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ARTIKEL
https://doi.org/10.1007/s41682-024-00198-z
Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (2024) 8:643–665
Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule:
zwischen Nicht-Thematisierung, Stereotypisierung und
Antisemitismusprävention
Janne Braband · Anna Körs
Eingegangen: 5. März 2024 / Überarbeitet: 16. November 2024 / Angenommen: 20. November 2024 /
Online publiziert: 13. Dezember 2024
© The Author(s) 2024
Zusammenfassung Der Beitrag untersucht, wie Vorstellungen von religiöser Dif-
ferenz und insbesondere des Judentums im didaktisch angeleiteten Rahmen des
Religionsunterrichts an staatlichen Schulen konstruiert und verhandelt werden. Da-
zu werden drei unterschiedliche Fälle der Behandlung des Judentums im Religi-
onsunterricht in der Grundschule vorgestellt, die einerseits eine erhebliche Varianz
und Bandbreite in der Unterrichtspraxis zum Thema Judentum aufzeigen und an-
dererseits auf die Gefahr der Reproduktion von antisemitischen Stereotypen und
einseitigen Geschichtsbildern verweisen. Diese Ergebnisse an der Schnittstelle von
Antisemitismus- und Bildungsforschung machen damit gleichsam die Notwendigkeit
deutlich, die Behandlung des Judentums im Religionsunterricht auf die Grundlage
einer antisemitismuskritischen Bildung zu stellen. Während die vorliegende Studie
die Unterrichtspraxis fokussiert und exemplarisch zeigt, dass Judentum, jüdisches
Leben und Antisemitismus im Religionsunterricht in der Grundschule sehr unter-
schiedlich thematisiert werden und die Lehrkraft hierbei eine zentrale Rolle spielt,
bleibt u. a. die Frage des institutionellen Settings ein wichtiges Desiderat, um das
Potenzial des Religionsunterrichts für antisemitismuskritische Bildung ermessen und
auch strukturell entwickeln zu können.
This text is created as part of the joint project “RelcoDiff—Antisemitism in pedagogical contexts.
Religiously coded constructions of difference in early and middle childhood,” sub-project:
“Religiously coded constructions of difference in school-based religious education.” The research
leading to these results received funding by the Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF), under Grant Agreement 01UG2149C.
Janne Braband · Anna Körs
Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: anna.koers@uni-hamburg.de
Janne Braband
E-Mail: janne.braband@uni-hamburg.de
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Schlüsselwörter Judentum · Religiöse Vielfalt · Antisemitismusprävention ·
Antisemitismuskritische Bildung · Religionsunterricht · Grundschule
Judaism in religious education at elementary school: between non-
thematization, stereotyping and anti-Semitism prevention
Abstract This article examines how ideas of religious difference, and Judaism in
particular, are constructed and negotiated in the didactically guided framework of
religious education in state schools. To this end, three different cases of the treatment
of Judaism in religious education in elementary school are presented, which on the
one hand show a considerable variance and range in teaching practice on the subject
of Judaism and on the other hand point to the danger of reproducing anti-Semitic
stereotypes and one-sided images of history. These results at the interface of anti-
Semitism and educational research thus make clear the need to place the treatment
of Judaism in religious education on the basis of an anti-Semitism-critical education.
While the present study focuses on teaching practice and shows that Judaism, Jewish
life and anti-Semitism are addressed very differently in religious education lessons
in elementary school and that the teacher plays a central role here, the question
of the institutional setting, among other things, remains an important desideratum
in order to be able to empirically assess and structurally develop the potential of
religious education for anti-Semitism-critical education.
Keywords Judaism · Religious diversity · Anti-Semitism prevention · Anti-
Semitism critical education · Religious education · Elementary school
1 Einleitung
Angesichts eines wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft werden an die
Schule und dabei auch an den Religionsunterricht hohe gesellschafts- und bildungs-
politische Erwartungen gestellt. So sollen Schule und Unterricht durch die Vermitt-
lung von Kenntnissen über das Judentum und die jüdische Geschichte und Gegen-
wart zur Prävention und Bearbeitung von Antisemitismus beitragen (vgl. Beauftrag-
ter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland 2022,S.45).Während
die jüngere Antisemitismusforschung einige Erkenntnisse über ablehnende Haltun-
gen von Jugendlichen gegenüber anderen Religionen und speziell gegenüber Juden
erbracht hat, gibt es bisher keine Forschung dazu, ob und wie bereits im Kindesalter
Stereotypisierungen und Zuschreibungen mit antisemitischem Hintergrund entwi-
ckelt werden und wie diesen entgegengewirkt werden kann. Ebenso unerforscht ist
die Frage, wie Vorstellungen von religiöser Differenz im didaktisch angeleiteten
Rahmen des Religionsunterrichts konstruiert und verhandelt werden.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der grund-
legenden Frage: Wie wird das Judentum im Religionsunterricht thematisiert und in
der Unterrichtspraxis behandelt und welche Vorstellungen über Judentum und jüdi-
sche Menschen entstehen dadurch bereits im Kindesalter? Dazu werden drei sehr
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unterschiedliche Fälle der Behandlung des Judentums im Religionsunterricht in der
Grundschule vorgestellt, die einerseits eine erhebliche Varianz und Bandbreite in der
Unterrichtspraxis zum Thema Judentum aufzeigen und andererseits auf die Gefahr
der Reproduktion von antisemitischen Stereotypen und einseitigen Geschichtsbildern
verweisen. Diese Ergebnisse an der Schnittstelle von Antisemitismus- und Bildungs-
forschung machen damit gleichsam die Notwendigkeit deutlich, die Behandlung des
Judentums im Religionsunterricht auf die Grundlage einer antisemitismuskritischen
Bildung und entsprechender Forschung zu stellen.
Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst wird der Forschungsstand aus drei
für unsere Fragestellung relevanten Feldern dargestellt. Hierzu gehören Erkenntnisse
zu Antisemitismus im schulischen Kontext, zur Antisemitismusprävention speziell
im Religionsunterricht sowie zum historischen Lernen in der Grundschule (Kap. 2).
Im Anschluss erläutern wir das Design der empirischen Untersuchung im Hinblick
auf das Feld, die Methodik und das Sample (Kap. 3), bevor wir die Ergebnisse
darstellen und diskutieren (Kap. 4). Im Fazit bündeln wir die Forschungsergebnisse
im Hinblick auf die Frage, welchen Beitrag der Religionsunterricht zur Antise-
mitismusprävention leisten könnte und welche weiterführenden Forschungen zur
wissenschaftlichen Einschätzung und Entwicklung eines antisemitismuskritischen
Religionsunterrichts zukünftig erforderlich sind (Kap. 5).
2 Forschungsstand: Antisemitismus (-prävention) im Kontext von
Schule, Religionsunterricht und Geschichtsbildern
2.1 Antisemitismus im schulischen Kontext
Die Entwicklung und Dynamik von Antisemitismus in Deutschland, seine Dimensio-
nen und Ausprägungsformen wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Studien
untersucht. Dazu gehören u. a. die Untersuchungen des Unabhängigen Experten-
kreises Antisemitismus (2017) und der Agency for Fundamental Rights der Euro-
päischen Union (FRA 2018) sowie die Forschungen von Zick et al. (2017a, b), die
auch eine jüdische Perspektive einbeziehen und deutlich machen, dass antisemitisti-
sche Bilder und Narrative heute in der gesamten Gesellschaft zu finden sind. Bereits
diese Studien zeigen, dass der schulische Kontext eine zentrale Rolle bei der Re-
produktion, Erfahrung und (Nicht-)Thematisierung von Antisemitismus spielt (vgl.
Chernivsky und Lorenz-Sinai 2023, S. 20). Dementsprechend belegen mittlerwei-
le auch Untersuchungen für den Bildungsbereich das Vorhandensein verschiedener
Antisemitismen sowie antisemitismusbezogene Kontinuitäten und Diskontinuitäten,
Gemeinsamkeiten und Widersprüche (vgl. Grimm und Müller 2021, S. 7f.).
Besonders hervorzuheben ist die breit angelegte Studie zu Antisemitismus im
schulischen Kontext von Bernstein (2020), die in verschiedenen Bundesländern und
in unterschiedlichen Schulformen und Klassenstufen systematisch die Perspektiven
von jüdischen Schüler:innen und ihren Eltern sowie von jüdischen Lehrkräften be-
leuchtet und auch die Perspektiven von nichtjüdischen Lehrkräften und Expert:innen
aus dem Bereich der antisemitismusbezogenen Präventions- und Beratungsarbeit
einbezieht. Aus den Schilderungen der Betroffenen arbeitet Bernstein fünf Dimen-
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sionen von Antisemitismus an Schulen heraus (vgl. ebd., S. 84 f.). Demnach wird
Antisemitismus erstens als Normalität im schulischen Kontext erlebt, was einen of-
fenen Umgang mit jüdischer Identität erschwert oder verhindert. Zweitens werden
jüdischen Schüler:innen Repräsentativrollen zugeschrieben, wodurch sie zu ,An-
deren‘ gemacht und häufig abgewertet werden. Drittens erleben sie diffuse und
offene Anfeindungen und Angriffe von Mitschüler:innen, aber viertens auch von
Lehrkräften. Fünftens wird der Umgang von Lehrkräften und Schulleitungen mit
solchen Anfeindungen und Angriffen als problematisch beschrieben, da Antisemi-
tismus häufig nicht als solcher erkannt wird und die Betroffenen sich alleingelassen
und ungeschützt fühlen. Auf Seiten der nichtjüdischen Lehrkräfte zeigen sich ver-
schiedene Abwehrstrategien in Bezug auf die pädagogische Auseinandersetzung mit
Antisemitismus, aber auch antisemitische Ressentiments und die Verbreitung und
Normalisierung antisemitischer Fremd- und Feindbilder (vgl. ebd., S. 137). Daraus
resultieren drei zentrale Problemschwerpunkte: die Überforderung der Lehrkräfte
mit dem israelbezogenen Antisemitismus, die Unklarheit über das Verhältnis von
Rassismus und Antisemitismus und der Umgang mit sekundärem Antisemitismus
und dem „Echo der Nazizeit“ (ebd., S. 312).
