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Friedrich-Schiller-Universität Jena
Philosophische Fakultät
Institut für Germanistik
Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
MA G IST E R AR T IU M ( M . A.)
vorgelegt von Stefan Höltgen
geboren am 31. Oktober 1971 in Northeim
Betreuerin und Erstgutachterin: Frau Dr. habil. Sigrid Lange
Jena, 2000-06-15
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SPIEGELBILDER INHALT
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung................................................................................................................................. 2
1.1. Einführung in die Thematik ............................................................................................... 2
1.2. Aufbau der Arbeit und Methode ..................................................................................... 3
1.3. Abgrenzung..................................................................................................................... 5
1.4. Biografische und filmografische Notiz zu David Lynch .................................................... 5
2. Theorie und Methode.............................................................................................................. 8
2.1. Der postmoderne Film...................................................................................................... 8
2.2. Die Ästhetik der Verdopplung........................................................................................ 12
2.3. Abgrenzung zu den Verfahren »moderner« Intertextualität............................................ 15
2.4. Die Methode Lynch........................................................................................................ 17
3. BLUE VELVET: Die Verdopplung der Erzählung ......................................................................... 23
3.1. Synopsis ......................................................................................................................... 23
3.2. Unpresenting BLUE VELVET ................................................................................................ 26
3.3. Close the gaps: BLUE VELVET als Traum............................................................................ 28
3.4. Inside the Dream............................................................................................................ 33
3.5. BLUE VELVET als Referenz................................................................................................... 42
Exkurs: David Lynch und Alfred Hitchcock ............................................................................... 46
a) Figuren ............................................................................................................................. 46
b) Motive.............................................................................................................................. 48
c) Erzählstrategien................................................................................................................. 50
4. TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME: Die Verdopplung des Genres.................................................... 54
4.1. Synopsis ......................................................................................................................... 54
4.2. TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME - Ein Film mit sieben Siegeln ................................................ 57
4.3. Konspirative Zeichen...................................................................................................... 59
4.4. »Fell a victim!« - Detailanalyse zu #V/22 ......................................................................... 63
4.5. Doppelfiguren................................................................................................................ 71
4.6. Die Wiederkehr des Erzählens in der Postmoderne ........................................................ 77
5. LOST HIGHWAY: Die Verdopplung des Mediums....................................................................... 80
5.1. Synopsis ......................................................................................................................... 80
5.2. Aufblende: LOST HIGHWAY über die Wahrheit .................................................................. 83
5.3. Telefonieren: Dial M for Madison ................................................................................... 88
5.4. Videofilme(n): I like to remember things my own way................................................... 96
5.5. Foto - Kino - Fernsehen ................................................................................................ 100
5.6. Abblende: Die Wahrheit über LOST HIGHWAY.................................................................103
6. Schluss.................................................................................................................................109
6.1. Zusammenfassung ....................................................................................................... 109
6.2. Ausblick: Theorie à la Lynch......................................................................................... 110
7. Quellen und Literaturverzeichnis.......................................................................................... 113
7.1. Quellen ........................................................................................................................ 113
7.2. Monografien und Sammelbände................................................................................ 113
SPIEGELBILDER INHALT
7.3. Aufsätze und Einzelanalysen ........................................................................................ 114
7.4. Internetessays............................................................................................................... 116
7.3. Abbildungen................................................................................................................ 116
8. Anhang ............................................................................................................................... 116
8.1. BLUE VELVET .................................................................................................................... 116
8.2. TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME.......................................................................................... 124
8.3. LOST HIGHWAY ................................................................................................................ 133
Gliederung .............................................................................................................................. 139
SPIEGELBILDER EINLEITUNG SEITE 2
1. Einleitung
1.1. Einführung in die Thematik
Auf die Frage eines Polizisten, ob er eine Videokamera besitze, verneint Fred Madi-
son und antwortet: „Ich erinnere mich lieber auf meine Art an alles.“ „Wie meinen Sie
das?“, will der Polizist wissen. Madisons Antwort: „Wie ich die Dinge im Kopf habe,
nicht unbedingt so, wie sie passiert sind.“
Diese kurze Dialogpassage aus LOST HIGHWAY könnte als Motto allen Filmen David
Lynchs vorangestellt werden. Denn jeder Filmbeitrag, den Lynch seit seinen frühen
Kurzfilmen bis hin zu seinem jüngsten Film THE STRAIGHT STORY ablieferte, reflektiert auch
die Art, wie der Film vom Publikum gesehen wird, gesehen werden kann - jedoch oh-
ne explizite Anweisungen dieses Vorgangs zu unterbreiten.
„Wie ich die Dinge im Kopf habe“, bezieht sich direkt auf die Erinnerung des Zu-
schauers und verleugnet damit die Potenz des Mediums Film, Wahrheit abbilden zu
können1 - authentisches Medium zu sein. Damit gliedern sich die Filme David Lynchs -
die alle dieser Sichtweise untergeordnet sind - einer Theorie unter, die versucht, das
Denken des Zuschauers in den Prozess des Sehens mit einzubeziehen. Die einzelnen
Verfahren, die bei Lynch hierzu Verwendung finden, sind vielfältig.
Der Terminus »ästhetische Verdopplung« beschreibt die Konstruktion der Bilder,
Töne, Erzählungen, medialen Reflexion und Theorien, die in den Film eingebunden
sind, am ehesten. Verdopplung meint: Dem Betrachter des Kunstwerkes wird an je-
der Stelle vor Augen (und im Gedächtnis) gehalten, dass er ein Kunstwerk betrach-
tet. Ein ausschließliches (blindes) Eintauchen in die Bildgestaltung, den Plot oder das
Schauspiel wird so von vorn herein unterbunden. Die Auseinandersetzung mit dem
Film als Einzelbeitrag einer Filmgeschichte wird ergänzt um den Verweis, dass dieser
Film nicht »beziehungslos« in der Filmgeschichte angesiedelt ist, sondern jene als »Be-
dingung seiner Möglichkeit« unterstellt.
Die ästhetische Verdopplung codiert den Film jenseits seiner eigenen Handlung
auf einer zweiten Ebene: Die Bilder, Töne und Handlungsbestandteile des Films kon-
struiert der Autor als Referenz an die Filmgeschichte, um dem Zuschauer diese Filmge-
schichte zu »vergegenwärtigen«. Aus dem »gegenwärtigen« Ereignis des Filmsehens
wird so auch eine Lektion bzw. Reflexion der Filmgeschichte. Dies stellt das Prinzip der
»Doppelcodierung« im postmodernen Kinos dar.
1 Vielleicht sogar die Möglichkeit »objektiv(ierbar)er Wahrheit« überhaupt.
SPIEGELBILDER EINLEITUNG SEITE 3
David Lynchs Filme agieren zusätzlich auf einer dritten Ebene: Nicht nur die Filmge-
schichte (und ihre Filmgeschichten) werden verdoppelt, sondern ebenfalls deren
Theoreme. So finden sich mehr als eindeutige Hinweise darauf, wie etwa die Medien
Film, Video, Fernsehen, Telefon usw. im Film thematisiert und präsentiert sind und wie
die Theorie dieser Medien oder die Theorie der Filmanalyse dem Artefakt »Film« be-
gegnet.
Auf diese Weise findet eine Transgression statt, die den Filmautoren David Lynch
zum Filmanalytiker wandelt, der - ganz im Sinne Alexandre Astrucs - die Kamera als
Federhalter benutzt und damit den „Film sich wahrhaft zum Ort des Ausdrucks eines
Gedankens machen“2 kann.
Das Ergebnis dieser Tätigkeit steht oft im Kontrast zur »Filmphilosophie« des moder-
nen Kinos: Nicht mehr der Stoffhunger nach neuen Erzählungen, Motiven und Bildern
soll befriedigt werden, sondern die bereits kanonisierten Bilder der Filmgeschichte
werden in Form der Pastiche dazu verwendet, einen »neuen« Beitrag zu liefern, der
sich der Ideologie des modernen Films widersetzt: Fortschritt als einziges Prinzip des
Neuen. Es handelt sich bei den Filmen Lynchs jedoch nicht um »alten Wein in neuen
Schläuchen«, denn er zitiert das Material nicht einfach, sondern er unterwirft es einer
konstruktiven Bearbeitung, die auch neue Sichtweisen auf das Referenzobjekt an-
bietet.
Die vorliegende Arbeit versucht diese Vorgehensweise David Lynchs darzustellen
und anhand dreier Filmbeispiele zu analysieren, auf welche Bereiche sich die ästheti-
sche Verdopplung bei Lynch bezieht: auf den Film (seine Handlung, Bilder und Tö-
ne), auf das Genre (seine Paradigmen und Gesetze) und das Medium (seine Mög-
lichkeiten und Grenzen).
1.2. Aufbau der Arbeit und Methode
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptkapitel, deren Gegenstand jeweils ein Film aus
dem Werk David Lynchs ist. Vorangestellt wird ein Kapitel, das die Theorie der ästhe-
tischen Verdopplung methodisch erläutern und eingrenzen soll, um sie so für die De-
tailanalysen der Filme nutzbar machen zu können. Darüber hinaus stellen die Kapitel
auch jeweils Interpretationsangebote zu den in ihnen behandelten Filmen dar.
Im Kapitel zu BLUE VELVET soll die Verdopplung der Erzählung(en) thematisiert wer-
den. Hierzu werden zwei Sequenzen des Films untersucht und ihre Details zu ver-
schiedenen Beiträgen der Filmgeschichte in Beziehung gesetzt. Es schließt sich ein
Exkurs an, der die Beziehungen der Werke David Lynchs zu den Filmen Alfred Hitch-
SPIEGELBILDER EINLEITUNG SEITE 4
cocks als besonders deutliche und intensive filmische Auseinandersetzung darlegen
soll.
Das anschließende Kapitel über TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME untersucht, auf wel-
che Weise David Lynch mit dem Phänomen des Genres operiert. Hierzu sollen De-
tailanalysen hinzugezogen werden, um die offensichtliche Dekonstruktion der Gen-
rebegriffs zu erklären. Es soll gezeigt werden, dass Lynchs Filme (nicht nur TWIN PEAKS -
FIRE WALK WITH ME) grundsätzliche Kritik des Genrebegriff vornehmen, nicht nur da-
durch, dass sie keinem Einzelgenre zugerechnet werden können, sondern auch
durch die bewusste Codierung des Autoren, der Zeichen, die auf ein Genre deuten,
ambivalent einsetzt. Daher konzentrieren sich die Untersuchungen über TWIN PEAKS -
FIRE WALK WITH ME auf die semiologische Ebene des Filmes.
Das letzte Kapitel der Arbeit befasst sich mit der Präsentation der Medien in David
Lynchs Film LOST HIGHWAY. Die dort auffällig häufige Inszenierung von Videokameras,
Fernsehern, Kinoleinwänden, Telefonen usw. soll untersucht werden und Lynchs
»Theorie der Medien im Film« versucht werden zu umreißen. Dieser Gedanke wird im
Schlusskapitel in Form eines Ausblicks ausformuliert: Warum scheinen Lynchs Filme
dadurch, dass sie selbst als Beiträge einer Filmtheorie angesehen werden können, oft
»theorieresistent« zu sein?
Da die oben beschriebenen Aspekte der ästhetischen Verdopplung sich natürlich
nicht auf jeweils einen Film pro Aspekt beschränken, finden sich in jedem Kapitel
auch Hinweise und Querverweise zu den übrigen untersuchten Filmen David Lynchs.
So werden in jedem Einzelkapitel auch andere Filme David Lynchs mit einbezogen,
um zu verdeutlichen, dass sein Œuvre als ein Projekt der ästhetischen Verdopplung
verstanden werden kann.
Methodisch findet sich in jedem Kapitel eine Einstellungsanalyse, in der ausge-
wählte Sequenzen des betreffenden Filmes im Detail untersucht werden. Auf diese
Weise lassen sich Belege für die aufgestellten Thesen empirisch sichern und in der Se-
kundärliteratur angestellte Beobachtungen (und daraus abgeleitete Behauptun-
gen und Thesen) überprüfen. Hierzu sind der Arbeit im Anhang Sequenzübersichten
(zum Belegen und Verorten von Handlungspassagen) und Einstellungsprotokolle
(zum Belegen der Detailanalysen) beigefügt.
Als Grundlage für die Analysen dienen die LaserDisc-Fassungen der betreffenden
Filme im englischen Originalton und Widescreen-Format. Ergänzend werden (teilwei-
se nicht publizierte) Drehbuchfassungen der untersuchten Filme und zahlreiche Inter-
views mit David Lynch hinzugezogen.
