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des Geschlechterverhältnisses hin, die mit Diffe-
renzierungen und Konflikten sowie einer Ausein-
andersetzung um eine Umverteilung von Aufga-
ben und Rechten zwischen den Geschlechtern
einhergeht. Die gesellschaftspolitische Richtung
ist in allen drei Untersuchungen angegeben. Va-
terschaft als Institution ist unter sozialen Druck
geraten und wird immer weniger im Rahmen tra-
ditioneller Elternschaft realisiert. Und sie hat
auch eine „innere“ Seite, die Matzner und Wolde
eindrücklich aufzeigen. Sigrid Metz-Göckel
SOZIOLOGIE DER GEWALT
Helmut Thome und Christoph Birkel: Sozialer
Wandel und Gewaltkriminalität. Deutsch-
land, England und Schweden im Vergleich,
1950 bis 2000. Wiesbaden: VS Verlag für So-
zialwissenschaften 2007. Seiten: 457. ISBN:
978-3-531-14714-7. Preis: €42,90.
Wer von einem Buch mit dem Titel „Sozialer
Wandel und Gewaltkriminalität“ die übliche Zu-
sammensetzung aus trockenen empirischen Er-
gebnissen zum letzteren Phänomen einerseits, be-
gleitet von einem (dünnen) theoretischen Rah-
men über das erstere erwartet, würde dem vorlie-
genden Buch Unrecht tun. Auf den ersten Blick
wirkt der Titel – angesichts des im Untertitel ex-
plizierten, zeitlichen und räumlichen Rahmens
eines Drei-Länder-Vergleichs – als zu groß ange-
legt. Der Band hält jedoch nicht nur, was er im
Titel verspricht, sondern leistet darüber hinaus
noch viel mehr. In einem Satz charakterisiert bie-
tet das Buch ein starkes Plädoyer für den Sozial-
staat, gestützt auf Daten über die Entwicklung
der Gewaltkriminalität in industrialisierten, west-
europäischen Ländern. Es darauf zu reduzieren
wäre allerdings zu kurz gefasst.
Der Begriff der Gewaltkriminalität wird von
den Autoren nicht eng definiert, sondern als Teil
des größeren sozialen Wandels begriffen. Dabei
orientieren sie sich vorwiegend an der Durkheim-
schen Tradition historischer Gesellschaftstheorie
und inhaltlich an einer modifizierten Version der
Durkheim’schen Moraltheorie, die den Prozess
der Pazifizierung individualisierter Gesellschaften
als gefährdet ansieht, je mehr der kooperative In-
dividualismus gegenüber dem egoistischen vor-
herrscht. Elemente der Eliasschen Zivilisations-
theorie, wie die Herausbildung des staatlichen
Gewaltmonopols und die Expansion industrieller
Produktion, werden als Teile dieses Prozesses mit-
berücksichtigt, jedoch spielen sie (nicht zuletzt
wegen ihrer evolutionistischen Annahme) für den
entwickelten Erklärungsansatz eine geringere Rol-
le. Leider schließen die Autoren auch die – mit
Hilfe des Eliasschen Ansatzes erklärbare – Kriegs-
entwicklung aus der Analyse explizit aus, was
zwar angesichts ihrer Konzentration auf straf-
rechtlich definierte Gewalt unter Personen sinn-
voll ist, jedoch im Hinblick auf ihren eigenen
Anspruch, makrostrukturelle Entwicklungsten-
denzen nachzuvollziehen, nicht hinreichend be-
gründet ist.
