länderfinanzausgleich und jährlichen
Zahlungen von 3,4 Mrd. € fast täglich, was ein Transfersys-
tem anrichten kann. Deutschland würde als wirtschafts-
stärkste Nation in Europa die gleiche Rolle übernehmen dür-
fen. Leistungsträger darf man aber nicht bestrafen, indem
man sie zum Zahlmeister macht, weder in Deutschland noch
in Europa. Wenn alle die gleiche Kuh melken wollen, reicht
die Milch für keinen.
Schwarzmalerei? Werfen wir einen Blick in die Vergangen-
heit: Bislang hatte vor allem Frankreich eine »europäische
Wirtschaftsregierung« als Gegengewicht zur EZB gefordert,
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Zur Diskussion gestellt
auch, um die von Frankreich seit langem angestrebte Rela-
tivierung des Vorrangs der Preisstabilität gegenüber ande-
ren Zielen wie Wachstum und Beschäftigung zu erreichen.
Bereits bei den Verhandlungen des Maastrichter Vertrags war
von französischer Seite der Vorrang der Preisstabilität nur
widerwillig akzeptiert worden. So versuchte Frankreich 1997
kurz vor der Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstums-
paktes erfolglos, weniger strenge Auflagen durchzusetzen.
Neu hinzugekommen ist nun die Kritik, der deutsche Han-
delsüberschuss schade den europäischen Nachbarstaaten
und die darauf aufbauende Forderung, Deutschland solle sei-
ne Binnennachfrage durch höhere Löhne ankurbeln.
Ist also eine europäische Wirtschaftsregierung eine sinnvolle
Option? Unbestritten, Europa braucht in manchen Bereichen
eine stärkere Koordinierung. Der bunte Flickenteppich an na-
tionalen Aufsichtsregeln im Finanzsektor etwa führte zu einem
Wettbewerb um das schwächste Aufsichtsregime und leiste-
te sicherlich seinen Beitrag zur Finanzkrise. In diesem Be-
reich müssen wir uns zügig auf eine stärkere Koordinierung
verständigen. Mindestens ebenso notwendig ist eine Verschär-
fung des Stabilitätspakts – eine Form von koordinierter Finanz-
politik, um das Verschuldungsverbot der Europäischen Ver-
träge zu überwachen und wirksam durchzusetzen. In diesem
Zusammenhang denke ich an automatische und beschleu-
nigte Sanktionen. Dazu gehören das Sperren oder endgülti-
ge Streichen von EU-Fördermitteln ebenso wie die Suspen-
dierung von Stimmrechten. Das sind zentrale Forderungen der
Bayerischen Staatsregierung ebenso wie eine »Europäische
Schuldenbremse«, fest verbunden mit einem effektiven Früh-
warnmechanismus. Notwendig sind darüber hinaus längere
Prüfungszeiträume für künftige Beitrittsanträge und die Prü-
fung von Regelungen für Staatsinsolvenzen. Diese Bausteine
ergeben ein festes und in sich schlüssiges Gesamtkonzept,
das die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten belebt und
nicht betäubt, das Europa insgesamt voranbringt im globalen
Wettstreit und nicht gefährlich verharren lässt.
Es geht also nicht um bloße Begriffe. Europa steht zu Be-
ginn des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends an ei-
nem zentralen Scheideweg: Gehen wir in Richtung einer
Wirtschaftsregierung einschließlich nivellierender Steuerungs-
funktion mit erheblichen Gefahren? Ihre Befürworter sind
bislang den Beweis schuldig geblieben, dass der Ansatz
Europas Wettbewerbsfähigkeit stärken und nicht schwä-
chen wird. Oder stärken wir die eigenverantwortliche Koor-
dinierung, bei der die Starken die momentan etwas weni-
ger Starken zu neuen Kräften mobilisieren? Vielleicht hilft
eine alte Lebenserfahrung: Der scheinbar bequemere Weg
ist nicht immer der bessere. Europas gemeinsame Zukunft
erfordert wie oft in der Vergangenheit Kraft und Mut, über
steinige und mühevolle Wege Perspektiven und Wohlstand
für alle zu erreichen.
Europa braucht verlässliche Regeln,
statt einer gemeinsamen Wirtschafts-
regierung
Das wenig überzeugende Bild, das die Europäische Union
in der Bewältigung der aktuellen Finanz- und Wirtschafts-
krise abgibt, führt, nicht zum ersten Mal, auf breiter Basis
zu Rufen nach einer besseren Koordination der Politiken der
Mitgliedstaaten. Der französische Präsident Sarkozy möch-
te gar, dass eine Wirtschaftsregierung geschaffen wird, um
der Europäischen Zentralbank Anweisungen für die Geld-
politik geben zu können. Bundeskanzlerin Merkel hält da-
von wenig, aber beide zusammen wollen eine Bankenab-
gabe, eine Finanzumsatzsteuer und eine strenge Regulie-
rung von Hedgefonds. Die britische Regierung lehnt all das
ab, weil es den Finanzplatz London gefährdet. Das sieht
nicht nach einem Konsens oder dem Beginn einer europäi-
schen Wirtschaftsregierung aus.
Dabei sind durch die Krise gute Gründe für eine engere
Koordination offenbar geworden, denn aus den »No-bail-
out«-Klauseln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist
ein Finanzpaket geworden, mit dem die Länder der EU
füreinander einstehen. Die Regeln, die einen Zusammen-
hang der nationalen Fiskalpolitiken verhindern sollten,
sind nie wirklich eingehalten worden, und die Erwartun-
gen, dass die Finanzmärkte das Insolvenzrisiko einzelner
Staaten bewerten und differenzierte Risikoaufschläge ver-
langen würden, sind nicht realisiert worden, weil die Mit-
gliedstaaten die strikte Trennung der Fiskalpolitiken nicht
glaubhaft machten. Wenn aber Regeln und Strafen nicht
implementiert werden, ist es naheliegend, dass die Ge-
meinschaft als eine gesehen wird, die ihre eigenen Re-
geln nicht ernst nimmt. Nur deshalb haben die Märkte
die Eurozone als eine Einheit wahrgenommen, die ge-
ifo Schnelldienst 14/2010 – 63. Jahrgang
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Carsten Hefeker*
* Prof. Dr. Carsten Hefeker ist Inhaber des Lehrstuhls für Europäische Wirt-
schaftspolitik an der Universität Siegen.
Zur Diskussion gestellt
meinsam für die fiskalischen Probleme einzelner Staa-
ten eintritt.
Eine weitere Externalität ist aufgetaucht in der unzureichen-
den Bankenregulierung. Die Erfahrungen zeigen die Not-
wendigkeit einer gesamteuropäischen Perspektive deutlich.
Weder die beteiligten Banken noch die nationalen Aufsichts-
behörden haben eine systemische Perspektive eingenom-
men, die die Zusammenhänge zwischen den Bilanzen der
nationalen Banken und ihrer Kreditvergabe berücksichtigt
hätte. Auch hier, so die einleuchtende Meinung vieler Be-
obachter, sei es gut, wenn eine stärkere Zentralisierung statt-
finden würde. Mindestens fehle eine europäische Agentur,
die in der Lage wäre, eine gemeinsame europaweite Risi-
koabschätzung vorzunehmen. Zugleich könnte eine gemein-
same Regulierung vermutlich auch Skalenerträge hervor-
bringen, denn eine europäische Regulierungsbehörde soll-
te in der Lage sein, ihre Expertise zu geringeren Kosten zur
Verfügung zu stellen, als dies die nationalen Regulierungs-
behörden können. Zugleich würde der vielbefürchtete
»race to the bottom« verhindert werden können.
Europa 2020
Auch die Europäische Kommission hat Interesse an einer
weitergehenden Zentralisierung. Im Frühjahr hat sie ihre Zu-
kunftsstrategie »Europa 2020« vorgelegt, eine Wiederbele-
bung der Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000, die vor-
sah, Europa bis 2010 zum dynamischsten Wirtschaftsraum
der Welt zu machen. Funktioniert hat das nach Meinung
der Kommission vor allem deshalb nicht, weil die Krise da-
zwischen kam. Das ist wenig überzeugend, denn bis zum
Ausbruch der Krise hätten die Ziele mehr oder weniger er-
reicht sein sollen. Realistischer ist wohl, dass sie nicht er-
reicht wurden, weil die Mitgliedstaaten sich nicht an ihre
Zusagen gebunden fühlten und keine klaren Verantwortlich-
keiten mit Sanktionsmöglichkeiten geschaffen wurden. Dies
könnte man beheben, wenn Brüssel mehr Überwachungs-
und Sanktionsrechte bekäme.
Die neue Strategie hat die alten Ziele erneuert und zusätz-
lich die Umwelt und Armutsbekämpfung vorgenommen.