2 Astruc, Alexandre (1992). S. 202.
SPIEGELBILDER EINLEITUNG SEITE 5
1.3. Abgrenzung
Die Auswahl der drei untersuchten Filme begründet sich zunächst auf den vorge-
gebenen Maximalumfang einer Magisterarbeit. Darüber hinaus wird für die unter-
suchten Werke Beispielcharakter unterstellt: Allein die Verflechtung der in jedem Film
zu untersuchenden Strategien der ästhetischen Verdopplung lässt sich auf (fast) je-
den Filmbeitrag David Lynchs anwenden. Eine Ausnahme hierzu (und zugleich eine
Sonderstellung innerhalb des Lynch’schen Œuvres) stellen hier seine Frühwerke SIX
FIGURES GETTING SICK (1966), THE ALPHABET (1967), THE GRANDMOTHER (1969) und ERASERHEAD
(1977) dar. Sie sollen im kommenden nicht berücksichtigt werden.
Des weiteren werden hauptsächlich die Filme David Lynchs untersucht. Das ge-
samte künstlerische Projekt Lynchs (zu dem neben dem Film noch die Malerei, Bild-
hauerei, Fotografie, das Komponieren und Texten von Liedern, Möbeldesign u. a.
zählt) stellt sicherlich einen interessanten und vielleicht sogar relevanten Bestandteil
der hier zu untersuchenden Strategien der ästhetischen Verdopplung dar, muss je-
doch aus Gründen der thematischen Einheit und des gegebenen Umfangs entfal-
len.
Die verwendeten Untersuchungsmethoden rekurrieren auf einzelne - und zusam-
menfassende - Beiträge zur Filmtheorie, zur Theorie der postmodernen Kunst und zur
»Theorie zu David Lynch«3. Es kann keine Untersuchung des postmodernen Kunst-
werks an sich erfolgen und erst recht keine theoretische Auseinandersetzung mit dem
Phänomen, dem Begriff und der »Ideologie« der Postmoderne. Diese wurde in zahl-
reichen Beiträgen (im deutschsprachigen Raum vor allen seit den achtziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts) angestellt und kann als »theoretischer Background«
vorausgesetzt werden.4
1.4. Biografische und filmografische Notiz zu David Lynch
David Kenneth Lynch wurde am 20 Januar 1946 in Missula (Montana, USA) als er-
stes dreier Kinder geboren. Sein Vater war Agrarwissenschaftler, seine Mutter Sprach-
lehrerin. Er wuchs mit seinen Geschwistern und Eltern in hauptsächlich ländlichem
Terrain auf.
Den ersten Kontakt zur Kunst (zur Malerei) bekam Lynch an der Highschool in Boise
(Idaho), wo er regelmäßig den Vater eines Mitschülers in dessen Atelier besuchte.
3 Hiermit sind Beiträge über David Lynch gemeint, die über die Analysen einzelner Filme hinausgehen und etwa motiv-
geschichtliche Untersuchungen anstellen.
SPIEGELBILDER EINLEITUNG SEITE 6
Angeregt dadurch fuhr er noch während der Zeit an der Highschool an den Wo-
cheneden nach Washington City und belegte dort zwischen 1963 und 1964 Kurse
an der Corcoran School of Art.
1964 nahm David Lynch ein Kunststudium an der Boston Museum School auf, das
er jedoch kurz darauf abbrach, um 1965 nach Europa zu gehen und in Salzburg bei
Kokoschka Malerei zu studieren. Doch auch dieses Vorhaben brach er nach 15 Ta-
gen ab, als er einsah, dass ihm die europäische Kunst nicht die Inspiration verlieh, die
er sich erhofft hatte.
Zurück in den USA schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er sich 1965
entschloss, in Philadelphia an der Pensylvania Academy of Fine Arts Kunst zu studie-
ren. Dort blieb er zwei Jahre. 1967 heiratete Lynch einen Kommilitonin (Margaret
Reavy). 1968 wurde seine Tochter Jennifer geboren.
Seine Filmlaufbahn begann in Philadelphia, wo er mit einer kinetischen Skulptur
den zweiten Preis in einem Wettbewerb für experimentelles Zeichnen und Modellie-
ren (Dr. W. S. Biddle Cadwalder Memorial Prize) gewann. Später entwarf er Installa-
tionen, die er auf Film aufnahm und in Form einer Endlosschleife präsentierte (SIX FIGU-
RES GETTING SICK). Für diese Installation gewann er den ersten Preis, mit dem er seinen
ersten Kurzfilm THE ALPHABET (1968) produzierte. THE ALPHABET und ein Treatment für ei-
nen weiteren Kurzfilm (THE GRANDMOTHER) brachte Lynch 1970 ein Stipendium beim
der American Film Institute ein.
Dort produzierte er von 1971 bis 1977 seinen ersten Spielfilm ERASERHEAD. Durch ERA-
SERHEAD wurde Lynchs Ruf als surrealistischer Experimentalfilmer, der ihm seit seinen
Kurzfilmen anhing, weiter gefestigt. Während der Dreharbeiten trennte er sich 1974
von seiner Frau und heiratete 1977 die Schwester seines langjährigen Freundes und
Mitarbeiters Jack Fisk, Mary. Aufgrund des Erfolges mit ERASERHEAD bot man ihm 1980
die Adaptionen zu Bernhard Pomerances Stück THE ELEPHANT MAN an, den er mit gro-
ßem Erfolg umsetzte (der Film wurde für acht »Oscars« nominiert). Dieser abermalige
Erfolg öffnete Lynch die Türen zu den großen Hollywood-Studios. Nachdem er 1982
mit seiner Frau Mary einen Sohn bekam und sich im gleichen Jahr von ihr trennte,
begann Lynch mit dem enormen Budget von 50 Millionen Dollar eine Frank-Herbert-
Romanadaption von DUNE (1984). Der Filmstoff erwies sich als zu komplex und DUNE
scheiterte an den Kinokassen und bei der Kritik.
Ungeachtet des Misserfolgs von DUNE veröffentliche David Lynch zwei Jahre später
BLUE VELVET (1986), der von Publikum aufgrund der darin enthaltenen Sexualität und
Gewaltdarstellung zwiespältig aufgenommen, von der Kritik jedoch mit Preisen über-
4 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf zwei deutschsprachige Standardwerke zur Postmoderne: Welsch, Wolf-
gang. Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie Verlag. 51997. Und: Welsch, Wolfgang (Hrsg.). Wege aus der Mo-
derne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin: Akademie Verlag 21994.
SPIEGELBILDER EINLEITUNG SEITE 7
häuft wurde und mittlerweile als Meilenstein des postmodernen Kinos gilt. Mit der
Produktion der Fernsehserie TWIN PEAKS (1989 - 1992) wurde Lynch darauf auch inter-
national von Kritikern und Publikum gefeiert. Die Serie, die sich abermals postmoder-
nistischer Darstellungsweisen und der Dekonstruktionen klassischer TV Soap-Operas
verschrieben hatte, war derart populär, dass sich nach deren Einstellung eine »Bür-
gerbewegung« gründete, die forderte, dass weitere Folgen produziert werden - was
dann auch geschah.
1990 drehte David Lynch seinen Film WILD AT HEART, ein märchenhaftes Roadmovie,
für das Lynch im selben Jahr in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet
wurde. WILD AT HEART folgte 1992 TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME, ein Prequel zur Fernseh-
serie TWIN PEAKS. Der Film erwies sich nach DUNE als David Lynchs größte Enttäuschung.
Die Zuschauer (und Fans der Fernsehserie TWIN PEAKS) waren enttäuscht, dass Lynch
das Projekt auf diese Weise fortgeführt hatte und die Kritiker besprachen den Film
fast ausnahmslos negativ. Erst in jüngster Zeit erfährt TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME wie-
der Beachtung bei Filmtheoretikern und in der Filmpublizistik.
Nach vierjähriger Spielfilmpause, in der Lynch mit seiner langjährigen Mitarbeiterin
Mary Sweeney einen Sohn bekam und sich der Produktion neuer Fernsehserien (HO-
TEL ROOM und ON THE AIR) widmete, veröffentlichte er 1996 LOST HIGHWAY: wiederum ein
großer Erfolg - trotz seiner TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME ähnlichen »Verworrenheit«. Der
jüngste Film David Lynchs - THE STRAIGHT STORY - kam 1999 in die Kinos. Der Hauptdar-
steller Richard Farnsworth wurde für den »Oscar« als bester Hauptdarsteller nominiert.
Neben seinen Arbeiten als Filmregisseur betätigte sich David Lynch von Anfang an
auch als Maler, Fotograf und Bildhauer. Er bestritt zahlreiche internationale Vernissa-
gen und veröffentlichte Bücher mit eigenen Arbeiten. Als Musiker erstellte er zusam-
men mit Angelo Badalamenti nicht nur die Soundtracks zu seinen Filmen, sondern
veröffentlichte auch zwei Alben von Julee Cruise (1989: Floating into the Night, 1993:
The Voice of Love) und den Musikfilm INDURSTRIAL SYMPHONY (1990). Erwähnt werden
sollte auch, dass David Lynch Dekorateur und Möbeldesigner ist und seit BLUE VELVET
zahlreiche eigene Möbelkreationen als Dekor für seine Filme erstellt hat. Mit seinen
Möbeln trat er auf wichtigen internationalen Ausstellungen (z. B. der Salone del Mo-
bile in Milano, Italien) auf. 5
5 Für eine ausführliche Biografie und kommentierte Filmografie vgl. Fischer, Robert (31997).
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 8
2. Theorie und Methode
2.1. Der postmoderne Film
„Postmodernes Kino läßt sich mit dem vertrauten analytischen Instrumentarium
kaum angemessen beschreiben; es gibt kein ästhetisches Programm oder Manifest,
mit dem man sich auseinandersetzen könnte.“6, bedauert Ernst Schreckenberg.
Dennoch lassen sich Maßstäbe finden, Postmodernität im Kunstwerk aufzuspüren
und ihre Verfahren sichtbar zu machen. Hierzu liefern einerseits die paradigmati-
schen Texte der Postmoderne (etwa Lesley Fiedlers Essay „Cross the borders, close the
Gaps“ oder Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“) Anregungen, andererseits
verhelfen die Kenntnisse des mediensozialisierten Zuschauers selbst, postmoderne
Verfahren zu erkennen.
Zu diesen Verfahren zählt im Wesentlichen die Doppelcodierung, derer sich das
Kunstwerk bedient. Die postmoderne Ästhetik stellt sie daher in das Zentrum ihrer
Analysen. Auch für den postmodernen Film scheint die Doppelcodierung das zentra-
le Verfahren zu sein, welches mittlerweile zum »alltäglichen« Ereignis geworden ist:
„Die Mehrdeutigkeiten, die Doppel- und Mehrfachkodierungen, die jede konventio-
nelle erzählerische Logik zersetzenden visuellen und akustischen Schocks sind in den
neunziger Jahren in das erzählerische Repertoire des Mainstream-Kinos eingegangen,
ohne noch das große Aufsehen wie in den achtziger Jahren zu erregen. [...] Es [das
Postmoderne, S. H.] ist ein Bestandteil filmischen Erzählens geworden, das vor allem das
Genrekino mit neuen kreativen Impulsen aufgefrischt hat.“7
Doch welche kreativen Impulse sind das und auf welche Ebenen des Kunstwerks
haben sie Einfluss? Die Konzepte der Doppelcodierung in der Theorie des Films von
Frank Burke, Franz Loquai, Ernst Schreckenberg und Franz Derendinger sollen zu-
nächst referiert werden, um deren Bedeutung für die film- und literaturwissenschaftli-
che Debatte zu verdeutlichen.
2.1.1. Frank Burke: Multiple Coding
Innerhalb seiner »Ästhetik des Verschwindens«, die für das postmoderne Kunstwerk
charakteristisch sei („the proliferation of strategies whose effect is to efface presence
in the very method of presentation can indeed be characterized as postmodern“8),
nennt Frank Burke das „multiple coding“ als eines von drei Techniken, dieses Ver-
schwinden zu realisieren.9
Mit dem „multiple coding“ werden von Burke Verfahren beschrieben, die den Text
»jenseits seiner selbst« codieren. Hierzu zählen Anspielungen, Zitate, Collagen, Pasti-
6 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 123 f.
7 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 126 f.