Die am Anfang formulierten Leithypothesen
führen den seit Beginn der Neuzeit ansetzenden
Rückgang interpersonaler Gewalt in den unter-
suchten Gesellschaften auf die Herausbildung des
staatlichen Gewaltmonopols, auf die Erosion kol-
lektivistischer Gesellschaftsstrukturen in Rich-
tung des kooperativen Individualismus sowie auf
den Übergang von Fremdzwang hin zur Selbst-
kontrolle in der Affektregulierung, zurück. Hin-
gegen sei ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Zu-
nahme des desintegrativen Individualismus zu be-
obachten, die von der Internationalisierung der
Politik und der Wirtschaft sowie von der generel-
len Ökonomisierung der Gesellschaft begünstigt
wird und damit sowohl die Effektivität und Legi-
timität des staatlichen Gewaltmonopols als auch
die individuelle Selbstkontrolle schwächt. Dies
würde den langfristigen Anstieg der Gewaltkrimi-
nalität erklären, den die Autoren mit Hilfe von
Daten über die Tötungs-, Körperverletzungs-,
Raub- und Vergewaltigungsdelikte in den drei
untersuchten Ländern dokumentieren.
Trotz der überzeugenden, ja manchmal erdrü-
ckenden Datenlage (z.B. eine Vervierzigfachung
der schweren Körperverletzungsdelikte in Eng-
land und Wales seit 1953) lassen die Autoren bei
ihrer Argumentation sehr viel Vorsicht walten.
Die Analyse besticht durch höchst differenzierte
Erklärungen und die häufige Relativierung der
eigenen Thesen durch Gegenargumente, die wie-
derum sorgfältig entkräftet werden. Ein solcher
Stil ist zwar nicht dazu geeignet, leserfreundliche,
eindeutige (Pauschal-)Aussagen zu liefern, spricht
hingegen jedoch für den hohen Grad an Selbstre-
flexion der beiden Autoren und dafür, dass die
besten Erklärungen sich nicht in einfache Sche-
mata pressen lassen, wenngleich sie dadurch
schneller Prominenz erlangen könnten. Fast wie
nebenbei wird souverän mit einigen Gemeinplät-
zen und hartnäckigen Mythen der Literatur zu
sozialem Wandel abgerechnet: mit der Annahme,
der Sozialstaat sei der mächtigste Konkurrent der
Wirtschaft, der Vermutung, Industriegesellschaf-
ten hätten einen hohen Anteil an Industriebe-
schäftigten, der Kritik an Deutschlands „aufge-
Literaturbesprechungen 743
blähtem Staatsapparat“, an seine rekordverdächti-
gen Arbeitskosten und an seine (im europäischen
Maßstab) hohe Steuerbelastung. Es geht den Au-
toren jedoch nicht darum, eine positive Bilanz
des deutschen Modells, dessen Defizite und
Strukturprobleme ebenfalls thematisiert werden,
zu ziehen. Im Drei-Länder-Vergleich bezüglich
der gewählten Indikatoren für sozialen Wandel
nimmt Deutschland eher die Mittelposition ein,
während Schweden meist die erste Stelle belegt,
Großbritannien oft die letzte. Gemäß der analy-
sierten Daten weist Schweden nämlich die nied-
rigste Ungleichheit auf, die höchste Umvertei-
lungswirkung von Steuern und Transfers, die
niedrigste Gesamtarbeitslosigkeit und Beschäfti-
gungsinstabilität, und somit ein insgesamt höhe-
res Niveau an kooperativem Individualismus als
in den beiden anderen untersuchten Ländern.
Vielmehr als für ein bestimmtes nationalstaatli-
ches Wirtschafts- oder Politikmodell plädieren
die Autoren also für den Ausbau wohlfahrtsstaat-
licher Sicherungssysteme als Mittel zur Redukti-
on kriminogenen Potentials, und kritisieren da-
bei quer durch die untersuchten Länder gegen-
läufige Tendenzen: von der Selektivität des deut-
schen Bildungssystems über die Abgabe national-
staatlicher Regierungskompetenzen an die EU bis
hin zur reduzierten Steuerungsfähigkeit der Staa-
ten im Neoliberalismus.
Vorsichtig gehen die Autoren auch mit der
Verallgemeinerung der von ihnen festgestellten
Entwicklungstendenzen um. Direkte Vergleiche
(in einigen Dimensionen) werden nur zwischen
den drei untersuchten Ländern und den USA, als
Paradebeispiel für Marktliberalismus, gezogen.
