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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder herkunftsübergreifendes Feindbild des islamischen Fundamentalismus

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Abstract and Figures

In Germany, debates about antisemitism among Muslims are increasingly being framed on distorted premises. The Alternative for Germany, in particular, portrays antisemitism as an ‘imported’ enmity from the Middle East that is deeply rooted in the Islamic religion. This perspective suggests a simple explanation for the origins of antisemitism among Muslims, but one that is heavily disputed in academic research. There is controversy over whether socialization in the Middle East actually plays a decisive role in the formation of antisemitic attitudes. Likewise, it is questioned whether antisemitism is rooted in the Islamic tradition. Instead, many studies emphasize that it is not the Islam in itself, but Islamic fundamentalism that is the decisive driving force behind antisemitism. This article explores these issues on the basis of several population surveys and, in particular, a survey conducted among German Muslims. The analyses reveal that antisemitic attitudes among Muslims—particularly in their more traditional form and in relation to Israel—are more common than in the average of the population at large. Nevertheless, many of the current assumptions about the causes of antisemitism fail to adequately explain the variations within the Muslim community. The results indicate that the affinity for antisemitic attitudes does not vary significantly between Muslims of different origins. Nor is individual religiosity of Muslims a significant predictor of antisemitic attitudes. Rather, a fundamentalist interpretation of religion emerges a crucial driver. Moreover, a moderation analysis demonstrates that antisemitism represents a transnational hostility amongst fundamentalist Muslims. This impact of religious fundamentalism remains robust when compared to alternative explanations.
This content is subject to copyright. Terms and conditions apply.
ARTIKEL
https://doi.org/10.1007/s41682-024-00195-2
Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik
Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation,
religiöse Tradierung oder herkunftsübergreifendes
Feindbild des islamischen Fundamentalismus
Cemal Öztürk · Gert Pickel
Eingegangen: 2. September 2024 / Überarbeitet: 11. November 2024 / Angenommen: 13. November 2024
© The Author(s) 2024
Zusammenfassung In Deutschland werden die Debatten über Antisemitismus unter
Muslim*innen zunehmend unter verzerrten Voraussetzungen geführt. So stellt z.B.
die Alternative für Deutschland stellt Antisemitismus als ein „importiertes“ Feind-
bild aus dem Nahen Osten dar, das tief in der islamischen Religion verwurzelt sei.
Diese Sichtweise suggeriert eine einfache Erklärung für die Quellen des Antisemi-
tismus unter Muslim*innen, die jedoch in der wissenschaftlichen Forschung stark
umstritten ist. So wird kontrovers diskutiert, ob die Sozialisation im Nahen Osten tat-
sächlich eine entscheidende Rolle bei der Entstehung antisemitischer Einstellungen
spielt. Ebenso wird infrage gestellt, ob der Antisemitismus tatsächlich in der islami-
schen Tradition begründet ist. Viele Studien heben stattdessen hervor, dass nicht die
islamische Religion an sich, sondern der islamische Fundamentalismus die entschei-
dende Triebkraft des Antisemitismus ist. Dieser Beitrag nähert sich der Thematik
anhand mehrerer Bevölkerungsumfragen und vor allem einer Befragung unter deut-
schen Muslim*innen. Die Analysen zeigen, dass antisemitische Einstellungen unter
Muslim*innen besonders in ihrer tradierten gegen Israel gerichteten Artikulations-
form– häufiger vertreten sind als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Dennoch
können viele der gängigen Annahmen über die Ursachen des Antisemitismus die
Unterschiede innerhalb der muslimischen Gemeinschaft nicht ausreichend erklären.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Neigung zu antisemitischen Einstellun-
gen nicht signifikant zwischen Muslim*innen unterschiedlicher Herkunft variiert.
Auch die individuelle Religiosität der Muslim*innen ist kein wesentlicher Prädik-
Cemal Öztürk
Institut für Politikwissenschaft, Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft, Universität
Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: cemal.oeztuerk@uni-due.de
Gert Pickel
Professur für Kirchen- und Religionssoziologie, Theologischen Fakultät, Universität Leipzig,
Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de
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C. Öztürk, G. Pickel
tor für antisemitische Haltungen. Vielmehr zeigt sich, dass eine fundamentalistische
Interpretation der Religion ein zentraler Einflussfaktor ist. Eine Moderationsanalyse
deutet darauf hin, dass Antisemitismus ein herkunftsübergreifendes Feindbild unter
fundamentalistischen Muslim*innen darstellt. Dieser Einfluss des religiösen Funda-
mentalismus erweist sich dabei auch im Vergleich zu anderen Erklärungsansätzen
als robust.
Schlüsselwörter Antisemitismus · Islamischer Fundamentalismus · Quellen des
Antisemitismus · Bevölkerungsumfrage · Moderationsanalyse
Antisemitism among Muslims in Germany: socialization, religious
tradition or transnational hostility of Islamic fundamentalism
Abstract In Germany, debates about antisemitism among Muslims are increasingly
being framed on distorted premises. The Alternative for Germany, in particular,
portrays antisemitism as an ‘imported’ enmity from the Middle East that is deeply
rooted in the Islamic religion. This perspective suggests a simple explanation for
the origins of antisemitism among Muslims, but one that is heavily disputed in aca-
demic research. There is controversy over whether socialization in the Middle East
actually plays a decisive role in the formation of antisemitic attitudes. Likewise,
it is questioned whether antisemitism is rooted in the Islamic tradition. Instead,
many studies emphasize that it is not the Islam in itself, but Islamic fundamen-
talism that is the decisive driving force behind antisemitism. This article explores
these issues on the basis of several population surveys and, in particular, a survey
conducted among German Muslims. The analyses reveal that antisemitic attitudes
among Muslims—particularly in their more traditional form and in relation to Is-
rael—are more common than in the average of the population at large. Nevertheless,
many of the current assumptions about the causes of antisemitism fail to adequately
explain the variations within the Muslim community. The results indicate that the
affinity for antisemitic attitudes does not vary significantly between Muslims of
different origins. Nor is individual religiosity of Muslims a significant predictor
of antisemitic attitudes. Rather, a fundamentalist interpretation of religion emerges
a crucial driver. Moreover, a moderation analysis demonstrates that antisemitism
represents a transnational hostility amongst fundamentalist Muslims. This impact of
religious fundamentalism remains robust when compared to alternative explanations.
Keywords Anti-Semitism · Islamic fundamentalism · Sources of anti-Semitism ·
Population survey · Moderation analysis
1 Einleitung: Antisemitismus unter Muslimen importierter Hass aus
der arabischen Welt und im islamischen Glauben angelegt?
Am 7. Oktober 2023 kam es zu einem brutalen Angriff, der den Nahostkonflikt in
eine neue, noch gewaltsamere Phase führte. Kämpfer der Hamas und verbündeter
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Gruppen drangen in israelische Gebiete ein und verübten ein Massaker an Zivi-
list*innen. Über tausend unschuldige Menschen, darunter Familien in ihren Woh-
nungen und Besucher*innen eines Musikfestivals, wurden getötet oder als Geiseln
in den Gazastreifen verschleppt. Dieser Angriff löste eine umfangreiche militäri-
sche Reaktion Israels aus, die durch Luft- und Bodeneinsätze darauf abzielt, die
Infrastruktur der Hamas zu zerstören und die entführten Geiseln zu befreien. Die
humanitären Folgen dieser Offensive sind erheblich: Schätzungen zufolge sind bis-
lang mehr als 30.000 Palästinenser*innen bei den israelischen Angriffen ums Leben
gekommen (Asseburg 2024).
Auch in Deutschland sind die Auswirkungen der jüngsten Eskalation im Nahost-
konflikt deutlich spürbar. Obwohl das Außenministerium seine „unverbrüchliche
Solidarität (...) im Kampf gegen die Hamas“ (Auswärtiges Amt 2023) betont hat,
prägen seit dem 7. Oktober 2023 vor allem pro-palästinensische Demonstrationen
das öffentliche Bild. Auch wenn eine sachliche Kritik an der militärischen Strategie
der israelischen Regierung und Mitgefühl für die zivilen Opfer (beider Seiten) be-
rechtigt und nachvollziehbar sind, verlaufen nicht alle Demonstrationen in diesem
Geist. Viele Proteste dienen vielmehr als Plattform für extremistische Parolen und
antisemitische Äußerungen (Öztürk et al. 2024).
Die inzwischen verbotene Organisation Samidoun zeigte in Berlin-Neukölln ihre
Unterstützung für die Angriffe der Hamas, indem sie jubelte und Baklava verteilte
(Parth 2023). Bei anderen Demonstrationen kam es wiederholt zu Strafanzeigen we-
gen Aufrufen zu Gewalt und Volksverhetzung (Marcus 2024). Zudem wurden mehr-
fach Sympathiebekundungen für Terrororganisationen wie die Hamas oder Hisbollah
festgehalten (Deutschlandfunk 2023). Islamistische Akteure nutzen die Eskalation
des Nahostkonflikts, um ihre Propaganda zu verstärken. So organisierte Muslim
Interaktiv, eine Gruppe aus dem Umfeld der Hizb ut-Tahrir, in Essen und Ham-
burg Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen die Errichtung eines Kalifats
gefordert wurde (NDR 2024; Wernicke 2023).
Diese Entwicklungen haben die bereits angespannte Sicherheitslage für jüdische
Menschen in Deutschland weiter verschärft. So wurden Häuser von Jüd*innen und
Juden mit Davidsternen gekennzeichnet (Jüdische Allgemeine 2024). Menschen,
die sich gegen Antisemitismus engagieren, wurden als Zionist*innen beschimpft
und angelehnt an die Einschüchterungstaktiken der Hamas mit roten Dreiecken
markiert (Ermagan 2024). Es kam auch zu einem Angriff mit Molotow-Cocktails
auf eine Synagoge in Berlin (Bischoff et al. 2023). An der Freien Universität Berlin
wurde ein jüdischer Student von einem arabischstämmigen Mitstudenten so schwer
verletzt, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste (Rech et al. 2024).
Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um einen beunruhigenden Trend:
Laut aktuellen Daten des Bundeskriminalamtes (2024) stieg die Zahl antisemitischer
Straftaten in Deutschland im Jahr 2023 auf 5164 ein alarmierender Zuwachs von
95,53% im Vergleich zum Vorjahr.
Viele Jüd*innen und Juden in Deutschland fühlen sich zunehmend bedroht und
versuchen, durch unauffälliges Verhalten ihre Sicherheit zu wahren (Beyer und Gold-
kuhle 2024;Pickeletal.2022a; Reimer-Gordinskaya und Tzschiesche 2020). Wie
man es dreht und wendet: Die vielen Vorfälle zeigen, dass die Eskalation des Nahost-
konflikts antisemitische Ressentiments verstärkt und radikalisierten Gruppen und
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C. Öztürk, G. Pickel
Einzelpersonen eine Gelegenheit bietet, ihren Hass auf ,die Juden‘ offen auf die
Straßenzutragen(Richteretal.2022).