8 Burke, Frank (1988). S. 70.
9 zu den beiden anderen Verfahren („othering“ und „Presentation under erasure“) vgl. Burke, Frank (1988). S. 70 - 77.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 9
ches und andere Formen intertextueller Referenzen. Er betont jedoch, dass diese
zwar »moderne« Mittel der Referenzerzeugung darstellen, sie jedoch in ihrer Konse-
quenz erst den postmodern Film ausmachen: Sie setzten sich der modernen Strategie
entgegen, die dem Kunstwerk eine »Einheitscodierung« zugrundelegt, welche die
»Bedeutung des Werkes« ausmacht.
Das auf diese Weise mehrfach codierte Kunstwerk ist »anwesend« und »abwe-
send« zugleich: Es verweist (z. B. in Form des Zitats) auf seine Quelle, ohne jedoch mit
ihr identisch zu sein und dekontextualisiert damit sowohl sich selbst als auch die
durch es zitierte Quelle. Daraus ergibt sich für den Zuschauer die Konsequenz, ent-
weder einen eigenen (Bedeutungs-)Kontext herstellen zu müssen oder ganz auf ihn
zu verzichten.
Die Konsequenz für den Film ist, dass er somit a-gegenwärtig („unpresented“) ist.
Durch das Zitieren fremder Stoffe verliert der Filmtext seine Einbettung im allein Ge-
genwärtigen (indem er das »Vergangene« in sich aufnimmt). Er verlagert sich aller-
dings auch nicht ins Vergangene, sondern verliert jede zeitlich eindeutige Struktur:
„Simultaneously, this a-present and a-past, by being juxtaposed, are in effect spa-
tialized and denied both their temporal nature and their linear or ‚narrative‘ com-
prehensibility.“10
Dieses »Verschwinden von Bedeutung« (was nicht gleichbedeutend mit dessen
Auslöschung ist) erzeugt mit den (modernen) Mitteln der Intertextualität, bettet ein
dadurch doppelcodiertes Kunstwerk in die postmoderne Ästhetik ein: Gleich dem
Verschwinden der Geschichte, der Politik, der (großen und anderen) Erzählungen,
der Kunst, der Bedeutung, der Kausalität, des Subjekts und sogar des Geschlechts11,
verschwindet auch die Präsentation des Kunstwerkes. Ein Verfahren, das Jean-
François Lyotard als „zitierendes Formenflimmern“12 bezeichnet hat.
2.1.2. Ernst Schreckenberg: Verdopplung als Postmodernität
Welche Bedeutung die Doppelcodierung für den Zuschauer hat, welche Anforde-
rungen sie an ihn stellt und in welchem Maße sie ihn in die Narration einbezieht, un-
tersucht Ernst Schreckenberg. Er betont dabei, dass sich die Verdopplung nicht al-
lein auf den »Film« beschränkt, sondern darüber hinaus auch:
„Werbung, Comics, Videoclips, überhaupt alle Formen visueller Gestaltung, mit denen
wir heute konfrontiert sind. Design, Kleidung und Wohnungsausstattung sind hier nicht
nur schmückendes Beiwerk, sondern Anlaß und Aufforderung an den Zuschauer, asso-
ziative Einstiege in den Film zu finden.“13
Die Verdopplung im postmodernen Film verlässt also die intramediale Ebene und
bezieht sowohl andere Medien (Fernsehen, Video, Buch, …) als auch weitere Berei-
10 Burke, Frank (1988). S. 71.
11 Burke, Frank (1988). S. 70.
12 Lyotard, J.- F. Zit. n. Schreckenberg, Ernst (1998). S. 119.
13 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 121.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 10
che mit ein. Dass dies beim Zuschauer dann schon einmal in eine „Überwältigung
der Sinne“14 mündet, hat Vor- wie auch Nachteile. So leidet zwar die narrative Kohä-
renz:
„Eine größere Autonomie der sinnlichen Eindrücke sprengt nicht selten die erzähleri-
sche Geschlossenheit, die durch Kriterien wie dramaturgische Plausibilität, Handlungs-
logik und psychologische Stimmigkeit definiert ist. Diese Eindrücke sind nicht mehr in
die Linearität eines Erzählens nach klassischen Mustern eingebunden, das eine »realisti-
sche« Illusion anstrebt, sondern stehen häufig quer dazu.“15
Aber die Doppelcodierung erlaubt es dem Zuschauer auch, das »Formenflim-
mern« konstruktiv zu nutzen, seinen Assoziationen freien Lauf zu lassen:
„Bei solcherart mehrfacher Kodierung kann der Zuschauer die eine oder andere An-
eignungsebene für sich favorisieren - eben auch die selbstreferentielle von Zitat, Par-
odie, Hommage bis zum Remake, ohne die anscheinend kein postmoderner Genrefilm
mehr funktioniert. Der mediensozialisierte Mensch agiert heute als ein Zuschauer, der
die erzählerische Geradlinigkeit der klassischen Genrefilme aus dem Fernsehen zur
Genüge kennt und im Kino als Jemand angesprochen werden will, dessen Medien-
kompetenz ernst genommen wird. Mit dieser Distanz lustvoll zu spielen, macht den Re-
sonanzboden postmodernen Kinos aus.“16
Dieser Nutzen für den Zuschauer spiegelt sich auch auf der Produktionsebene
wieder: Im modernen Film zeigt sich ein Problem moderner Kunst schlechthin: Glaub-
te die Moderne noch an »das Neue«, das sie durch die Verinnerlichung tabuisierter
Bereiche in ihre Kunst zu absorbieren versuchte, so entzog sie der »Avantgarde« da-
durch immer mehr die Grundlage und degradierte sie zu einer institutionalisierten
Revolte.
Das moderne Kunstwerk vollzog dabei die Absorption von avantgardistischen
Strömungen in den Kanon, was der Avantgarde damit gleichzeitig die Vorreiterrolle
nahm und so zu Absterben der Fortschrittsideologie in der Kunst führte (im Folgenden
als die »Misere der Moderne« bzw. »Misere moderner Erzählformen« bezeichnet). Ge-
org Seeßlen beschreibt diesen Prozess als die »Crux der Moderne«:
„Die Crux der Moderne ist der Glaube an das Neue. So entsteht die moderne Ästhetik
als eine folge von Grenzüberschreitungen und Tabuverstößen. Dabei verbraucht sie al-
lerdings die Gegenmatrix, das Verbotene oder Unmögliche; der Kampf um den Skan-
dal wird immer mehr identisch mit dem Kampf um Sinn.“17
Hier leistet auf dem Gebiet des Films die postmoderne Doppelcodierung Abhilfe,
die nun zur Methode filmischen Erzählens geworden ist und ihm - gerade durch das
Erkennen der Misere modernen Erzählens und der Konsequenzen daraus - neue Im-
pulse verliehen hat.
2.1.3. Franz Derendinger: Verdopplung und Ironie
In seinem Text „Keine andere Wahl, als es Ecos Liebhabern gleichzutun“ be-
schreibt Franz Derendinger anhand von Umberto Ecos „Nachschrift zum Name der
Rose“, wie sich solche Impulse äußern. Er definiert die Doppelcodierung:
14 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 123. (Schreckenberg spielt hier auf einen Werbespot der Firma Nestlé an.)
15 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 123 f.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 11
„doppelcodiert ist ein Kunstwerk, das eine gewissermaßen naive, positive Lesart - eine
Aussage - hat, das zugleich aber auch einen Diskurs über die verwendeten Zeichen
führt, auf dessen Ebene es sich eine durchaus moderne Negativität bewahrt. Das post-
moderne Kunstwerk ist so in der Lage, ganz verschiedene Rezipienten anzusprechen:
den naiven, dem es den Genuss eines Bildes oder einer Geschichte anbietet, wie den
reflektierenden, dessen Verlangen nach einer kritischen Dimension es durch die ironi-
sche Selbstdistanzierung befriedigt.“18
Die von Derendinger postulierte „Aussage“ muss nicht unbedingt einen Wider-
spruch zur Feststellung Burkes, dass die Aussage im Kunstwerk verschwunden sei, dar-
stellen, weil hier Aussage nicht mit Bedeutung gleichgesetzt wird, sondern lediglich
das meint, was der Film inhaltlich transportiert (der Plot), der natürlich ebenso Ge-
genstand der Doppelcodierung sein kann (und es bei den meisten postmodernen
Filmen auch ist).
Ein nach Derendinger wichtiges Charakteristikum der Verdopplung ist die Ironie.
Sie bildet letztlich die Trennlinie zwischen dem modernen und dem postmodernen
Film: „postmodern ist keineswegs gleich beliebig, es gibt im Gegenteil ein klares Mass
für Postmodernität: die Ironie.“19
Diese Ironie äußert sich in Form subtiler Anspielungen auf z. B. Erzählstrategien des
modernen Films. Dennoch ist es erforderlich, eine Trennung zwischen ironischer Dop-
pelcodierung und ironischen Formen der Intertextualität vorzunehmen. Derendinger
grenzt sie folgendermaßen voneinander ab:
„die Doppelcodierung ist hier schon so zu verstehen, dass der Film seine spezifisch filmi-
schen Ausdrucksmittel als solche erkennbar werden lässt, dass er also die Illusion eines
natürlichen Geschehens aufbricht. [...] ein Film, der äusserst bewusst und souverän mit Zi-
taten spielt, stellt keinen im eigentlichen Sinn postmodernen Film dar, obgleich der
Geist der Postmoderne darin fast auf Schritt und Tritt zu spüren ist.“20
So bewegt sich der postmoderne Film zwar stets im Bereich moderner Formen der
Intertextualität (vgl. 2.3.), distanziert sich jedoch dadurch von ihnen, dass er diese
Intertextualitäten nicht thematisiert (wie etwa bei einer Parodie), sondern sie eher
unterschwellig als Bestandteile für ein narratives Patchwork nutzt.
2.1.4. Franz Loquai: FilmimFilm21
In seinem Artikel über die mediale Autothematisierung (bei Literatur und Film) skiz-
ziert Franz Loquai die Formen postmodernen Erzählens mit ihrer Beziehung (Verdopp-
lung) mehrerer Ebenen: der Ebene des Plots, der Ebene des Genres und nicht zuletzt
der Ebene des Mediums selbst, wie sie sich von der modernen bis zur postmodernen
Kunst herausgebildet haben:
16 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 126.
17 Seeßlen, Georg (42000). S. 127.
18 Derendinger, Franz (1989). S. 4 f. Dass Derendinger hier vom »Rezipienten« spricht (und nicht etwa von einem emanzi-
pierten Zuschauer), widerspricht seinen Ausführungen zur Wirkung der Doppelcodierung: Gerade am Akt der bewussten
Decodierung doppelcodierter Bildinhalte zeigt sich doch, dass deren Betrachter nicht einfach »rezipiert«, sondern viel-
mehr einen Großteil dazu beiträgt, dass der Film verstanden wird. Wir wollen daher für die f olgenden Untersuchungen
den Terminus »Zuschauer« beibehalten als einer Instanz, die aktiv Filme sieht und versteht.
19 Derendinger, Franz (1989). S. 5.
20 Derendinger, Franz (1989). S. 7.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 12
„Unter Selbstreflexivität oder Autothematik verstehe ich die Thematisierung der Ver-
mittlungstechniken des Mediums im Medium selbst, also die Reflexion der künstlerischen
und kommunikativen Möglichkeiten in den Medien Literatur und Film, und zwar auf den
Ebenen der Produktion wie der Rezeption. [...] wie sich im Verlauf der Genese der Mo-
derne bis hin zur Postmoderne zunehmend selbstreflexive Tendenzen einstellen, in de-
ren Zuge die Bedingtheit des Erzählens mitreflektiert wird im Hinblick auf die ästheti-
schen Möglichkeiten des Mediums und deren theoretische Implikationen.“22
Wie Derendinger die ironische Doppelcodierung von der persiflierenden Intertex-
tualität unterscheidet, so trennt Loquai die Autothematik von Formen der reinen
Thematisierung ab:
„Es geht also nicht um Filme des folgenden Typus: Hollywoods Blick auf Hollywood, »the
Making of a Movie«, zum Thema Starmythos oder Kinosterben. Im Zentrum steht viel-
mehr eine durch die Infraierungstechnik ermöglichte Potenzierung oder Vervielfälti-
gung des Mediums innerhalb eines einzigen Films, der somit seine produktionstechni-
schen und rezeptionsästhetischen Möglichkeiten im Hinblick auf einen aktiven Zu-
schauer reflektiert. [...] so setzt der FilmimFilm einen filmhistorisch kundigen Cineasten
voraus; das gilt jeweils für den Idealfall.“23
Die Form der Infraisierungstechnik ist jedoch nur ein Merkmal der Doppelcodierung:
Loquai zählt abschließend sechs Merkmale postmodernen Erzählens auf:
„1. Selbstreflexivität bzw. Autothematik.