Ähnlich zeigen Chernivsky und Lorenz-Sinai (2023) in einer Studienreihe in bis-
her fünf Bundesländern, dass der Umgang mit Antisemitismus an Schulen in der
Gegenwartsgesellschaft geprägt ist von zentralen Traditionslinien und themenspe-
zifischen Herausforderungen (ebd., S. 23f.; vgl. auch Chernivsky 2019,2020). So
führe eine Historisierung von Antisemitismus dazu, dass er im schulischen Kontext
ausschließlich in historischer Perspektive wahrgenommen und deshalb als überwun-
den betrachtet und nicht erkannt werde. Aufgrund der Tabuisierung von Antisemi-
tismus werde zudem seine direkte Thematisierung verunmöglicht, wodurch sich in
der Nachkriegsgesellschaft subtilere Formen und Dynamiken von Antisemitismus
entwickelten. Außerdem sei der Umgang mit Antisemitismus in Schulen durch das
Muster der Distanzierung geprägt, womit Abwehrreaktionen gegen Hinweise auf
Antisemitismus gemeint sind, die eine kritische Selbstreflexion verhindern und An-
tisemitismus externalisieren. Die Traditionslinie der Perspektivendivergenz betrifft
die „Kluft zwischen der Wahrnehmung und Einschätzung von Antisemitismus sei-
tens der Betroffenen und der Nichtbetroffenen“ (Chernivsky und Lorenz-Sinai 2023,
S. 23), wie sie auch in der Studie von Bernstein deutlich wird. Schließlich finde ver-
breitet eine Objektifizierung statt, bei der Juden zu Objekten der Bedürfnisse von
nichtjüdischen Mehrheitsangehörigen gemacht würden (wie z.B. in Erinnerungsri-
tualen) und zu der auch die Nichtanerkennung der „selbstverständlichen Präsenz,
Heterogenität und Selbstbestimmtheit von Jüdinnen_Juden als Einzelne und in Ge-
meinschaft“ (ebd., S. 24) gehöre.
Übereinstimmend mit Bernstein stellen Chernivsky und Lorenz-Sinai fest, dass es
unter Lehrkräften sehr unterschiedliche Definitionen von Antisemitismus gibt, von
denen viele unzureichend und unvollständig sind. Zwar gebe es theoretische Wis-
sensbestände über Antisemitismus, mit Blick auf die eigene Praxis hätten Lehrkräfte
aber häufig „keinen ,innere[n] Kompass‘“ (ebd., S. 55ff.) für seine Wahrnehmung
und würden ihn als ungreifbar, schwer lokalisierbar und extrem schwer bearbeitbar
beschreiben. Auch Bernstein (2020) betont, dass vorgelagerte Stufen von Antise-
mitismus häufig gar nicht wahrgenommen werden und es unter Lehrkräften wenig
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Bewusstsein darüber gebe, dass er in Denk- und Handlungsmustern, „negativbehaf-
teten Kategorien, Pauschalisierungen, Stereotypen [...], Ignoranz [und] emotionaler
Abneigung“ (ebd., S. 21) beginnt. Die De-Thematisierung von Antisemitismus gehe
mit einer fehlenden Einbeziehung der Betroffenenperspektive einher, was wiederum
auch damit zusammenhänge, dass meistens davon ausgegangen werde, dass keine
jüdischen Schüler:innen anwesend sind. Nicht selten rühre diese scheinbare Nicht-
präsenz jedoch daher, dass jüdische Schüler:innen ihre Identität gerade aufgrund von
Antisemitismus verbergen. Lehrkräfte wiederum würden die „daraus resultierende
Unsichtbarkeit jüdischer Schüler*innen“ zum Anlass nehmen, Antisemitismus nicht
zu erkennen bzw. „als Problem wahrzunehmen“ (ebd., S. 483).
Als geeignete Interventionspraktiken und Ansatzpunkte zur Bearbeitung von An-
tisemitismus werden von Lehrkräften häufig die Beschäftigung mit Religionen, die
Begegnung mit Juden und die historische Bildung über den Nationalsozialismus und
die Shoah genannt, so Chernivsky und Lorenz-Sinai (2023, S. 86 ff.). Gerade letztere
gelte als klassischer Ansatz zur Antisemitismusprävention, er sei jedoch „als Reakti-
on auf antisemitische Vorfälle unzureichend und irreführend, da Antisemitismus auf
diese Weise ausschließlich historisch erklärt“ werde (ebd., S. 88). Darüber hinaus
müsse beachtet werden, dass gerade durch die Auseinandersetzung mit dem Ho-
locaust „Reaktionsmuster aktiviert werden [können], die antisemitischen Gefühlen
und Argumentationen Vorschub leisten“ (Chernivsky 2019, S. 9). Emotionen wie
Scham, Betroffenheit, aber auch Erinnerungsabwehr könnten dabei in „Widerstand
gegen ,alles Jüdische‘“ (ebd.) umschlagen.
Um pädagogisch angemessen auf Antisemitismus reagieren zu können, sei die
Wahrnehmung der strukturellen Verankerung des Antisemitismus in Gesellschaft
und Schule nötig, so Bernstein (ebd., S. 386ff.), ebenso wie systematische und
institutionell verstetigte Fort- und Weiterbildungsangebote, die neben der Wissens-
vermittlung und der Ausleuchtung historischer, gesamtgesellschaftlicher und dis-
kursiver Zusammenhänge auch die Auseinandersetzung mit eigenen Emotionen und
individual-biographischen Faktoren ermöglichen (Chernivsky 2020, S. 465f.). Zwar
gebe es bereits eine Fülle an Handreichungen zur Bearbeitung von Antisemitismus
an Schulen, diese stützten sich jedoch bisher zu wenig auf empirische Erkenntnis-
se (Bernstein 2020, S. 14), welche auch für eine weitere Professionalisierung der
Arbeit gegen Antisemitismus nötig wären.
2.2 Antisemitismusprävention und religiöse Bildung
Trotz einiger Erkenntnisse zur religiösen Dimension von Antisemitismus im christ-
lichen Antijudaismus (vgl. Bernstein 2020, S. 43ff.) und im islamischen bzw. isla-
misierten Antisemitismus (vgl. ebd., S. 55 ff.) wird in der Antisemitismusforschung
und in Handlungsempfehlungen gegen Antisemitismus nicht speziell auf den Religi-
onsunterricht eingegangen. Zwar wird er als ein für das Thema mitzuständiges Fach
unter anderen genannt (vgl. z.B. Mendel und Messerschmidt 2017; Salzborn 2021;
Grimm und Müller 2021; Salzborn und Kurth 2021), es fehlen jedoch empirische
Untersuchungen dazu, ob und wie diese Adressierung des Religionsunterrichts im
Einzelnen wahrgenommen und in der Praxis konkretisiert werden kann.
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Auf diese empirische Leerstelle weist auch die Religionspädagogik in ihren neue-
ren konzeptionellen Ansätzen zur Antisemitismusprävention im Rahmen religiöser
Bildung hin, die gerade den Religionsunterricht in der Grundschule hier in einer
zentralen Verantwortung sehen (Naurath 2020a, S. 13). Die besondere Bedeutung
der Grundschule begründet Naurath mit Erkenntnissen aus der entwicklungspsycho-
logischen Vorurteilsforschung, indem sie davon ausgeht, dass Antisemitismus ein
religiöses Vorurteil ist (Naurath 2020b, S. 81 f.), das gerade im frühen Lebensal-
ter im Rahmen interreligiöser Bildung besonders wirksam bearbeitet werden könne
(ebd., S. 86). Als zentralen Faktor für die Stabilisierung bzw. Reduktion von Vor-
urteilen stellt Naurath die Vermeidung bzw. Ermöglichung von Kontakten zwischen
der eigenen und der ,Fremdgruppe‘ heraus. Gerade das Grundschulalter könne da-
mit als „eine äußerst sensible Phase in Bezug auf äußere Einflussmöglichkeiten auf
die Vorurteilsbildung bei Kindern“ gelten, in der „der Einfluss durch die Ausein-
andersetzung mit anderen sozialen Gruppen [...] besonders fruchtbar und positiv“
(ebd., S. 84) einzuschätzen sei. Für die Antisemitismusprävention sei innerhalb der
Grundschule der Religionsunterricht besonders geeignet, da hier die Wertebildung
und die Achtung Andersgläubiger zentrale Inhalte seien, so Naurath.
Aus diesen Überlegungen sind didaktische Ansätze und praktische Beispiele für
antisemitismuspräventives Lernen im Religionsunterricht hervorgegangen, die sich
sowohl mit der Wissensvermittlung über jüdische Traditionen und jüdisches Leben
als auch mit Begegnungen mit praktizierenden Juden und mit dem Lernen über
den Holocaust befassen (vgl. Mokrosch et al. 2020; Boschki und Rothgangel 2020).