Diese Dynamik ist jedoch nicht neu. Seit den 1990er-Jahren finden in Deutsch-
land die von Ruhollah Chomeini initiierten Al-Quds-Märsche statt, bei denen für
die ,Befreiung Jerusalems‘ und das Ende der ,jüdischen Besatzung Palästinas‘ de-
monstriert wird. Während der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen im Jahr
2014, die auf wochenlange Raketenangriffe der Hamas folgte, riefen junge Mus-
lim*innen in mehreren deutschen Städten antisemitische Parolen wie „Jude, Jude,
feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ (Voigt 2023). Auch bei späteren
Eskalationen, wie 2021, sorgten antisemitische Sprechchöre vor der Synagoge in
Gelsenkirchen für große mediale Aufmerksamkeit (Sat 2021). Diese Entwicklungen
haben dazu geführt, dass zunehmend Stimmen laut werden, die vor einer Verharmlo-
sung des islamisierten Antisemitismus warnen (Kiefer 2017) und die Notwendigkeit
betonen, antisemitische Einstellungen unter Muslim*innen differenziert zu analysie-
ren (Öztürk und Pickel 2022).
Dies ist auch deshalb wichtig, weil rechte Akteure die Situation nutzen, um Mus-
lim*innen, den Islam und Geflüchtete aus dem Nahen Osten unter Pauschalverdacht
zu stellen. Die Alternative für Deutschland (AfD) spricht schon seit einiger Zeit
von ,importiertem Antisemitismus‘ und behauptet, dass durch die Zuwanderung von
Muslim*innen antisemitische Einstellungen in einer vom Antisemitismus geläuteten
Gesellschaft wieder erstarken (Öztürk und Pickel 2022; Pfahl-Traughber 2019; Roh-
de 2019). Im zurückliegenden Wahlkampf in Thüringen nutzte Björn Höcke (AfD)
die Diskussion über Antisemitismus in einem TV-Duell mit Mario Voigt, um ein
Einwanderungsverbot für Muslim*innen zu fordern und somit implizit zu behaup-
ten, dass Antisemitismus im islamischen Glauben verwurzelt sei (Buschke et al.
2024). Auch andere politische Akteure greifen zunehmend auf diese Rhetorik zu-
rück. So forderte Markus Söder, Ministerpräsident von Bayern (CSU), als Reaktion
auf die jüngsten Vorfälle strengere Regeln für Abschiebungen und den Entzug der
Staatsbürgerschaft für Personen, die sich antisemitisch äußern oder verhalten (Jüdi-
sche Allgemeine 2023). Besonders deutlich wurde Vizekanzler Robert Habeck (Die
Grünen), der in einer Videoansprache die muslimische Bevölkerung in Deutschland
direkt dazu aufforderte, sich „klipp und klar von Antisemitismus zu distanzieren,
um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu untergraben“ (zitiert nach Arnold
und Kiefer 2024a).
Es spricht vieles dafür, dass die gegenwärtige Diskussion über Antisemitismus un-
ter Muslim*innen unter verzerrten Kommunikationsbedingungen stattfindet. Immer
wieder kommt es zu Verallgemeinerungen sowie kulturalisierende und essentialisie-
rende Aussagen (Biskamp 2023). So wird antisemitischer Hass zunehmend als ein
,Problem der Anderen‘ betrachtet als ein Phänomen, das vermeintlich auf natür-
liche Weise mit dem islamischen Glauben verbunden ist und durch die Migration
von Muslim*innen in eine angeblich vom Antisemitismus „geläuterte“ Gesellschaft
gelangt (Öztürk et al. 2024).
Angesichts der oft unsachlichen Debatten stellen sich mehrere zentrale Fragen:
Wie weit verbreitet sind antisemitische Einstellungen in Deutschland? Gibt es empi-
rische Belege dafür, dass solche Einstellungen unter Muslim*innen besonders häufig
auftreten? Und wenn ja, welche Faktoren tragen dazu bei? Zusätzlich wird in einem
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Exkurs untersucht, welche Motive hinter der einseitigen Verortung des Antisemitis-
mus in den Reihen der Muslim*innen stehen.
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den (religiösen) Quellen des Antise-
mitismus unter Muslim*innen, da die Frage, ob es einen spezifisch ,muslimischen
Antisemitismus‘ gibt, in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten ist (Arnold
und Kiefer 2024b). Die Positionen sind vielfältig: Sie reichen von der Annahme,
dass die Feindseligkeit gegenüber ,den Juden‘ tief in der islamischen Tradition ver-
wurzelt ist (Ourghi 2024), bis zur Auffassung, dass die antizionistische Sozialisa-
tion in arabischen Gesellschaften eine größere Rolle spielt als religiöse Einflüsse
(Schüler-Springorum 2020). Andere Studien betonen die Bedeutung fundamenta-
listischer Interpretationen des Islam (Koopmans 2015; Fischer und Wetzels 2024;
Öztürk und Pickel 2022). Unsere forschungsleitende These ist, dass antisemitische
Einstellungen ein gemeinsames Feindbild von Muslim*innen darstellen, die ihre Re-
ligion fundamentalistisch auslegen, während die Bedeutung allgemeiner Religiosität
überschätzt wird.
Das zentrale Ziel dieses Beitrags besteht darin, die Diskussion über Antisemitis-
mus unter Muslim*innen auf eine solide empirische Grundlage zu stellen. Hierfür
wurden sowohl Daten aus der Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker und Brähler
2020; Decker et al. 2022a) als auch die Ergebnisse einer im Rahmen des vom BMBF
geförderten Forschungsprojekts RIRA (Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam.
Gesellschaftliche Polarisierung und wahrgenommene Bedrohung als Triebfaktoren
von Radikalisierungs- und Co-Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen und Post-
Adoleszenten) durchgeführten Befragung unter Muslim*innen ausgewertet.1
2 Was wissen wir über die Prävalenz antisemitischer Einstellungen
unter Muslim*innen und ihre begünstigenden Faktoren?
Bevor wir unsere theoretischen Überlegungen und Hypothesen vorstellen, ist es hilf-
reich, den aktuellen Forschungsstand zu betrachten. Antisemitische Einstellungen
unter Muslim*innen sind inzwischen Gegenstand verschiedener Umfragen, Studi-
en und internationaler Vergleichsanalysen (u.a. Arnold 2023;Jikeli2024). Unsere
Diskussion stützt sich auf eine breite Auswahl an Erhebungen, die unterschiedliche
methodische Ansätze und Datenquellen verwenden, jedoch alle auf Methoden der
Umfrageforschung zurückgreifen, um dieses Thema zu untersuchen.
Eine der umfassendsten globalen Erhebungen zu antisemitischen Einstellungen
stammt von der Anti-Defamation League (2019). Die Umfrage, die in über 100
Ländern durchgeführt wurde, zeigt deutlich, dass in der MENA-Region (Nordafrika,
arabische Halbinsel, Iran, Türkei) die Prävalenz von antisemitischen Stereotypen mit
74% im globalen Vergleich besonders hoch ist. Diese Muster spiegeln sich auch in
den westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften wider. In der 2019 durchgeführ-
ten Befragung in Deutschland war die Empfänglichkeit für antisemitische Stereotype
1Das RIRA-Projekt wird von Professorin Dr. Susanne Pickel geleitet. Für einen Überblick über den For-
schungsverbund, die verschiedenen Teilprojekte sowie bereits erschienene Veröffentlichungen sei auf die
Projekt-Homepage verwiesen: https://www.uni-due.de/politik/projekt-rira.
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C. Öztürk, G. Pickel
unter Muslim*innen (49%) deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt (15%).
Diese Einstellungsunterschiede legen nahe, dass das Diskurs- und Gesellschaftskli-
ma der Herkunftsregionen eine starke Wirkung auf die muslimische Minderheit in
Deutschland hat. Allerdings ist der schillernde Begriff des ,importierten Antisemi-
tismus‘ zu simpel, um die Realität adäquat zu erfassen. So liegt die Zustimmung
zu den antisemitischen Stereotypen in der Türkei das Land, aus dem immer noch
die meisten Muslim*innen in Deutschland stammen (Pfündel et al. 2021)–z.B.mit
71% deutlich höher aus, als unter den in Deutschland lebenden Muslim*innen (Anti-
Defamation League 2019). Muslim*innen, die als religiöse Minderheit in Deutsch-
land leben, stehen somit zwischen den Einflüssen ihrer Herkunftsgesellschaften und
dem kulturellen Umfeld ihrer Lebenswelt in Deutschland. Ihre Empfänglichkeit für
antisemitische Stereotype ist höher als die der Mehrheitsgesellschaft, aber geringer
als in ihren Herkunftsländern (Öztürk und Pickel 2022).
Ob die Religionszugehörigkeit von Menschen eine zentrale Rolle für die Internali-
sierung von antisemitischen Ressentiments spielt, ist dennoch umstritten. Zum einen
besteht eine gewisse Gefahr der Pauschalisierung. Schließlich ist es wenn man
den Daten der Anti-Defamation League (2019) folgt nicht die Mehrheit der Mus-
lim*innen in Deutschland, die für die antisemitischen Stereotype empfänglich sind.
Zum anderen trifft der angedeutete Konformitätsdruck der sozialen Umgebung auch
auf Christ*innen zu. Ihre Zustimmung zu antisemitischen Stereotypen ist in der ME-
NA-Region mit 64% deutlich höher als unter ihren Glaubensgeschwistern in West-
europa, wo sie bei 25 % liegt (Anti-Defamation League 2019). Arnold und Kiefer
(2024b) argumentieren daher, dass antisemitische Einstellungen sowie die Feindse-
ligkeit gegenüber Israel weniger durch die Religionszugehörigkeit bedingt sind, son-
dern stärker mit der geografischen Nähe zum Nahostkonflikt und der in den MENA-
Gesellschaften vorherrschenden antizionistischen Sozialisation zusammenhängen.
Es gibt jedoch auch gegenläufige Beobachtungen. Beyer (2019) liefert deutliche
Hinweise auf signifikante Unterschiede in der Antipathie gegenüber ,den Juden‘ zwi-
schen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen. Seine Untersuchung basiert auf Um-
fragedaten des PEW Research Center, die in 18 diversen Ländern erhoben wurden
und das Antwortverhalten von ca. 40.000 Befragten umfassen. Soweit uns bekannt
ist, handelt es sich um die einzige Studie, die die Triebfaktoren von antisemitischen
Einstellungen mithilfe von Mehrebenenanalysen untersucht. Diese Methode ermög-
licht es, zwischen gesellschaftlichen und individuellen Einflüssen zu unterscheiden
und Wechselwirkungen der beiden Ebenen zu modellieren (Rippl und Seipel 2015).