2. Universum der Texte/Filme (siehe Borges oder die Filme von Peter Greenaway).
3. Potenzierung der Intertextualität (siehe Wieland oder Calvino).
4. Ludische Momente in metasprachlichen Spielen (siehe u.a. Eco).
5. Multimedialität und Internationalität.
6. Die Überwindung der Distanz von Fiktion und Wirklichkeit oder: Die aufge-
hobene Rivalität von Realität und simulierter Realität.“24
Hierin sind bereits alle Verfahren einer »Ästhetik der Verdopplung« genannt, wie sie
auch in den Filmen David Lynchs vorkommen. Sie lassen sich auf drei Ebenen des
Films projizieren, die im Folgenden genauer eingegrenzt werden sollen.
2.2. Die Ästhetik der Verdopplung
Die Analysen der ästhetischen Verdopplung, wie sie später auf die Filme David
Lynchs angewendet werden sollen, rekrutieren sich zu einem Teil aus der Dechiffrie-
rung postmoderner Doppelcodierung. Sie überschreiten dieses Verfahren jedoch,
wenn nicht mehr allein die Erzählung oder deren Genre im Zentrum der Analyse ste-
he, sondern das Medium selbst in dieses einbezogen wird.
2.2.1. Die Verdopplung der Erzählung
Hierzu zählen alle intertextuellen Verfahren der postmodernen Doppelcodierung,
wie sie unter 2.1. beschrieben wurden. Die Verdopplung beschränkt sich dabei auf
21 Den Terminus FilmimFilm führt Franz Loquai ein, um Filme zu kategorisieren, die sich selbst in Form von in ihrer Handlung
eingebetteten Fil men thematisieren.
22 Loquai, Franz (1997). S. 182.
23 Loquai, Franz (1997). S. 193 f. Eine ähnliche Abgrenzung der Medieninszenierung von der Selbstreflexion/-referenz
nimmt auch Petra Kallweit vor: Vgl. Kallweit, Petra (1998). S. 213 f. [Weiteres hierzu in den Untersuchungen zu TWIN PEAKS -
FIRE WALK WITH ME und LOST HIGHWAY].
24 Kallweit, Petra (1998). S. 203 f.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 13
interdiegetische Verweise, wie z. B. Anspielungen oder Zitate. Gegenstand der ver-
doppelten Erzählung im Film sind Bild/Ton und Plot.
So kann ein Film auf andere Filme verweisen, indem er deren Inhalte zitiert. Beim
Bild sind das der Bildinhalt, die Einstellungsgrößen, Kamerabewegungen oder Mon-
tagen. Verweise auf diese Art herzustellen, ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden:
Soll die Doppelcodierung dem Zuschauer bewusst werden, so bedarf es Verfahren,
die deutlich sichtbar machen, wie auf was referiert wird. Darüber hinaus diffundiert
dieses Verfahren auch in die Bereiche der Verdopplung des Genres, weil bestimmte
Konventionen der Bildgestaltung genretypisierende Merkmale sind (z. B. beim Film
Noir, beim Roadmovie, beim Thriller, …).
Intertextualität auf der Handlungsebene zu verwirklichen, erweist sich als viel ein-
facher: In Form des Zitats können Passagen der Handlung oder einzelner Aussagen
von Protagonisten referiert werden. Intertextuelle Bezüge dieser Art sind wegen ihrer
Offensichtlichkeit leichter zu dechiffrieren bzw. als Intertextualität zu verorten.
Die Verdopplung der Erzählung ist sicherlich das am häufigsten benutzte Verfah-
ren der Referenzbeziehung im Film. Der Zuschauer hat hierbei die Möglichkeit, sein
Filmwissen direkt in Beziehung zur aktuellen Filmsichtung zu stellen und die Bezüge
herzustellen. „Wir scheinen zugleich in der ersten Codierung ein heftiges Geschehen
zu genießen und in der zweiten Codierung die Illusion vollständiger intellektueller Kon-
trolle darüber.“25 Ebenso ermöglicht sie dem Autoren, einen Text zu erstellen, der die
Erzählung mittels Referenzbeziehungen zu anderen Texten weiterentwickelt:
„Der Fundus in der Filmgeschichte ist nicht die Verpflichtung zur Weiterentwicklung,
sondern Steinbruch der Möglichkeiten. Das Material muss nicht mehr in eindeutiger
Weise bearbeitet werden; daher verwischen sich auch die Grenzen zwischen Zitat und
Fortentwicklung.“26
2.2.2. Die Verdopplung des Genres
Gerade die ästhetische Verdopplung des Genres wird häufig zu dessen Dekon-
struktion genutzt. Das Kino der 80er, mehr noch das der 90er Jahre, offenbart die
Schwäche des Genrebegriffs besonders deutlich. War es bis dahin schon schwierig,
einen Film eindeutig einem gewissen Genre zu subsummieren, so wird dies nun nahe-
zu unmöglich.
Ein gutes Beispiel hierfür bietet das Genre »Horrorfilm«. Bis in die 80er Jahre hinein
war es eines, das seine Tendenzen des »Fortschritts« immer deutlich offenbart hat. So
wurde als Maßstab dieses Fortschritts häufig der Grad an detailliert dargestellter Ge-
walt gesehen.27 Spielte die Darstellung der Gewalt bis in die 60er Jahre hinein (wohl
aus Zensurgründen) noch keine besondere Rolle, so wurde sie für den Horrorfilm ab
25 Seeßlen, Georg (42000). S. 129.
26 Seeßlen, Georg (42000). S. 128.
27 Vgl. Hofmann, Frank (21994). S. 50 f.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 14
Hershell Gordon Lewis28 immer wichtiger. Den Schlusspunkt dieser Entwicklung stellen
Filme wie BRAINDEAD, (Nz 1989, Regie: Peter Jackson) dar, die derart gewaltüberlade-
ne Bilder liefern, dass sie bereits humoristische Züge tragen29 und dadurch kenntlich
machen, dass der Fortschritt in der Darstellung der Gewalt zum Zwecke des »Horrors«
nicht mehr funktioniert. In den 90er Jahren verwischen die Grenzen der Genres dann
vollends in Filmen wie z. B. John Carpenters VAMPIRES (USA 1999)30 oder Wachowskis
MATRIX (USA 1998)31.
Im postmodernen Film wird diese Entwicklung aufgenommen und dadurch kom-
mentiert, dass Filme wie BLADE RUNNER (USA 1982, Regie: Ridley Scott) sich der Erzähl-
form klassischer Genres (Film noir) zitierend annehmen und damit ihre Erzählstrategien
verdoppeln. Besondere Affinität für diese Art der Verdopplung findet sich in »fantasti-
schen Filmen«, weil hier die Möglichkeit besteht, Genreelemente in einen gänzlich
anderen Kontext zu überführen und gerade diese Genres mit ihren Bilder die von
Schreckenberg postulierte „Überwältigung der Sinne“ hervorbringen:
„Es kann von daher kaum verwundern, daß es gerade Genres wie der Horrorfilm, der
Science-Fiction-Film, der Thriller sind, die am stärksten postmoderne Bildwelten adap-
tiert haben.“32
2.2.3. Die Verdopplung des Mediums
Das Medium Film ist nicht erst im postmodernen Film Gegenstand filmischen Erzäh-
lens geworden. Zahlreiche Produktionen seit der Frühzeit des Kinos nehmen sich sei-
ner an. Franz Loquai liefert zwei besonders frühe Beispiele:
„bereits in der Frühzeit des Kinos wurden solche medialen Grundbedingungen in Filmen
thematisiert. In »How it feels to be run over« (GB 1900, Regie: Cecil M. Hepworth) be-
wegt sich - in subjektiver Kameraeinstellung - eine Kutsche auf den Kameramann zu und
überfährt ihn. In »The Big Swallow« (GB 1901, Regie: James Williamson) läuft ein Spazier-
gänger dem ihn filmenden Mann entgegen, bis der Mund des Passanten die ganze
Leinwand ausfüllt und den Kameramann verschluckt.“33
Im postmodernen Film vertieft und verbreitert sich diese Tendenz: Die Referenz an
das Medium selbst findet nun nicht mehr allein in der Brechung seiner Verwen-
dungsweise statt, sondern nimmt Stellung zu zahlreichen Aspekten filmischen Erzäh-
lens: Filmmusik, Darstellungsweisen, Montage und Kamera. Darüber hinaus wird nun
nicht mehr der Film allein Gegenstand der Verdopplung, sondern auch andere Me-
dien, wie Video, Fernsehen, Telefon uvm. Hier reflektiert der Film vor allem deren Be-
ziehungen zueinander und deren narrative Strategien als Medium (oft in Abgren-
28 Hershell Gordon Lewis (* 1926, Pittsburgh, USA) gilt als der Urvater des sog. »Gore-Films«, der 1963 mit seinem Film BLOOD
FEAST erstmals Gewalt in detaillierter Großaufnahme präsentierte und damit Kritiker, Zuschauer und die Filmzensur provo-
zierte.
29 Hofmann, Frank (21994). S. 51.
30 der Vermengungen aus zwei klassischen Genres darstellt: Des Western und des Vampirfilms.
31 der seine futuristischen Bilder über die Erzähltradition des Kung-Fu-Films stülpt.
32 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 122.
33 Loquai, Franz (1997). S. 181.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 15
zung zum Film), also: wie Medien im Film präsentiert werden und welche Erzählformen
sich in den Medien herausgebildet haben.34
Das Medium selbst scheint im postmodernen Film viel deutlicher in das Zentrum der
Erzählung gerückt zu sein. Dabei werden die Barrieren der reinen »Erzählmedien« Lite-
ratur und Film zusehends überschritten und alle Bereiche visueller Kunst (Comic, Vi-
deoclips, Werbung, Malerei, …) mit einbezogen.
Dies wird nicht zuletzt an den Filmen David Lynchs deutlich: In nahezu allen Filmen
Lynchs spielen Medien eine wichtige Rolle innerhalb der Erzählung und bei der »Ko-
lonisation« seiner Stoffe in den einzelnen Medien (z. B. dem Fernsehen): „David Lynch,
dessen Fernsehserie TWIN PEAKS (1990) den Versuch darstellt, auch im weitgehend ei-
nem traditionellen Erzählstil verpflichteten Fernsehen mit postmodernen Erzählweisen
zu reüssieren.“35
2.3. Abgrenzung zu den Verfahren »moderner« Intertextualität
Intertextualität ist eine Sammelbezeichnung für Wechsel- und Referenzbeziehun-
gen eines konkreten Textes zu einer Vielzahl konstitutiver und zugrundeliegender an-
derer Texte, Textstrukturen und allgemeiner semiotischer Codes, auf die dieser durch
Zitate, Anspielungen u. ä. verweist und damit ein eigenes Netz von textlichen Bezie-
hungen ausbreitet.
Intertextualität ist dabei natürlich nicht allein auf Literatur beschränkt: Sowohl an-
dere Medien können als Referenzobjekt dienen als auch Referenzen zu anderen
Objekten herstellen. Dabei lassen sich zunächst drei Hauptformen der Intertextualität
unterscheiden, die im Folgenden von der Ästhetik der Verdopplung abgegrenzt
werden sollen.
2.3.1. Anleihen: Pastiche und Plagiat
Absichtlich produziert, stellt die Pastiche die genaue Nachahmung des Stils eines
Autors, einer Stilrichtung oder Gattung in Formen und Phrasenschatz unter Vermei-
dung eines Individualstils dar. Sie wird daher besonders zur Parodierung ihres Refe-
renzobjektes genutzt.
Ist die Nachahmung auf eine unbewusste oder unerlaubte Wiedergabe von Wer-
ken oder Teilen davon, Motiven und Gedanken eines Anderen zurückzuführen,
handelt es sich um ein Plagiat; eine Form »geistigen Diebstahls«.
Nun stellt Doppelcodierung, erst recht, wenn Sie Stile und Genres verdoppelt, tat-
sächlich eine Art Pastiche dar und bildet somit eine Hälfte der Methode zur Ver-
34 Mit dieser Frage wird sich vor allem die Analyse von LOST HIGHWAY beschäftigen.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 16
dopplung, zu der dann allerdings das benutzten Zeichen kritisch reflektieren muss,
um als Doppelcodierung angesehen werden zu können. Die Szene ist erst dann
doppelt codiert, wenn „sie als Aussage und als Untersuchung der Sprache dieser
Aussage aufgenommen werden kann.“36
2.3.2. Anklagen: Parodie, Persiflage, Travestie und Satire
Diesen Formen der Intertextualität ist allen die Intention gemein: Sie verspotten,
verzerren und klagen an. Dabei beziehen sie sich entweder auf soziale oder politi-
sche Missstände oder sie rücken ein künstlerisches Referenzobjekt in den Mittelpunkt
ihrer Betrachtung bzw. Bewertung.