Europa will den Anteil der erneuerbaren Ressourcen erhö-
hen am Energiemix, es will die Beschäftigungsquote deut-
lich erhöhen, und es will die Ausgaben für Forschung und
Entwicklung sowie den Anteil der Hochschulabsolventen in
einem Jahrgang deutlich steigern. Aber bereits bei der Quan-
tifizierung des Anteils eines Jahrgangs, der universitäre Bil-
dung genießen soll, musste die Entscheidung auf ein spä-
teres Treffen verschoben werden, da die Staaten Hoheits-
vorbehalte hatten. Ähnliches gilt für Zusagen über die Be-
kämpfung der Armut im eigenen Land, auch hier brauchte
man längere Diskussionen, bis eine für alle akzeptable Zahl
gefunden wurde. Noch wichtiger aber ist, dass von den Me-
chanismen der Kontrolle und der Rechenschaftspflicht der
Staaten wenig übrig geblieben ist. Barrosos Entwurf sah
Sanktionsmöglichkeiten vor; davon ist im Entscheid des Ra-
tes nichts mehr zu lesen. Zu groß ist offenbar die Angst der
Mitgliedstaaten vor einem starken Europa, das bestimmte
Politikmaßnahmen auch erzwingen kann. Auch das sieht
nicht nach einem Konsens für eine europäische Wirtschafts-
regierung aus.
Aber Europa braucht auch keine gemeinsame Wirtschafts-
regierung. Zwei Dinge sind wichtiger als eine noch weiter
gehende Vereinheitlichung. Man muss sich die Frage stel-
len, wo Externalitäten bestehen und Mechanismen zum Ein-
dämmen dieser Externalitäten nötig sind. Und man muss
sich auf die konsequente Durchsetzung von beschlossenen
Regeln einigen.
Eine nachhaltige und unabhängige Finanzpolitik
Das Griechenlanddebakel hat demonstriert, wenn es des-
sen noch bedurfte, dass unverbindliche Regeln nicht viel
wert sind. Nicht nur hätte Griechenland mit gefälschten Zah-
len nicht in die Währungsunion hinein gedurft, es hat seit sei-
nem Eintritt in die EWU nicht auch nur einmal die 3%-Gren-
ze für das Defizit erfüllt. Das liegt daran, dass bislang die Fi-
nanzminister der Staaten als Ministerrat ECOFIN einer Ver-
warnung oder Bestrafung von Staaten zustimmen müssen.
Die aber konnten sich von Anfang an nicht auf die strikte
Einhaltung der Regeln einigen. Insbesondere Deutschland,
Frankreich und Italien haben die Regeln unterlaufen und sie
dann noch offiziell flexibilisiert durch die Aufnahme nahezu
unbegrenzter Ausnahmetatbestände. Von ECOFIN kann
also nicht erwartet werden, dass er auf einer Durchsetzung
der Regeln bestehen wird. Stattdessen müsste die Überwa-
chung auf eine andere Stelle übertragen werden.
Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Man könnte die Implemen-
tierung der Kommission überlassen oder ein unabhängiges
Gremium damit betrauen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass
sich die Regierungen darauf einigen werden, der Kommis-
sion mehr Macht zu verleihen. Vielmehr wird man befürch-
ten, dass die Interessen der EU zu sehr Übergewicht gewin-
nen gegenüber den Einzelstaaten. Als Wächter und Motor
der Integration ist die Kommission außerdem viel zu sehr
selbst betroffen und von den Regierungen abhängig, als
dass man ihr unabhängiges und politikfreies Agieren unter-
stellen könnte.
Alternativ kann man die Überwachung der Regeln einem un-
abhängigen Gremium übertragen. Dessen Aufgabe wäre es,
die Zahlen zu sichten und zu prüfen, ob objektive Gründe
dafür vorliegen, warum das betroffene Land die Regeln nicht
einhalten kann. Wenn man zu den ursprünglichen Regeln
zurückkehrt, würde das bedeuten, dass nur eine Rezessi-
63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
9
Zur Diskussion gestellt
on, die das Bruttoinlandsprodukt hinreichend stark sinken
lässt, eine akzeptable Ausnahme darstellen würde. Selbst
wenn man noch andere Gründe für ein Verfehlen der Vor-
gaben akzeptiert, ist unabdingbar, dass die Finanzminister
nicht länger Richter in eigener Sache sind. Ein unabhängi-
ges Gremium müsste aus Personen von außerhalb der ak-
tiven Politik mit ökonomischem Sachverstand bestehen und
aus offensichtlichen Gründen aus einer großen Zahl von Mit-
gliedstaaten kommen. Denkbar wären ehemalige Zentral-
banker sowie Vertreter aus Unternehmen, Gewerkschaften
und der Forschung, um eine möglichst breite gesellschaft-
liche Akzeptanz zu erreichen. Dieses Gremium sollte den
generellen Kurs der Finanzpolitik eines Landes bewerten und
entsprechende Empfehlungen und Auflagen über Defizite
und Verschuldung formulieren. Denkbar wäre, dass die be-
troffenen Staaten vor einer Entscheidung angehört werden,
aber die letzte Entscheidung müsste bei diesem Gremium
liegen. Dabei ginge es nicht darum, in einzelne Haushalte
einzugreifen, sondern nur auf das Defizit und die Gesamt-
verschuldung zu achten. Nur dann wäre eine effektive Bin-
dung durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt erreicht.
Die jetzige Praxis von nationalen Berichten, die ECOFIN vor-
gelegt werden, reicht dazu nicht aus.
Noch besser wäre es, wenn dieses Gremium auf EU-Ebe-
ne durch nationale Fiskalräte ergänzt würde, die auf natio-
naler Ebene darüber zu entscheiden hätten, ob die Fiskal-
politik zu expansiv ist. Auch hier ginge es nicht darum, in
die Haushaltshoheit des Parlaments einzugreifen. Aufgabe
wäre es lediglich, bindende Maßnahmen zu fordern und
durchzusetzen, wenn der Haushalt von dem Pfad einer vor-
gegebenen Nettoneuverschuldung abweicht. Die Zusam-
mensetzung des Haushalts wäre immer noch Sache von
Regierung und Parlament, aber der Pfad der Fiskalpolitik
wäre der Politik entzogen. Diese Fiskalräte könnten von der
Regierung verlangen, ein bestimmtes Fiskalziel zu erreichen,
ob das aber über Steuererhöhung oder Ausgabensenkung
geschähe, wäre nach wie vor eine Entscheidung von Regie-
rung und Parlament.
Befürworter einer solchen Idee haben auf die guten Erfah-
rungen mit der Unabhängigkeit der Geldpolitik verwiesen
(vgl. Wyplosz 2005). Erst mit einer weitgehenden Trennung
von Politik und Geldpolitik ist es gelungen, hohe Inflations-
raten in vielen Ländern der Welt hinter sich zu lassen. Und
von gelegentlichen Versuchen der Einflussnahme abgese-
hen, scheint ein sehr breiter Konsens darüber zu herrschen,
dass sich die Geldpolitik durch diese Loslösung von der
Tagespolitik deutlich verbessert hat. Das hat zugleich nicht
dazu geführt, dass alle Zentralbanken sich dieselben Ziele
oder gar dieselbe Inflationsrate setzen würden. Stattdes-
sen gehen sie auf nationale Gegebenheiten ein und nehmen
auf nationale Präferenzen Rücksicht. Ebenso wenig wäre zu
befürchten, dass eine unabhängigere Fiskalpolitik zu einer
zu weitgehenden Vereinheitlichung und Gleichmacherei füh-
ren würde. Klare Regeln, anders als eine Vereinheitlich der
Politik, führen nicht unbedingt zu einem Eingriff in nationa-
le Präferenzen.
Schuldenkrisen vermeiden und bewältigen
Die griechische Krise hat ebenfalls eine starke Abhängig-
keit der EU von den Finanzmärkten und Banken gezeigt.
Das ist keine haltbare Situation für die fiskalischen Proble-
me der Zukunft. Eine aktuelle Studie zeigt, dass, wenn sich
die Fiskalpolitik unverändert weiterentwickelt, auch im Mo-
ment noch solvente Staaten wie Großbritannien, die USA,
Japan und Deutschland Werte von mehreren 100% an
Staatsschuld erreichen werden.1Es ist offensichtlich, dass
dies nicht haltbar ist. Wenn aber darauf spekuliert wird, dass
Europa immer dann einen Rettungsschirm aufspannt, wenn
Staaten Finanzprobleme haben, kann eine Bremse in der
Fiskalpolitik nicht glaubhaft sein.