Die Befunde legen nahe, dass die Ablehnung von Jüd*innen und Juden in Gesell-
schaften mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit besonders stark verbreitet
ist. Auf individueller Ebene sind antisemitische Einstellungen bei Muslim*innen im
Vergleich zu Nicht-Muslim*innen ebenfalls ausgeprägter. Besonders deutlich ste-
chen diese Einstellungsunterschiede in Ländern hervor, in denen Muslim*innen als
religiöse Minderheit leben.
Die Ergebnisse stimmen mit den Befunden einer repräsentativen Umfrage zum
Antisemitismus in Deutschland überein, die 2022 vom American Jewish Committee
in Auftrag gegeben und vom Allensbach Institut durchgeführt wurde. Die Umfrage
zeigt, dass antisemitische Stereotypen unter deutschen Muslim*innen keinesfalls ein
Randphänomen darstellen. Konkret stimmen 54 % der muslimischen Befragten der
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Aussage zu, dass „Juden ihren Status als Opfer des Völkermordes zu ihrem eige-
nen Vorteil ausnutzen“. 47% glauben, dass „Juden reicher sind als der Durchschnitt
der Deutschen“. 49% meinen, dass „Juden zu viel Macht in der Wirtschaft und
im Finanzwesen haben“, 45 % halten „Juden für mächtig in der Politik“ und 46 %
glauben, dass „Juden zu viel Einfluss in den Medien haben“. Außerdem denken
33% der befragten Muslim*innen, dass „Juden für viele Wirtschaftskrisen verant-
wortlich“ sind. Die Zustimmungsraten zu diesen Stereotypen, die zum klassischen
Repertoire des modernen Antisemitismus gehören, liegen deutlich über dem Bevöl-
kerungsdurchschnitt, mit Abweichungen von 20 bis 28 %. Besonders hervorzuheben
ist, dass sie sogar die hohen Zustimmungswerte der Wähler*innen der rechts-auto-
ritären Alternative für Deutschland übertreffen (American Jewish Committee 2022,
S. 23).
Richtet man den Blick auf tradierte antisemitische Ressentiments, zeigt sich, dass
die wesentlichen Erkenntnisse replizierbar sind und auch nicht von der verwende-
ten Datenbasis abhängen.Liebig(2023) zeigt in seiner Analyse der Allgemeinen
Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), dass die Zugehörigkeit
zum Islam auch wenn andere Faktoren berücksichtigt werden die Anfälligkeit
für antisemitische Einstellungen erhöht. Laut Liebig unterschätzen Umfragen, die
Muslim*innen und Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft nicht einbeziehen,
häufig das tatsächliche Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland. Auch Fischer
und Wetzels (2024) bestätigen in ihrer Repräsentativumfrage „Menschen in Deutsch-
land“, dass tradierter Antisemitismus unter in Deutschland lebenden Muslim*innen
im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen unabhängig von deren Migrations-
hintergrund stärker verbreitet ist.
Die Studien von Koopmans (2015) unterstreichen jedoch auch, dass innerhalb der
muslimischen Gemeinschaften erhebliche Unterschiede hinsichtlich antisemitischer
Einstellungen bestehen. Diese inneren Differenzen betreffen auch das religiöse Feld.
Dabei wird die Empfänglichkeit für den Antisemitismus nicht primär durch die Re-
ligiosität als solche bedingt, sondern durch die Auslegung der eigenen Religion.
Koopmans (2015) differenziert zwischen säkularen Muslim*innen, gläubigen Mus-
lim*innen ohne fundamentalistische Überzeugungen und gläubigen Muslim*innen
mit fundamentalistischen Ansichten. Während in den ersten beiden Gruppen die Zu-
stimmung zu antisemitischen Stereotypen unter 30% liegt, beträgt sie in der Gruppe
der religiös-fundamentalistischen Muslim*innen über 70 % und ist dort die soziale
Norm. Diese Befunde werden durch weitere Studien gestützt, die zeigen, dass eine
dogmatische bzw. fundamentalistische Religionsauslegung maßgeblich zur Interna-
lisierung antisemitischer Ressentiments beiträgt (Fischer und Wetzels 2024ztürk
und Pickel 2022).
Storz und Friedrichs (2023) untersuchen in ihrer Studie die Wechselwirkungen
zwischen Herkunft und Religiosität. Ihre Analyse zeigt, dass der Einfluss von Her-
kunftskontexten auf antisemitische Einstellungen begrenzt,aber nicht völlig unbedeu-
tend ist. Es sind in der Tendenz vor allem arabischstämmige Muslim*innen die für
antisemitische Stereotype wie die Imagination eines „großen jüdischen Einflusses
auf die Welt“ empfänglicher sind. Dabei lassen sich keine großen Unterschiede zwi-
schen säkularen Individuen und gläubigen Muslim*innen aus der arabischen Welt
feststellen. Interessanterweise variiert die Empfänglichkeit für den Antisemitismus
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C. Öztürk, G. Pickel
eher bei Muslim*innen aus anderen Regionen, wie etwa Europa oder Sub-Saha-
ra Afrika, mit der Stärke ihrer Religiosität. Diese Ergebnisse deuten darauf hin,
dass die Wechselwirkung zwischen Herkunftskontexten und Religiosität und ihre Be-
deutung für die Internalisierung antisemitischer Haltungen komplex ist. Allerdings
bedarf es weiterer Analysen: Storz und Friedrichs (2023) weisen darauf hin, dass
der Zusammenhang zwischen Religiosität und antisemitischen Haltungen mögli-
cherweise durch eine Drittvariable beeinflusst wird. Es besteht die Möglichkeit,
dass ein nicht zu unterschätzender Anteil der sehr religiösen Muslim*innen auch zu
fundamentalistischen Glaubensauslegungen neigen, die in der Studie jedoch nicht
erfasst und somit nicht kontrolliert wurden. Dies ist eine erhebliche Lücke im Un-
tersuchungsdesign, da die bloße Religiosität eines Individuums nicht entscheidend
für die Internalisierung antisemitischer Einstellungen ist (Fischer und Wetzels 2024;
Koopmans 2015; Öztürk und Pickel 2022).
Ein weiterer wichtiger Befund der Forschung ist, dass nicht alle Artikulations-
formen des Antisemitismus unter Muslim*innen prävalenter auftreten. Während tra-
dierter und israelbezogener Antisemitismus unter Muslim*innen im konfessionellen
Vergleich stärker ausgeprägt ist, zeigen sich bei sekundärem Antisemitismus der
etwa die Täter-Opfer-Umkehrung oder den Wunsch nach einem Schlussstrich unter
die NS-Vergangenheit umfasst keine signifikanten Unterschiede zwischen Mus-
lim*innen, Christ*innen und Konfessionslosen (Öztürk und Pickel 2022, Öztürk und
Pickel 2023). Dies lässt darauf schließen, dass bestimmte Erscheinungsformen, wie
der sekundäre Antisemitismus mit spezifischen historischen und sozialen Kontex-
ten verknüpft sind und weniger stark von der religiösen Identität von Individuen
abhängen.
Die Robustheit dieses Befundes wird dadurch unterstrichen, dass er auch in ei-
ner Studie mit regionalem Fokus repliziert wurden. Pickel et al. (2019) liefern auf
Basis des Berlin-Monitors eine detaillierte Analyse antisemitischer Einstellungen
in der Berliner Stadtbevölkerung. Ihre Ergebnisse bekräftigen, dass tradierter und
israelbezogener Antisemitismus unter Muslim*innen stärker ausgeprägt ist als bei
Christ*innen und anderen Gruppen unabhängig davon, ob sie einen Migrations-
hintergrund haben oder nicht. Gleichzeitig legen die Ergebnisse nahe, dass autoritäre
Denkmuster, Aspekte des politischen Alltagsbewusstseins und soziodemographische
Faktoren wie Bildung, die Länge des Aufenthaltes in Deutschland, das Geschlecht
und Alter berücksichtigt werden müssen. Antisemitische Einstellungen unterliegen
nicht nur religiösen Einflüssen, sondern werden auch durch individuelle psycholo-
gische Dispositionen und Teilhabechancen von Menschen beeinflusst. Hierzu passt
die Beobachtung, dass Diskriminierungserfahrungen und das Gefühl, in der Ge-
sellschaft benachteiligt zu sein, zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen unter
Muslim*innen beitragen können (Fischer und Wetzels 2024; Öztürk und Pickel
2022). Kurzum: Auch soziale Marginalisierung und das Erleben von Ungleichheit
spielen der Internalisierung von Antisemitismus in die Hände.
Ein wichtiges Forschungsdesiderat ist eine Studie, die systematisch verschie-
dene Quellen antisemitischer Einstellungen untersucht, sie gegeneinander abwiegt
und ihre Wechselwirkungen analysiert. Besonders unklar ist, ob Herkunftskontex-
te oder religiöse Faktoren, wie eine fundamentalistische Auslegungen des Islam,
entscheidender für die Entstehung antisemitischer Ressentiments sind (siehe die un-
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
terschiedlichen Einschätzungen bei: Arnold und Kiefer 2024b; Beyer 2019; Fischer
und Wetzels 2024; Koopmans 2015; Öztürk und Pickel 2022; Storz und Friedrichs
2023). Auch könnte so analysiert werden, ob antisemitische Haltungen ein herkunfts-
übergreifendes Feindbild unter fundamentalistischen Muslim*innen darstellen.
3 Die Ambiguität des Antisemitismus unter Muslimen: Religiöse
Tradierung, Feindbildkonstruktion des Fundamentalismus oder
arabischer Nationalismus?
Der Befund einer höheren Prävalenz von antisemitischen Einstellungen unter Mus-
lim*innen wird häufig als Beleg für eine religiös-muslimische Einbettung gewertet
(z.B. Jikeli 2024, S. 13). Allerdings ist mit diesem Befund noch nicht geklärt, ob
sich diese Feindbildkonstruktion tatsächlich aus religiösen Quellen speist, ob sie vor
allem in fundamentalistischen Milieus anzutreffen ist oder ob sie durch die Sozia-
lisation in bestimmten Herkunftskontexten entsteht. Dieser Umstand spiegelt sich
auch in den unterschiedlichen Begriffen wider, die in der wissenschaftlichen Debat-
te verwendet werden, um den Antisemitismus unter Muslim*innen zu beschreiben.