Die Bezugsgröße der Analyse schwankt jedoch
zwischen den nicht weiter spezifizierten Großge-
bieten „spätmoderne Gesellschaften“, „hoch ent-
wickelte Länder“, „europäische Kernregionen“
und „westliche Industrieländer“. Die Konzentra-
tion auf „reiche OECD-Länder“, die am häufigs-
ten vorkommende Bezeichnung, kann natürlich
mit dem Argument besserer (oder überhaupt zu
leistender) Vergleichbarkeit legitimiert werden,
demgegenüber die Heranziehung von Beispielen
aus gewaltbehafteten Entwicklungsländern allein
schon unter methodischen Gesichtspunkten ei-
nem Vergleich von Äpfeln mit Birnen gleichkom-
men würde. Angesichts der Brisanz der Gewalt-
kriminalität in Brasilien oder Südafrika vor dem
Hintergrund sozialen und politischen Wandels
oder des äußerst geringen Grads an Gewaltkrimi-
nalität in Indien trotz Armut und Ungleichheit,
fällt ihre Nicht-Erwähnung in dem Zusammen-
hang auf. Allerdings scheint diese Inkonsequenz
den Autoren selber bewusst zu sein, weshalb im
letzten Drittel des Buches mehrmals, wenngleich
nur punktuell, auf „regionale Ungleichgewichte“
und auf die, als Auswirkung der Globalisierung
begriffene, „weitaus größere Ungleichheit zwi-
schen den ,reichen‘ und den ,armen‘ Ländern“
eingegangen wird.
Weniger überzeugend und etwas aufgesetzt
wirkt das letzte Kapitel, in dem der zunehmende
Einfluss elektronischer Medien als konkurrieren-
de, eventuell normabweichende oder explizit ge-
waltfördernde Sozialisationsinstanz der ökonomi-
sierten Gesellschaft postuliert wird. Dass bei ex-
zessiver Mediennutzung die Gefahr sozialer Isola-
tionsprozesse besteht, bei der Interaktion mit
Peers dagegen nicht, ist zweifelsohne richtig. Da-
rüber hinaus arbeiten die Autoren jedoch mit ei-
nem problematischen Menschenbild, das soziale
Akteure, die Medien konsumieren, nicht als
handlungsfähige Subjekte, sondern als passive
Objekte voraussetzt, unfähig, sich gegen deren
negativen Einfluss zur Wehr zu setzen. Bezeich-
nenderweise werden auch diejenigen gegenwärti-
gen Entwicklungstendenzen (wenngleich auf eine
Minderheit der gebildeten, ökonomisch gut situ-
ierten Bevölkerung beschränkt) nicht diskutiert,
die in Richtung einer bewussten Entscheidung
gegen die Nutzung elektronischer Medien (insbe-
sondere Fernsehen) verlaufen.
Häufige Zwischenfazite, regelmäßige Zusam-
menfassungen der einzelnen Unterkapitel beglei-
ten die Leser durch das umfangreiche Datenma-
terial und führen ihnen häufig den Zusammen-
hang zwischen diesem und den von den Autoren
vertretenen Thesen vor Augen. Angesichts der in
Deutschland dürftig vertretenen historisch-ver-
gleichenden Soziologie ist der solide begründete
und in seiner historischen Analyse äußerst diffe-
renzierte Ansatz der beiden Autoren eine sehr
gute Nachricht im Sinne einer möglichen Trend-
setzung. Manuela Boatcã
∗
Angela Keppler: Mediale Gegenwart. Eine Theorie
des Fernsehens am Beispiel der Darstellung
von Gewalt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.
340 Seiten. ISBN: 978-3-518-29390-4. Preis:
€13,–.
Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, Grund-
züge einer Theorie des Fernsehens zu entwickeln
und dabei zu reflektieren, wie der audiovisuelle
Gehalt von Sendungen des Fernsehens unver-
kürzt analysiert werden kann. Theoretisch sowie
methodologisch versucht die Fallstudie die Wech-
selwirkungen zwischen Fernsehen und sozialer
Wirklichkeit zu rekonstruieren. Von der Wirk-
744 Literaturbesprechungen