Neben einer strikten Einhaltung der Regeln wird die No-bail-
out-Klausel dann glaubwürdig, wenn Staaten auch zah-
lungsunfähig werden können. Das Problem, wie die aktu-
elle Krise gezeigt hat, ist die Angst vor einer Panik und ei-
nem unkontrollierten Ablauf einer solchen Zahlungsunfähig-
keit, verbunden mit einer Zahlungs- und Bankenkrise. Von
daher würde es sich lohnen, die im Zuge der Argentinien-
krise vorgeschlagene und diskutierte Möglichkeit eines In-
solvenzverfahrens für Staaten ernsthaft in Erwägung zu zie-
hen, um eine geordnete Lösung der Zahlungsprobleme
möglich zu machen. Damals haben sich vor allem die USA
dagegen gewehrt, aber auch Europa war wenig enthusi-
astisch, vor allem nachdem die Krise vorüber war. Aber ein
Neustart dieser Idee, und sei es nur auf europäischer Ebe-
ne, wäre angebracht, um die fiskalischen Probleme in den
Griff zu kriegen.2
Die Idee, lanciert von Anne Krueger, der damaligen Vizeche-
fin des Internationalen Währungsfonds, war es, ein geord-
netes Verfahren analog zu betrieblichen Insolvenzen zu schaf-
fen. Staaten würden ihre Zahlungsfähigkeit erklären und ein
unabhängiges Gremium würde einen Zahlungsstopp verfü-
gen und die Verbindlichkeiten für eine Übergangszeit aus-
setzen. Dann wäre ausreichend Zeit, gemeinsam nach ei-
ner Möglichkeit der Umschuldung zu suchen (beispielswei-
se durch neues Geld durch den IWF oder eine andere Stel-
le) und über eine Reduzierung der Schuld zu verhandeln.
ifo Schnelldienst 14/2010 – 63. Jahrgang
10
1Vgl. Cecchetti et al. (2010). Reinhart und Rogoff (2010) zeigen, dass Staa-
ten mit hoher Verschuldung krisenanfälliger sind und deutlich geringere
Wachstumsraten haben. Die Aussicht, dass stark verschuldete Länder aus
der Schuld herauswachsen können ist also eher gering.
2Eine internationale Einigung wäre allerdings vorzuziehen. Wenn man den
IWF einschalten wollte, wäre eine Anpassung seiner Statuten nötig, was
ohne die Zustimmung der USA nicht geht. Zudem sind viele Staatspapie-
re nach amerikanischem Recht emittiert. Für Details, siehe C. Hefeker:
Ein Insolvenzrecht für souveräne Staaten?, Wirtschaftsdienst 11/2002,
684–688.
Zur Diskussion gestellt
Somit wären auch die Gläubiger bei der Bewältigung der
Krise mit im Boot. Statt eines Bailouts hätte man einen Bail-
in derjenigen, die zu naiv oder auch zu zynisch waren (weil
sie auf den Bailout hofften), zu leichtfertig Kredite an Staa-
ten zu vergeben.
Ein solches Verfahren würde helfen, ohne allzu große Ver-
werfungen eine Zahlungsunfähigkeit zu bewältigen, was wie-
derum stark verschuldeten Staaten helfen würde, einen Zah-
lungsausfall ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Wenn aber die
realistische Chance eines »Haircuts« für Investoren besteht,
haben diese wiederum einen starken Anreiz, ihre Kredite
nicht allzu leichtfertig zu vergeben. Staaten wie Griechen-
land wären dann nicht mehr in der Lage, sich aufgrund des
impliziten europäischen Bailout-Versprechens zu niedrigen
Zinssätzen zu verschulden. Risikoprämien würden wieder
eine Bedeutung haben und damit auch die sich stark ver-
schuldenden Staaten disziplinieren. Insofern würden sich die
Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts und ein Ver-
fahren zur Bewältigung von Schuldenkrisen ergänzen und
helfen, eine nachhaltige und stabile Finanzpolitik in Europa
zu erreichen.
Regeln statt Zentralisierung
Dort, wo starke Externalitäten bestehen, wie in der Ban-
kenregulierung, macht Zentralisierung gegebenenfalls Sinn.
Darüber hinaus bedarf Europa aber nicht so sehr grandio-
ser Pläne über eine Wirtschaftsregierung, die ohnehin we-
nig Chance auf Umsetzung haben. Stattdessen braucht es
eine Reihe von Maßnahmen, die in erster Linie die Glaub-
würdigkeit wiederherstellen und eine zukunftsfähige Politik
sicherstellen. Dazu bedarf es nicht einer Stärkung der eu-
ropäischen Institutionen, die bislang die Regeln nicht durch-
setzen konnten oder wollten, sondern einer Umsetzung der
Regeln durch unabhängige Gremien, die der Tagespolitik
entzogen sind. Die hier vorgeschlagenen Anpassungen der
institutionellen Ausgestaltung der EU können dazu beitra-
gen, die jetzt offenbar gewordenen Probleme zu lösen.
Europa braucht eine konsequentere Politik, keine weiteren
Luftschlösser.
Literatur
Cecchetti S. et al. (2010), »The Future of Public Debt«, Working Paper, Bank
für Internationalen Zahlungsausgleich, Februar.
Hefeker, C. (2002), »Ein Insolvenzrecht für souveräne Staaten?«, Wirtschafts-
dienst 82(11), 684–688.
Reinhart, C. und K. Rogoff (2010), This Time is Different,MIT-Press, Cam-
bridge MA.
Wyplosz, C. (2005), »Fiscal Policy: Institutions versus Rules«, National Insti-
tute Economic Review 191, 64–78.
Mehr Markt wagen – eine europäische
Wirtschaftsregierung kann die
Geburtsfehler der Währungsunion nicht
beheben
Dass nicht oder schlecht regulierte Finanzmärkte nicht op-
timal funktionieren und zu Übertreibungen neigen, ist keine
neue Nachricht. Selbst wenn sie funktionieren, haben es die
guten Schuldner leichter. Wenn innerhalb einer Währungs-
union ein einheitlicher Zinssatz dafür sorgt, dass höhere
Wachstumsraten in einem Land zu höheren Inflationsraten
und dadurch zu niedrigeren realen Zinsen führen, wird dies
noch verstärkt. Die Gewinner werden gefördert, die Nach-
zügler abgestraft. Der Kapitalverkehr verstärkt den Wettbe-
werb zwischen den Ländern der Europäischen Währungs-
union (EWU).
Kritisch war jedoch, dass ein Gegensteuern auf nationaler
Ebene nicht stattfand und kreditfinanzierte Staatsausga-
ben die Situation weiter anheizten. Zusätzlich wurde, ohne
entsprechende Signale der Ratingagenturen, eine erhebli-
che Fehlallokation von Kapitalströmen in Europa dadurch
bedingt, dass die Kapitalmärkte vor der Krise kaum zwi-
schen europäischen Schuldnern differenzierten (vgl. Sinn
2010). Auch ohne bewusstes Manipulieren der Zahlen für
den Staatshaushalt wie im Fall Griechenland drohen solche
Blasen zu platzen. In diesem Fall kommt eine weitere unan-
genehme Eigenschaft der Finanzmärkte hinzu. Es steigen
nicht nur die Finanzierungskosten; ab einem bestimmten
Punkt ist es für die Kreditgeber besser, Kreditlinien einzu-
stellen, statt durch immer höhere Zinsen faule Kredite zu pro-
longieren. Wenn man sich die Finanzmärkte zu Nutze ma-
chen will, um in die Zukunft zu investieren, sollte man sich
von dieser gefährlichen Zone weit entfernt halten.
63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
11
Rainer Schweickert*
* Dr. Rainer Schweickert forscht am Institut für Weltwirtschaft u.a. zu ins-
titutionellen Fragen der Europäischen Integration und Nachbarschafts-
politik.
Zur Diskussion gestellt
Es hat sich aber gezeigt, dass im Stresstest einer weltwei-
ten Finanzmarktkrise und einer entsprechenden Verunsiche-
rung der Finanzmärkte der Spielraum zwischen steigenden
Zinsen, die den betroffenen Regierungen das Signal zur mög-
lichst raschen Anpassung geben sollten, und dem Verwei-
gern von neuen Krediten sehr eng wird. Offensichtlich konn-
te dies weder durch die Maastricht-Kriterien noch durch den
Stabilitäts- und Wachstumspakt verhindert werden. Dafür
werden aber nun nicht etwa die Regierungen, sondern in
erster Linie die Finanzmärkte verantwortlich gemacht, und
getrieben von dieser Einschätzung fällt ein Tabu nach dem
anderen: Es gibt einen Bailout, die EZB akzeptiert auch
schlechte Papiere, und nun soll auch eine europäische Wirt-
schaftsregierung implementiert werden.
In diesem Beitrag wird dagegen argumentiert, dass man
Regierungsversagen nicht mit mehr Kompetenzen für die
Regierungen bekämpfen sollte und dass eine europäische
Wirtschaftsregierung nicht dazu beitragen kann, die ge-
genwärtige Krise besser zu bewältigen bzw. zukünftige Kri-
sen zu vermeiden. Es gilt, die Spielregeln zu verbessern
und damit sowohl Markt- als auch Regierungsversagen
zu verhindern.
Zur Krisenbewältigung
Grundsätzlich gibt es eine beschränkte Zahl von leicht zu
erklärenden, aber unter Umständen schwer umzusetzenden
Anpassungsalternativen. Löhne in den (Leistungsbilanz-)De-
fizitländern müssen deutlich weniger steigen und die Fiskal-
politik wesentlich restriktiver ausfallen als in den Überschuss-
ländern. Ein höheres durchschnittliches Inflationsniveau in
der EU, durch höhere Löhne und Staatsausgaben in den
Überschussländern, würde es den Defizitländern leichter ma-
chen. Auch ein Austritt aus der Währungsunion würde es
den Defizitländern leichter machen, eine solche Anpassung
vorzunehmen – notwendig ist beides nicht und es wäre zu-
dem mit erheblichen Kosten verbunden.