Eine Differenzierung, die Arnold und Kiefer (2024b) vornehmen, unterscheidet zwi-
schen muslimischem, islamisiertem, islamistischem und arabischem Antisemitismus.
Diese Begriffe ermöglichen eine präzisere Unterscheidung zwischen den histori-
schen, ideologischen und regionalen Quellen und Eigenheiten dieser Ressentiments
und unterstreichen die Ambiguität des Antisemitismus unter Muslim*innen.
Der Begriff muslimischer Antisemitismus suggeriert, dass die Feindschaft gegen
Jüd*innen und Juden aus der islamischen Tradition hervorgeht (Ourghi 2024). Diese
These ist jedoch um es direkt vorweg zu nehmen umstritten: Weder haben die
heiligen Schriften des Islam per se eine anti-jüdische Stoßrichtung (Kiefer 2017),
noch kann die Diskriminierung und Verfolgung von Jüd*innen und Juden zum Nor-
malfall der 1400-jährigen Geschichte des Islam erklärt werden (Arnold und Kiefer
2024b, S. 40). Das Verhältnis des Islam zum Judentum ist ambivalent. Einerseits hat
der Islam viele prophetische Traditionen des Judentums (sowie des Christentums)
in seine heiligen Schriften übernommen. Jüd*innen und Juden sowie Christ*innen
werden im Islam als „Völker des Buches“ angesehen, also als Anhänger*innen von
Religionen, die ebenfalls auf göttlichen Offenbarungen beruhen was über lange
Perioden der Geschichte auch Auswirkungen auf das Zusammenleben der Religi-
onsgemeinschaften hatte. So ruft der Koran zur Toleranz gegenüber den Mitgliedern
der abrahamitischen Religionen auf und fordert die Muslim*innen dazu auf, diesen
Religionsgemeinschaften mit Respekt zu begegnen (Becker 2020, S. 78; Öztürk und
Pickel 2023, S. 358).
Auf der anderen Seite verliefen die Entstehung und Ausbreitung des Islam nicht
ohne Konflikte. Zum weltlich-machtpolitische Aufstieg des Propheten Mohammed
und seiner Anhängerschaft gehören militärische Siege über jüdische Stämme in und
rund um Medina (z. B. die Schlacht um Chaibar). Diese Gewalttaten wurden im Ko-
ran nachträglich gerechtfertigt, und entsprechende Überlieferungen werden unter
Ausblendung der Aufrufe zur Toleranz genutzt, um Gewalt gegen Jüd*innen und
Juden zu legitimieren. Häufig werden in diesem Zusammenhang die Suren 5:60 und
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9:29 zitiert, in denen Jüd*innen und Juden als Affen und Schweine herabgewürdigt
werden. Außerdem wird zum Kampf gegen die „Völker des Buches“ aufgerufen, der
so lange geführt werden soll, bis sich Jüd*innen und Juden und Christ*innen den
Muslim*innen unterwerfen und ihnen Tribut zollen (Kaddor et al. 2019, S. 20; Salz-
born 2018, S. 120). Auch der Slogan „Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! Mohammeds
Heer kommt bald wieder!“, der oft bei anti-israelischen Demonstrationen zu hören
ist, bezieht sich auf diese historischen Ereignisse (Kayman 2021, S. 101). Aber
auch hieraus lässt sich die Behauptung einer ewigen Feindschaft zwischen Mus-
lim*innen und Jüd*innen und Juden nicht untermauern. Der Slogan ist Ausdruck
einer eklektischen und politisch motivierten Interpretation islamischer Quellen, die
von den meisten religiösen Gelehrten abgelehnt wird und am ehesten im modernen
Islamismus vorzufinden ist (Kiefer 2017).
Allerdings gilt es auch nichts zu beschönigen: Die Aufrufe zur Toleranz im Islam
sollten nicht mit einem gleichberechtigten Status für Jüd*innen und Juden sowie
Christ*innen verwechselt werden. Die „Völker des Buches“ wurden als Schutz-
befohlene betrachtet, die für ihre Sicherheit eine Sondersteuer entrichten mussten.
Dieser Status markierte sie als Bürger*innen zweiter Klasse; sie waren auch ge-
sellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt (Jikeli 2015, S. 205). Dennoch bot der
Dhimmi-Status vielen Jüd*innen und Juden in islamisch geprägten Dynastien einen
gewissen Schutz. Besonders in Andalusien und auf der iberischen Halbinsel fanden
viele von ihnen Zuflucht, während sie in anderen Teilen Europas schwerer Verfol-
gung und Gewalt ausgesetzt waren. Nach der Reconquista flohen viele sephardische
Jüd*innen und Juden in das Osmanische Reich und den Maghreb (Brumlik 2018).
Das sogenannte „goldene Zeitalter“ der islamischen Toleranz und die Phasen des
friedlichen Zusammenlebens von Muslim*innen und Jüd*innen und Juden (Lewis
1984) dürfen jedoch nicht idealisiert werden (Becker 2020).
Auch in islamisch geprägten Herrschaftsgebieten kam es immer wieder zu Aus-
brüchen von Gewalt und Pogromen gegen Jüd*innen Juden, wie beispielsweise in
Granada im Jahr 1066 und in Fez im Jahr 1465, bei denen tausende Menschen ihr
Leben verloren (Kaddor et al. 2019, S. 34; Jikeli 2019, S. 61). Aus historischen Per-
spektive erreichten die Gewaltakte gegen Jüd*innen und Juden in der islamischen
Welt jedoch nie die gleiche Intensität wie die Verfolgungen im christlichen Europa
(Lewis 1984). Ein Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Narrativen über ,die
Juden‘. Während die kirchliche Propaganda und religiöse Autoritäten sie für den
Tod Jesu verantwortlich machten und sie als ,kosmisches Übel‘ betrachteten, war
das Bild der Jüd*innen und Juden in der islamischen Welt anders geprägt. Nach den
militärischen Siegen Mohammeds über die jüdischen Stämme wurden ,die Juden‘
als ,schwach‘ und ,unterlegen‘ imaginiert (Becker 2020, S. 76).
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert erfahren die gängigen Erzählungen
jedoch einen Wandel, was neben der sich abzeichnenden Gründung von Israel
und dem Nahostkonflikt vor allem mit der Übersetzung und Verbreitung von
europäischen antisemitischen Hetzschriften zusammenhängt (Küntzel 2020). Die
Vorstellung von ,inferioren Juden# wich allmählich der Idee von ,omnipotenten
Juden‘, die angeblich darauf abzielten, demIslam und den Muslim*innen zu schaden
(Becker 2020, S. 76).
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
In den Diskussionen über den sogenannten ,importierten Antisemitismus‘ wird
oft übersehen, dass Nazi-Deutschland eine zentrale Rolle bei der Verbreitung anti-
semitischer Propaganda im arabischen Raum spielte (Herf 2009). Die Nationalso-
zialist*innen verfolgten dabei zwei Hauptziele: Zum einem zielten sie auf die Ver-
folgung und Vernichtung der arabischen Jüd*innen und Juden. Zum anderen hofften
sie auf einen breiten Widerstand gegen die jüdische Einwanderung nach Palästina
und die Gründung eines jüdischen Staates (Küntzel 2020). In diesem historischen
Kontext entstanden Allianzen mit Amin el-Husseini und der in den 1920er-Jahren
in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft. El-Husseini, eine Schlüsselfigur der
palästinensischen Nationalbewegung, unterstützte die Nationalsozialist*innen und
propagierte gemeinsam mit ihnen antisemitische Verschwörungsmythen. Diese wur-
den über den von den Nazis betriebenen Radiosender Zeesen verbreitet, der von
1939 bis 1945 allabendlich auf Arabisch, Persisch und Türkisch auf Sendung ging.
In diesen Sendungen wurden antisemitische Passagen aus dem Koran zitiert und mit
modernen europäischen Verschwörungstheorien kombiniert, um den Hass gegen ,die
Juden‘ in der islamischen Welt anschlussfähiger zu machen (Küntzel 2020). Parallel
dazu entwickelte sich die Muslimbruderschaft ab den 1930er-Jahren, auch dank der
finanziellen und ideologischen Unterstützung durch das Dritte Reich, zu einer der
einflussreichsten Bewegungen in der arabischen Welt. Sie organisierte antijüdische
Pogrome in Kairo und Alexandria und trug durch ihre Mobilisierung erheblich da-
zu bei, dass die ägyptische Armee gemeinsam mit anderen arabischen Staaten dem
Staat Israel nur ein Tag nach seiner Gründung den Krieg erklärte (Küntzel 2020).
Der militärische Erfolg Israels führten in der arabischen Welt zu einem tiefen
Trauma. Diese Ereignisse ließen sich nicht mit dem bisherigen Narrativ der ,un-
terlegenen Juden‘ vereinbaren und förderten die Suche nach einfachen Erklärungen
und Verschwörungstheorien. In diesem Kontext gewann das Traktat „Unser Kampf
mit den Juden“ von Sayyid Qutb, dem damaligen Chefideologen der Muslimbruder-
schaft, an Bedeutung (Kiefer 2022). Dieser Text gilt als Schlüsseltext des islamisti-
schen Antisemitismus und hat maßgeblich zur Verbreitung von Judenfeindlichkeit in
der islamischen Welt beigetragen (Tibi 2017, S. 122–129). Qutb bot eine einfache,
aber wirkungsvolle Konstruktion eines Feindbildes, indem er ,die Juden‘ für die Mi-
sere der islamischen Welt verantwortlich machte. Er behauptete, ,die Juden‘ hätten
sich seit Mohammeds Ankunft in Medina gegen den Islam verschworen und würden
erst dann zufrieden sein, wenn der Islam zerstört sei. Durch diese Darstellung kon-
struierte Qutb die Idee einer ewigen Feindschaft zwischen Islam und Judentum, die
er als kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse darstellte. In dieser Erzählung ver-
körpern ,die Juden‘ das ultimative Böse und werden als Ursache allen erdenklichen
Übels dargestellt (Becker 2020, S. 80–81; Jikeli 2019, S. 65; Tibi 2017, S. 129).
Es ist leicht erkennbar, dass die von Qutb verbreiteten Narrative stark vom eu-
ropäischen Antisemitismus beeinflusst sind. Der sogenannte ,importierte Antise-
mitismus‘ ist somit eigentlich ein ,re-importierter Antisemitismus‘. Qutb hat die
europäischen Verschwörungsmythen über ,die Juden‘ nachträglich mit islamischen
Elementen, wie bestimmten Passagen aus dem Koran und den Hadithen, vermischt
und propagandistisch aufbereitet (Henning 2022, S. 304). Aus diesem Grund ist es
präziser, von einem islamisierten Antisemitismus zu sprechen (Kiefer 2006, S. 299).