Die Doppelcodierung, die mittels der Ironie ebenfalls ihr Referenzobjekt - das mo-
derne Kunstwerk - entlarvt, adressiert hingegen keineswegs irgendwelche sozialen
oder politischen Missstände, bis auf den einen: Die Misere der modernen Erzählfor-
men:
„In diesem Spiel steckt beides, die ‚reine‘, archaische Aussage (die in der Moderne
negiert worden war) und die kritische Reflexion der verwendeten Zeichen für diese
Aussage (in der sich die Moderne fortsetzen mag). [...] Was die beiden Ebenen, die Aus-
sage und die Reflexion ihrer Mittel, verbinden kann, ist Ironie. Darin steckt sozusagen
das gegenseitige ‚Verzeihen‘ von Naivität (des Dargestellten) und Raffinesse (in der
Darstellung), die einzige Möglichkeit, sich gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen und sich
nicht sogleich zu zerstören“37
Dennoch ist ihre Nähe zu diesen intertextuellen Verfahren offensichtlich, denn
auch
„der postmoderne Film bewegt sich in der Folge stets am Rand der Parodie. [...] Der Au-
tor einer Parodie manifestiert ja stets seine souveräne Verfügungsgewalt über die Gat-
tungsgesetze; allerdings begibt er sich immer auch der Möglichkeit, einfach naiv eine
Geschichte zu erzählen. Reine Parodien bilden daher noch nicht wirklich postmoderne
Werke, weil sie sich zur entsprechenden Gattung ausschliesslich negativ verhalten und
so die Doppelcodierung vermissen lassen.“38
2.3.3. Anspielungen: Hommage, Collage und Adaption
Auch diese Formen der Intertextualität entwickeln eine Reihe von Gemeinsamkei-
ten zur Ästhetik der Verdopplung.
“Die »Hommage« kann die verschiedensten Formen haben, inhaltlich wie formal be-
stimmt sein, entscheidend ist, daß sie eine bestimmte Tiefe der Auseinandersetzung
nicht überschreitet. Es ist kein ästhetischer Diskurs, sondern eher ein Schlenker, eine Ge-
ste, die Verbeugung und Vereinnahmung zugleich bedeuten kann“39,
charakterisiert Georg Seeßlen die Filmhommage. Die Doppelcodierung überschrei-
tet jedoch dieses Limit, indem sie das Hommage-Bild nicht als einfache Referenz in-
stalliert, sondern es oft dazu nutzt, den bezogenen Text (ironisch) zu brechen.
Die Collage, eine experimentelle Technik, die den Text mit Anspielungen, Zitaten
anderer Autoren und vorgeprägten Wendungen (also »Klischees«) versetzt, um da-
35 Schreckenberg, Ernst (1998). S. 120.
36 Seeßlen, Georg (42000). S. 129.
37 Seeßlen, Georg (42000). S. 129.
38 Franz Derendinger (1989). S. 7.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 17
durch dem Thema weitere Horizonte abzugewinnen, gilt auch als Methode der Ver-
dopplung: Das Klischee, dass im modernen Film vor allem den Genrekonventionen
entspricht, wird im postmodernen Film ebenso verwendet, allerdings nicht, um dem
Stoff oder dem Genre »neue« Aspekte abzugewinnen, sondern um zu zeigen, dass es
gar nicht notwendig ist, dem Gegenstand einen neuen Aspekt hinzuzufügen, weil in
der Reflexion »der Bedingungen seiner Möglichkeit« ein beachtliches intellektuelles
Potential verborgen ist.
„Der postmoderne Film benutzt Klischees wie ein Komponist sein Material; während sie
in ihrer ausstellenden Anhäufung vollkommen ihre moralische Kategorialität verlieren,
gewinnen sie in dieser Anhäufung an ästhetischer Struktur. Das Klischee ist nicht das,
worauf der Film hinaus will, sondern das, woraus er besteht.“40
Die Adaption stellt die Anpassung eines Werkes an die Erfordernisse einer anderen
Gattung oder eines anderen Mediums, für das es in der authentischen Form nicht
gedacht war, dar. Besonders in der Moderne (und dort besonders beim Film) findet
sich diese Form der Intertextualität, denn das ökonomische System, die »Medienwirt-
schaft«, verlangt nach immer neuen Werken, immer anderen Stoffen, um den »Stoff-
hunger« befriedigen zu können.
Der ästhetischen Verdopplung liegt zwar dieser ökonomische Gedanke nicht zu
Grunde, kommt dem »Verwertungsprinzip« der Medienökonomie jedoch sehr entge-
gen. Hier wird die Adaption zwischen Gattungen/Genres und Medien dazu genutzt,
auf das Vorwissen des mediensozialisierten Zuschauers zu referieren.41 Über dieses
Vorwissen schreibt Georg Seeßlen:
„Das Kunstwerk in der Postmoderne ist vielmehr eine Art Schizophrenie-Maschine, die
sehr unterschiedliche Menschen mit gänzlich unterschiedlichen Erwartungshaltungen
ebenso ansprechen kann, wie einen Menschen zugleich auf sehr unterschiedliche Wei-
se.“42
Es zeigt sich also, dass Bestandteile intertextueller Verfahren teilweise in die Ästhetik
der Verdopplung eingegangen sind, oft jedoch ohne die ihnen eigene Intention
(Anprangerung) oder Radikalität (Verspottung) zu übernehmen. Gemein ist allen
(außer vielleicht dem Plagiat), dass der Zuschauer das Referenzobjekt (wieder-) er-
kannt und damit den intertextuellen Bezug herstellt.
2.4. Die Methode Lynch
39 Seeßlen, Georg (1999). S. 205.
40 Seeßlen, Georg (42000). S. 127.
41 Eine besonders interessante Abart der Adaption stellt die sog. »Verfilmung« eines literarischen Stoffes (und neuerdings
auch die »Verbuchung« eines Films) dar; kurbeln sich doch auf diese Weise zwei Medienbranchen gegenseitig an. Vgl.
hierzu: Sierek, Karl. Zwischen den Stühlen: Blade Runner. In: Ders. Aus der Bildhaft. Wien. Sonderzahl: 1993. S. 131 - 160 und
Faulstich, Werner. „Verbuchung“ als Medienästhetisches Problem. Eine Fallstudie zu Alien. In: Medien und Kommunika-
tion (MuK) 45. Siegen 1986. S. 3 - 21.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 18
Spätestens seit seinen Filmen BLUE VELVET und WILD AT HEART zählt David Lynch zu
den Hauptvertretern des postmodernen Kinos. Gerade diese beiden Titel stellen pa-
radigmatische Werke postmodernen Erzählens im Kino dar. Angefangen bei seinem
dritten Spielfilm DUNE (1984) bis zu seinem jüngsten Werk THE STRAIGHT STORY (1999) fin-
den sich Strategien der ästhetischen Verdopplung in verschiedener Intensität. Georg
Seeßlen charakterisiert Lynchs Œuvre daher: „David Lynchs Filme beschreiben recht
eigentlich eine postmoderne Kosmo- und Theologie.“43
Doch damit ist längst nicht alles über die Filme David Lynchs gesagt, denn obwohl
BLUE VELVET der Ästhetik der Verdopplung verpflichtet zu sein scheint und zahlreiche
Referenzen zur Filmgeschichte herstellt, wird in ihm auch ein Projekt lanciert, das ihn
einem Film wie TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME (einem weitaus weniger postmodernen
Werk) ähneln lässt.
„So will Lynch, scheint es, mit seinen Doppelcodierungen von Anbeginn auf, etwas an-
deres hinaus als auf die ironische Darstellung der eigenen Erzählmittel, mit denen eine
Distanzierung von der (‚naiven‘) Aussage zu erreichen ist; er behandelt eine Art Dop-
pelcodierung der Wahrnehmung selbst.“44
Diese „Doppelcodierung der Wahrnehmung zeigt sich vor allem an den fünf fol-
genden Bereichen.
2.4.1. Zeitlosigkeit
Die Zeit spielt in den Filmen Lynchs eine besondere Rolle. Lynchs Filmhandlungen
lassen sich kaum in eine »Epoche« einordnen, weil er die Stilelemente verschiedenster
Dekaden miteinander kombiniert und auf diese Weise Anachronismen herstellt. Die-
ses Verfahren deckt sich mit der Analyse Frank Burkes zu »apresentation«:
„Time itself is unpresented. The present isn’t present but a series of references to past,
which itself fails to materialize. Simultaneously, this a-present and a-past, by being jux-
taposed, are in effect spatialized and denied both their temporal nature and their lin-
ear or »narrative« comprehensibility."45
Darüber hinaus verfährt Lynch äußerst kreativ mit den Momenten Erzählzeit und
erzählte Zeit: Tradierte Formen der Rückblende (zur Ver»gegenwärtgung« vergange-
ner Vorgänge), der »zeitlosen« Präsentation von Traumbildern der Protagonisten und
Methoden zur Verdeutlichung verfließender erzählter Zeit (etwa Raffungen und Zeit-
lupen) werden bei Lynch in einer Form gebrochen, in der sie radikale Auswirkungen
auf die Erzählzeit bekommen.
Die Mittel, die er dazu verwendet, sind - wie sich zeigen wird - sehr verschieden
(Aufbruch linearer Erzählweisen, Annäherung des Films an die Fotografie etc.); alle
jedoch scheinen sie dem Prinzip verpflichtet, dem Zuschauer das Phänomen »Zeit im
Film« zu verdeutlichen.
42 Seeßlen, Georg (42000). S. 129.
43 Seeßlen, Georg (42000). S. 223.
44 Seeßlen, Georg (42000). S. 129.
45 Burke, Frank (1988). S. 71.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 19
2.4.2. Negationen
Personen und Räume scheinen in Lynchs Filmen einer ständigen Negation unter-
worfen zu sein. Diese offenbart sich vor allem darin, dass für sie häufig keine physikali-
schen Gesetzmäßigkeiten mehr geltend gemacht werden können. So kann es zum
Beispiel vorkommen, dass sich eine Person in eine andere verwandelt, dass eine Per-
son zwei Figuren verkörpert46 oder sich an zwei Orten gleichzeitig befindet.
Dasselbe Schicksal erfahren die Räume in den Filmen Lynchs: Sie sind ineinander
verschachtelt, enthalten mehrere Ebenen (oder »Unterdimensionen«) entstehen und
verschwinden (wie z. B. in TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME). Der Filmraum, der immer auch
als Zeichen für ein bestimmtes Genre fungiert (Film noir, Thriller, Horrorfilm, etc.) wird
dabei häufig umfunktioniert, um so der Dekonstruktion des betreffenden Genres zu
dienen.
2.4.3. Bild und Ton
Augen- und ohrenfällig scheinen die Ebenen von Bild und Ton bei Lynch oft in
zwei unabhängige Bereiche zu zerfallen:
„Von Beginn an hat der Ton bei Lynch eine enorme Gewichtung als autonomes Ele-
ment der Darstellung, das keineswegs dazu verurteilt scheint, wirkliche ‚Ganzheit‘ zu
simulieren. [...] Sie [die Töne, S. H.] haben keine konventionalisierende Wirkung; sie be-
gleiten nicht die Bewegung von Personen und Objekten“47,
charakterisiert Georg Seeßlen diese Spaltung. Sie geht sowohl von der Ton- als
auch von der Soundtrack-Spur des Films aus, welche wesentliche Bedeutung für die
»Methode Lynch« haben und nehmen oft negierend Bezug auf die Story des betref-
fenden Films: „Der Soundtrack dient der Inversion der Story“, schreibt Seeßlen, mit
dem Effekt der Dekonstruktion:
„Daß das Hören so sehr in Frage gestellt ist wie das Sehen, erfahren wir in Lynchs Filmen
freilich auch auf einer anderen Ebene. Wenn in BLUE VELVET die Kamera zu Beginn in ein
menschliches Ohr und am Ende wieder hinaus fährt, haben wir das Unerhörte in diesem
Film gehört. In TWI N PEAKS stellt sich Lynch selbst nicht zufällig als einen Schwerhörigen
dar, der, passiv wie aktiv, die Kontrolle über die akustischen Botschaften weitgehend
(und auf eine eher komische Art) verloren hat.“48
2.4.4. Spiegelbilder
Die in den Filmen Lynchs anzutreffenden Spiegel und visuellen Spiegelungen (z. B.
durch glatte Flächen, Bildmedien uvm.), scheinen - gerade durch ihre zentrale Posi-
tion innerhalb der Bilder und Erzählungen - gleich auf mehreren Ebenen bedeutsam
zu werden.