Bei der Forderung nach mehr Inflation bzw. Lohnsteigerun-
gen in den Überschussländern wird ein zentraler Aspekt
leicht übersehen. Europa ist zwar ein großer Wirtschafts-
raum mit einer Dominanz interner Handelsströme – es be-
findet sich aber in einem immer intensiveren Wettbewerb mit
anderen Regionen – nicht nur im bilateralen Verhältnis, son-
dern auch auf dem europäischen Markt. Neben den OECD-
Ländern sind dies in zunehmendem Maße die Schwellen-
länder, die sogar gestärkt aus dieser weltweiten Krise her-
vorgehen könnten. Die Forderung, die in einigen Ländern
erarbeitete Wettbewerbsposition freiwillig zu schwächen,
kann bei diesem Szenario nur zu erheblichen und unab-
sehbaren Kosten führen. Gleiches würde wahrscheinlich
für den Austritt Griechenlands aus der Europäischen Wäh-
rungsunion gelten.
Lehnt man eine solche Politik aber ab, so ist eine sinnvol-
le Rolle für eine europäische Wirtschaftsregierung nicht zu
erkennen (vgl. z.B. Belke 2010). In den Bereichen, in de-
nen unabhängig von der aktuellen Situation Koordinati-
onsbedarf besteht, kann er durch bestehende Institutio-
nen abgedeckt werden (vgl. Bofinger 2010). So wird auch
die aktuelle Krisenbewältigung im ECOFIN, und hier insbe-
sondere von der Eurogruppe in Zusammenarbeit mit der
Kommission, behandelt. Fragen könnte man hier lediglich,
ob nicht die Eurogruppe – in Abstimmung mit der EZB –
Maßnahmen zur Stabilisierung des europäischen Währungs-
raums und zur Unterstützung der EZB-Politik umsetzen kön-
nen sollte.
Ohne explizite Beteiligung der EZB stellt sich natürlich die
Frage nach dem Ziel einer europäischen Wirtschaftsregie-
rung. Interessanterweise führt diese Frage zurück zu einem
der Geburtsfehler der Europäischen Währungsunion, den
unterschiedlichen Einstellungen zur Unabhängigkeit der Zen-
tralbank und zur Notwendigkeit einer Wirtschaftsregierung
als »Gegengewicht« (vgl. Schweickert 2002). Es wundert
daher wenig, dass im Zuge der aktuellen Finanzkrise ein neu-
er Anlauf genommen werden soll. Für die aktuelle Krisen-
bewältigung ist dies nicht hilfreich, da selbst bei besten Ko-
ordinierungsabsichten nicht in Marktprozesse wie die Lohn-
findung und auch in die souveräne Entscheidung nationa-
ler Parlamente zum jeweiligen Budget eingegriffen werden
kann. Die Unabhängigkeit der EZB würde dafür unterminiert,
zumindest würde ihre Aufgabe, für Preisstabilität zu sor-
gen, erheblich erschwert.
Zu den Spielregeln der EWU
Es bleibt die Hoffnung, dass die Aufräumarbeiten nach der
Krise auch die Gelegenheit bieten, einen weiteren Geburts-
fehler wie die Aufnahmeprozedur zu überdenken (vgl.
Schweickert 2010). Der ursprüngliche Zweck der Maastricht-
Kriterien war, die entstehende EWU möglichst klein zu hal-
ten. Der wurde eindeutig verfehlt, weil zum einen viele Län-
der (damals) ihre Hausaufgaben gemacht hatten und zum
anderen, weil der Beitrittsprozess trotz Kriterien und Kon-
vergenzberichten ein politischer ist. Ohne die Stimmen Ita-
liens wäre die notwendige qualifizierte Mehrheit für den Start
der Währungsunion kaum zustande gekommen, und Län-
der mit ähnlicher Ausgangslage konnten da kaum abgelehnt
werden (vgl. Schweickert 2002). Erste Aufweichungsten-
denzen waren so nahezu zwangsläufig.
Seitdem mühen sich die Konvergenzberichte an der Inter-
pretation der Kriterien ab, wobei jedes Mal ein ordentli-
cher Spagat notwendig ist, um ökonomische Zusammen-
hänge in das Kriterienkorsett zu zwängen. Estland, das
nächstes Jahr beitreten darf, ist dafür ein gutes Beispiel.
Die Europäische Zentralbank hält in ihrem Konvergenzbe-
ifo Schnelldienst 14/2010 – 63. Jahrgang
12
Zur Diskussion gestellt
richt fest, »… dass Bedenken hinsichtlich
der Nachhaltigkeit der Inflationskonvergenz
in Estland bestehen …«.
Dazu muss man wissen, dass Estland seit
1992 einen festen Wechselkurs gegenüber
der D-Mark und später dem Euro mit einem
Currency-Board-System begleitet, bei dem
die heimische Geldmenge vollständig durch
Devisenreserven gedeckt wird. Nun ist bei
festem Wechselkurs und freiem Kapitalver-
kehr eine eigenständige Geldpolitik, mit der
die Inflationsrate gesteuert werden könnte,
nicht möglich. Eine nachhaltige Inflationskon-
vergenz ist also eigentlich dann nur bei völ-
lig homogenen Ländern möglich – für eine
kleine offene Volkswirtschaft im Aufholpro-
zess kaum zu schaffen. Letztlich verdankt
Estland seinen Beitritt also nun der weltwei-
ten Wirtschaftskrise, die die Inflation momen-
tan nachhaltig eingebremst hat.
Grundsätzlich wurde die starke Betonung der Ex-ante-Har-
monisierung des Preisniveaus (und damit verbunden auch
der Wechselkurse und der Zinsen) schon früh kritisiert. Au-
ßerdem sind die finanzpolitischen Kriterien zum Zugang zur
EWU als Eintrittsbedingungen nicht hinreichend und nur ein-
geschränkt notwendig. Eine fortschreitende Harmonisierung
der Finanzpolitik kann vermieden werden, wenn ein Bailout
hinreichend unattraktiv zu gestalten oder glaubwürdig aus-
zuschließen ist (vgl. Schweickert 1996, 204).
Betrachtet man diese kritischen Punkte im Licht der jüngs-
ten Ereignisse, so erscheint tatsächlich der glaubwürdige
Ausschluss des Bailouts als zentraler Geburtsfehler. Der for-
male Ausschluss reicht nicht aus. Der No-bailout-Artikel 125
des Vertrags von Maastricht müsste durch ein konkluden-
tes Insolvenzverfahren ergänzt werden (vgl. Blankart und
Fasten 2010). Mitten in der Krise kann ein solches Verfah-
ren nicht implementiert werden. Die Märkte und die betrof-
fenen Länder müssen vorher wissen, wie hoch der Nutzen
und die Kosten eines solchen Insolvenzverfahrens zu be-
werten sind. Wie wahrscheinlich es ist, sollte eigentlich durch
das Kreditrating angezeigt werden.
Geht man davon aus, dass das Kreditrating reformiert wer-
den kann, was aufgrund seiner zentralen Rolle für das Funk-
tionieren von Kapitalmärkten unabdingbar ist, dann hätten
sowohl Kreditgeber als auch die Mitgliedsländer der EWU
einen Anreiz zum soliden Haushalten, aber auch zur Verbes-
serung der Kapitalmarktqualität und der Nachhaltigkeit der
wirtschaftlichen Entwicklung – alles Bestandteile eines Best-
practice-Ratings. Schuldengrenzen, deren Durchsetzung
entweder Kosten durch die One-size-fits-all-Praxis oder
Glaubwürdigkeitsverluste aufgrund fehlender Implementie-
rung bedeuten, könnten entfallen bzw. aufgrund nationaler
Überlegungen freiwillig und den Präferenzen angepasst for-
muliert werden (vgl. Vaubel 2010). Zusätzlich könnte die Wäh-
rungsunion gestärkt werden, wenn ein so verstandenes Kre-
ditrating zentrales Element der Aufnahmekriterien wäre, et-
wa indem man die Konvergenzkriterien in ihrer Bedeutung
deutlich herunterstuft. Im Artikel 140 heißt es in Absatz 1:
Die Berichte der Kommission und der Europäischen Zen-
tralbank berücksichtigen auch die Ergebnisse bei der Inte-
gration der Märkte .... Hier liegt ein weiter Interpretations-
spielraum, den man nutzen könnte.
Finales Ziel der Europäischen Währungsunion müsste es
doch sein, dass alle Mitgliedsländer ein AAA-Rating errei-
chen. Nach dem Stresstest durch die weltweite Finanz- und
Wirtschaftskrise erfüllen zurzeit nur die Länder, die früher die
so genannte DM-Zone gebildet hatten, und die Länder, die
zurzeit nicht teilnehmen wollen, dieses Kriterium (vgl. Tab. 1).1
Hier kann man auch erkennen, dass die jüngsten Mitglie-
der der Währungsunion (Slowenien, Slowakei und dem-
nächst Estland) zurzeit auf einer Stufe mit den Problemlän-
dern (Ausnahme Griechenland) stehen, eine Tatsache, die
von Konvergenzberichten nicht zentral berücksichtig wer-
den kann.