Insgesamt werde allerdings Antisemitismusprävention nicht flächendeckend als Auf-
gabe des Religionsunterrichts angesehen, vielmehr sei „der Religionsunterricht in
der Grundschule ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte der Präventionsbemü-
hungen“, so Naurath (2020a, S. 13). Die konzeptionelle und unterrichtspraktische
Erarbeitung einer „grundlegenden Didaktik der Antisemitismus-Prävention als Vor-
urteilsprävention“ (Naurath 2020b, S. 85) für den Religionsunterricht stehe somit
noch aus. Neben einer Didaktik der Shoah und der Erinnerungskultur müsse dabei
eine „Werte-Bildung im Sinne von Dialog- und Pluralitätsfähigkeit“ (ebd.) fokus-
siert werden. Ziel eines solchen Religionsunterrichts müsse es sein, „dem Bild der
Ausgrenzung und Verfolgung [...] ein positives Bild des lebendigen Judentums ent-
gegenzusetzen“, sodass die Kinder das Judentum nicht nur mit „Schrecken, Grauen,
Schuld und Scham“ verbinden, sondern mit positiven Gefühlen „im Sinne von Inte-
resse, Bereicherung und Wertschätzung“ (ebd.). Dabei sei es wichtig, der Vorstellung
eines homogenen Judentums entgegenzuwirken, indem Begegnungen ermöglicht
werden, die die Vielfalt jüdischen Lebens zeigen.
Empirische Studien zu der Frage, ob und wie die verschiedenen didaktischen An-
sätze zur Antisemitismusprävention im Religionsunterricht umgesetzt werden oder
wirken, gibt es bisher nicht (vgl. Naurath 2020a, S. 17). Auch über den Religi-
onsunterricht hinaus ist festzustellen, dass die große Anzahl an praxisbezogenen
Handreichungen zur Antisemitismusprävention nicht nur einer viel geringeren An-
zahl an empirischen Forschungsarbeiten zu Antisemitismus selbst gegenübersteht
(vgl. Bernstein 2020, S. 14), sondern dass es insgesamt auch an Grundlagenfor-
schung und Begleitforschung zur Praxis der Antisemitismusprävention fehlt (vgl.
Bauer 2021, S. 40 f.). Dies gilt auch für die Thematisierung des Holocaust in der
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Grundschule, wozu es allerdings einige wenige Forschungen aus der Sachunter-
richtsdidaktik gibt, die wichtige Erkenntnisse zum Geschichtsbild von Kindern und
zu ihren damit verbundenen Vorstellungen über das Judentum liefern.
2.3 Geschichtsbilder von Grundschüler:innen
Zur Frage, ob Holocaust und Nationalsozialismus überhaupt ein Thema für die
Grundschule sein sollten, hat seit Mitte der 1990er-Jahre eine kontinuierliche Dis-
kussion stattgefunden, in deren Rahmen ab 2001 erste geschichtsdidaktisch begrün-
dete Vorschläge für die Thematisierung des Holocaust in der Grundschule und ab
2008 erste empirische Untersuchungen vorgelegt wurden (vgl. Koch 2017, S. 75 ff.).
Inzwischen besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Thematisierung in der
Grundschule durchaus angebracht ist, da Kinder im mittleren Grundschulalter „mit
dem Erwerb grundlegender Fähigkeiten für das historische Lernen, [...] über die we-
sentlichen Voraussetzungen für eine erste altersgemäße Thematisierung“ verfügen
(ebd., S. 98) und eine „frühe Prägung von Geschichtsbildern“ noch vor dem vierten
Grundschuljahr einsetze (ebd., S. 307). Dabei zeigen Studien zu den Vorstellungen
und Deutungen von Kindern allerdings auch, dass kindliche Rekonstruktionspro-
zesse mit dem gesamtgesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs an die nationalsozia-
listische Vergangenheit verwoben sind (Becher 2008; Flügel 2008) und auch bei
Kindern „verharmlosende Vorstellungen“ zum Nationalsozialismus verbreitet sind,
die eine „Entlastung der Mehrheitsbevölkerung der Deutschen“ ermöglichen (Koch
2017, S. 179). Auch die Schule sei dementsprechend „in ihrer gesellschaftlichen
Reproduktionsfunktion in den Erinnerungsdiskurs verstrickt und nur begrenzt zur
Etablierung erinnerungskritischer Momente fähig“ (Flügel 2008,S.8).
Ein zentrales Element, das in den verschiedenen Untersuchungen über die Vor-
stellungen der Kinder auftaucht, ist der „Hitler(zentr)ismus“ (Becher 2008,S.4),
mit dem Hitler als Schlüsselfigur erscheint, die von den Kindern „als Zentrum und
Verursachung der Verbrechen“ (Flügel 2008, S. 3) vorgestellt wird. Durch diese
„Stilisierung Hitlers zur hauptverantwortlichen Person“ (ebd., S. 4) werde für alle
anderen Personen eine Entlastung ermöglicht, sodass die Bevölkerung im National-
sozialismus als machtlos, gelähmt und von Hitler verführt geschildert werde (Becher
2008, S. 4.). Neben dem Erlangen der Weltherrschaft ist in den Vorstellungen der
Kinder ein zweites zentrales Ziel Hitlers die Vernichtung der Juden, womit er ih-
nen als „Erfinder und Initiator der Judenverfolgung und -ermordung“ gilt (Becher
2012, S. 102, Hervorh.i.O.). Als Grund dafür nennen die Kinder Hitlers religiös ge-
prägte Antipathie gegenüber Juden, während ihnen ein rassistisch argumentierender
Antisemitismus nicht bekannt zu sein scheint (ebd.).
Diese Vorstellungen von Hitler und seinen Beweggründen stehen im Zusammen-
hang mit dem Bild, das die Kinder von ,den Juden‘ und vom Judentum haben. Becher
stellt fest, dass Juden von den Kindern hauptsächlich anhand der Differenzkategorie
Religion und in Abgrenzung zum Christentum als ,Andere‘ wahrgenommen werden.
Da den Kindern Juden als konkrete Menschen unbekannt seien, würden diese an-
hand der ,anderen‘ Religion als „Fremd-Gruppe“ der eigenen „Wir-Gruppe“ (Becher
2008, S. 5, Herv.i.O.) gegenübergestellt und seien vor allem als Opfer des Natio-
nalsozialismus, als Fremde und Ausländer präsent. Die Vorstellung der Kinder, die
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Juden seien aufgrund ihrer anderen Religion keine Deutschen (gewesen), bezeichnet
Becher als Teil „latent antisemitischer Fragmente“ (ebd.) in den Geschichtsbildern
der Kinder. Hier werde das „Fortwirken eines völkisch-deutschen Staatsangehörig-
keitsverständnisses“ sichtbar, das sie mit Benz (2000) als „letzte Propagandafrüchte
des Nationalsozialismus“ (ebd., S. 59) bezeichnet.
Ausdrücklich problematisiert wird vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die
Vorstellung, das Lernen über den Holocaust könne als Teil des Lernens über das Ju-
dentum zur Prävention von Antisemitismus beitragen. So warnt Enzenbach (2012)
vor dem „Kurzschluss“, dass mit dem Unterricht über die Verfolgung der Juden
„zugleich das Leben dieser Gruppe beschrieben werden“ könne (ebd., S. 61). Statt-
dessen berge eine erstmalige Thematisierung des Judentums im Zusammenhang mit
dem Nationalsozialismus die Gefahr, jüdische Geschichte in Deutschland auf die
Verfolgungsgeschichte und die damit verbundenen Zuschreibungen zu reduzieren.
In einer Befragung von Lehrkräften an 24 Berliner Grundschulen stellt Enzenbach
(2012) dennoch fest, dass auch im Religions- bzw. Lebenskundeunterricht, in dem
jüdische Geschichte ein Thema ist, in 90 % der Fälle auch der Nationalsozialismus
bzw. die Judenverfolgung thematisiert werden (ebd., S. 55). Sie kritisiert, dass die
Konfrontation von Kindern mit dem Holocaust häufig zu einer Reproduktion juden-
feindlicher Bilder führt, die umso gravierender sei, da das Judentum häufig überhaupt
zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Holocaust thematisiert werde. Somit
lernten Kinder zuerst über Juden, wie sie von den Nationalsozialisten gesehen und
verfolgt wurden, während eine systematische Aufklärung über die Funktion und die
Fehler der antisemitischen Feindbilder häufig vernachlässigt werde.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass angesichts des Antisemitis-
mus im schulischen Kontext auch der Religionsunterricht aufgefordert wird, sich an
einer antisemitismuspräventiven Bildung zu beteiligen. Während die wenigen reli-
gionspädagogischen Ansätze zur Antisemitismusprävention in der Grundschule auf
den Abbau von Vorurteilen durch Begegnung und auf Erinnerungslernen über den
Holocaust setzen, zeigen Erkenntnisse zu den Geschichtsbildern von Grundschü-
ler:innen, wie hierbei Antisemitismen und einseitige Geschichtsbilder reproduziert
werden können. Auch die Antisemitismusforschung verweist darauf, dass im schu-
lischen Kontext gerade die Momente der Thematisierung des Holocaust und auch
des Judentums als Religion zu Gelegenheiten werden, in denen judenfeindlichen
Ressentiments Ausdruck verliehen wird. Deutlich wurde außerdem, dass für den
Religionsunterricht – zumal in der Grundschule – Forschungsergebnisse fehlen, die
über die Umsetzung und Wirkung einer antisemitismuspräventiven religiösen Bil-
dung in der Praxis Aufschluss geben würden. Vor diesem Hintergrund befasst sich
die im Folgenden vorgestellte Untersuchung mit der grundlegenden Frage, wie das
Judentum und jüdisches Leben im Religionsunterricht in der Grundschule themati-
siert werden und welche Schlüsse sich daraus für die Möglichkeiten und Grenzen
antisemitismuspräventiver Bildung ziehen lassen.