Oder um es noch deutlicher auszudrücken: Die These eines in der islamischen Tradi-
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tion angelegten Judenhasses geht schlussendlich einer islamistischen Erfindung auf
den Leim.
Nach dem im Zuge des Sechstagekriegs (1967) ein weiter Anlauf scheitere, um Is-
rael von der Landkarte zu tilgen, verbreitete das saudische Königshaus die Schriften
von Qutb in der gesamten islamischen Welt (Bauer 2018, S. 26). „Unser Kampf mit
den Juden“ hat seitdem das Denken von Islamist*innen weit über die arabische Welt
hinaus geprägt (Jikeli 2015, S. 204–205). Wie man es dreht und wendet: Jüd*innen
und Juden gelten ihnen als Feinde und die Zerstörung Israels gehört zum bindenden
Kitt aller islamistischen Organisationen (Voigt 2023, S. 200). Al-Qaradawi ein
mittlerweile verstobener Theologe und Stichwortgeber der Muslimbruderschaft
vertrat die Ansicht, dass ein Dialog mit ,den Juden‘ nur mit Schwertern und Ge-
wehren geführt werden könnte (Tibi 2017, S. 122). In einem Interview mit dem
Fernsehsender Al-Jazeera bezeichnete er Adolf Hitler als einen Gesandten Allahs
(Küntzel 2020). Die Ideen Qutbs haben auch praktische Relevanz erlangt: In der
Charta der Hamas finden sich neben den selektiv ausgewählten anti-jüdischen
Passagen aus dem Koran und Hadithen sowie Verweisen auf die Protokolle der Wei-
sen von Zion zahlreiche Bezüge zu seinen antisemitischen Schriften (Kiefer 2006,
S. 300–301; Wyss 2020, S. 73–75).
Im Islamismus wird der Judenhass mit reaktionären gesellschaftlichen und poli-
tischen Vorstellungen verknüpft. Besonders in der Türkei ist es unter Islamist*innen
verbreitet, den Untergang des Osmanischen Reiches und die kemalistischen Re-
formen, wie die Abschaffung des Kalifats, als ,jüdischen Komplott‘ darzustellen
(Jikeli 2015, S. 191). Eine bedeutende Rolle spielt hierbei die Millî-Görü¸s-Bewe-
gung (Schmidinger 2020). Ihr verstorbener und bis heute verehrte geistiger Führer,
Necmettin Erbakan, machte keinen Hehl aus seiner antisemitischen Weltanschauung.
In einem Interview in der Zeitung Die Welt sprach Erbakan von einer „zionistischen
Weltherrschaft“ und bezeichnete „die Juden“ als „unsichtbare Lenker“, die die Welt
„über die kapitalistische Weltordnung“ kontrollierten (Kalnoky 2010).
Auch seinem politischen Ziehsohn, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Er-
do˘
gan, wird eine Nähe zu antisemitischen Verschwörungstheorien nachgesagt. So ist
gut dokumentiert, dass Erdo˘
gan stark von den Schriften des türkischen Dichters und
Autors Necip Fazıl Kısakürek beeinflusst ist (Singer 2013). Kısakürek identifizier-
te ,die Juden‘ und andere nicht-sunnitische religiöse Minderheiten als hinterlistige
Feinde der Türkei (Jikeli 2015, S. 192), und daher überrascht es nicht, dass Erdo˘
gan
selbst antisemitische Chiffren verwendet. So macht er beispielsweise eine ominöse
,Zinslobby‘ für den Verfall der türkischen Lira verantwortlich (Baer 2017). Unter
seiner Führung ist Israel zunehmend zur Zielscheibe aggressiver Rhetorik gewor-
den. Ali Erba¸s, der Leiter der türkischen Religionsbehörde (Diyanet), bezeichnete
Israel nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 als „rostigen Dolch im Her-
zen der muslimischen Welt“ und adelte die Hamas als „Widerstandsbewegung“ und
„Glaubenskrieger“ (zitiert nach Güvercin 2023).
Ein weiteres Extrembeispiel außerhalb der arabischen Welt ist der Iran. Seit der
sogenannten Islamischen Revolution von 1979 gehört die Bekämpfung Israels, bei-
spielsweise durch die finanzielle und logistische Unterstützung von Gruppen wie der
Hisbollah und der Hamas, zur festen Staatsräson des Landes (Jikeli 2015, S. 205).
In der Hauptstadt Teheran wurde eigens eine Uhr installiert, die den Count-Down
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
bis zur herbeigesehnten Vernichtungdes jüdischen Staates herunterzählt (Frankfurter
Rundschau 2024). Der Begriff des islamistischen Antisemitismus dient der Beschrei-
bung des Akteursgeflechts des radikalen Islamismus und lässt keinen Zweifel daran,
dass Antisemitismus zu den zentralen Ideologemen des fundamentalistischen Islam
gehört (Arnold und Kiefer 2024b, S. 41–42).
Antisemitismus hat sich allerdings auch in der islamischen Welt zu einem fle-
xiblen kulturellen Code entwickelt, der in verschiedenen Ideologien anschlussfähig
ist (Volkov 2000). Besondere Aufmerksamkeit verdient hierbei der pan-arabische
Nationalismus. Die vergangenen Angriffskriege gegen Israel gehen auf das Konto
ihrer Gallionsfiguren und ihr Hass auf Jüd*innen und Juden ist ebenfalls gut do-
kumentiert. Gamal Abdel Nasser empfahl seinen ägyptischen Anhänger*innen nicht
nur die Lektüre der Protokolle der Weisen von Zion, sondern leugnete auch den
Holocaust. Zudem gewährte er während seiner Amtszeit zahlreichen Nazi-Kriegs-
verbrechern Zuflucht in Ägypten (Jikeli 2015). Ähnliche Sympathien für den Na-
tionalsozialismus und antisemitische Hetzschriften gibt es auch aus den Reihen der
syrischen Baath-Partei (Arnold und Kiefer 2024b). Ein weiteres Beispiel ist der
mittlerweile gestürzte libysche Autokrat Muammar al-Gaddafi. Seit seiner Macht-
übernahme 1969 unterstützte er militärische Angriffe gegen Israel sowie terroristi-
sche Anschläge auf jüdische Einrichtungen weltweit. Holocaust-Leugner zeichnete
er mit seinem nach sich selbst benannten Menschenrechtspreis aus (Jikeli 2015,
S. 200–201). Der Begriff des arabischen Antisemitismus unterstreicht, dass die Ursa-
chen für die Genese des Antisemitismus unter Muslim*innen nicht ausschließlich in
religiösen Tradierungen bzw. im Islamismus zu suchen sind. Er kann auch regional-
spezifischen Ideologien wie dem arabischen Nationalismus entspringen, der seinen
Zugriff auf staatliche Propagandakanäle nutzt, um Hass gegen Jüd*innen und Juden
sowie Israel zu verbreiten (Arnold und Kiefer 2024b, S. 42).
4 Forschungsleitende Hypothesen
Im Mittelpunkt unseres Beitrags stehen mehrere Hypothesen, die wir im Folgenden
aus dem aktuellen Forschungsstand und dem vorangegangenen Kapitel ableiten wer-
den. Diese Hypothesen bieten unterschiedliche Erklärungsansätze für antisemitische
Einstellungen unter Muslim*innen, indem sie verschiedene Einflussfaktoren, wie
Herkunftskontexte und religiöse Haltungen bzw. Ideologien sowie psychologische
und soziale Dynamiken, berücksichtigen. Ziel des Beitrags ist es, diese Einflüsse
systematisch zu analysieren und auf ihre empirische Tragfähigkeit hin zu überprü-
fen.
Die Herkunftshypothese (H1): Diese Hypothese basiert auf der Beobachtung,
dass arabische Gesellschaften derzeit als Hochburgen eines antisemitischen Ge-
sellschaftsklimas bezeichnet werden können (z.B. Anti-Defamation League 2019,
Öztürk und Pickel 2022). Ein Hauptgrund dafür ist der ungelöste und zunehmend es-
kalierende Territorialkonflikt zwischen Israel und Palästina. Die geografische Nähe
zur Konfliktregion, verstärkt durch staatliche Propaganda gegen Israel, kann in eine
generelle Feindschaft gegenüber Jüd*innen und Juden umschlagen (Ranan 2018).
Studien und Umfragen zeigen, dass der Konformitätsdruck des Gesellschaftskli-
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mas nicht nur Muslim*innen betrifft, sondern auch säkulare Gruppen (Storz und
Friedrichs 2023) und Angehörige anderer Religionen (Arnold und Kiefer 2024b)
beeinflusst. Wenn (a) die arabische Herkunft tatsächlich wichtiger ist als die reli-
giöse Prägung (Schüler-Springorum 2020) und (b) der arabische Nationalismus der
zentrale Faktor für die Abgrenzung gegenüber Israel und Juden ist (Arnold 2023),
dann müsste sich empirisch zeigen lassen, dass antisemitische Ressentiments unter
Muslim*innen, die in arabischen Ländern geboren wurden, stärker ausgeprägt sind.
Die Hypothese eines muslimischen Antisemitismus (H2): Sie steht der zuvor dar-
gelegten Hypothese am stärksten entgegen und stützt sich auf die (nicht unumstritte-
ne) These, dass sich die Feindschaft gegen ,die Juden‘ aus der islamischen Tradition
speist (Ourghi 2024). Sollte sie zustimmen, wäre zu erwarten, dass Muslim*innen,
die sich stark mit ihrer religiösen Gemeinschaft identifizieren (Dantschke 2010)
und sich selbst als sehr religiös beschreiben (Storz und Friedrichs 2023), stärker zu
antisemitischen Ressentiments neigen.
Die Fundamentalismushypothese (H3): Auch diese Hypothese betont die Bedeu-
tung religiöser Faktoren. Sie verortet die Wurzeln antisemitischer Ressentiments je-
doch nicht in der islamischen Tradition, sondern im islamischen Fundamentalismus
(Arnold und Kiefer 2024b). Der Koran und die Hadithe enthalten ambivalente Aus-
sagen über das Judentum. Den feindseligen Haltungen gegenüber Jüd*innen und
Juden kann nur dann ein theologisch-legitimer Anstrich verliehen werden, wenn
die religiösen Quellen ohne historische Kontextualisierung und selektiv interpretiert
werden (Kiefer 2017). Diese Gefahr besteht insbesondere in fundamentalistischen
Milieus, da die wörtliche Auslegungen, der von ihnen als heilig erachteten Schriften
zu ihren zentralen Merkmalen gehören (Riesebrodt 2000).