Reformiertes Kreditrating als Orientierung
Zur Diskussion gestellt werden soll deshalb der Vorschlag,
statt auf Koordinierungs- und Harmonisierungsbedarf auf
die Bewertung durch die Märkte zu setzen. Ein Wettbe-
werb zwischen Mitgliedsländer um die, nach nationalen Prä-
ferenzen und bei gegebenen Nebenbedingungen für die
63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
13
Tab. 1
S&P Domestic Ratings im Juli 2010 (Stand: 9. Juli 2010)
AAA AT DK FI FR DE LU NL SE GB
AA+ BE
AA IE SI ES
AA-
A+ CY CZ IT SK
A MT PL
A- EE PT
BBB+
BBB BG LT
BBB- HU RO
BB+ GR
BB LV
Quelle: Zusammenstellung des Autors.
1Dies entspricht weitgehend auch der Bewertung der Kapitalmärkte. Auch
Rettungspakte, Rettungsschirm und Aufkauf von Anleihen durch die EZB
konnten an der Ausdifferenzierung der Zinsen für Sovereigns für die Nicht-
AAA-Länder wenig ändern (vgl. IMF 2010).
Zur Diskussion gestellt
Währungsunion, sinnvollste Wirtschaftspolitik kann den Euro
dauerhaft zu einer harten Währung mit steigendem Gewicht
in internationalen Währungskörben machen.
Dazu müsste ein Best-practice-Kreditrating die Grundlage für
den Beitritt und für ein Monitoring nach dem Beitritt sein. Wür-
den die Ressourcen der EZB in diesem Sinne eingesetzt und
für maximale Transparenz gesorgt, könnte man gleichzeitig
ein Benchmark für die privaten Ratings setzen.2Eine abwei-
chende Beurteilung könnte so zumindest diskutiert werden.
Als notwendig für den Eintritt in die EWU könnte ein AA-Ra-
ting betrachtet werden, das z.B. von einem Land wie Chile
erreicht wird. National definierte Maßnahmen, um dies zu er-
reichen bzw. zu verbessern, könnten auch im Rahmen beste-
hender Institutionen unterstützt werden. Zusätzlich müsste al-
lerdings ein Insolvenzverfahren etabliert werden, das für die
Gläubiger kalkulierbare Kosten bedeutet, in Krisensituationen
rechtzeitig von die betroffenen Ländern eingegangen wer-
den kann und die EWU insgesamt nicht in Gefahr bringt.
Zugegeben: Die Hoffnung, dass sich eine solche an den Ka-
pitalmarkterfordernissen ansetzende Politik durchsetzt, er-
scheint gering. Sie könnte jedoch gerade auch den EU-Län-
dern, die noch nicht Mitglied der EWU sind, klare und faire
Signale senden und die Konvergenzbemühungen auf die
Bereiche lenken, die für das Funktionieren einer Währungs-
union mit ansonsten weitgehend souveränen Mitgliedstaa-
ten tatsächlich wichtig sind. Dadurch könnte letztlich sogar
die Akzeptanz der europäischen Idee gestärkt werden. Ei-
ne europäische Wirtschaftsregierung würde dagegen die
Geburtsfehler der EWU mindestens fortschreiben, wahr-
scheinlich aber verstärken.
Literatur
Belke, A. (2010), »Lernen aus der Griechenland-Krise – Europa braucht mehr
Governance«, Wirtschaftsdienst 90(3), 152–157.
Bofinger, P. (2010), »The Shape of Economic Governance«,
http://www.vwl.uni-wuerzburg.de/fileadmin/12010100/sonstiges/Session_
6_Peter_Bofinger.pdf.
Blankart, Ch.B. und E.R. Fasten (2010), »Spare in der Zeit und Du wirst dar-
ben in der Not?«, ifo Schnelldienst 63(11), 13–18.
Harbrecht, E. und M. Wieland (2010), »Ist eine europäische Rating-Agentur
sinnvoll, und wie sollte sie organisiert werden?«, ifo Schnelldienst 63(1), 3–6.
IMF (2010), GFSR – Market Update July 2010, Washington, D.C.
Schweickert, R. (1996), »Harmonisierung versus institutioneller Wettbewerb
zur Sicherung realwirtschaftlicher Anpassung und monetärer Stabilität in der
Europäischen Währungsunion«, Beihefte der Konjunkturpolitik (44), 181–212.
Schweickert, R. (2001), »The Making of European Monetary Union«, in: H.G.
Choo und Y. Wang (eds.), Currency Union in East Asia, Korea Institute for In-
ternational Economic Policy, Seoul.
Schweickert, R. (2010), »Estland, Maastricht und der Euro«, Ökonomenstim-
me, 21. Mai 2010, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2010/05/est-
land-maastricht-und-der-euro/.
Sinn, H.-W. (2010), »Die Bedeutung des Gewährleistungsgesetzes für
Deutschland und Europa«, ifo Schnelldienst 63(10), 3–9.
Vaubel, R. (2010), »Die Stabilität des Euro hängt nicht von der griechischen
Haushaltspolitik ab«, http://vaubel.uni-mannheim.de/publications/index.html.
Braucht die Eurozone eine europäische
Wirtschaftsregierung?
Vor dem Hintergrund der Krise der europäischen Währungs-
union ist von verschiedenen Seiten gefordert worden, eine
europäische Wirtschaftsregierung zu etablieren. Was stel-
len sich die Befürworter unter einer europäischen Wirt-
schaftsregierung vor? Wäre eine europäische Wirtschafts-
regierung, wenn es sie den gegeben hätte, in der Lage ge-
wesen, die Eurozone vor der jetzigen Krise zu bewahren?
Könnte eine europäische Wirtschaftsregierung die Wäh-
rungsunion für die Zukunft krisenfest machen? Im Folgen-
den wird kurz aufgezeigt, welche Politikkonzeption bislang
in der Währungsunion einerseits verfolgt wird und welches
wirtschaftspolitische Paradigma einer europäischen Wirt-
schaftsregierung andererseits zugrunde liegt. Eine Einschät-
zung der Ursachen der Krise soll dann Aufschluss darüber
geben, ob die aktuelle Krise durch Konstruktionsfehler der
Währungsunion herbeigeführt wurde und ob eine europäi-
sche Wirtschaftsregierung geeignet wäre, Wohlstand und
Stabilität sowie den Bestand der Währungsunion selbst zu
sichern.
Die Architektur der Währungsunion
Die bisherige Architektur der Währungsunion sieht vor, dass
die Europäische Zentralbank (EZB) vollkommen unabhän-
gig von politischer Einflussnahme auf die Einhaltung der
Geldwertstabilität zu achten hat. Innerhalb des von der EZB
geldpolitisch vorgegebenen Rahmens tragen die wirtschaft-
lichen Akteure – im Wesentlichen die Tarifvertragsparteien
sowie die nationalen wirtschaftspolitischen Entscheidungs-
träger der einzelnen Mitgliedsländer – die Verantwortung da-
für, dass ein hoher Beschäftigungsstand erreicht und wirt-
ifo Schnelldienst 14/2010 – 63. Jahrgang
14
Konrad Lammers*
2Dies könnte auch eine Alternative zu einer staatlich beeinflussten europäi-
schen Ratingagentur sein, von der keine Erhöhung der Finanzmarktstabi-
lität zu erwarten wäre (vgl. Harbrecht und Wieland 2010).
* Dr. Konrad Lammers ist Forschungsdirektor am Institute for European In-
tegration, Europa-Kolleg Hamburg.
Zur Diskussion gestellt
schaftliches Wachstum realisiert werden. Damit die Fiskal-
politik der einzelnen Mitgliedsländer nicht das Ziel der Geld-
wertstabilität unterläuft, sind die Mitgliedsländer über den
Stabilitäts- und Wachstumspakt gehalten, Budgetdisziplin
zu wahren. Außerdem sieht diese Konzeption vor, dass für
wirtschaftliche Anpassungslasten eines Landes andere Län-
der der Währungsunion nicht in Anspruch oder Haftung ge-
nommen werden dürfen.
Da die Geldpolitik sowie der Wechselkurs zwischen den Län-
dern der Eurozone überhaupt nicht und die Fiskalpolitik nur
mit Restriktionen als wirtschaftspolitische Stellgrößen zur
Verfügung stehen, ist das Handlungsspektrum der Mitglieds-
länder im Wesentlichen auf die Lohnpolitik und solche Maß-
nahmen beschränkt, die die Bedingungen angebotsseitig
für Beschäftigung und Wachstum verbessern. Um einen be-
friedigenden Beschäftigungsstand zu erreichen oder zu si-
chern, müssen sich die Lohnstückkosten an der Produkti-
vitätsentwicklung orientieren. Um die Anpassungsflexibilität
der Wirtschaft bei externen Schocks zu erhöhen und wirt-
schaftliches Wachstum zu begünstigen, sind Friktionen auf
allen Märkten zu beseitigen und im Falle von Marktversa-
gen geeignete Regulierungen zu etablieren und öffentliche
Güter effizient bereit zu stellen. Die der Währungsunion zu-
grunde liegende wirtschaftspolitische Konzeption ließe sich
als regelgebunden und stabilitätsorientiert beschreiben. Ab-
gesehen von der Geldpolitik setzt diese Konzeption auf de-
zentrale Entscheidungen auf der nationalen Ebene.