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3 Religiös codierte Differenzkonstruktionen im schulischen
Religionsunterricht: Forschungsfeld, Untersuchungsmethodik und
Sample
3.1 Religionsunterricht für alle in Hamburg (RUfa)
Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Hamburg wird als „Religions-
unterricht für alle“ (RUfa) angeboten, in dem Schüler:innen mit unterschiedlichen
Religionszugehörigkeiten und ohne Religionszugehörigkeit gemeinsam unterrichtet
werden. Als bekenntnisgebundener Religionsunterricht wurde der RUfa zunächst
allein von der evangelischen Kirche verantwortet und wird inzwischen religionsplu-
ral mit weiteren Religionsgemeinschaften gemeinsam getragen. Seit 2014 sind drei
muslimische Religionsgemeinschaften, die Alevitische Gemeinde, die Jüdische Ge-
meinde und seit 2022 die katholische Kirche mitverantwortlich sowie Buddhisten,
Hindus und Bahais beratend beteiligt. Mit dieser bundesweit einzigartigen Konzep-
tion stellt der Hamburger RUfa einen Sonderweg dar und gilt angesichts fortschrei-
tender Prozesse religiöser Pluralisierung und Säkularisierung zugleich als Pionier
und Modell zur „Frage, wie der Religionsunterricht der Zukunft aussehen kann“
(Bauer und Wolff 2023, S. 102). Damit bietet der Hamburger RUfa ein interessantes
Untersuchungsfeld, in dem sich die Unterrichtspraxis zum Judentum und insgesamt
zu religiöser Vielfalt im Kontext einer religiös diversen Schülerschaft untersuchen
lässt. Er wird somit als ein spezifisches Fallbeispiel betrachtet und kann darüber
hinaus als Ausgangspunkt für Reflexionen zur Bedeutung des Religionsunterrichts
für die Vermittlung des Judentums und für die Prävention von Antisemitismus in
zunehmend heterogen geprägten Schul- und Unterrichtskontexten dienen.
3.2 Untersuchungsmethodik
Die Frage, wie religiöse Vielfalt – und damit auch das Judentum – im Religions-
unterricht thematisiert, wahrgenommen und verhandelt wird und wie dabei religiös
codierte Differenzen (re-)konstruiertwerden, untersuchen wir mit einem grundlagen-
theoretischen und praxeologischen Ansatz. Dazu gehen wir in Anlehnung an neuere
Theorien sozialer Praktiken davon aus, dass der pädagogische Alltag in Bildungsor-
ganisationen durch regelgeleitete, typisierte und routinisiert wiederkehrende pädago-
gische Praktiken hergestellt wird (Reckwitz 2010). Unter diesem Blickwinkel lassen
sich die Herstellung von Differenz und entsprechende Unterscheidungspraktiken so-
wie ethnisch oder religiös codiertes Unterscheidungswissen zwischen Subjekten im
Rahmen sozialer Ungleichheitsverhältnisse untersuchen (Machold 2015). In Anleh-
nung an die Doing-Ansätze sensu West und Fenstermaker (1995) betrachten wir
dementsprechend das ,Doing Religious Difference‘ im Religionsunterricht in einem
qualitativ-rekonstruktiven ethnographischen Forschungsdesign.
Dazu wurde der Religionsunterricht in den beteiligten Grundschulklassen in
mehrwöchigen Feldphasen teilnehmend beobachtet, wobei der Beobachtungsfokus
einerseits auf der Gestaltung und dem Ablauf des Unterrichts lag, sodass der Fra-
ge nachgegangen werden konnte, ob und wie religiöse Vielfalt, religiöse Differen-
zen und das Judentum im didaktischen Setting des Religionsunterrichts thematisiert
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wurden. Andererseits wurden auch Routinen und Abläufe zur Herstellung impliziter
Ordnungen (vgl. Budde 2014) im Unterricht fokussiert, ebenso wie Störungen und
ihre Bedeutungen (vgl. Scholz 2012).
Jeweils vor dem Beobachtungszeitraum wurde mit den Religionslehrkräften ein
Expert:inneninterview durchgeführt, in dem der Werdegang der Lehrkraft, ihre Ziele
im Religionsunterricht, ihre Pläne für den Beobachtungszeitraum, ihr Blick auf die
Kinder und Wünsche für die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts themati-
siert wurden. Außerdem wurde nach der Behandlung des Judentums im Religions-
unterricht sowie nach Vorurteilen gegenüber Juden und anderen religionsbezogenen
Zuschreibungen oder Abwertungen unter den Kindern gefragt. Jeweils nach dem
Beobachtungszeitraum fand mit den Lehrkräften ein Abschlussgespräch statt, bei
dem im Rückblick auf die Beobachtung und das Einstiegsinterview offene Fragen
geklärt und Auffälligkeiten reflektiert wurden.
Die Perspektive der Kinder wurde zusätzlich zu den Beobachtungen in Grup-
pendiskussionen erschlossen, die jeweils am Ende des Beobachtungszeitraums auf
freiwilliger Basis mit den Klassen geführt wurden. Nach einem spielerischen Ein-
stieg wurde hier zunächst das Judentum thematisiert, indem die Kinder gefragt wur-
den, was sie noch über das Judentum wissen. Nach der Sammlung von Wissen und
Assoziationen zum Judentum, bei der auch andere Religionen, Unterschiede und
Gemeinsamkeiten thematisiert wurden, bezog sich eine zweite Frage auf Kenntnisse
oder Erfahrungen der Kinder mit religionsbezogenen Vorurteilen oder Abwertungen,
in Bezug auf das Judentum, aber auch in Bezug auf andere Religionen oder weitere
Merkmale.
Die gesammelten Daten aus Beobachtungen, Interviews und Gruppendiskussio-
nen wurden in Anlehnung an die Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996)in
einem mehrstufigen Kodierverfahren ausgewertet. Dabei wurde zunächst jeweils das
Material eines Falls offen, axial und selektiv kodiert, um die bestimmenden Themen
und Schwerpunkte des Falls aus den Perspektiven der Lehrkraft und der Kinder
zu analysieren. Später wurden übergeordnete Kategorien wie z.B. „Atmosphäre im
Religionsunterricht“ oder „Assoziationen der Kinder zum Judentum“ auch fallüber-
greifend bearbeitet.
3.3 Sample
Bei der Fallauswahl wurde im Sinne des theoretischen Samplings (Strauss und Cor-
bin 1996) der jeweils nächste Fall auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse aus-
gewählt, damit möglichst viele verschiedene Varianten einbezogen werden konnten.
Insgesamt wurden 44 Religionsstunden in acht Klassen an vier verschiedenen Grund-
schulen beobachtet, es wurden Interviews mit den dazugehörigen fünf Lehrkräften
geführt und mit den beobachteten Klassen fanden insgesamt fünf Gruppendiskus-
sionen statt. Zusätzlich wurden drei Expert:inneninterviews mit Religionslehrkräften
geführt, deren Unterricht aus organisatorischen Gründen nicht beobachtet werden
konnte. Trotz der relativ hohen Anforderungen an die beteiligten Lehrkräfte in Bezug
auf Arbeitsaufwand und Offenheit konnte ein heterogenes Sample erreicht werden.
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Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule: zwischen Nicht-Thematisierung,... 653
So sind Schulen aus dem gesamten Spektrum des Hamburger Sozialindex1vertreten
und die religionsbezogene Zusammensetzung der Klassen reicht von überwiegend
christlichen und nicht-religiösen Kindern ohne Migrationshintergrund in einer Klas-
se über sehr gemischte Klassen bis hin zu Klassen mit überwiegend Kindern aus
muslimischen Familien2. Von den acht beteiligten Lehrkräften sind fünf christlich,
zwei muslimisch und eine alevitisch. Von den fünf christlichen Lehrkräften haben
drei evangelische Theologie auf Lehramt studiert und zwei unterrichten fachfremd
mit entsprechender Zusatzqualifikation. Die drei nicht-christlichen Lehrkräfte haben
ebenfalls einen Qualifizierungskurs für das Fach Religion absolviert. Die drei Fälle,
auf die wir uns in diesem Beitrag beziehen, werden im Folgenden noch etwas näher
skizziert.
Der erste Fall ist der Religionsunterricht von Frau Uranus, der in zwei vierten
Klassen über jeweils vier Unterrichtsstunden beobachtet wurde. Das Thema der
Stunden war die Josephsgeschichte, die von der Lehrerin erzählt und vorgelesen
wurde, wobei sie jeweils einzelne Szenen von den Kindern nachspielen ließ und
mit ihnen besprach. Im Zentrum dieses Unterrichts standen das empathische Nach-
empfinden und die Reflexion von Gefühlen sowie das Gespräch über Lösungen
für zwischenmenschliche Probleme. In beiden Klassen hat jeweils ca. die Hälfte
der Kinder einen Migrationshintergrund und neben christlichen und nicht-religiösen
Kindern haben einige Kinder Bezüge zu weiteren Religionen wie Islam, Hinduis-
mus und Buddhismus. Frau Uranus selbst ist in beiden Klassen zusammen mit einem
Kollegen die Klassenlehrerin und unterrichtet hier neben Religion auch verschiede-
ne weitere Fächer. Sie hat u. a. evangelische Theologie auf Lehramt studiert und
arbeitet seit 31 Jahren an dieser Grundschule.