Innerhalb der Erzählung künden sie von den zahlreichen Aspekten, die innerhalb
einer Figur angelegt sind und offenbaren dabei deren Psychosen: Hier funktioniert
46 Nicht wie in einem »modernen« Film, wo einfach ein Schauspieler mehrere Rollen übernahm (Bsp.: Stanley Kubricks
DR. STRANGELOVE [GB 1963], in dem Peter Sellers drei Rollen spielte). Bei Lynch kommt es vor, dass die Figuren, die von
einem Schauspieler verkörpert werden, aufeinander referieren und sich gegenseitig bedingen, wie sich in den Untersu-
chungen zu LOST HIGHWAY und TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME zeigen wird.
47 Seeßlen, Georg (42000). S. 212 f.
48 Seeßlen, Georg (42000). S. 214.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 20
z. B. der Spiegel höchst »modern«, gerade wenn er - zerbrochen - nur noch Fragmen-
te wiedergibt. Auch spiegeln sich oft ganz andere Dinge wieder, als die, welche den
Spiegeln gegenüber stehen - auch dies ein Mittel, das die unter 2.4.2. angedeutete
Negation der Person als Einheit verbildlicht.
Spiegel reflektieren auf einer höheren Ebene als Medium der (Re-)Präsentation
selbst das Medium Film. Es wird sich zeigen, dass Spiegelbilder innerhalb des Films ver-
deutlichen, wie der Autor die Erzählung und die Bilder strukturiert hat. Vor allem die
Narrationen der späten Filme David Lynchs »zerfallen« in zwei separate Bestandteile,
zwei »Spiegelbilder«. Die Verdopplung, die sich im Spiegelbild visualisiert, findet ihre
Entsprechung in der dekonstruierenden Verdopplung der Erzählung selbst:
„Endgültig in zwei Teile zerfallen FIRE WALK WITH ME (der Prolog, der mit dem Verschwin-
den des FBI-Agenten Chester Desmond endet, von dem bis zum Schluß nicht mehr die
Rede sein wird) und LOST HIGHWAY (die plötzliche Verwandlung von Fred in Pete und
wieder zurück, von der man sich gar nicht mehr erwartet, daß sie irgendwann erklärt
werden könnte). Aus Bruchstücken baut man kein Ganzes, sondern Ruinen. Die Ver-
wendung von Bruchstücken zeugt vom verlorenen Glauben an das Ganze, mit dem sie
dennoch als verwitterte Überreste verbunden bleiben. Lynch baut seine Filme aus den
Resten einer längst unglaubwürdig gewordenen Populärkultur.“49
Darüber hinaus scheinen die Spiegelbilder auch Lynchs besondere Beziehung zur
Psychoanalyse zu versinnbildlichen: Dem von Jacques Lacan postulierter »Spiegel-
stadium«50 kommt eine bedeutende Funktion in der Herausbildung des Ich zu. Die
Beziehung zur psychoanalytischen Theorie ist dabei ambivalent angelegt: Scheint
dieses »Spiegelstadium« oft genau auf die Charaktere in den Figuren Lynchs zuzutref-
fen, so offenbart der Spiegel in seiner Verdopplung des Betrachter-Blicks auch deut-
lich kritische Züge: Gerade die von zahlreichen Exegeten als »archetypisch« analy-
sierte Schrankszene in BLUE VELVET [dort: #III/18 - 20] könnte letztlich weniger als Bestä-
tigung »ödipaler Konflikte«, denn vielmehr die vorweggenommene Kritik solcher Ana-
lysen in Form der Affirmation darstellen. Eine Hypothese, die im Schlusskapitel ausge-
führt werden soll.
2.4.5. Meta-Motivik
Einen letzten Aspekt, den die folgenden Analysen berücksichtigen wollen, ist die
Selbstreferenzialität (bzw. „Selbstreflexion“51), die Lynch zu seinem eigenen Werk ein-
nimmt. Diese Selbstreflexion charakterisiert Brian Jarvis wie folgt:
„Lynch’s postmodern intertextuality precisely relishes its adestinoationality, its failure to
go anywhere. Accordingly, cinematic space collapses in on itself in a black hole of
vertiginous self-referentiality, a kenotic draining of the illusion of significance. To pursue
the allusions is to miss the point.“52
Stringent verfolgte Motivketten ziehen sich dabei von seinen frühesten Filmen bis zu
seinem aktuellen Werk THE STRAIGHT STORY in Form von Erzählmotiven, Figuren (und Figu-
49 Öhner, Vraath (1997). S. 22.
50 Lacan, Jacques. Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Kimmich, Dorothee et al. (Hrsgg.). Texte zur Litera-
turtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1996. S. 177 - 188.
51 Vgl. Kallweit, Petra (1999). S. 213.
SPIEGELBILDER METHODE SEITE 21
renkonstellationen) und Bildzitaten. Diese Motive verweisen dabei oft auf nichts an-
deres als sich selbst. Sie erzeugen den »Werk«-Charakter, der alle Filme Lynchs als Ein-
zelbeiträge zu einem größeren Projekt aufsummiert. Wie dieses Projekt beschaffen ist,
sollen die Analyse dreier seiner Spielfilme im Folgenden verdeutlichen.
52 Jarvis, Brian (1988). S. 178.
SPIEGELBILDER SEITE 22
In Dreams
A candy colored clown they call the sandman
Tiptoes to my room every night
Just to sprinkle stardust and to whisper
Go to sleep, everything is alright
I close my eyes then I drift away
Into the magic night I softly say
A silent prayer like dreamers do
Then I fall asleep to dream
My dreams of you
In dreams I walk with you
In dreams I talk to you
I dreams you’re mine
All of the time with you
Ever in dreams, in dreams
But just before the dawn
I awake and find you’re gone
I can’t help it, I can’t help it if I cry
I remember that you said goodbye
It’s too bad that all these things
Can only happen in my dreams
Only in dreams
In beautiful dreams
(Roy Orbison)
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 23
3. BLUE VELVET: Die Verdopplung der Erzählung
Mit dem 1986 entstandenen Film BLUE VELVET avancierte David Lynch vom »Insider-
Regisseur« zum international gefeierten Filmautoren. Chris Rodley bezeichnet BLUE
VELVET als einen „Meilenstein der amerikanischen Filmlandschaft der 80er Jahre.“53 -
eine Meinung die er mit vielen Interpreten teilt.
Der Film, der dem zeitgenössischen Kino starke Impulse verlieh und seither nicht nur
im Werk David Lynchs immer wieder zitierend aufgenommen wurde, gilt als (vielleicht
sogar das) paradigmatische(s) Ereignis des postmodernen Kinos: „BLUE VELVET has fast
become canonised as a quintessentially postmodern text.“54. BLUE VELVET wurde da-
bei jedoch nicht allein als ästhetisches Erzeugnis rezipiert, sondern fand als kulturelles
Zeugnis einer postmodernen Geisteshaltung Einzug in die postmoderne Theoriebil-
dung überhaupt:
„contemporary films like David Lynch’s BLUE VELVET (1986) may be read as cultural
statements which locate within small-town America (Lumberton, USA), all the terrors
and simulated realities that Lyotard (1984) and Baudrillard (1983) see operating in the
late postmodern period.“55
Diese »Vielseitigkeit« lässt sich bereits beim ersten, oberflächlichen Betrachten des
Films erahnen: BLUE VELVET ist angefüllt mit Film-, Literatur- und Kulturzitaten; seine Er-
zählung lässt sich gleichsam im Horror-, Märchen-, Familien-, und Film noir-Kino ansie-
deln. Lynch bedient sich in BLUE VELVET Techniken, Motiven und Erzählstrategien, de-
ren Quellen vom surrealistischen Kino der 30er Jahre über THE WIZARD OF OZ (USA 1939,
R: Victor Fleming) bis Alfred Hitchcocks56 REAR WINDOW (USA 1954) und darüber hinaus
reichen. Richard Combs charakterisiert den Film daher treffend als: „a cinema of
’found objects’ - the objects in question being the fragments of a pre-existing but
longforgotten film culture, reassembled in backyards and living rooms.“57
Die Verdopplungen, die BLUE VELVET mit anderen Filmen verbindet, sollen in diesem
Kapitel untersucht und ihre Bedeutung herausgestellt werden.
3.1. Synopsis
BLUE VELVET beginnt mit Bildern, die eine heile Welt zeigen: Das saubere Holzfäller-
Kleinstädchen Lumberton, ein langsam vorüber fahrendes Feuerwehrauto mit einem
winkenden Feuerwehrmann, weiße Lattenzäune mit roten Rosen und gelben Tulpen
53 Rodley, Chris (1998). S. 162.
54 Luckhurst, Roger (1989). S. 170.
55 Denzin, Norman K. (1988). S. 461.
56 Über die Beziehungen zwischen den Werken Hitchcocks und David Lynchs: Vgl. den nachfolgenden Exkurs.
57 Richard Combs zit. n. Luckhurst, Roger (1989). S. 174.
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 24
davor. Ein Mann - Tom Beaumont (Jack Harvey) - wässert seinen Rasen. Die Idylle
bricht zusammen, als er einen Anfall erleidet und zusammenbricht [1 - 2]58.
Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) wird vom Studium beurlaubt und kehrt nach
Lumberton zurück, um seinen Vater im Geschäft und im Haushalt zu vertreten, in
dem außerdem seine Mutter (Priscilla Pointer) und seine Tante Barbara (Frances Bay)
leben.
Nach einem Krankenhausbesuch findet Jeffrey auf einer Wiese ein abgeschnitte-
nes, menschliches Ohr [4]. Er geht damit zur Polizei, welche daraufhin die Gegend
absucht [5 - 7]. Jeffrey ist neugierig geworden und besucht am selben Abend Detec-
tive Williams (George Dickerson), um mehr über seinen mysteriösen Fund zu erfahren.
Dieser gibt zwar zu, dass man bereits Vermutungen hat, weiht Jeffrey jedoch nicht
genauer in den Fall ein [9]. Auf dem Heimweg begegnet Jeffrey der Tochter Sandy
Williams (Laura Dern), welche durch ihre Schlafzimmerwand Details über das Verbre-
chens, zu dem auch das von Jeffrey gefundene Ohr gehört, erfahren hat. Sie nennt
Jeffrey den Namen der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) als
einen Zusammenhang [10].
Jeffrey überredet Sandy am nächsten Tag, ihm bei einem Besuch bei Dorothy zu
unterstützen [12]. Als Kammerjäger verkleidet verschafft er sich Zugang zu ihrem Ap-
partement und stiehlt einen Schlüssel [14 - 15], mit dem er am selben Abend noch
einmal in die Wohnung schleicht [15 -17]. Jeffrey wird von der Heimkehr Dorothys
überrascht und kann sich gerade noch in einem Schrank verbergen [18]. Dort wird er
kurz darauf von Dorothy entdeckt und mit vorgehaltenem Messer gezwungen seine
Identität preiszugeben [19]. Als es an der Tür zur Wohnung klopft, befiehlt Dorothy
Jeffrey, sich wieder im Schrank zu verstecken. Frank Booth (Dennis Hopper) stattet
Dorothy eine Besuch ab, schlägt und vergewaltigt sie, um kurz darauf wieder zu ver-
schwinden [20]. Jeffrey, der alles vom Schrankinnern aus beobachtet hat, versucht
Dorothy zu trösten, geht aber dann nach Hause [21].
Am kommenden Tag berichtet er Sandy von seinen Erlebnissen, ohne jedoch zu
erwähnen, dass er von Dorothy entdeckt wurde [23 - 24]. Er besucht daraufhin Doro-
thy ein zweites Mal [25] und plant nun Frank selbst zu observieren, von dem er he-
rausgefunden hat, dass er Dorothys Mann Don (Dick Green) (von ihm stammt das
Ohr) und ihren Sohn Donny (Jon Jon Snipes) entführt hat, offenbar um über Dorothy
zu verfügen. Er findet heraus, dass Frank und einige andere einen Drogenring betrei-
ben und fotografiert Frank, wie er sich mit einem »gelben Mann« und einem »Mann
im eleganten Anzug« trifft [26 - 27]. Auch diese Ermittlungsergebnisse präsentiert er
Sandy [28].