Die Anforderungen an die nationalen Wirtschaftspolitiken sind
bei dieser Politikkonzeption zweifellos hoch, zumal es keinen
Finanzausgleich oder andere länderübergreifende Ausgleichs-
mechanismen etwa über soziale Sicherungssysteme zwischen
den Ländern der Eurozone gibt. Die Anforderungen an die na-
tionale Wirtschaftspolitik sind auch deshalb besonders hoch,
weil die Mitgliedsländer der Währungsunion zu Beginn alles
andere als einen optimalen Währungsraum darstellten. Die
nationalen Wirtschaftspolitiken hätten deshalb in den ersten
Jahren der Währungsunion mit aller Kraft darauf hinwirken
müssen, Preisrigiditäten auf Märkten zu beseitigen und die
Mobilität der Produktionsfaktoren im gemeinsamen Währungs-
raum grenzüberschreitend zu erhöhen.
Mögen die Anforderungen an die nationalen Politiken auch
sehr groß sein, diese Politikkonzeption ist letztlich in sich
konsistent. Nach dieser Konzeption kann die Währungs-
union nur funktionieren, wenn die Mitgliedsländer ihrer Ver-
antwortung gerecht werden.
Europäische Wirtschaftsregierung –
ein Deutungsversuch
Was ist nun unter einer »europäischen Wirtschaftsregierung«
zu verstehen und in welchem Verhältnis steht das dahinter
stehende Konzept zur bisherigen Architektur der Währungs-
union? Zunächst ist festzuhalten, dass es keine allgemein
akzeptierten Vorstellungen dafür gibt, was eine europäische
Wirtschaftsregierung ausmacht. Als sicher kann gelten, dass
dahinter französische Vorstellungen stehen, die schon in der
Debatte über die anzustrebende Strategie für die Integrati-
on der Märkte bei Gründung der damaligen EG sichtbar wur-
den. Danach sollte eine zentrale europäische Instanz da-
rauf hinwirken, dass möglichst einheitliche Standards etwa
in sozialer Hinsicht in allen Mitgliedsländern auf dem Verord-
nungswege verwirklicht werden. Erst dann sei fairer Wett-
bewerb innerhalb der Gemeinschaft möglich. Die deutsche
Position setzte hingegen auf die angleichende Kraft des Wett-
bewerbs auf offenen Märkten, auch bei sozialen Standards
(vgl. Runge 1972, 33). Im Gründungsvertrag finden sich Ele-
mente sowohl der deutschen als auch der französischen
Position wieder (vgl. Lammers 1991, 417 f.). Die Forderung
nach einer europäischen Wirtschaftsregierung wurde von
Frankreich dann explizit in die Verhandlungen über die Schaf-
fung der Währungsunion Anfang der neunziger Jahre ein-
gebracht. Eine solche Regierung sollte als eine Art Gegen-
gewicht zu einer europäischen Zentralbank wirken. Sie wä-
re nach französischen Vorstellungen durch den Rat – soweit
er die Staaten vertritt, die an der Währungsunion teilnehmen
– gebildet worden. Sie sollte mit Kompetenzen ausgestat-
tet sein, die die Unabhängigkeit der Zentralbank und deren
strikte Ausrichtung auf das Stabilitätsziel in Frage gestellt
hätten. Die französische Auffassung setzte sich in den Ver-
handlungen gegenüber den deutschen Vorstellungen, die
sich an dem Modell einer unabhängigen Bundesbank ori-
entierten und eine Globalsteuerung auf europäischer Ebe-
ne ablehnten, nicht durch; es kam vielmehr zu der oben skiz-
zierten wirtschaftspolitischen Architektur der Europäischen
Währungsunion (vgl. Thiel 1999, 49 f.).
Anfang dieses Jahres ist dann vor dem Hintergrund der Kri-
se der Währungsunion die Idee einer europäischen Wirt-
schaftsregierung von französischer Seite wieder aufgegrif-
fen worden. Auch Ratspräsident Herman Van Rompuy be-
nutzte in (der auf Englisch verfassten Einladung) an die Re-
gierungschefs zur Tagung des Europäischen Rates im März
dieses Jahres den Begriff »economic government«. Er
schlug vor, zu diskutieren, ob nicht neben der Überwachung
der nationalen Budgets im Rahmen des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes auch eine Überwachung für die Wett-
bewerbsfähigkeit und die Leistungsbilanzen der Mitglieds-
länder eingerichtet werden solle. Ferner stellte er die Fra-
ge, ob nicht die Politik auf der nationalen Ebene diese As-
pekte auch für andere Länder mitberücksichtigen müsste,
wobei er diese Fragen an alle 27 Mitgliedstaaten adres-
sierte und sie in einen Zusammenhang mit der neuen EU-
Wachstumsstrategie stellte, zu der die Kommission be-
reits einen Vorschlag erarbeitet hatte (European Council
2010a). In den Schlussfolgerungen zur Tagung des Rates
am 25.–26. März taucht der Begriff »economic government«
63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
15
Zur Diskussion gestellt
nicht auf; dort ist stattdessen von »coordination of econo-
mic policies« die Rede (European Council 2010b). In der
»Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitglied-
staaten des Euro-Währungsgebietes« vom 25. März, die
auf derselben Tagung verabschiedet wurde, wird ebenfalls
nicht von »economic government« sondern von »economic
governance« gesprochen.1Während in der deutschen Fas-
sung »economic governance« mit »wirtschaftspolitische
Steuerung« übersetzt wird, wird in der französischen Über-
setzung dafür allerdings der Begriff »gouvernement éco-
nomique« verwendet. Inzwischen ist eine »Task force on
economic governance« unter dem Vorsitz des Ratspräsi-
denten eingesetzt worden, die sich mit Fragen der Bud-
getdisziplin und der Wettbewerbsfähigkeit aller Mitglieds-
länder sowie einem effektiven Krisenmechanismus für die
Länder der Eurozone beschäftigen soll. Auch in den bis-
herigen Kommuniqués dieser Arbeitsgruppe ist in diesem
Zusammenhang stets von »economic governance«, nie von
»economic government« die Rede. Gleichwohl forderte
Staatspräsident Sarkozy mit Vehemenz die Einrichtung ei-
ner europäischen Wirtschaftsregierung. Sie solle sich auf
die 16 Mitgliedsländer der Eurozone beschränken und über
ein eigenes Sekretariat auf europäischer Ebene verfügen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat beides abgelehnt, sich
aber auf den Sprachgebrauch »europäische Wirtschaftsre-
gierung« eingelassen. Auf einem Treffen am 14. Juni 2010
hat sie sich nach einem Bericht der Frankfurter Allgemei-
nen Zeitung vom 15. Juni mit Staatspräsident Sarkozy auf
eine »europäische Wirtschaftsregierung der 27 Mitglied-
staaten« geeinigt, die stärker als bisher sein solle.
Der Gebrauch der Begriffe »gouvernement économique«,
»economic government«, »economic governance«, »wirt-
schaftspolitische Steuerung«, »europäische Wirtschafts-
regierung« auf der politischen Bühne und auf dem euro-
päischen Parkett trägt wenig zur inhaltlichen Klärung der
dahinter stehenden Inhalte bei. Er zeigt vielmehr wie hin-
ter Formelkompromissen um Positionen gerungen wird.
Um die Debatte voranzutreiben, ist es notwendig, die Po-
sitionen und die damit verbundenen wirtschaftspolitischen
Paradigmen klar zu benennen, auch auf die Gefahr hin,
dass dabei allzu sehr vereinfacht wird. In einer weiten
und konsequenten Auslegung dürfte es bei der Forderung
nach einer europäischen Wirtschaftsregierung um Folgen-
des gehen:2
Für die Länder der Eurozone soll auf europäischer Ebene
eine verbindliche Koordinierung der öffentlichen Haushalte
(der Fiskalpolitik) der Mitgliedsländer vorgenommen werden.
Dabei ist die Fiskalpolitik eines Landes sowohl auf die kon-
junkturelle Lage und Wettbewerbsperformance des einzel-
nen Mitgliedslandes als auch auf die anderer Mitgliedslän-
der auszurichten. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zen-
tralbank und ihre Festlegung allein auf das Stabilitätsziel wä-
ren aufzuheben. Die nationalen Lohnpolitiken wären so zu
koordinieren, dass durch sie keine lohnkostenbedingten Vor-
oder Nachteile eines Landes innerhalb der Eurozone entste-
hen. Auch sonstige wirtschaftspolitische Entscheidungen
auf der nationalen Ebene, die Einfluss auf die Wettbewerbs-
position des jeweiligen Landes gegenüber anderen Mitglieds-
ländern des gemeinsamen Währungsraumes haben, wä-
ren auf europäischer Ebene abzustimmen. Ein Land mit Leis-
tungsbilanzdefiziten innerhalb der Eurozone wäre etwa da-
zu zu bringen, Maßnahmen zur Verbesserung seiner Wett-
bewerbssituation zu ergreifen sowie die Binnennachfrage
und die Lohnentwicklung zu drosseln. Einem Land mit Au-
ßenhandelsüberschüssen hingegen wäre zu verordnen, sich
bei Maßnahmen zur Verbesserung seiner internationalen
Wettbewerbsfähigkeit zurückzuhalten sowie die Binnennach-
frage und die Löhne expandieren zu lassen. Man könnte die-
se Politikkonzeption als eine auf der europäischen Ebene
angesiedelte und auf nationale Belange Rücksicht nehmen-
de Globalsteuerung bezeichnen. Sie setzt stark auf diskre-
tionäre Entscheidungen auf zentraler Ebene und misst der
Preisstabilität keine allzu große Bedeutung bei. Das Konzept
einer europäischen Wirtschaftsregierung steht damit der bis-
herigen wirtschaftspolitischen Architektur der Währungsuni-
on diametral entgegen.
