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20 Psychotherapie Aktuell
Jean Thierschmidt, Schahryar Kananian
Transgeschlechtlichkeit
im Zerrspiegel
Entgegen dem Forschungsstand der Transgendermedizin werden
teilweise Fehlinformationen im Gesundheitswesen verbreitet.
Im Jahr 2015 schrieb die Bundesärztekammer Geschichte: Ihrer
Initiative war es zu verdanken, dass auf der 66. Generalversamm-
lung des Weltärztebundes (WMA) ein wegweisendes Statement
beschlossen wurde (World Medical Association, 2015). In Bezug
auf die Behandlung transgeschlechtlicher Menschen hieß es dort
unter anderem:
„Die WMA ruft dazu auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergrei-
fen, um individualisierte, multiprofessionelle, interdisziplinäre und
bezahlbare Gesundheitsversorgung für transgender Personen zur
Verfügung zu stellen (einschließlich Logopädie, Hormonbehand-
lungen, chirurgischen Eingriffen und Maßnahmen zum Erhalt der
psychischen Gesundheit) mit dem Ziel, ausgeprägte Geschlechts-
dysphorie zu reduzieren oder zu verhindern.“ (Übersetzung durch
d. Verfass.)
Vor diesem Hintergrund verwundern zwei Beschlussanträge, die
auf dem Deutschen Ärztetag 2024 verabschiedet wurden (Bun-
desärztekammer 2024a, 2024b): Inhaltlich im Widerspruch zum
breiten Expert*innenkonsens und zu etablierten Behandlungs-
leitlinien stehend, legen sie eine Beeinflussung durch Fehlinfor-
mationen aus dem englischsprachigen Ausland nahe (Ärztekam-
mer Mecklenburg-Vorpommern, 2024).
Innerhalb der letzten Jahre ist eine deutliche Zunahme der Ver-
breitung entsprechender Narrative zu verzeichnen. (Endocrine
Society, 2023, 2024; WPATH & USPATH, 2022). Inhaltlich zeigen
sich erhebliche Überschneidungen zu pseudowissenschaftli-
chen Konzepten, die der Diffamierung homosexueller Menschen
dienten. Beispielhaft seien psychopathologisierende Genese-
konzepte, Kontaminationsideen („soziale Ansteckung“) und
eine Dämonisierung als „Gefahr für Kinder“ genannt. Empirisch
nicht haltbare Behauptungen, leitliniengerechte medizinische
Behandlung sei wirkungslos, schädlich und würde nachträglich
häufig bedauert, ergänzen das Bild ebenso wie Versuche, eta-
blierte Fachgesellschaften und Behandlungsleitlinien zu verun-
glimpfen (McNamara et al., 2024). Hierdurch werden Ängste vor
trans* Menschen sowie Zweifel an ihrer Behandlung geschürt
(vgl. z. B. Reveland & Siggelkow, 2023).
Wie kommt es zur Etablierung von Fehlinformationen?
Die Transgendermedizin zeichnet sich durch einen hohen Spe-
zialisierungsgrad bei gleichzeitig kleiner Klient*innenpopulation
in Relation zur Gesamtbevölkerung aus. Damit einhergehend
können Kenntnisse über Leitlinieninhalte und Spezifika des For-
schungsfeldes nicht allen Kolleg*innen präsent sein. Erschwe-
rend kommt hinzu, dass einzelne Mediziner*innen und Psycho-
therapeut*innen die Verbreitung der oben benannten Narrative
befördern (Stahl, 2023; Szilagyi, 2022; The SPLC, 2023a, 2023b;
Wuest & Last, 2024): Zwei Beispiele für Zusammenschlüsse hier-
an beteiligter Gesundheitsdienstleistender stellen die sogenann-
te „Society for Evidence-based Gender Medicine“ (SEGM) sowie
das „American College of Pediatricians“ (ACP) dar (The SPLC,
2023a). Beide Vereinigungen wurden vom Southern Poverty
Law Center – der größten gemeinnützigen Organisation, wel-
che Aufklärungsarbeit zu nationalen Hassgruppierungen in den
USA leistet – als Anti-LSBTIA*-Hassgruppierungen eingestuft
(The SPLC o.D.-b). Beim „American College of Pediatricians“
handelt es sich zum Beispiel um eine Gruppe Pädiater*innen,
die sich 2002 von der 67.000 Mitglieder umfassenden American
Academy of Pediatrics (AAP) abspaltete, nachdem sich die AAP
für das Ermöglichen von Adoptionen durch homosexuelle Paare
ausgesprochen hatte. Seither setzt sich das ACP für Konversions-
versuche an sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten ein
(The SPLC, o.D.-a).
GESUNDHEITSPOLITIK
21Ausgabe 1.2025
Das komplette Literaturverzeichnis
finden Sie online unter www.
psychotherapieaktuell.de.