58 Sequenznummern: Vgl. Sequenzübersicht im Anhang (8.1.1.).
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 25
Nachdem er Dorothy ein drittes Mal besucht hat und mit ihr intim wird [29 - 30],
werden beide von Frank überrascht. Dieser entführt Jeffrey und Dorothy auf einen
»joyride« - eine Autotour durch die Nacht - zunächst zu Ben (Dean Stockwell), wahr-
scheinlich ein Bordellbesitzer [31 - 34]. Dort wird Dorothys Sohn gefangen gehalten,
den sie kurz besuchen darf. Frank bespricht mit Ben einige Details eines abgelaufe-
nen Verbrechens, bei dem ein Drogendealer ermordet und eine Prostituierte verletzt
wurde und setzt den »joyride« kurz darauf fort [35].
Im Auto fügt Frank Dorothy so starke Schmerzen zu, dass Jeffrey ihm vor Wut ins
Gesicht schlägt. Daraufhin wird dieser von Frank und seiner Gang (Brad Durif, Jack
Nance und Michael Hunter) schwer zusammengeschlagen und außerhalb der Stadt
allein zurückgelassen - mit der eindeutigen Warnung, Dorothy nicht wieder zu sehen
[36].
Stark eingeschüchtert und lädiert will Jeffrey zur Polizei gehen und von seinen Er-
mittlungen berichten. Auf der Polizeiwache entdeckt er, dass der »gelbe Mann« De-
tective Gordon (Fred Pickler) ist - ein Polizeibeamter, der offensichtlich mit dem Dro-
genring gemeinsame Sache macht. Jeffrey verlässt die Wache unverrichteter Dinge
[39] und besucht am selben Abend noch einmal Detective Williams zu Hause, um
ihm die Fotos zu zeigen. Williams erkundigt sich, ob seine Tochter Sandy irgendetwas
damit zu tun hätte, was Jeffrey abstreitet [40].
Einige Tage darauf sind Jeffrey und Sandy, mittlerweile ein Paar, zu einem Ball ver-
abredet. Als Jeffrey sie abholt, trifft er in der Wohnung der Williams‘ auf Detective
Gordon, der ihn jedoch nicht erkennt [41]. Jeffrey und Sandy verbringen einen ge-
meinsamen Abend [42]. Als sie nach Hause fahren, werden sie von einem Auto ver-
folgt, von dem Jeffrey glaubt, es sei Franks Wagen. Die Verfolgungsjagt endet bei
den Beaumonts vorm Haus, wo sich herausstellt, dass es Sandys eifersüchtiger Ex-
freund Mike (Ken Stovitz) mit dessen Freunden ist, der Jeffrey und Sandy verfolgt hat
und nun Jeffrey verprügeln will. Die Auseinandersetzung endet abrupt, als Dorothy
plötzlich nackt und überseht mit Verletzungen über den Rasen der Beaumonts auf
Jeffrey zukommt [43].
Sandy und Jeffrey bringen Dorothy zum Haus der Williams’, wo Sandy nun zum er-
sten Mal von der geheimen Beziehung zwischen Jeffrey und Dorothy erfährt. Dorothy
wird in ein Krankenhaus gebracht [44].
Später versöhnen sich Jeffrey und Sandy wieder am Telefon [45] und Jeffrey fährt
noch einmal in Dorothys Wohnung. Dort stößt er auf die Leichen von Don und Detec-
tive Gordon [46]. Mittlerweile hebt die Polizei in einer Großaktion den Drogenring aus
[47]. Als Jeffrey durch das Erscheinen des »Mannes im eleganten Anzug« überrascht
wird, verständigt er über Gordons Funkgerät Detective Williams. Es stellt sich heraus,
dass Frank der »Mann im eleganten Anzug« ist und durch einen Polizeifunkempfän-
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 26
ger mitbekommen hat, dass sich Jeffrey in Dorothys Wohnung befindet. Frank beab-
sichtigt nun Jeffrey zu erschießen [48]. Dieser versteckt sich abermals im Schrank. Als
Frank die Schranktür öffnet, tötet Jeffrey ihn durch einem Schuss aus Gordons Waffe
in den Kopf. Einen Augenblick später erscheinen Sandy und Detective Williams [49].
BLUE VELVET endet mit fast denselben Bildern, mit denen er begann. Tom Beaumont
ist gesund aus dem Krankenhaus entlassen wieder daheim. Die Familien Beaumont
und Williams veranstalten ein gemeinsames Essen. Jeffrey und Sandy sind ein Paar.
Wieder werden die Zäune, das Feuerwehrauto, die Blumen gezeigt. Die Schlussein-
stellung präsentiert Dorothy, wie sie mit ihrem Sohn (?) wieder vereint ist [50].
3.2. Unpresenting BLUE VELVET
Zunächst erscheint die Kriminalgeschichte, die in BLUE VELVET erzählt wird, als nicht
besonders hintergründig. Von einer Entführung wird erzählt, von Erpressung, Korrupti-
on und Drogen. Jeffrey, anfangs charakterisiert als Musterknabe, gerät durch einen
Zufall und seine Neugier in diesen Strudel, der ihn in die Unterwelt Lumbertons zieht,
die sich so sehr von dem heilen Kleinstädtchen unterscheidet, welches uns der Prolog
präsentiert.
Die Kriminalgeschichte, wie sie in der Synopsis wiedergegeben ist, offenbart sich
jedoch schwerlich bei der Erstrezeption von BLUE VELVET: „Kaum jemand, der BLUE VEL-
VET zum erstenmal sieht, wird in der Lage sein, sich an die ’Kriminalgeschichte‘, die
sich irgendwo zwischen den großen nächtlichen Sequenzen des Films auch noch
verbirgt […] auch nur annähernd richtig zu erinnern.“59 Und dies hat auch seinen
Grund: BLUE VELVET stellt das Ergebnis einer »doppelten Transkription« dar. Lynch hat-
te bereits Mitte der 70er Jahre angefangen, am Drehbuch zu BLUE VELVET zu schrei-
ben. Von diesem vielfach überarbeiteten Skript ließ er bei der Inszenierung jedoch
vieles bei Seite, was nach seiner Meinung für den Film „überflüssig“60 war. Zudem er-
gänzte er die Erzählung und die Motive beim Drehen um zahlreiche Aspekte, die in
keiner Fassung des Drehbuches erwähnt sind (so finden sich z. B. nirgends die Ge-
sangseinlagen Bens und Franks beim »Joyride« [#V/34 & 36]). Aussagen der Figuren
wurden umgeschrieben und verliehen der Erzählung dadurch oftmals einen ganz
neuen (und nicht selten ganz anderen) Impetus.61
59 Fischer, Robert (31997). S. 131.
60 Rodley, Chris (1998). S. 199.
61 Eine für die psychoanalytische Ausdeutung sehr auswirkungseiche Abwandlung nennt Martha Nochimson: „Some
readers may be interested to l earn that Frank was not originally scripted to say to Jeff rey, ’You’re like me.’ Duwayne
Dunham, the editor for BLUE VELVET, told me that Frank’s original line was, ’You like me.“ The change was made during
the editing process when Lynch seized on a momentary confusion about what Hopper was actually saying and realized
he preferred the line that he thought he had heard the actor speak.“ Nochimson, Martha P. (1997). S. 239.
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 27
So wurde die Geschichte, die das narrative Gerüst für BLUE VELVET bildet, derart
stark gekürzt und umgeformt, dass es bei einigen Interpreten den Eindruck erweckte,
Lynch interessiere sich überhaupt nicht für sie. Um nur einige Fragen, die diese Auslas-
sungen in der Erzählung aufwerfen, zu nennen:
· Warum kennen sich Jeffrey und Sandy nicht schon vor ihrem ersten Zusammen-
treffen, wenn sie doch in der Nachbarschaft wohnen und zur selben Schule ge-
gangen sind?
· Warum weiß Jeffrey nicht, wo das „Deep River Apartment“ in der Lincoln Street ist,
wenn Lumberton sein Heimatort ist?
· Was hat es mit der Drogenintrige genau auf sich, die offensichtlich die Figuren
Frank, Ben, Detective Gordon und Don zusammengeführt hat.62
· Warum wurden Don und Donny entführt?
· Was bedeutet Dorothys Ausruf „Ich falle!“ [#VI/44]?
Insgesamt verleihen diese »Gaps« BLUE VELVET eine Ambiguität63 und Rätselhaftig-
keit, die zahlreiche Exegeten zu Spekulationen oder brüsker Ablehnung veranlasst
hat („Die Motivationen fallen dürftig aus“, urteilt z. B. Hans-Günther Pflaum, der dem
gesamten Film „Eklektizismus“ und „Puritanismus“ unterstellt und ihn als „postmoder-
ne Banalität“ abtut64). Ein Blick ins Drehbuch würde Erhellung verschaffen, doch wä-
re dies eine Ergänzung, die der Autor durch die Auslassungen bewusst ausschließen
wollte, um eine bestimmte Wirkung auszulösen. Martha Nochimson mutmaßt:
„The contrast between script and film sheds light on how Lynch may start with a ration-
alist, illusionist narrative but always moves beyond it. A crucial, Lynchian difference be-
tween script and screen concerns the substitution in the film of the first dream se-
quence for a very talky scene. [...] In any case, this transformation of the script for the
screen is another interesting insight into Lynch’s art as a process, which may make the
film more impressive for the reader.“65
Es könnte also mit der Lückenhaftigkeit eine Art »irrationale Verklausulierung« sei-
tens des Autoren beabsichtigt worden sein. Der Effekt für die Erzählung ist unüber-
sehbar:
„‘BLUE VELVET‘ braucht unsere Verwirrung, unsere frustrierten Reaktionen. Man darf den
Film nicht zurechtbiegen auf eine eindeutige Geschichte oder eine griffige Formel,
man muß ihn aufsprengen mit den Erinnerungen, die einen beim Sehen im Kopf herum-
spuken. An Photographien der 50er und 60er, an Bilder von Norman Rockwell oder Vi-
sionen von Ray Bradbury, an Filme jenes klassischen amerikanischen Genres, des Ame-
ricana, aus einer anderen Welt und Zeit.“66
Die ästhetische Verdopplung, die in zahlreichen Szenen BLUE VELVETS offensichtlich
zu Tage tritt, könnte also ein Ergebnis der Lückenhaftigkeit des Textes sein. Greifen wir
62 “Was in der endgültigen Version von BLUE VELVET ganz und gar im dunkeln bleibt, ist die Drogenintrige”. Seeßlen, Ge-
org (42000). S. 99.
63 Vgl. Seeßlen, Georg (42000). S. 100.
64 Pflaum, Hans-Günther (1994). S. 94, 95 und 97.
65 Nochimson, Martha P. (1997). S. 237.
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 28
für die folgenden Analysen den obigen Vorschlag Fritz Göttlers auf und betten ihn
methodisch in eine Vermutung ein, die zahlreiche Interpreten angestellt haben: dass
es sich bei BLUE VELVET um einen Traum handelt.
Die Traum-These kann dazu fruchtbar gemacht werden, die zahlreichen ästheti-
schen Verdopplungen (in Form von Film- und Genrezitaten) als kulturelles »Unbewuss-
tes« zu markieren, das in Form der Bilder des Films an die Oberfläche (die Leinwand)
dringt.
Die »Architektur des Traums« verhilft weiterhin zu einer Erklärung (und eventuell
Schließung) der Handlungslücken und unlogischen Verhaltensweisen der Protagoni-
sten. Und nicht zuletzt können die Figuren selbst - als Traumfiguren aufgefasst - in ihrer
überdeutlichen Doppelbelegung (jede der Figuren in BLUE VELVET stellt das Pendant
einer anderen dar) besser verstanden werden.
3.3. Close the gaps: BLUE VELVET als Traum
BLUE VELVET sei „ein Traum von merkwürdigen Sehnsüchten in eine Kriminalge-
schichte gepackt.“67 Diese Ansicht David Lynchs, während eines Interviews zu BLUE
VELVET, wird von vielen Interpreten geteilt68, die im Film ebenfalls eine Traumerfahrung
sehen. Dabei variieren bei ihnen sowohl die Traumsubjekte (Jeffrey69, Sandy70 oder
Tom Beaumont71 als Träumer) als auch die Belegszenen für ihre Vermutung. Für letzte-
re werden häufig zwei genannt: In der einen fährt die Kamera in das abgeschnitte-
ne Ohr Don Vallens‘ hinein [#I/8] und am Ende des Films aus Jeffreys Ohr wieder her-
aus [#VII/50].72 James Maxfield und Anne Jerslev argumentieren für diese Option:
„starting and ending point for the dream. Just before Jeffrey goes for the first time to
the house of Detective Williams and then meets his daughter Sandy (Laura Dern) after
the visit, we have an extreme close-up of the severed ear [...] I would submit that the
entire film is Jeffrey’s dream.“73
66 Göttler, Fritz (1987). S. 1.
67 Rodley, Chris (1998), S. 185. Lynch nutzt hier die zahlreichen Konnotationen zu »Traum« aus, um keine eindeutige Lesart
zu suggerieren.