Eine Genese der Krise
Die aktuelle Krise der Währungsunion manifestiert sich im
Wesentlichen in den Problemen der ehemals armen Län-
der an der südlichen und westlichen Peripherie der EU. Grie-
chenland, Portugal, Spanien und Irland haben, wenn auch
in sehr unterschiedlichem Ausmaß, mit einem doppelten De-
fizit zu kämpfen: in ihren Staatshaushalten sowie in ihren
Leistungsbilanzen. Wie konnte es dazu kommen? Diese Län-
der schienen doch seit Beginn der neunziger Jahre bis zum
Ausbruch der Finanzkrise einen fulminanten Aufholprozess
zu durchlaufen mit weit überdurchschnittlichen Wachstums-
raten. Beim Pro-Kopf-Einkommen hatten sie gegenüber dem
EU-Durchschnitt beträchtlich aufgeholt. Irland konnte sich
sogar an die Spitze der Einkommenshierarchie in der EU
(nach Luxemburg) setzen. Bis zum Ausbruch der Finanz-
krise schien auch die Verschuldungssituation der öffentli-
chen Haushalte in Spanien und Irland unbedenklich; in bei-
den Ländern lag die Schuldenquote seit Beginn der Wäh-
rungsunion deutlich unter dem Referenzwert von 60% und
sie verringerte sich bis 2008 deutlich. Die Entwicklung der
Kohäsionsländer ist umso bemerkenswerter, als in der zwei-
ten Hälfte der achtziger Jahre vielfach befürchtet und auch
prognostiziert wurde, dass sie dem Druck des Programms
zur Vollendung des Binnenmarktes nicht würden standhal-
ifo Schnelldienst 14/2010 – 63. Jahrgang
16
1»We consider that the European Council must improve the economic
governance of the European Union and we propose to increase its role
in economic coordination and the definition of the European Union growth
strategy.«
2Vgl. z. B. Védrine (2010) oder Artus (2010). Sehr anschaulich beschreibt
Busch (2010) das entsprechende wirtschaftspolitische Paradigma.
Zur Diskussion gestellt
ten können. Diese Annahme war auch der Grund für einen
massiven Ausbau der europäischen Regionalpolitik, die sich
mit ihrer Förderung dann stark auf diese Länder konzentrier-
te. Die Beschlüsse zur Schaffung der Währungsunion 1993
waren erneut von der Prognose und interessengeleiteten
Behauptungen begleitet, dass es ohne eine zusätzliche För-
derung diesen Ländern nicht möglich sei, an der geplanten
Währungsunion zu partizipieren. Folge davon war, dass spe-
zielle Fördermaßnahmen für diese Länder auf den Weg ge-
bracht wurden (vgl. Lammers 2007, 290). Es kam zur Ein-
richtung des Kohäsionsfonds, der nur für diese Länder Hil-
fen für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur und in den
Umweltbereich vorsah. Seitdem werden diese Länder auch
als »Kohäsionsländer« bezeichnet.
Es könnte schnell der Schluss gezogen werden, dass es die
massive EU-Förderung aus den diversen EU-Fonds war, die
zu den überdurchschnittlichen Wachstumsraten und dem
Aufholprozess der Kohäsionsländer geführt haben. Sicher-
lich hat die massive Regionalförderung, die zeitweise in ei-
nigen Ländern mehr als 4% des nationalen BIP ausmach-
te, von der Nachfrageseite her zu dem Wirtschaftsboom in
diesen Ländern beigetragen. Dabei wird aber übersehen,
dass die europäische Integration der späten achtziger so-
wie der neunziger Jahre mit ihren verschiedenen Schritten
den Kohäsionsländern generell hervorragende und einzig-
artige Möglichkeiten bot, zu den reichen europäischen Län-
dern auch ohne regionalpolitische Interventionen aufzuschlie-
ßen. Der Beitritt von Griechenland, Spanien und Portugal
zur damaligen EG öffnete die Grenzen für den Zufluss von
Kapital aus den Kernländern der Gemeinschaft. Die gerin-
ge Kapitalintensität sowie die niedrigen Lohnkosten, die das
vergleichsweise geringe ökonomische Entwicklungsniveau
dieser Länder widerspiegelte, machten sie attraktiv für Ka-
pitalzuflüsse, sei es über Direktinvestitionen oder Portfolio-
Investitionen. Der Beitritt dieser Länder war zudem für sie
mit einer weitaus größeren Chance für Integrationsgewinne
verbunden als für den Wirtschaftsraum der Altmitglieder. Für
sie eröffnete sich ein großer und einkommensstarker Ab-
satzmarkt. Für die Altmitglieder war hingegen der Markt
der Neumitglieder vergleichsweise klein mit entsprechend
geringen Möglichkeiten für deren Unternehmen, die Produk-
tion aufgrund zunehmender Exporte auszuweiten. Die Fort-
schritte im Rahmen des Binnenprogramms bei der weite-
ren Öffnung der Güter- und Dienstleistungsmärkte sowie der
Personen- und Kapitalverkehrsfreiheit haben diese Tenden-
zen weiter verstärkt. Dies gilt auch für Irland, das schon seit
1973 Mitglied war. Aber nicht nur die reale Integration brach-
te für die Kohäsionsländer überdurchschnittliche Gewinne,
dies gilt auch für die monetäre Integration. Durch die Er-
richtung der Währungsunion wurde ein Nachteil beseitigt,
den sie bis dahin immer im Wettbewerb gegenüber Deutsch-
land und anderen stabilitätsbewussten Ländern in Europa
gehabt hatten (vgl. Sinn 2010, 6 f.). Bis Mitte der neunziger
Jahre lagen die Kapitalmarktzinsen in den Kohäsionsländern
(und Italien) für ansonsten vergleichbare Papiere weit über
den entsprechenden Zinssätzen in Deutschland. Bis zur un-
widerruflichen Festlegung der Umrechnungskurse der na-
tionalen Währungen zum Euro Ende 1998 (im Falle Grie-
chenlands im Juni 2001) haben sich die Zinssätze der Ko-
häsionsländer immer weiter dem niedrigen deutschen Zins-
niveau angenähert und die Differenzen verschwanden
schließlich ganz. Mit Beginn der Währungsunion konnten
sich Investoren in den Kohäsionsländern plötzlich so güns-
tig refinanzieren wie in Deutschland. Erst seit dem Beginn
der Finanzkrise haben sich die Kapitalmarktzinsen wieder
auseinanderentwickelt mit deutlichen Risikoaufschlägen für
die Kohäsionsländer, insbesondere für Griechenland.
Die Kohäsionsländer befanden sich somit bedingt durch den
europäischen Integrationsprozess rund zwanzig Jahre lang
in einer äußerst komfortablen Situation. Zwar hat sich dies
bis zur Finanzkrise (in Portugal nur bis etwa zum Jahr 2000)
auch in überdurchschnittlichen Wachstumsraten niederge-
schlagen, dieses Wachstum war aber offensichtlich nicht
nachhaltig. Zugenommen haben insbesondere der Konsum
sowie die Bautätigkeit, zu großen Teilen finanziert durch zu-
strömendes Kapital aus den Kernländern der Union. Die Ex-
porte entwickelten sich schwach, die Leistungsbilanzen ge-
rieten ins Minus. In Irland und Spanien kam es zu einer Im-
mobilienblase. Die Preise und Löhne stiegen weit schneller
als im übrigen Währungsraum. Die Lohnentwicklung lief der
Produktivitätsentwicklung davon mit der Folge abnehmen-
der internationaler Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.
Die hohen Investitionen schlugen sich nur mäßig in einer Mo-
dernisierung des Kapitalstocks nieder, weil zu großen Tei-
len in Immobilien investiert wurde. Auch die massive Förde-
rung aus den EU-Fonds hat zu den Fehlentwicklungen bei-
getragen. Zur Aufblähung des Bausektors haben sie mit der
starken Ausrichtung der Förderung auf die physische Infra-
struktur allemal einen Beitrag geleistet.