Der zweite Fall ist der Religionsunterricht von Frau Mars, der in zwei vier-
ten Klassen über jeweils drei Unterrichtsstunden beobachtet wurde. Hier waren die
drei großen monotheistischen Religionen Islam, Judentum und Christentum das Un-
terrichtsthema, das bereits vor dem Beobachtungszeitraum begonnen worden war.
Während der beobachteten Stunden wurde zusätzlich mit der Lektüre der Geschichte
von Anne Frank begonnen. In den Klassen von Frau Mars haben fast alle Kinder
einen Migrationshintergrund, sehr viele mit Bezügen zum Islam, einige zum Chris-
tentum, einige Kinder sind nicht religiös. Frau Mars selbst ist Sonderpädagogin mit
dem Fach Musik und arbeitet seit 20 Jahren an ihrer Schule. Seit ca. 15 Jahren
unterrichtet sie auch Religion und hat dafür eine entsprechende Zusatzqualifikation
absolviert.
Der dritte Fall ist der Religionsunterricht von Frau Merkur, der über 20 Unter-
richtsstunden in einer dritten Klasse beobachtet wurde. Hier wurde das Judentum als
eine der fünf Weltreligionen thematisiert, wobei vor dem Beobachtungszeitraum be-
reits der Hinduismus und der Buddhismus behandelt worden waren. Die Behandlung
des Judentums im Beobachtungszeitraum umfasste die Mosesgeschichte sowie ver-
1Der Hamburger Sozialindex beschreibt die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft an
Schulen auf einer Skala von 1 bis 6 anhand von Schul- und regionalen Strukturdaten.
2Die Religionszugehörigkeit der Kinder wird von den Schulen nicht erhoben. Die Angaben hier orientie-
ren sich an den Aussagen der jeweiligen Religionslehrkräfte, die Kinder wurden nicht über ihre Religions-
zugehörigkeit befragt.
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654 J. Braband, A. Körs
schiedene jüdische Feste, Rituale, Gegenstände und Geschichten, die mit der Klasse
erkundet, nacherzählt und ausprobiert wurden. Außerdem besuchte die Klasse eine
Synagoge, einen koscheren Supermarkt und verschiedene Spuren jüdischen Lebens
im Stadtteil. In dieser Klasse haben die meisten Kinder keinen Migrationshinter-
grund und sind christlich oder nicht religiös, drei sind aus muslimischen Familien,
zwei aus buddhistischen und ein Kind hat einen familiären Bezug zum Judentum.
Frau Merkur selbst hat u. a. evangelische Theologie auf Lehramt studiert, sie ist die
Klassenlehrerin und unterrichtet neben Religion auch die meisten anderen Fächer in
ihrer Klasse. Sie arbeitet seit ca. 20 Jahren an der Schule.
4 Ergebnisse
Im Folgenden werden die jeweiligen Besonderheiten der drei Fälle aus den
Beobachtungs-, Interview- und Gruppendiskussionsdaten herausgearbeitet. Im Fo-
kus stehen dabei die Gestaltung des Unterrichts und die Frage, wie das Judentum
jeweils thematisiert wird. Damit zusammenhängend werden auch Aussagen der
Lehrkräfte über jüdische Schüler:innen und über Vorurteile gegenüber Juden dar-
gestellt sowie die Reaktionen und Beiträge der Kinder im Unterricht und in den
Gruppendiskussionen. Anschließend werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund
des Forschungsstandes diskutiert.
4.1 Grundschule Uranusweg: Unsichtbares Judentum und
(Nicht-)Thematisierung des Holocaust
Da die Unterrichtsbeobachtung in diesem Fall aus organisatorischen Gründen in
einen Zeitraum fiel, in dem ausschließlich die Josephsgeschichte behandelt wurde,
konnten Hinweise auf die Behandlung des Judentums nur aus den beiden Interviews
mit Frau Uranus gewonnen werden. Auffällig ist hierbei, dass Frau Uranus auf
die Frage nach der Behandlung des Judentums in ihrem Religionsunterricht keine
genaueren Angaben macht, sondern stattdessen direkt auf die Thematisierung des
Holocaust zu sprechen kommt, ohne dass danach gefragt worden wäre:
„Das ist ja, also ganz klar, die drei monotheistischen Religionen, die stellt man
nebeneinander, guckt nach, was ist verbindend, was ist trennend. Das Judentum
als Älteste ist ja immer, das ist so der rein sachliche Aspekt, (...). Aber natürlich
kommt irgendwann auch ,Und was war mit Hitler und was war‘ und so. Ähm,
ich bin da sehr vorsichtig, weil die sind noch sehr klein, die kriegen natürlich
von mir immer eine Antwort, also so klar, aber dass ich das als Unterrichtsthe-
ma mach, mach ich in der Grundschule nicht.“ (Uranus: 175–182)
Frau Uranus betont, beim Thema Holocaust sei sie sehr zurückhaltend und würde
so wenig wie möglich erzählen, da die Kinder noch „sehr klein“ und „sehr zart“
seien, damit sie nicht „ganz furchtbare Sachen im Kopf“ hätten. Als Beispiel für
das, was sie dann erzähle, wenn Fragen kämen, sagt sie:
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Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule: zwischen Nicht-Thematisierung,... 655
„Und da beziehe ich auch sehr klar Stellung und sage, es gab mal vor soundso-
viel Jahren einen ganz furchtbaren Mann und der hat ganz schreckliche Sachen
gemacht“. (Uranus: 185–187)
Auffällig ist an dieser Stelle nicht nur die kategorische Ablehnung des Themas
Holocaust in der Grundschule, sondern auch der Umstand, dass das Thema offen-
sichtlich trotzdem auf der Hand liegt und von Frau Uranus selbst im Gespräch über
die Thematisierung des Judentums im Religionsunterricht aufgebracht wird. Anstatt
Beispiele für die Behandlung des Judentums als ,ältester der drei monotheistischen
Religionen‘ zu nennen, kommt Frau Uranus auf das Thema Holocaust, das sie aber
nicht mit den Kindern behandeln möchte. Beispiele für eine Thematisierung ge-
lebten Judentums in der Gegenwart gibt sie auch im zweiten Interview nach dem
Beobachtungszeitraum nicht.
So scheint das Judentum in diesem Fall hauptsächlich mit dem Holocaust in
Verbindung zu stehen, ein Thema, das von den Kindern eingebracht und von Frau
Uranus vor allem als eine Art Bedrohung vorgestellt wird, vor der die Kinder ge-
schützt werden müssen, da sie noch sehr „zart“ und „klein“ (Uranus: 189) seien.
Ebenso wie die Thematisierung des Holocaust kommen auch Juden selbst laut
Frau Uranus in der Schule nicht vor. So antwortet sie auf die Frage, ob es unter den
Kindern Vorurteile gegenüber Juden gibt:
„Kein Mensch kennt, wir kennen alle Muslime, [...]. Aber. Offen lebende Juden
haben wir hier nicht. Ich habe in meiner ganzen Zeit hier noch keinen erlebt.“
(Uranus: 201–206)
Zunächst ist hieran auffällig, dass Frau Uranus in den 31 Jahren, die sie an ihrer
Schule unterrichtet, noch keine jüdischen Schüler:innen wahrgenommen hat. Zwei-
tens macht sie mit dem Zusatz „offen lebend“ deutlich, dass es durchaus möglich
wäre, dass jüdische Schüler:innen anwesend waren, sich aber nicht zu erkennen
gaben, was sie jedoch nicht weiter problematisiert. Drittens beantwortet Frau Ura-
nus die gestellte Frage nach Vorurteilen gegenüber Juden mit der Abwesenheit von
Juden, die „kein Mensch kennt“. Hierin deutet sich die Vorstellung an, es könne
keine Vorurteile gegenüber Juden geben, wo diese nicht anwesend sind. Weiterhin
ließe sich interpretieren, dass Juden, wo sie anwesend sind, selbst den Anlass für
Vorurteile darstellen, oder dass die Frage nach Vorurteilen dort nicht relevant ist, wo
keine Juden anwesend sind, die von ihnen betroffen wären.
4.2 Grundschule Marsweg: Die Juden als Verfolgte im Nationalsozialismus
Im zweiten Fall fand die Beobachtung in einem Zeitraum statt, in dem sowohl
das Judentum als Religion als auch der Holocaust im Religionsunterricht behandelt
wurden. Das übergreifende Thema dieser Einheit, das für Frau Mars auch insgesamt
für den Religionsunterricht maßgeblich ist, ist ein friedliches Zusammenleben, Ak-
zeptanz und gegenseitiger Respekt trotz religiöser Differenzen. Dementsprechend
thematisiert sie im Religionsunterricht die drei Religionen Judentum, Christentum
und Islam gemeinsam und fragt in den beobachteten Stunden in einem lehrkraftzen-
trierten Setting immer wieder Merkmale der Religionen, wie z. B. das dazugehörige
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656 J. Braband, A. Körs
Symbol, die Heilige Schrift oder das Gotteshaus ab. Für eine intensivere inhalt-
liche Auseinandersetzung gerade mit den nicht-christlichen Religionen fehlt Frau
Mars nach eigener Aussage das Wissen, hier würde sie sich Fortbildung und Input
dazu wünschen, mit welchen konkreten Geschichten aus den Religionen man die
Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Unterricht noch besser behandeln könne.