68 Maurice Lahde, der eine umfassende Untersuchung zu den Beziehungen zwischen Traum und Film in den Werken
David Lynchs angestellt hat, diagnostiziert diese Verortung auch für andere Filme und deren Analysen: „In der Literatur
zum Werk von David Lynch stößt man auffallend häufig auf Versuche, die Wirkung seiner Filme mit Traumerfahrungen zu
vergleichen oder sogar gleichzusetzen.“ Lahde, Maurice (1998). S. 95.
69 Vgl. Maxfield, James (1996). S. 144., Jerslev, Anne (1996). S. 132.
70 Vgl. Wilckens, Peter (1996). S. 71.
71 Seeßlen, Georg (42000). S. 89.
72 Nicht erklärt wird hier allerdings, wessen Traum die Sequenzen zwischen den beiden genannten darstellen soll: Don
Vallens‘ oder Jeffrey Beaumonts. Immerhin handelt es sich ja um die Ohren von zwei verschiedenen Protagonisten. Man
müsste davon ausgehen, dass beide Figuren identisch sind (was zumindest auf der manifesten Ebene von BL UE VELVET
ausgeschlossen werden muss), um die Sequenzen als Traum einer Figur darstellen zu wollen - oder belegen, dass sowohl
Jeffrey als auch Don denselben Traum träumen - der jedoch nach Dons Tod noch einigen Minuten weiter geträumt
wird. Weiterhin klärt die Kamerafahrt-These auch nicht, wie die Sequenzen #0,1 bis #1,8 als Wachzustand (wessen?) zu
bewerten sind.
73 Maxfield, James (1996). S. 144.
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 29
„Die Schlußsequenz beginnt damit, daß die Kamera von etwas, das sich als Jeffreys Ohr
herausstellt, wegzoomt, so wie sie am Anfang des Films in ein Ohr eindrang. Vielleicht
war der Film also bloß ein Traum.“74
David Lynch nährte durch eine Aussage gegenüber der Zeitschrift Cineaste diese
Vermutungen (ohne allerdings den Schluss nahezulegen, dass es sich bei BLUE VELVET
insgesamt um einen Traum handeln könnte): „Cineaste: Why an ear and not a fin-
ger, for example? David Lynch: It had to be an ear because it’s an opening. An ear
is wide and you can go down into it. It goes somewhere.“75
Naheliegender wäre es jedoch, nicht nur die Szenen zwischen den beiden »Ohr-
Sequenzen«, sondern den gesamten Film als einen Traum zu interpretieren und damit
die strittige Frage des Traumsubjektes zu umgehen. Hiermit könnten ebenso die ei-
nem Traum am ähnlichsten Szenen, den Pro- und den Epilog, in die Untersuchung
mit einbezogen werden. Hinweise für diese Lesart liefern auch andere Szenen sowie
die gesamte Struktur BLUE VELVETS.
So werden neben der »traumhaften« Erzählweise des Films auf dessen manifester
Ebene zahlreiche Andeutungen offenbar, die eine solche Vermutung suggerieren.
Die überwiegenden Szenen des Films handeln nachts; ein zentrales Motiv - das des
Rotkehlchens - stammt aus Sandys Traum, den es als Idealzustand wieder zu errei-
chen gilt (der Ist-Zustand von BLUE VELVET repräsentiert also einen Albtraum); auf der
Tonebene deutet das Lied In Dreams den Traum an. Diesen Liedtext flüstert Frank
Jeffrey als Drohung zu: „In dreams I walk with you. In dreams I talk to you. In dreams
you’re mine.“ [#V/36] und liefert ihm damit tatsächlich eine Erklärung für seinen Alb-
traum [#III/23] (a dream inside a dream76). Ebenso ist Frank für Jeffrey ja eine ganz
reale Bedrohung, die »mit ihm geht, mit ihm redet und die ihn gefangen hält«. Daher
befindet sich Jeffrey bereits in dem ihm von Frank angedrohten »Dream«.
Welche Ähnlichkeiten Traum- und Filmerzählung haben, zeigen die Analysen
Maurice Lahdes. Er stellt drei Thesen auf, die es erlauben, Lynchs Filme mit Träumen
vergleichbar zu machen:
• „Sie spielen an in Raum und Zeit nicht genau lokalisierbaren Schauplätzen, die un-
vorhersehbaren, kausal nicht zu begründenden Veränderungen unterliegen und
von deformierten und ’instabilen’ Personen bevölkert sind, die sich andererseits
aber durch starke visuelle Kohärenz und [...] durch eigene Naturgesetze auszeich-
nen.
• Sie wirken wie sich selbst generierende Bildfolgen, die, anstatt eine vorhandene
Realität vorzustellen, diese erst entwerfen. Dies entspricht einer Engführung von hi-
stoire und discours; logische Brüche und Unbeständigkeiten wirken nicht störend,
weil keine ’Wirklichkeit’ als Maßstab herangezogen werden kann.
• Die Protagonisten sind den unvorhersehbaren Einflüssen ihrer Umwelt hilflos ausge-
liefert und verfügen über keinerlei Reflexionsvermögen oder die Fähigkeit zur kriti-
74 Jerslev, Anne (1996). S. 132.
75 Bouzereau, Laurent (1987). S. 39.
76 Vgl. Maxfield, James (1996). S. 149 f.
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 30
schen Distanz, die sie an dem Realitätsgehalt ihrer bizarren Umwelt zweifeln lassen
müßte.“77
Auf BLUE VELVET lassen sie diese drei Thesen produktiv anwenden und ihn damit für
eine Analyse als Traum-Film zugänglich machen:
3.3.1. Traum-Zeit
Die Zeit, in der BLUE VELVET angesiedelt ist, ist nicht genau identifizierbar. So gibt es
im Film zahlreiche Indizien, die für die eine »Verortung« des Films in den 50er Jahren
sprechen: Die Musik (Bobby Vintons Schlager BLUE VELVET), Jeffreys Cabriolet und das
rote Feuerwehrauto in Pro- und Epilog und die Figur der Sandy („the name is 50‘s
mainstream, reminiscent of Sandy Dee, 1950‘s movie idol of both girls and boys“78). Für
die 60er Jahre sprechen ebenfalls die Musik (Roy Orbisons In Dreams von 1963) sowie
die Figur des Frank, der von Dennis Hopper dargestellt wird - einem signifikanten Film-
idol der 60er Jahre, der z. B. bei EASY RIDER (USA 1969) Regie führte und die Hauptrolle
spielte). David Lynch: „Für mich ist er [Dennis Hopper] Mr. Sixties, allerdings ist er auch
das Beste, was die 60er Jahre zu bieten hatten.“79 Für die 80er Jahre als Handlungs-
zeit spricht vor allem Jeffreys Kleidungsstil.
3.3.2. Traum-Ort
Dieselbe Unbestimmbarkeit lässt sich für den Ort Lumberton diagnostizieren. Er
weist zahlreiche irrationale Elemente und Handlungsschauplätze auf. Maurice Lah-
de stößt auf folgende Belege hierfür:
„Lumberton in BLUE VELVET ist ein völlig ’instabiler’ Ort, der [...] Groß- und Kleinstadtele-
mente auf unmögliche Weise miteinander vereint - oder sich, wenn man so will, wäh-
rend des Films in seiner Ausdehnung permanent ändert. Zu Beginn des Films handelt es
sich noch um ein Kleinstädtchen mit trügerischer Idylle; aber die im Laufe des Films ’ent-
stehenden’ Orte wie das Mietshaus von Dorothy - ein Wohnblock mit wenigstens sieben
Stockwerken80 - oder die Polizeistation mit unzähligen Abteilungen passen ebensowe-
nig in eine Kleinstadt wie das weitläufige Industrie- und Fabrikgelände. Jeffreys Vater
betreibt einen gutgehenden Handel, aber kaum jemand scheint ihn uns seinen Sohn zu
kennen. Obwohl Jeffrey und Sandy Nachbarn sind und dieselbe Schule besucht haben,
lernen sie sich erst sehr spät und nur aufgrund der Umstände kennen. In der vermeintli-
chen Kleinstadt herrscht großstädtische Anonymität, ihre Einwohner kennen sich nicht
und interessieren sich nicht füreinander.“81
3.3.3. Traum-Handlung
Auch auf die Handlung lassen sich Maurice Lahdes Thesen anwenden. So können
wir die unter 3.2. aufgezählten »Gaps« auch als typische Brüche einer Traumerzäh-
lung aufzufassen. Erzählerische Logik wird an entscheidenden Stellen der Kriminalge-
schichte unberücksichtigt gelassen: Etwa, wenn Gordon in einer Szene [#IV/28] mit
Frank in ein Gebäude geht und kurz darauf allein wieder herauskommt und den
77 Lahde, Maurice (1998). S. 106.
78 Ahlquist, Roberta (1991). S. 96.
79 Rodley, Chris (1998). S. 195.
80 Ein interessantes Detail, das Lahde hier übersehen hat, bekräftigt seine These noch: Dorothys Apartment wird zwar im
siebten Stockwerk des »Deep River Apartments« angesiedelt (darauf weist das Schild am Eingang des Hauses hin [#II/12])
von außen gesehen hat das Gebäude allerdings nur sechs Etagen. Eine aufschlussreiche Tatsache, die die Traumland-
schaft »Lumberton« ein weiteres Mal belegt.
81 Lahde, Maurice (1998). S. 99.
SPIEGELBILDER BLUE VELVET: DIE VERDOPPLUNG DER ERZÄHLUNG SEITE 31
»Mann im eleganten Anzug« draußen trifft, der ihm einen Koffer übergibt. Später stellt
sich heraus, dass Frank und der »Mann im eleganten Anzug« ein und die selbe Per-
son sind. Ist Frank also im Haus und gleichzeitig mit Gordon davor? Hat er sich nun
verkleidet, um sich mit Gordon vorm Haus zu treffen (und ist er also durch einen Hin-
terausgang aus dem Haus gekommen). Welchen Grund dieses mysteriöse Verklei-
dungsspiel hat, erfahren wir zu keiner Zeit und können davon ausgehen, dass hier ein
Fehler in der Handlungslogik (wenn nicht gar ein Anschlussfehler) vorliegen könnte.
Insgesamt entlarvt Maurice Lahde die logischen Brüche in der Handlung, wie sie
oben geschildert sind, ebenfalls. BLUE VELVET spielt „mit Elementen von klassischen De-
tektivgeschichten, ohne diese je zu Ende zu erzählen. [... und entbehrt] gerade in
der letzten halben Stunde jeder erzählerischen Logik.“82
3.3.4. Traum-Figuren
Die Hilflosigkeit der Protagonisten ist in vielen Szenen BLUE VELVETS profund. Häufig
reagieren sie mit stummer Verzweiflung auf die Gewalt und den psychischen Terror
ihrer Umwelt. Dorothy verhält sich gegenüber den Anweisungen Franks („Shut up! It’s
Daddy you shithead! Where’s my Bourbon?“) fast schon sklavisch-devot, wenn sie
dessen brutale Vergewaltigung wortlos über sich ergehen lässt [#III/20]. Auch Jeffrey
kann den Drohungen Franks nichts entgegensetzen und antwortet selbst auf dessen
Fragen, kurz bevor er zusammengeschlagen wird, nicht, weil er weiß, dass es gegen-
über jemandem wie Frank wohl nur falsche Antworten geben kann [#V/36]. Sandy ist
ebenfalls von dieser Sprachlosigkeit befallen. Als sie von der geheimen Beziehung zwi-
schen Jeffrey und Dorothy erfährt [#VI/44], ist ihre einzige Reaktion eine stumme, grei-
nende Fratze83, die damit die weitest mögliche Entfernung vom Idealzustand ihres
Rotkehlchentraumes [#IV/24] andeutet.
Das Verhalten der Protagonisten korrespondiert mit den übrigen traumähnlichen
Verfahren in BLUE VELVET. So kann ihre Sprachlosigkeit auch eine Reaktion auf die kon-
fusen Situationen sein, in welche die Erzählung sie katapultiert. Sie zeigen damit, dass
ihnen (als fiktive Figuren einer Erzählung) keine psychischen Verarbeitungsstrategien
zur Verfügung stehen, um in den Situationen mittels sprachlich formulierter Argumen-
te entschärfen zu können:
„Lynchs Helden sind allesamt naive, kindliche Menschen mit wenig Problembewußtsein
und Reflexionsvermögen und mit dunklen und konfusen Motiven.