Religiöser Fundamentalismus geht zudem mit einem absoluten Wahrheitsan-
spruch einher, der alle Positionen und Lebensweisen abwertet, die von der eigenen
Weltanschauung abweichen. Dieser Anspruch auf absoluten Wahrheit steht im ekla-
tanten Widerspruch zu modernen Werten und führt zwangsläufig zur Konstruktion
von Feindbildern (Pollack et al. 2023; Riesebrodt 2000). Der Hass richtet sich we-
nig überraschend gegen Gruppen, die als Bedrohung für die eigenen ideologischen
Prinzipien und Normen angesehen werden. Dazu gehören sexuelle Minderheiten,
Frauen, die sich gegen patriarchale Strukturen stellen, Apostat*innen und eben auch
Angehörige anderer Religionen (Kanol 2021; Kanol und Michalowski 2022;Ko-
opmans 2015ztürk2023a; Schneider et al. 2021). Dem Antisemitismus kommt
jedoch eine Sonderrolle zu. Er ist zwar Teil eines umfassenden ideologischen Welt-
bildes, das eine strikte Trennung zwischen ,Gläubigen‘ und ,Ungläubigen‘ propa-
giert. Allerdings wird ,den Juden‘ eine besonders feindselige Rolle zugeschrieben.
Islamisch-fundamentalistische Bewegungen nutzen dieses Feindbild nicht nur zur
ideologischen Abgrenzung, sondern auch zur Mobilisierung ihrer Anhänger*innen,
indem sie antisemitische Ressentiments schüren und den Kampf gegen Israel in den
Mittelpunkt ihres politischen Programms stellen (z.B. Cheema 2020; Pfahl-Traugh-
ber 2023). Hierzu passen die Befunde der Studien, die zeigen, dass fundamentalis-
tische Auslegungen der eigenen Religion eine zentrale Rolle für die Formation von
antisemitischen Einstellungen unter Muslim*innen einnehmen (Fischer und Wetzels
2023; Koopmans 2015; Öztürk und Pickel 2022).
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Die Akkulturations- und Bildungshypothese (H4): Sie gehört zu den Erklärungs-
ansätzen, die Vermutungen über den Abbau antisemitischen Einstellungen formuliert
und ihre Quelle jenseits von Herkunftskontexten und religiösen Faktoren verortet.
Im Kern geht sie davon aus, dass die Empfänglichkeit für antisemitische Einstel-
lungen mit längerer Aufenthaltsdauer und höherem Bildungsniveau abnimmt. Diese
Hypothese basiert auf der Annahme, dass der Zugang zu höherer Bildung und der
Akkulturationsprozess in einem Land wie Deutschland, das sich intensiv mit seiner
eigenen Geschichte auseinandersetzt, das Hinterfragen antijüdischer Wissensbestän-
de fördert (Pickel et al. 2019, S. 57, 62).
Die Diskriminierungshypothese (H5): Diese Hypothese basiert auf der Beob-
achtung, dass Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen, mit denen viele
Muslim*innen in ihrem Alltag konfrontiert sind, einen Nährboden für antisemitische
Ressentiments schaffen können (Mansel und Spaiser 2010; Öztürk und Pickel 2024;
Wetzel 2014). Eine mögliche Erklärung ist, dass diese Erfahrungen oder bereits die
Antizipation von Diskriminierung und rassistischer Gewalt zu einer ,Opferkonkur-
renz‘ führen können. Es wird also vermutet, dass Muslim*innen mit antisemitischen
Einstellungen reagieren könnten, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass die deutsche
Mehrheitsgesellschaft antisemitische Vorfälle ernster nimmt als die Feindseligkeiten
und rassistischen Vorurteile, denen sie selbst ausgesetzt sind (Öztürk et al. 2023;
Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, S. 78, 191–192).
Die Autoritarismushypothese (H6): Sie betont, dass der Hass auf ,die Juden‘
durch eine wahnhaft-projektive Weltsicht geprägt ist, was in anderen Hypothesen
möglicherweise nicht ausreichend berücksichtigt wird. Um es noch deutlicher zu
formulieren: Antisemitismus ist mehr als ein bloßes Vorurteil. Ressentiments gegen
Jüd*innen und Juden entstehen unabhängig von tatsächlichen Interaktionen mit Ju-
den und auch ihr Fortbestehen hängt nicht vom Verhalten real existierender Juden
ab (Klug 2003, S. 137). Es ist daher entscheidend, die psychosozialen Dynamiken
der autoritären Persönlichkeit zu untersuchen, die solche Ressentiments hervorbringt
(Adorno et al. 1950). Zu den hervorzuhebenden Signaturen der autoritären Persön-
lichkeit gehören der Sado-Masochismus (Pickel et al. 2022b) und eine projektive
Verschwörungsmentalität (Imhoff 2020). Sado-Masochismus umfasst eine Neigung
zur autoritären Unterwürfigkeit, ein starres Festhalten an den Normen der eigenen
Gruppe und autoritäre Aggression, die sich in Hass gegen Gruppen äußert, die von
diesen Normen abweichen (Adorno 1976, S. 50–52). Die projektive Verschwörungs-
mentalität bietet eine weitere Grundlage für pathologischen Hass gegen Jüd*innen
und Juden: Wenn Menschen an das Wirken böser Mächte im Verborgenen glauben,
ohne dass es dafür Beweise gibt, deutet dies darauf hin, dass sie selbst aggressive
Absichten hegen. Der Glaube an finstere Verschwörungen, die oft mit antisemiti-
schen Erzählfiguren verknüpft sind, dienen dann als legitimatorisches Feigenblatt,
um eigene gewalttätige Absichten zu rechtfertigen (Adorno 1976, S. 60).
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5 Forschungsdesign
5.1 Datengrundlage
Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Häufigkeit und die Ursachen von Antise-
mitismus unter Muslim*innen in Deutschland. Eine solche Fokussierung erfordert
jedoch eine sorgfältige Rechtfertigung. Wenn die Empfänglichkeit für antisemiti-
sche Ressentiments unter Muslim*innen nicht vom allgemeineren Gesellschafts-
klima oder den Ansichten anderer Religionsgemeinschaften abweichen, wäre diese
Schwerpunktsetzung bestenfalls unbegründet. Im schlechtesten Falle würde sie dazu
beitragen, das problematisierende und kulturalisierende Sprechen über eine margi-
nalisierte Minderheit zu verstärken (Biskamp 2023, S. 157).
Um die aktuelle Verbreitung antisemitischer Ressentiments zu beschreiben, ver-
wenden wir die Leipziger Autoritarismus-Studie aus dem Jahr 2022, die eine lang-
fristigere Beobachtung antidemokratischer Trends in Deutschland fortsetzt (Decker
et al. 2022a). Die Datenerhebung wurde vom Sozialforschungsinstitut USUMA (Un-
abhängiger Service für Umfragen, Methoden und Analysen) zwischen Anfang März
und Ende Mai 2022 durchgeführt. Dabei kam eine mehrstufig randomisierte Stich-
probe zum Einsatz, bei der die Haushalte nach dem Random-Route-Verfahren aus-
gewählt wurden. Die finale Stichprobe umfasst 2522 befragte Personen (Decker
et al. 2022b, S. 31–33). Ein besonderes Merkmal dieser Studie ist, dass die so-
ziodemografischen Daten in persönlichen Interviews erhoben werden, während die
Einstellungsfragen von den Befragten eigenständig beantwortet werden. Diese Pa-
per-and-Pencil-Methode minimiert den Effekt sozialer Erwünschtheit und führt zu
einer größeren Offenbarungsbereitschaft im Vergleich zu Face-to-Face- oder Tele-
foninterviews (Decker et al. 2018, S. 67–68). Dies ist ein bedeutender Vorteil, da
antisemitische Äußerungen in Deutschland stark tabuisiert sind (Bergmann und Erb
1986).
Um die Verbreitung antisemitischer Einstellungen im Vergleich verschiedener Re-
ligionsgemeinschaften zu untersuchen, verwenden wir die Leipziger Autoritarismus-
Studie aus dem Jahr 2020 (Decker und Brähler 2020). Dies hat einen praktischen
Grund: In dieser Umfrage wurden bisher die meisten Muslim*innen befragt. Etwa
5% der Stichprobe (n= 117) gehören einer islamischen Religionsgemeinschaft an,
was ihrem tatsächlichen Bevölkerungsanteil von 6,4% nahekommt. Dadurch ist ein
Vergleich mit konfessionslosen Personen und Angehörigen christlicher Konfessio-
nen möglich.
Bei der Überprüfung der Hypothesen steht die Vielfalt innerhalb der Gruppe der
Muslim*innen im Mittelpunkt. Das bedeutet, es wird untersucht, welche spezifi-
schen Faktoren innerhalb muslimischer Gemeinschaften in Deutschland zur Entste-
hung antisemitischer Einstellungen beitragen. Die Hypothesen werden anhand einer
separaten Stichprobe (n=607) überprüft. Diese Befragung wurde im Rahmen des
vom BMBF geförderten RIRA-Verbundprojekts in Auftrag gegeben, und die Da-
tenerhebung erfolgte wie bei der Leipziger Autoritarismus Studie und parallel dazu
durch das Sozialforschungsinstitut USUMA. Die Zielgruppe besteht aus einer klei-
nen, ungleich verteilten Bevölkerungsgruppe, die nicht proportional in ausgewählten
Gemeinden oder Regionen vertreten ist. Ein Quotenplan, der auf verfügbaren sta-
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
tistischen Daten über Muslim*innen in Deutschland basiert (Mikrozensus 2019 und
Studie Muslimisches Leben in Deutschland 2020), gewährleistete eine angemesse-
ne Verteilung der Befragten nach Regionen sowie Alters- und Geschlechtergruppen.
Dabei wurde auch die ungleichmäßige Verteilung von Muslim*innen in Deutschland
berücksichtigt. Über entlang dieser Informationen abgebildeter sample points und
teilweise eigens für die Studie angeworbenen Interviewer*innen (auch aus der mus-
limischen Community) wurden diese vor Ort abgedeckt. Die Datenerhebung fand
in einer Erhebungsphase und einer Nacherhebungsphasen in der zweiten Hälfte des
Jahres 2022 statt, wobei die Befragten in den sample points über das Random-Route-
Verfahren, später auch über muslimische Vereine, Kulturvereine, religiöse Einrich-
tungen und Organisationen sowie über Social-Media-Plattformen rekrutiert wurden.
Die Befragung wurde je nach Interesse mittels Selbstausfüllerfragebögen und On-
line-Befragungen durchgeführt.2Bei der Auswahl der schriftlichen Befragung durch
die Interviewten wurde eine Ausschöpfungsquote von 28,2%, bei der Auswahl der
online-Befragung (mit türkischem und arabischen Angebot) eine Ausschöpfungs-
quote von 47,9% erreicht. Es ergibt sich ein leichter Überhang von befragten Män-
nern (55 % gegenüber 52 % Mikrozensus) gegenüber Frauen. Alle regionalen Quoten
wurden erreicht.