Letztlich sind die äußerst positiven Rahmenbedingungen,
die der europäische Integrationsprozess den Kohäsionslän-
dern lange Zeit geboten hat, verspielt worden. In der Politik
wie in der Bevölkerung haben sie Wohlstandsillusionen er-
zeugt. Es schien lange Zeit in den Kohäsionsländern nicht
notwendig, die Verantwortung für Wettbewerbsfähigkeit und
Beschäftigung wahr- und die realwirtschaftlichen Anpassun-
gen vorzunehmen, die zu den Einkommensansprüchen ge-
passt hätten. Die vorhandenen Spielräume hätten aber da-
zu genutzt werden müssen, den Unternehmens- und den
Staatssektor, den Bildungsbereich und die sozialen Siche-
rungssysteme umfassend zu modernisieren. Dies hat die
Politik in den Kohäsionsländern versäumt; sie hat stattdes-
sen überkommene Besitzstände nicht angetastet, sondern
ausgebaut oder neue eingeführt. Fehlentwicklungen, wie der
Blasenbildung auf denen Immobilienmärkten, wurde nicht
entgegengewirkt. Wer, wenn nicht die Politik und die Tarif-
vertragsparteien in den Kohäsionsländern, trägt die Verant-
63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
17
Zur Diskussion gestellt
wortung dafür, dass diese Länder lange Zeit über ihre real-
wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt haben und Maßnahmen
unterblieben, die Fehlentwicklungen unterbanden? Die Spiel-
regeln der Währungsunion hätten hier ohne Zweifel die na-
tionalen Akteure in der Pflicht gesehen. Auch gegen den Sta-
bilitäts- und Wachstumspakt wurde verstoßen. Griechen-
land hat z.B. seit seinem Beitritt zur Währungsunion nie die
Maastricht-Kriterien erfüllt. Überdies hat Griechenland bei
seiner Berichterstattung über die Staatsfinanzen bis zuletzt
mit geschönten Zahlen gearbeitet.
Allerdings hat es auch Verstöße gegen die Spielregeln der
Währungsunion gegeben, die nicht den Kohäsionsländern
anzulasten sind. Andere Länder wie Frankreich und
Deutschland haben ebenfalls den Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt verletzt; diese beiden Länder waren zudem trei-
bende Kräfte für eine Aufweichung der ursprünglichen Re-
geln. Entscheidend ist, dass von Seiten der EU-Ebene die
Verstöße gegen die Spielregeln der Währungsunion ohne
Konsequenzen blieben und die ursprünglich vorgesehe-
nen Sanktionen nicht verhängt wurden. Stattdessen wur-
den die Regeln den Interessen einzelner Mitgliedsländer
angepasst. Dies hat in den Kohäsionsländern – aber nicht
nur dort – die Stabilitätskultur unterminiert soweit sie je vor-
handen war.
Es deutet also wenig darauf hin, dass die gegenwärtige Kri-
se der Währungsunion ihrer grundsätzlichen Konzeption ge-
schuldet ist, zumindest nicht, was die Zuordnung wirtschafts-
politischer Ziele zu dafür verantwortlichen Trägern betrifft.
Sie beruht vielmehr darauf, dass die wirtschaftspolitischen
Akteure der Mitgliedsländer die tragenden Spielregeln der
Währungsunion missachtet haben und dass die Mechanis-
men unzureichend sind, um ein Einhalten der Spielregeln
zu gewährleisten.
Europäische Wirtschaftsregierung –
keine brauchbare Alternative
Hätte eine europäische Wirtschaftsregierung, wie sie oben
umrissen wurde, die Krise verhindern können? Eine euro-
päische Wirtschaftsregierung hätte theoretisch zwei Optio-
nen gehabt. Die erste Option hätte darin bestanden, im Prin-
zip genau das durch zentrale Vorgaben durchzusetzen, was
einzelne Länder versäumt haben: Sie hätte von Beginn der
Währungsunion an die Lohnpolitik in den Kohäsionslän-
dern auf einen strikt an der jeweiligen Produktivitätsentwick-
lung orientierten Kurs zwingen müssen, um die preisliche
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf den Märkten
der Eurozone zu sichern. Sie hätte ferner detaillierte länder-
spezifische Vorgaben für die notwendigen Reformen etwa
auf den Arbeitsmärkten und in den sozialen Versicherungs-
systemen verordnen müssen, die ebenfalls zur Wahrung der
Preiswettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Mitgliedslän-
dern notwendig gewesen wären. Um eine verbesserte Wett-
bewerbsposition auf Märkten mit international gehandelten
Gütern und Diensten zu erreichen, wären erhebliche Anpas-
sungen in der Wirtschaftsstruktur und der Angebotspalette
der Unternehmen anzuordnen gewesen. Es hätten Maßnah-
men durchgesetzt werden müssen, die der Blasenbildung
auf den Immobilienmärkten entgegengewirkt hätten. Die Fis-
kalpolitik hätte den privaten Konsum etwa über höhere Steu-
ern stärker begrenzen und die Unternehmen zu mehr pro-
duktivitätssteigernden Investitionen bewegen müssen. Maß-
nahmen zur umfassenden Modernisierung des Staatssek-
tors wären auf den Weg zu bringen gewesen. Alle diese Not-
wendigkeiten hätte eine europäische Wirtschaftsregierung
differenziert für jedes einzelne Land rechtzeitig erkennen und
entsprechende Maßnahmen durchsetzen müssen.
Die zweite Option einer europäischen Wirtschaftsregierung
hätte darin bestanden, die Reformnotwendigkeiten und den
Druck zur Anpassung in den Kohäsionsländern dadurch ab-
zumildern, dass sie anderen Ländern untersagt hätte, ihre
internationale Wettbewerbsposition (weiter) zu verbessern.
Nach der Logik der Politikkonzeption einer europäischen
Wirtschaftsregierung hätte bei dieser Option in Ländern mit
Leistungsbilanzüberschüssen wie in Deutschland oder den
Niederlanden eine über den jeweiligen Produktivitätsfort-
schritt hinausgehende Lohnpolitik gefahren werden müs-
sen. Zudem wären in diesen Ländern solche Maßnahmen
zu behindern, mindestens aber nicht zu fördern gewesen,
die die nicht-preisliche Wettbewerbsfähigkeit (weiter) gestei-
gert hätten. Ferner hätte in diesen Ländern über eine expan-
sive Fiskalpolitik der private Konsum stimuliert werden müs-
sen, auch wenn die öffentliche Verschuldung bereits einen
hohen Stand erreicht hätte. Dadurch wäre es – so die Lo-
gik dieser Politikkonzeption – zu geringeren Exporten in die
Länder mit Defiziten in der Leistungsbilanz sowie zu einer
verstärkten Nachfrage nach Importen aus diesen Ländern
gekommen. Die nicht unabhängige Zentralbank hätte dafür
den geldpolitischen Rahmen zur Verfügung zu stellen ge-
habt, mit der Folge höherer Inflation.
Der Verzicht auf mögliche Schritte zur Erhöhung der nicht-
preislichen Wettbewerbsfähigkeit in Überschussländern mag
zwar nach der zweiten Option eine Erleichterung für die Län-
der mit Leistungsbilanzdefiziten innerhalb der Währungsuni-
on darstellen. Bei globaler Sicht der Dinge hätte dieser Ver-
zicht aber verringerte Absatzchancen auf den Weltmärkten
zur Folge gehabt und hätte dem Ziel diametral entgegen-
gestanden, das wirtschaftliche Wachstum der Eurozone ins-
gesamt zu fördern.
Wie man es auch dreht und wendet, eine europäische Wirt-
schaftsregierung hätte somit keine brauchbare Alternati-
ve dargestellt. Dies gilt auch für die Bewältigung der jetzi-
gen Krise. Eine europäische Wirtschaftsregierung würde
an der Tatsache, dass von einzelnen Ländern unange-
ifo Schnelldienst 14/2010 – 63. Jahrgang
18
Zur Diskussion gestellt
nehme realwirtschaftliche Anpassungen notwendig sind,
um den Bestand der Währungsunion sowie Wohlstand und
Beschäftigung in allen Mitgliedsländern zu sichern, nichts
ändern. Die theoretische Möglichkeit, diese Anpassungs-
lasten durch eine laxere Geldpolitik, eine expansivere Lohn-
und Fiskalpolitik sowie durch Zurückhaltung bei Maßnah-
men zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in Über-
schussländern abzumildern, wird mit mehr Inflation, ge-
ringerer Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten so-
wie geringerem Wachstum der Eurozone erkauft. Eine eu-
ropäische Wirtschaftsregierung stellt keine »soft option«
bereit. Was in der Währungsunion fehlt, sind Anreiz- und
Sanktionsmechanismen, die wirtschaftspolitische Akteu-
re zu einem verantwortungsvollen Verhalten sowohl auf der
nationalen wie auch auf der europäischen Ebene anhalten.
Die Währungsunion braucht keine europäische Wirtschafts-
regierung, sie braucht eine wirksame Governance, um die-
ses Verhalten zu erzeugen.
Literatur
Artus, P. (2010), Die deutsche Wirtschaftspolitik: ein Problem für Europa?,
Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe WISO direkt, Berlin.
Busch, K. (2010), Europäische Wirtschaftsregierung und Koordinierung der
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Berlin.
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Runge, C. (1972), Einführung in das Recht der Europäischen Gemeinschaf-
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punkt, Universität Bamberg, Forschungsforum 9/1999, 45–52.
Védrine, H. (2010), »Deutschland, Frankreich, Europa«, Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 16. Juli 2010, 9.
63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 14/2010
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