Die Kinder beteiligen sich an der Wissensabfrage zu den ,Eckdaten‘ der Religio-
nen recht rege und möchten ihr Wissen gerne zeigen. Hierbei wird deutlich, dass
sie auch aus eigener Erfahrung relativ viel über Elemente des Islam und des Chris-
tentums wissen, beim Judentum jedoch häufiger unsicher sind und die einzelnen
Aspekte vor allem nicht mit eigener Erfahrung oder Kenntnis von jüdischen Per-
sonen verbinden. Eine Beschäftigung mit einem heutigen, gelebten Judentum hat
in diesen Klassen vor dem Beobachtungszeitraum lediglich anhand eines kurzen
Films stattgefunden, in dem eine jüdische Familie und eine Synagoge besucht und
jüdische Rituale und Gegenstände gezeigt und erklärt werden. Obwohl sich Frau
Mars im Interview sehr interessiert zeigt an Möglichkeiten, mehr Berührungspunkte
mit jüdischer Religion zu schaffen, konnte sie keine Möglichkeit für einen Syn-
agogenbesuch finden und kennt auch keine anderen Begegnungsformate mit dem
Judentum als gelebter Religion. Stattdessen hat sie sich gerade aufgrund dieser feh-
lenden Berührungspunkte mit dem Judentum dazu entschlossen, den Kindern im
Religionsunterricht die Geschichte von Anne Frank vorzulesen. Im Interview sagt
sie dazu:
„Ja, das bot sich jetzt halt so gut an, weil ich immer überlegt habe, ach, vom
Judentum habe ich selber so wenig Ahnung, was, was mache ich denn da noch
mit ihnen, dass es irgendwie so ein bisschen geläufiger wird, und dann kam
mir halt diese Idee mit Anne Frank, dass es wunderbar ist, dass ja das ein ganz
großes Thema ist der Juden, nämlich ihre Verfolgung.“ (Mars: 354–358)
Die Verfolgung der Juden wird damit zum Thema des Judentums gemacht und
die Thematisierung des Holocaust als Möglichkeit wahrgenommen, das Judentum
ein „bisschen geläufiger“ zu machen, den Kindern also das Judentum über die
Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus nahezubringen.
Zum Übergang zwischen den drei Religionen und ihren Merkmalen in der ers-
ten Hälfte der beobachteten Stunden und der Lektüre des Buches über Anne Frank
im zweiten Teil erklärt Frau Mars jeweils, dass es wegen der unterschiedlichen
Religionen schon viele Kriege gegeben habe und dass es wichtig sei, viel über
die verschiedenen Religionen zu wissen und Akzeptanz zu fördern, damit Kriege
verhindert würden. Weiterhin begründet sie die Verfolgung der Juden im National-
sozialismus mit der Lage in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg, als es vielen
Leuten schlecht gegangen sei und man dafür einen Schuldigen gesucht habe. Adolf
Hitler habe behauptet, die Juden seien schuld an der Situation und daher seien sie
verfolgt worden.
Die Kinder sind sehr interessiert am Thema und berichten über einzelne Aspekte
zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, von denen sie schon gehört haben.
Auffällig ist dabei eine Fokussierung auf Adolf Hitler, der die Kinder zu ängstigen,
aber auch zu faszinieren scheint. Außerdem fragen die Kinder wiederholt, wieso
ausgerechnet die Juden verfolgt wurden, und warum die Menschen Hitler geglaubt
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Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule: zwischen Nicht-Thematisierung,... 657
hätten, dass die Juden schuld seien. Zu einer ausführlichen Klärung dieser Fragen
kommt es jedoch in den beobachteten Stunden nicht. Auch an der Geschichte von
Anne Frank sind viele Kinder sehr interessiert und wirken dabei mitfühlend und
teilweise schockiert. Es gibt jedoch auch Kinder, bei denen das Vorgelesene nicht
richtig anzukommen scheint, sie albern nebenbei herum und schneiden sich lautlos
Grimassen, einige wirken, als möchten sie sich nicht auf das Thema einlassen.
In den Berichten und Erklärungen der Lehrerin und auch in den Beiträgen der
Kinder zum Thema Anne Frank und Nationalsozialismus werden wiederholt die
Juden den Deutschen gegenübergestellt. So geht es bei der Nacherzählung der Ge-
schichte von Anne Frank im Unterrichtsgespräch immer wieder um Dinge, die „die
Deutschen“ oder auch Adolf Hitler „den Juden“ verboten haben. Dass es bei ,den
Juden‘ nicht um eine homogene Gruppe religiös praktizierender Gläubiger ging,
wird dabei ebenso wenig deutlich wie die Tatsache, dass ,die Juden‘ auch Deutsche
waren. Durch die gleichzeitige Thematisierung der drei Religionen kommt es außer-
dem dazu, dass die Kinder im Gespräch über Anne Frank die Juden den Christen
gegenüberstellen: „Die Christen haben den Juden verboten, zur Schule zu gehen“
(Beobachtungsprotokoll Marsweg 4e02). Diese Abgrenzungen, die auch durch die
Vermischung der Themen Judentum, Christentum und Islam mit dem Thema Anne
Frank bei den Kindern entstehen, werden von Frau Mars nicht korrigiert, ebenso
wenig wie die unbewusste Verwendung von Naziterminologie. So wird der David-
stern bei den Abfragen nach Merkmalen der drei Religionen wiederholt von den
Kindern als „Judenstern“ bezeichnet (Gruppendiskussion Marsweg: 102) und bei
der Frage, wie das Judentum in der Familie weitergegeben werde, fallen die Begriffe
„Volljude“ und „Halbjude“ (ebd., 409).
Jüdische Schüler:innen sind auch in diesem Fall weitgehend abwesend. Frau
Mars erwähnt, dass in einem anderen Jahrgang mal ein jüdisches Mädchen dabei
war, das käme aber nur sehr selten vor. Überlegungen darüber, wie es für jüdische
Kinder wäre, an dem beobachteten Religionsunterricht teilzunehmen, stellt sie nicht
an. Bemerkenswert ist allerdings, dass sie eine Verbindung zieht von den Juden
als Verfolgte zu den „dunkeläugigen, -haarigen“ (Mars_post: 251) Kindern in ihren
Klassen. So sollten die Kinder durch die Geschichte von Anne Frank eine Vorstellung
davon bekommen, wie es ist, nur wegen des Aussehens abgelehnt zu werden:
„... dass sie an den Juden so eine, so eine Ahnung und Vorstellung davon be-
kommen haben, wie sich das anfühlt, dass Menschen, nur, weil sie irgendwie
anders aussehen oder weil sie dann halt die dunkleren Augen und Haare ha-
ben, abgelehnt werden. Und ich meine, von diesen Dunkeläugigen, -haarigen
haben wir ja hier auch ganz viele, und die waren ja auch entsetzt.“ (Mars_post:
248–252)
Indem Frau Mars die dunkelhaarigen Kinder in der Klasse hier auf diese Weise
hervorhebt, scheint sie davon auszugehen, dass sie sich selbst als ,anders aussehend‘
wahrnehmen und sich deshalb besonders mit der Geschichte identifizieren können.
Die Gruppendiskussion mit den Klassen von Frau Mars unterstreicht den Ein-
druck, dass den Kindern muslimische und christliche Bräuche, Gegenstände, Feste
etc. recht geläufig sind, zum Judentum aber weniger Wissen vorhanden ist. Dieses
bezieht sich hauptsächlich auf die Juden im Nationalsozialismus und hier auf De-
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658 J. Braband, A. Körs
tails aus der Geschichte von Anne Frank, wobei wiederum Hitler eine zentrale Rolle
spielt und weiterhin danach gefragt wird, warum gerade die Juden verfolgt wurden.
4.3 Grundschule Merkurweg: Lebendiges und gelebtes Judentum
Im dritten Beispiel schließlich wird das Judentum als eine der fünf Weltreligionen
thematisiert, wofür Frau Merkur ein Buch mit dem Titel „Wie ist das mit den Religio-
nen?“ (Meyer und Janocha 2007) verwendet, in dem fünf Kinder, die jeweils einer
der fünf Weltreligionen angehören, zusammen in einem Mehrfamilienhaus leben und
sich gegenseitig ihre Religionen, Gotteshäuser, Rituale etc. zeigen. Hier wird somit
ein gelebtes Judentum aus der Sicht eines Kindes von heute im Alter der Kinder in
der Klasse beschrieben und gezeigt. Für die Auseinandersetzung mit dem Judentum,
die sich in diesem Unterricht insgesamt über mehr als zehn Wochen erstreckt, ge-
staltet die Lehrerin den Unterricht als gemeinsamen Wissens- und Erfahrungsraum,
in dem sie mit ihrer Klasse zusammen auf Entdeckungsreise geht. Wie auch schon
vorher zum Hinduismus und zum Buddhismus, werden Feste, Rituale, Gegenstände
und Speisen eingeführt, berührt, ausprobiert und bestaunt. So wird z.B. in einer
Stunde das Purim-Fest behandelt, wofür die Kinder im Kunstunterricht Rasseln ge-
bastelt haben, mit denen sie nun beim Vorlesen der Esther-Geschichte genau wie die
jüdischen Kinder an Purim in der Synagoge an den Stellen der Geschichte rasseln
dürfen, in denen Hanan vorkommt. An anderen Tagen wird ungesäuertes Brot geges-
sen, Matze versteckt und gesucht, ein Seder Teller bestückt und es werden weitere
religiöse Gegenstände aus dem Judentum aus einer geliehenen Materialsammlung in
der Klasse betrachtet und besprochen. Außerdem wird mit der Klasse eine Synagoge
besucht, in einem koscheren Supermarkt eingekauft und es werden auf einem Rund-
gang jüdische Orte im Stadtteil aufgesucht. Neben diesem Erleben eines heutigen
Judentums liest Frau Merkur der Klasse außerdem die Mosesgeschichte in mehreren
Stunden vor, wobei sehr viele Details der Geschichte sehr genau nachbesprochen
und erklärt werden. Auch spielen die Kinder einzelne Szenen nach und besprechen
dabei ihre Gefühle und die möglichen Beweggründe der handelnden Personen.