Fehlinformationen, die durch Gesundheitsdienstleistende ver-
breitet werden, bergen auch hierzulande ein besonderes Gefah-
renpotenzial: Zum einen werden diese wiederholt durch Fach-
zeitschriften unkritisch aufgegriffen (Trans-Gesundheit, 2024;
Lindner, 2024), was insbesondere Kolleg*innen ohne einschlägi-
ge Erfahrung im Themenfeld verunsichern dürfte. Zum anderen
werden ärztlicherseits geäußerte Ansichten, die mit dem Stand
der Transgendermedizin – inklusive der Entpathologisierung von
Geschlechtsinkongruenz (WHO, 2019) – unvereinbar sind, als
Legitimationsgrundlage für politische Einmischungsversuche in
medizinisch indiziertes Handeln herangezogen. Selbiges gilt für
Bestrebungen zweier Bundestagsfraktionen, das kürzlich verab-
schiedete Selbstbestimmungsgesetz wieder abzuschaffen (Trans-
Gesundheit, 2025).
Ein Blick in die USA zeigt, wohin solche Entwicklungen führen
können: Dort wurden auf diese Weise bereits zahlreiche diskrimi-
nierende Gesetzesvorhaben sowie legislative Verbote medizinisch
indizierter Versorgung realisiert (Translegislation, o. D.) – trotz
scharfer Kritik seitens Expert*innen im Feld (Turban, Kraschel &
Cohen, 2021; Barbee, Deal & Gonzales, 2022; Martin, Sandberg
& Shumer, 2021).
Fachverbände wie die World Professional Association for Trans-
gender Health (WPATH), die Endocrine Society, die American
Academy of Pediatrics, die American Psychological Association
und die American Medical Association setzen sich entschieden
für einen freien Zugang zu leitliniengerechter Behandlung so-
wie gegen die Verbreitung von Fehlinformationen ein (für eine
Übersicht, auch zu Behandlungsleitlinien, siehe https://trans-
gesundheit.de). Hoffnung macht, dass auch hierzulande erste
Fachgesellschaften klare Worte finden (Deutsche Gesellschaft
für Sexualwissenschaft, o.D.).
Für Vielfalt und Respekt
Uns ist bewusst, dass die hier besprochenen Sachverhalte – das
Beanspruchen von Deutungshoheit trotz mangelnder Fach-
kenntnis sowie ausbleibende Verantwortungsübernahme für
ärztliches, psychotherapeutisches und journalistisches Fehlver-
halten – keine leichte Kost darstellen. Als Psychotherapeut*in-
nen scheuen wir jedoch den ehrlichen Blick auf wunde Punkte
nicht. Durch den Erwerb von Fachwissen und das engagierte
Aufzeigen von Fehlinformationen können wir eine evidenz-
und konsensbasierte, humane und diskriminierungssensible
Gesundheitsversorgung gestalten. Diese Vision kommt auch
in der Resolution „Für Vielfalt und Respekt“ des 45. Deut-
schen Psychotherapeutentages 2024 zum Ausdruck (Bundes-
psychotherapeutenkammer, 2024), deren explizite Ablehnung
transfeindlicher Gesinnung wir begrüßen. Lassen Sie uns, lie-
be Kolleg*innen, gemeinsam für das dort gesteckte Ziel eines
gleichberechtigten Zugangs zur Gesundheitsversorgung für alle
Menschen eintreten.
Jean Thierschmidt
M. Sc.-Psychologe und niedergelassener
Psychologischer Psychotherapeut (VT). Be-
gleitung von trans* Personen seit 2020, mitt-
lerweile nahezu ausschließlich. Fortbildungs-
referent und WPATH-Mitglied.
Dr. Schahryar Kananian
Psychologischer Psychotherapeut (VT) und
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-
Universität Frankfurt. Promotion zu kultureller
Anpassung von Psychotherapie. Seit 2021
bietet er eine Spezialsprechstunde für trans*
Personen an und forscht in diesem Bereich zu
Minoritätenstress und Resilienz.
GESUNDHEITSPOLITIK
Literaturverzeichnis
Jean Thierschmidt, Schahryar Kananian
Transgeschlechtlichkeit im Zerrspiegel
Psychotherapie Aktuell Ausgabe 1.2025 ISSN 1869-033
Eine Übersicht der gängigen Behandlungsleitlinien im Feld sowie Stellungnahmen verschiedener
Fachgesellschaften für leitliniengerechte Behandlung und gegen Fehlinformationsverbreitung finden Sie hier:
- https://trans-gesundheit.de/
Offene Briefe und Stellungnahmen – erstgezeichnet durch Kolleg*innen mit Expertise in der Versorgung
transgeschlechtlicher Menschen – finden Sie hier:
- In Bezug auf fehlinformierte Beschlüsse des Deutschen Ärztetages 2024:
https://trans-gesundheit.de/brief-aerztetag-24/
- In Bezug auf die Fehlinformationsverbreitung im Deutschen Ärzteblatt:
https://trans-gesundheit.de/brief-aerzteblatt/
- In Bezug auf Parteiprogramme z.B. der CDU/CSU und der AfD, welche politische Eingriffe in
leitliniengerechte Gesundheitsversorgung sowie einen Abbau gesundheitsrelevanter Rechte für
inter*, trans* und nichtbinäre Personen fordern:
https://trans-gesundheit.de/brief-parteiprogramme-25/
Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern. (2024). Diagnostik und Behandlung der Geschlechtsdysphorie bei
Minderjährigen — Erstens: nicht schaden Zweitens: vorsichtig sein Drittens: heilen. Verfügbar unter:
https://www.aek-mv.de/upload/file/presse/Aerzteblatt/2024-05-
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