5.2 Das Explanandum der Studie: Tradierter, sekundärer und israelbezogener
Antisemitismus
Wenn im weiteren Verlauf dieses Beitrags von Antisemitismus die Rede ist, be-
ziehen wir uns auf die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance
Alliance (2016). Wir nutzen also den Begriff für negative, feindselige und hasserfüll-
te Gefühle, Überzeugungen und Einstellungen, die sich gegen Jüd*innen und Juden
richten, weil sie Jüd*innen und Juden sind. Solche Überzeugungen und Einstellun-
gen können der Ausgangspunkt für gewaltsame Handlungen sein, was sich in An-
griffen auf Jüd*innen und Juden, deren Eigentum sowie religiöse Einrichtungen und
Gemeindeinstitutionen wie Synagogen und jüdische Friedhöfe materialisiert. Diese
antisemitischen Einstellungen und Handlungen richten sich auch gegen Israel, da
Antisemit*innen den Staat als Inbegriff jüdischer Selbstbestimmung ansehen und
ihn deshalb verunglimpfen und attackieren (International Holocaust Remembrance
Alliance 2016).
Bei der Messung antisemitischer Einstellungen ist es wichtig, eine Reihe von
Problematiken zu berücksichtigen. Neben den methodologischen Herausforderun-
gen, die alle Operationalisierung betreffen, ist vor allem das Problem der sozialen
Erwünschtheit hervorzuheben. Es kann, wie bereits angedeutet, nicht davon aus-
2Die Erhebungsform wurde gewählt, um nicht auf die bislang bestehenden, aber bereits mehrmals einge-
setzten onomastisch zusammengestellten Stichproben zurückgreifen zu müssen und eine möglichst nahe
an einer repräsentativen Abbildung liegende Erhebung der Zielgruppe zu erreichen. Zudem ist auf die
Schwierigkeiten hinzuweisen, die derzeit alle Befragungen unter Muslim*innen betreffen. So ist bereits
seit einiger Zeit eine große Zurückhaltung in der Antwortbereitschaft zu beobachten, was mit Ängsten
verbunden ist, wie z.B. das die Ergebnisse gegen einen selbst oder die Community verwendet werden
könnten, bzw. auch sprachlichen Unsicherheiten. Dies führte auch zu einer relativ langen Erhebungsdauer
von fast sechs Monaten.
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gegangen werden, dass Antisemit*innen ihre Ressentiments bereitwillig offenlegen
(Beyer 2024, S. 124; Schönbach 1961). Der Grund dafür ist denkbar einfach: Of-
fener Antisemitismus ist in Deutschland nach dem Zivilisationsbruch der Shoah
geächtet. Die hieraus resultierende „Kommunikationslatenz (Bergmann und Erb
1986) drängt Antisemit*innen dazu, auf eine öffentliche Kommunikation ihrer An-
sichten zu verzichten, während tradierte Stereotype über „die Juden“ im privaten
Bereich, am Stammtisch oder hinter vorgehaltener Hand fortexistieren. Der öster-
reichische Soziologe Marin (1979) verwendete den Begriff „Antisemitismus ohne
Antisemiten“, um die Koexistenz von offiziell geächteter Judenfeindschaft und in die
Latenz gedrängten Ressentiments zu beschreiben. Um verlässliche Aussagen über
die gesellschaftliche Verbreitung von Antisemitismus treffen zu können, gilt es zu
beachten, dass antisemitische Einstellungen oft zurückhaltend und meist über indi-
rekte Formen der „Umwegkommunikation“ zum Ausdruck kommen (Beyer 2024,
S. 124).
In unseren empirischen Analysen verwenden wir ein Messinstrument aus der
Leipziger Autoritarismus-Studie, da es die Problematik der Kommunikationslatenz
berücksichtigt und gängige Formen der Umwegkommunikation einbezieht. Darü-
ber hinaus handelt es sich um ein validiertes Messinstrument. Konfirmatorische
Faktorenanalysen legen nahe, dass tradierter, sekundärer und israelbezogener Anti-
semitismus als drei Dimensionen einer zusammenhängenden antisemitischen Welt-
anschauung betrachtet werden können (Kiess et al. 2020, S. 231, 234).
Unter den tradierten Antisemitismus werden Einstellungsmuster subsummiert,
die einen Hinweis darauf liefern, dass Jüd*innen und Juden in wahnhafter Manier
und exkludierender Absicht ein Übermaß an Macht, Gerissenheit, Zersetzungskraft
und internem Zusammenhalt angedichtet wird (Brumlik 2012, S. 66; Kiess et al.
2020, S. 219–220). Zur Erfassung entsprechender Haltungen greifen wir auf drei
Items zurück: „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“, „Die Juden
arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen“, was
sie wollen und „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an
sich und passen nicht so recht zu uns“ (1= lehne völlig ab, 5= stimme voll und ganz
zu). Für die Analysen haben wir einen additiven Index (Cronbachs Alpha = 0,885)
gebildet, der hohe Werte annimmt, wenn die Befragten den Aussagen affirmativ
gegenüberstehen.
Sekundärer Antisemitismus ist ein Charakteristikum der post-nationalsozialisti-
schen Gesellschaft (Schönbach 1961). Seine Zielrichtung ist die Abwehr und Ver-
drängung von Schuld sowie die fehlende Anerkennung der historischen Tatsache,
dass die Mehrheit der Deutschen und damit die eigenen Eltern, Großeltern oder
Urgroßeltern als gleichgültige Mitwisser*innen, Zeugen, Nutznießer*innen oder
direkte Mittäter*innen an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren
(Salzborn 2020). Diese Form des Antisemitismus manifestiert sich durch die Ent-
kontextualisierung des Leids der deutschen Bevölkerung, Täter-Opfer-Umkehrungen
sowie durch den Wunsch nach einem Schlussstrich unter die Geschichte und Ver-
brechen des NS-Regimes. Wir operationalisieren den sekundären Antisemitismus
mit zustimmende Positionen gegenüber den Aussagen „Es macht mich wütend, dass
Vertreibung der Deutschen und Bombardierung deutscher Städte immer als kleinere
Verbrechen angesehen werden“, „Die Reparationsforderungen an Deutschland nüt-
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
zen oft gar nicht den Opfern, sondern Holocaust-Industrie von findigen Anwälte“
und „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die
mehr als 70 Jahre vergangen sind“ (1 = lehne völlig ab, 5 = stimme voll und ganz zu).
Wieder wurden die Antworten in einen additiven Index (Cronbachs Alpha = 0,779)
überführt.
Israelbezogener Antisemitismus thematisiert die Feindschaft gegenüber dem Staat
Israel die nicht mit einer legitimen Kritik am Regierungshandeln der israelischen
Regierung zu verwechseln ist (Rensmann 2021). Als Indiz für die Empfänglich-
keit für diese Artikulationsform des Antisemitismus werten wir eine systematische
Delegitimierung und Dämonisierung sowie Doppelstandards gegen Israel (Sharans-
ky 2013). Für die Analysen greifen wir auf die folgenden drei Items zurück: „Is-
raels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im zweiten
Weltkrieg“, „Auch andere Nationen mögen ihre Schattenseiten haben, aber die Ver-
brechen Israels wiegen am schwersten“ und „Durch die israelische Politik werden
mir die Juden immer unsympathischer“ (1= lehne völlig ab, 5= stimme voll und
ganz zu). Auch diese wurden in einen additiven Index (Cronbachs Alpha= 0,872)
überführt.
Das es sich, wie zuvor erwähnt, um drei Dimensionen eines zusammenhängenden
antisemitischen Denkmusters handelt (Kiess et al. 2020), verwenden wir bei der
Überprüfung der Hypothesen eine Antisemitismus-Gesamtskala. Sie nimmt hohe
Werte an, wenn das Antwortverhalten der Befragten auf eine Internalisierung von
tradierten, sekundären und israelbezogenen Ressentiments hindeutet.
5.3 Operationalisierung der unabhängigen Variablen
Für die Überprüfung der Herkunftshypothese (H1) nutzen wir eine Frage nach dem
Geburtsland der Befragten. Dabei differenzieren wir zwischen Muslim*innen, die in
arabischen Ländern, der Türkei oder anderen Ländern jenseits Deutschlands geboren
wurden. Als Referenzkategorie fungieren Muslim*innen, die in Deutschland geboren
wurden.
Den Plausibilitätsgehalt der Annahme eines spezifisch muslimischen Antisemi-
tismus (H2) überprüfen wir Grundlage von zwei Items. Sie geben Auskunft darüber,
ob sich die Befragten grundsätzlich mit den Muslim*innen identifizieren (1= trifft
überhaupt nicht zu, 6= trifft voll und ganz zu) und ob sie sich selbst als sehr religiös
beschreiben würden (0 = gar nicht religiös, 10 = sehr religiös).
Für die Überprüfung der Fundamentalismushypothese (H3) greifen wir auf kon-
zeptuelle Vorarbeiten von Pollack et al. (2023,im Erscheinen) zurück und nutzen
vier Items: „Es gibt nur eine wahre Religion“, „Nur der Islam ist in der Lage, die
Probleme unserer Zeit zu lösen“, „Die Regeln meiner Religion (des Korans) sind
mir wichtiger als die deutschen Gesetze“ und „Muslime sollten die Rückkehr zu
einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammed anstreben“
(1= stimme gar nicht zu, 4= stimme stark zu). Für die Analysen haben wir einen
additiven Index (Cronbachs α= 0,856) erstellt, der hohe Werte annimmt, wenn das
Antwortverhalten der Befragten auf eine fundamentalistische Auslegung des Islam
hindeutet.
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C. Öztürk, G. Pickel
Die Akkulturations- und Bildungshypothese (H4) besagt, dass die Neigung zu an-
tisemitischen Ressentiments bei Muslim*innen, die höhere Bildungsabschlüsse ha-
ben und bereits länger in Deutschland leben, geringer ist. In der empirischen Analyse
unterscheiden wir daher zwischen Befragten mit Abitur oder Universitätsabschluss
und solchen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen. Zudem berücksichtigen wir, seit
wann die Befragten in Deutschland leben. Dabei zeigt sich eine große Spannbrei-
te: Die Stichprobe umfasst Personen, die im Jahr der Befragung nach Deutschland
eingewandert sind, ebenso wie solche, die bereits seit 66 Jahren in Deutschland
leben.