Besonders auffällig ist in diesem Fall, wie gespannt und begeistert die Kinder
diese mehrwöchige gemeinsame Entdeckungsreise über das Judentum mitmachen
und wie eifrig sie die verschiedenen Informationen aufnehmen und wiedergeben.
Sowohl an der Erarbeitung der Mosesgeschichte als auch an der Erkundung von
Ritualen und Gegenständen haben die Kinder sehr viel Freude und erschließen sich
die verschiedenen Inhalte mit großem Interesse. Der Holocaust und der National-
sozialismus werden in diesen Stunden nicht thematisiert. Lediglich beim Rundgang
durch den Stadtteil ist auch die Verfolgung der Juden Thema, da Spuren ehemali-
ger Synagogen und Stolpersteine betrachtet werden. Die Lehrerin möchte letztere
allerdings ausdrücklich nicht weiter besprechen, um das Thema der Ermordung von
Juden zu vermeiden.
In der Gruppendiskussion wird deutlich, dass den Kindern die Verfolgung der
Juden im Nationalsozialismus dennoch bewusst ist, da einige ihre Empörung darü-
ber äußern, was den Juden angetan wurde. Auch aktuelle Bedrohungen von Juden
werden erwähnt und kritisiert. Vor allem aber zeigt sich in der Gruppendiskussion,
dass die Kinder ein sehr großes und detailreiches Wissen über das Judentum aus
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Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule: zwischen Nicht-Thematisierung,... 659
dem Unterricht mitnehmen. Besonders beeindruckt zeigen sie sich von der Tatsache,
dass die jüdische Religion so alt ist und heutige Juden dennoch so viele Geschich-
ten und Bräuche beibehalten haben und praktizieren. Auch betonen sie es als etwas
sehr Wertvolles, dass Juden trotz Verfolgung heute noch da seien und ihren Glauben
lebten.
4.4 Diskussion
Aus der Darstellung der drei Fälle wird eine erhebliche Bandbreite der Thematisie-
rung und Behandlung des Judentums im Religionsunterricht deutlich. Während sich
der Unterricht im Fall Merkurweg auf ein heute gelebtes Judentum bezieht, wird das
Judentum im Fall Marsweg eher knapp zusammen mit dem Christentum und dem
Islam behandelt und gleichzeitig wird mit der Geschichte von Anne Frank seine
Verfolgung zum Thema gemacht. Auch im Fall Uranusweg wird das Judentum vor
allem mit Holocaust und Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, deren The-
matisierung für die Grundschule jedoch ausgeschlossen wird. Im Hinblick auf die
Frage, welchen Beitrag der Religionsunterricht zur Antisemitismusprävention leis-
ten kann und welche Rolle die Behandlung des Judentums dabei spielt, lassen sich
aus den Ergebnissen unter Rückgriff auf den vorher dargestellten Forschungsstand
einige zentrale Punkte herausheben.
So wurde erstens in zweien der drei Fälle deutlich, dass vom Judentum und
seiner Behandlung im Religionsunterricht eine direkte Verbindunglinie zum Holo-
caust gezogen wird. Trotz der entgegengesetzten Auffassungen von Frau Uranus
und Frau Mars in Bezug auf dessen Thematisierbarkeit in der Grundschule zeigt
sich bei beiden Lehrerinnen eine gedankliche Verknüpfung dieser Themen. Beide
scheinen außerdem über wenig Wissen zum Judentum als Religion zu verfügen
und sie bringen keine Beispiele eines aktuellen gelebten Judentums in ihren Unter-
richt ein. Frau Mars bezeichnet die Verfolgung außerdem als „Thema der Juden“,
das sie angesichts ihrer eigenen Wissenslücken für geeignet hält, um das Judentum
„ein bisschen geläufiger“ zu machen, wodurch sie ihre Verknüpfung der Themen
Judentum und Holocaust auch an die Kinder weitergibt.
In den Untersuchungen zum Geschichtsbild von Grundschüler:innen wird zwar
durchaus dafür plädiert, Holocaust Education schon in der Grundschule anzubieten,
u.a. weil die Kinder in diesem Alter ohnehin bereits über Wissen zum Nationalsozia-
lismus verfügen und die Schule die Deutungshoheit darüber nicht anderen Instanzen
überlassen solle (vgl. Koch 2017, S. 98). Die thematische Kopplung von Holocaust
und Nationalsozialismus mit dem Judentum, wie sie hier dadurch entsteht, dass
der Holocaust im Rahmen des Religionsunterrichts als Thema ,der Juden‘ behan-
delt wird, wird allerdings im Diskurs zum historischen Lernen in der Grundschule
ausdrücklich kritisiert (Enzenbach 2012; vgl. Abschn. 2.3). Die dabei drohende Re-
duktion jüdischer Geschichte auf die Verfolgungsgeschichte und damit verbundene
Zuschreibungen werden im Beispiel Marsweg sichtbar, wo die Kinder ,die Juden‘
hauptsächlich als Opfer des Nationalsozialismus verhandeln.
Ein damit verbundener zweiter Punkt ist das Bild der Juden als ,religiös Andere‘,
das wiederum vor allem im Religionsunterricht von Frau Mars deutlich wird. Sie
behandelt das Judentum in ihren Stunden jeweils zunächst als Religion gemeinsam
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660 J. Braband, A. Körs
mit dem Islam und dem Christentum und geht dann zur Geschichte von Anne Frank
über, indem sie erklärt, wegen der Religionen habe es schon viele Kriege gegeben
und ein Beispiel dafür sei die Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg. Dadurch
erscheint der Holocaust als religiös motiviert und die Juden erscheinen als Fremde,
die – anders als die Deutschen bzw. die Christen – nicht zu Deutschland gehören.
Diese Fremdmachung von Juden, die auch Becher (2008) in den Vorstellungen von
Grundschulkindern findet und als „latent antisemitische[s] Fragment“ bezeichnet
(ebd., S. 5, vgl. Abschn. 2.3), reproduziert Frau Mars durch ihre Unterrichtsgestal-
tung und bezieht sie dabei auch auf heutiges Judentum.
Drittens lässt sich in unseren Daten auch der Hitlerzentrismus wiederfinden, auf
den die Geschichtsbilderforschung verweist. So zeigen sich die Kinder im Mars-
weg gleichzeitig fasziniert und geängstigt von der Person Adolf Hitler und erklären
die Verfolgung der Juden damit, dass dieser die Juden nicht gemocht habe und sie
umbringen wollte. Auch Frau Uranus formuliert das Interesse der Kinder in ih-
ren Klassen so: natürlich käme irgendwann die Frage „Und was war mit Hitler“.
Besonders interessant ist jedoch, dass weder Frau Uranus noch Frau Mars diesem
Hitlerzentrismus der Kinder etwas entgegensetzen. Stattdessen erklärt Frau Uranus
den Kindern auf ihre Fragen hin, es habe mal „einen ganz furchtbaren Mann“ ge-
geben, der „ganz furchtbare Sachen gemacht“ habe. Und auch Frau Mars bedient
sich dieses monokausalen hitlerzentristischen Erklärungsmusters (vgl. Becher 2008,
S. 5) und erklärt in den beobachteten Stunden die Verfolgung der Juden damit, dass
Hitler den Deutschen eingeredet habe, die Juden seien schuld an der schwierigen
Lage im Land. Der bei Kindern und Lehrkräften sichtbare Hitlerzentrismus lässt
somit den dem Holocaust zugrunde liegenden Antisemitismus als ausschließlich in-
dividuelle und primär religiös begründete Abneigung erscheinen. Die gleichzeitige
Behandlung des Judentums als Religion bei Frau Mars birgt außerdem die Gefahr,
dass vor dem Hintergrund einer so verkürzten Thematisierung des Holocaust ima-
ginierte (religionsbezogene) Besonderheiten von Juden in den Mittelpunkt gestellt
werden und bei den Kindern als ,Grund‘ für die Verfolgung hängenbleiben (vgl.
Wiegemann 2022, S. 182).
Der vierte Punkt betrifft die angenommene Nicht-Präsenz jüdischer Schüler:innen
und den fehlenden Perspektivwechsel in unseren Beispielen. Weder Frau Uranus
noch Frau Mars reflektieren die Perspektive jüdischer Schüler:innen bei einer The-
matisierung des Holocaust im Religionsunterricht, da beide von ihrer vollständigen
Abwesenheit ausgehen. Frau Uranus führt zudem die Abwesenheit jüdischer Schü-
ler:innen als Antwort auf die Frage nach Vorurteilen an. Diese Annahme der Nicht-
präsenz haben auch Chernivsky und Lorenz-Sinai (2023)sowieBernstein(2020)
in ihren Untersuchungen festgestellt und als charakteristisch für Antisemitismus
im schulischen Kontext beschrieben, wo sie als Vermeidungs- und Abwehrstrate-
gie von Lehrkräften eingesetzt werde, die gleichzeitig Antisemitismus und jüdische
Schüler:innen unsichtbar mache (ebd., S. 296). In diesem Zusammenhang kritisiert
Wiegemann (2022), dass die Debatte um die Thematisierung des Holocaust in der
Grundschule an einem standardisierten Kindheitsbild orientiert sei und Differenz-
verhältnisse weitgehend ausspare (vgl. ebd., S. 175). Dies zeigt sich in unseren
Daten nicht nur in der fehlenden Reflektion einer jüdischen Perspektive, sondern
auch in der Bemerkung von Frau Mars, dass vor allem die „dunkeläugigen und
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Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule: zwischen Nicht-Thematisierung,... 661
-haarigen“ Kinder am Beispiel der Juden lernen könnten, wie es ist, wenn man we-
gen seines Aussehens abgelehnt werde. Aus welcher Perspektive und vor welchem
persönlichen Hintergrund diese Kinder Diskriminierung und Ausgrenzung tatsäch-
lich erleben, wird von ihr ebenso wenig reflektiert wie die Perspektive möglicher
jüdischer Schüler:innen.
Abschließend ist fünftens ein Punkt hervorzuheben, der am Beispiel von Frau
Merkur besonders deutlich wird. Als einzige vermittelt diese im Religionsunterricht
das Judentum ausschließlich als Religion, indem sie anhand der Mosesgeschichte
die Ursprünge des Judentums aufzeigt und gleichzeitig mit den Kindern Traditionen,
Rituale, Orte und Gegenstände eines heutigen Judentums erkundet. Damit vollzieht
sie die von Enzenbach (2012) geforderte Entkopplung des Lernens über jüdisches
Leben heute von der Thematisierung des Nationalsozialismus (ebd., S. 60f.), und
vermittelt „ein positives Bild des lebendigen Judentums“ (Naurath 2020b, S. 85).
Dafür nimmt sich Frau Merkur sehr viel Zeit und sagt dazu im Interview, dass sie
ihren Religionsunterricht als gemeinsame Entdeckungsreise mit der Klasse versteht,
die sich zeitlich nicht exakt planen lasse und für die sie sich auch von jeglichem
Druck seitens des Lehrplans freimache. Das authentische Interesse von Frau Merkur
an der Erkundung des Judentums (und anderer Religionen) überträgt sich auf die
Kinder und der Unterricht profitiert von ihrem Fachwissen und den Gelegenheiten,
religiöse Elemente praktisch zu erleben. In der Gruppendiskussion mit der Klas-
se wird deutlich, dass hierdurch ein gänzlich anderes Bild des Judentums bei den
Kindern entsteht, als in den Klassen von Frau Mars. Zwar ist auch hier ein Vor-
wissen über die Verfolgung der Juden vorhanden, es überwiegen aber deutlich die
Äußerungen, die ein breites und detailreiches Wissen über das Judentum zeigen, das
die Kinder als lebendige und im unmittelbaren Umfeld vorfindbare Religion erlebt
haben.
5 Fazit und Ausblick
Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse sind als exemplarische Momentaufnah-
men zu verstehen, die für die Frage nach einem möglichen Beitrag des Religionsun-
terrichts zu einer antisemitismuskritischen Bildung einige Anhaltspunkte liefern. So
machen sie in erster Linie deutlich, dass der Religionsunterricht nur unter bestimm-
ten Bedingungen einen Beitrag zur Antisemitismusprävention leisten kann. Die The-
matisierung des Judentums – gerade, wenn sie mit der Behandlung des Holocaust
verbunden wird – kann im Gegenteil auch zu einer Reproduktion antisemitischer
Stereotype und einseitiger Geschichtsbilder beitragen. Außerdem wird sichtbar, dass
die Kinder aus dem Religionsunterricht ein Bild vom Judentum und von jüdischen
Menschen mitnehmen, das an Bedeutung gewinnt, je weniger Berührungspunkte sie
ansonsten mit Jüdinnen und Juden haben. Schon deswegen scheint eine Vermittlung
des Judentums als vielfältiger und gelebter Religion inmitten unserer Gesellschaft
angemessener als die Darstellung ,der Juden‘ als Opfer des Holocaust, als Fremde
und religiös Andere von damals.
Die Grundvoraussetzung für einen antisemitismuspräventiven Religionsunterricht
wie für antisemitismuskritische Bildung generell ist jedoch nicht (allein) die Thema-
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662 J. Braband, A. Körs
tisierung des Judentums, sondern ein Verständnis von Antisemitismus, das sich auf
die Gesellschaft bezieht, in der dieser möglich ist. Dazu müsste Antisemitismus als
Problem der Mehrheitsgesellschaft verstanden werden, als kontinuierliches soziales
und strukturelles Machtverhältnis, das als solches bestimmte Bilder von ,den Juden‘
prägt. Antisemitismusprävention im Religionsunterricht wäre damit nicht in erster
Linie Unterricht über das Judentum oder über den Holocaust, sondern eine Aus-
einandersetzung mit Macht und Herrschaft, mit Diskriminierung und Ausgrenzung
und mit Empathie und Solidarität. Unter dieser Voraussetzung ist für den Religions-
unterricht in der Grundschule sowohl eine Vermittlung des Judentums als Religion
vorstellbar, wie sie Frau Merkur praktiziert, als auch eine Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus. Letztere müsste jedoch den Holocaust nicht als Thema
,der Juden‘ aufgreifen, sondern als Thema ,der Deutschen‘ und sich als antisemitis-
muskritische Shoah Education verstehen (vgl. Wiegemann 2022).
Diese Erfordernisse verweisen auf die zentrale Rolle der Lehrkräfte für die Be-
handlung des Judentums und insgesamt für die Gestaltung antisemitismuspräventiver
Momente im Religionsunterricht. In den drei dargestellten Beispielen aus unserer
Erhebung macht die große Unterschiedlichkeit der Fälle deutlich, dass die Art und
Weise der Behandlung des Judentums im Religionsunterricht nicht etwa durch den
Lehrplan vorgegeben ist, sondern je nach Schwerpunktsetzung, Interesse und Kennt-
nissen der jeweiligen Lehrkraft variiert. Während Frau Mars ihre Wissenslücken
über das Judentum mit der Geschichte von Anne Frank auffängt, macht sich Frau
Merkur mit ihrer Klasse auf eine Entdeckungsreise zu Orten und Gegenständen jü-
dischen Lebens und jüdischer Religion. Frau Uranus hingegen vermittelt in ihrem
Religionsunterricht weder ein aktuelles gelebtes Judentum noch thematisiert sie den
Holocaust, aber sie spricht mit den Kindern anlässlich der Josephsgeschichte über
Gefühle, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit, sowie über Möglichkeiten der Umkehr
und Wiedergutmachung. Diese Bandbreite verweist darauf, dass der Religionsun-
terricht über vielfältige Ressourcen verfügt, um antisemitismuskritische Momente
einzubauen. Die Behandlung des Judentums ist dabei nur ein Aspekt, der jedoch
ohne eine antisemitismuskritische Grundlegung nicht vor einseitigen Stereotypisie-
rungen schützt.
Die Erkenntnisse dieses Beitrags werfen außerdem weiterführende Fragen auf,
die in künftigen Forschungen zu bearbeiten sind. Während die vorliegende Studie
die Unterrichtspraxis fokussiert und exemplarisch zeigen konnte, dass Judentum, jü-
disches Leben und Antisemitismus im Religionsunterricht in der Grundschule sehr
unterschiedlich thematisiert werden und dass die Lehrkraft hierbei eine zentrale Rol-
le spielt, bleibt die Frage der Gestaltung des institutionellen Settings – z. B. in Bezug
auf Ausbildung, Curriculum und Schulorganisation – ein wichtiges Desiderat, um
das Potenzial des Religionsunterrichts für antisemitismuskritische Bildung ermes-
sen und strukturell entwickeln zu können. Dabei ist auch danach zu fragen, welche
weiteren Inhalte und Gestaltungsaspekte antisemitismuspräventiv wirken können.
Auch die Perspektive der Kinder und ihr Bild vom Judentum sind noch ausführli-
cher zu untersuchen, wobei der Einfluss des Religionsunterrichts, aber auch anderer
Fächer und weiterer Quellen zu berücksichtigen wäre. Schließlich ist die Forschung
zu Antisemitismus im schulischen Kontext auch auf die grundsätzlichere Frage zu
beziehen, wie Differenzkonstruktionen überhaupt in der Institution Schule hervor-
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Judentum im Religionsunterricht in der Grundschule: zwischen Nicht-Thematisierung,... 663
gebracht, verhandelt und reproduziert werden, und wie unterschiedliche Zuschrei-
bungen und Stigmatisierungen miteinander korrespondieren.
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Interessenkonflikt J. Braband und A. Körs geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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