Zur Überprüfung der Diskriminierungshypothese (H5) erfassen wir die Sorgen
der Befragten sowie ihre Erwartungen in Bezug auf mögliche Diskriminierungs-
erfahrungen. Die Zustimmung zu den Aussagen „Ich mache mir Sorgen, Opfer
rassistischer Gewalt zu werden“ und „Ich mache mir Sorgen, aufgrund meiner Reli-
gionszugehörigkeit diskriminiert zu werden“ (1 = trifft überhaupt nicht zu, 6= trifft
voll und ganz zu) wurde zu einem additiven Index zusammengeführt (Cronbachs α=
0,893).
Im Zentrum der Autoritarismushypothese (H6) stehen die sadomasochistischen
und projektiven Elemente des autoritären Syndroms. Die zentralen Merkmale des
Sado-Masochismus umfassen die autoritäre Unterwürfigkeit, autoritäre Aggression
und den Konventionalismus, die jeweils durch drei Items abgebildet werden. Die
autoritäre Unterwürfigkeit (Cronbachs α= 0,805) wird anhand der folgenden Items
gemessen: „Wir brauchen starke Führungspersonen, damit wir in der Gesellschaft si-
cher leben können“, „Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft
Führungspersonen überlassen“ und „Wir sollten dankbar sein für führende Köpfe,
die uns genau sagen, was wir tun können.“ Die autoritäre Aggression (Cronbachs α=
0,809) wird durch Zustimmung zu den Aussagen „Gegen Außenseiter und Nichts-
tuer sollte in der Gesellschaft mit aller Härte vorgegangen werden“, „Unruhestifter
sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht
sind“ und „Gesellschaftliche Regeln sollten ohne Mitleid durchgesetzt werden“ er-
fasst. Der Konventionalismus (Cronbachs α= 0,818) wird durch die Zustimmung
zu den Aussagen „Traditionen sollten unbedingt gepflegt und aufrechterhalten wer-
den“, „Bewährte Verhaltensweisen sollten nicht in Frage gestellt werden“ und „Es
ist immer das Beste, Dinge in der üblichen Art und Weise zu machen“ (1 = stimme
ganz und gar nicht zu, 5 = stimme voll und ganz zu) gemessen. Diese Items wur-
den zunächst zu drei additiven Indizes zusammengeführt und anschließend zu einer
Sado-Masochismus-Gesamtskala verdichtet.
Zur Erfassung der projektiven Komponente des autoritären Syndroms stehen drei
Items zur Verfügung: „Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß
unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird“, „Es gibt geheime Organisa-
tionen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“ und „Politiker
und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden
Mächte“ (1 = stimme überhaupt nicht zu, 7 = stimme voll und ganz zu). Auch diese
Items wurden in einem additiven Index zusammengefasst (Cronbachs α= 0,892), der
Aufschluss über die individuelle Empfänglichkeit für eine Verschwörungsmentalität
gibt (Imhoff und Decker 2013).
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Da die verwendeten Items unterschiedliche Skalierungen aufweisen, haben wir
alle Skalen auf einen Wertebereich zwischen 0 und 1 normalisiert. Ein Wert von
0 zeigt die vollständige Abwesenheit eines Merkmals an, während ein Wert von
1 die vollständige Präsenz eines Merkmals repräsentiert. Zwischenwerte werden als
Dezimalzahlen dargestellt, unabhängig davon, ob es sich um 4er-, 5er-, 6er- oder
7er-Skalen handelt. Diese Transformation der Items und Skalen bietet neben der
Normalisierung einen weiteren Vorteil: Werte, die den Skalenmittelpunkt (also 0,5)
überschreiten, können als Zustimmung interpretiert werden (Welzel 2013, S. 63–64).
In den empirischen Analysen kontrollieren wir zudem einige soziodemografische
Merkmale der Befragten. Dazu gehören das Bundesland, in dem die Befragten leben,
ihr Geschlecht und ihr Alter.
5.4 Methodisches Vorgehen und analytische Strategie
Wir überprüfen die zentralen Hypothesen der Forschung durch eine Reihe von OLS-
Regressionen. Dabei folgen wir der in den Sozialwissenschaften üblichen Praxis und
behandeln die Likert-Skalen zur Erfassung der Empfänglichkeit für antisemitische
Ressentiments als quasi-metrische Variablen (Urban und Mayerl 2008, S. 274).
Die Hypothesenprüfung erfolgt schrittweise: Das erste Regressionsmodell be-
rücksichtigt die Herkunftskontexte der Befragten (H1). Im zweiten Modell werden
die Stärke der Identifikation mit der Gruppe der Muslim*innen sowie die Selbstbe-
schreibung als religiöse Person einbezogen (H2). Das dritte Modell erweitert diese
Variablen um die Neigung zu einer fundamentalistischen Auslegung des Islam. Sollte
die Fundamentalismushypothese (H3) zutreffen, wird deutlich, dass nicht die Reli-
giosität an sich, sondern der religiöse Fundamentalismus mit einer höheren Emp-
fänglichkeit für Antisemitismus verbunden ist. Das vierte Modell integriert einen
Interaktionseffekt zwischen den Herkunftskontexten und dem religiösen Fundamen-
talismus. Fällt dieser Effekt nicht signifikant aus, stützt dies unser Argument, dass
nicht die Herkunft der Befragten, sondern ihre Einstellungen entscheidend sind. Dies
würde darauf hinweisen, dass Antisemitismus ein herkunftsübergreifendes Feindbild
unter religiös-fundamentalistischen Muslim*innen darstellt. Im fünften Regressions-
modell wird der Erklärungsgehalt der Fundamentalismushypothese unter Einbezie-
hung der (H4) Bildungs- und Akkulturations-, (H5) Diskriminierungs- und (H6)
Autoritarismushypothese untersucht.
6 Empirische Resultate
6.1 Die gegenwärtige Prävalenz des Antisemitismus in Deutschland wirklich
nur ein Randphänomen?
Wie verbreitet ist Antisemitismus in Deutschland heute wirklich? Ist es wie von der
Alternative für Deutschland (AfD) behauptet ein Phänomen, das in der deutschen
Gesellschaft kaum noch existiert? Abb. 1zeigt die prozentualen Anteile der Be-
völkerung, die den Aussagen zur Erfassung antisemitischer Ressentiments manifest
oder latent zustimmen.
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C. Öztürk, G. Pickel
28,9
29,8
34,9
20,3
27
26,8
17,3
17
21,6
10
12,8
19,2
61,3
41,1
31,1
6,8
6,4
7,2
0255075100
Auch andere Nationen mögen ihre Schattenseiten
haben, aber die Verbrechen Israels wiegen am
schwersten
Durch die israelische Politik werden mir die Juden
immer unsympathischer
Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die
Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg
Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen
widmen als Ereignissen, die über 70 Jahre vergangen
sind
Reperationsforderungen gegen Deutschland nützen oft
gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-
Industrie von ndigen Anwälten
Es macht mich wütend, dass die Vertreibung der
Deutschen und die Bombardierung deutscher Städte
immer als kleinere Verbrechen angesehen werden
Die Juden haben einfach etwas Besonderes und
Eigentümliches und passen nicht so recht zu uns
Die Juden arbeiten mehr als andere mit üblen Tricks
Auch heute noch ist der Einuss der Juden zu groß
latent manifest
Abb. 1 Die Prävalenz antisemitischer Einstellungen in Deutschland. Quelle: Leipziger Autoritarismus-
Studie (Decker et al. 2022a). Anmerkung: Den Items liegt eine fünfstufige Likert-Skala zugrunde. Der
Abbildung kann der Anteil der Befragten entnommen werden, die den Aussagen latent („stimme teil zu,
stimme teils nicht zu“) oder manifest zu stimmen („stimme überwiegend zu“ und „stimme voll und ganz
zu“) ausgegeben. Eigene Darstellung
Die Einschätzung, dass Antisemitismus ein Randphänomen darstellt, kann nur
dann aufrechterhalten werden, wenn der Blick auf den tradierten Antisemitismus und
die manifeste Zustimmung kapriziert wird. Tatsächlich sind es dann weniger als 10 %
der Bevölkerung, die offen kommunizieren, dass sie beispielsweise den Einfluss ,der
Juden‘ für zu groß halten. Dieses Bild kollabiert jedoch sogleich, wenn die latente
Zustimmung mit eingepreist wird. Die Leipziger Autoritarismus-Studie bewertet
die Antwort „stimme teils zu, stimme teils nicht zu“ als latente Zustimmung. Diese
Kategorie ermöglicht es den Befragten, sich nicht klar zu positionieren, aber dennoch
partiell antisemitische Aussagen zu unterstützen (Decker et al. 2022b, S. 39). Addiert
man die latente und manifeste Zustimmung, dann zeigt sich, dass ca. ein Viertel der
Bevölkerung für Aussagen empfänglich ist, die unter den tradierten Antisemitismus
subsummiert werden können. Genau genommen variiert der Anteil der Bevölkerung,
der entsprechenden Aussagen affirmativ gegenübersteht, zwischen 24,1 und 28,8%.
Noch ausgeprägter ist der Rückhalt für den israel-bezogenen Antisemitismus.
Der Anteil der Bevölkerung, der der diesen Items zustimmt, liegt zwischen 38,9 und
54,1%. Vor allem die hohe Zustimmung zu der Aussage „Israels Politik in Palästina
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ ist alarmierend.
Sie läuft auf eine Demütigung von Jüd*innen und Juden hinaus, indem sie sie mit
den Tätern der Shoah gleichsetzt. Durch die Analogie und Gleichsetzung mit dem
NS-Regime wird Israel in manichäischer Manier zum Zentrum des Bösen gemacht,
was unweigerlich auf seine Delegitimierung und Dämonisierung hinausläuft. Zudem
verharmlost die mitschwingende Ignoranz gegenüber der Präzendenzlosigkeit der
Verbrechen im Zweiten Weltkrieg das NS-Regime (Rensmann 2021).
Die Empfänglichkeit für schuldabwehrende Formen des Antisemitismus ist in
Deutschland noch weiter verbreitet: Zwischen 57,9 und 81,6 % der Bevölkerung
stimmen diesen Aussagen zu. Um an dieser Stelle keinen falschen Eindruck zu ver-
mitteln: Das Label des sekundären Antisemitismus bedeutet nicht, dass die darunter
subsummierten Positionen harmlos oder zweitranging wären. Sie stehen für nichts
weniger als das „Nachleben des faschistischen Antisemitismus“ (Adorno 2024)in
der post-nationalsozialistischen Konstellation. So sei darauf verwiesen, dass das
Item „Die Reparationsforderungen an Deutschland nützen oft gar nicht den Opfern,
sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten“ auf eine Debatte um Ent-
schädigungszahlungen für NS-Zwangsarbeitern anspielt. Der ehemalige innenpoli-
tische Sprecher der CSU-Bundestagsfraktion, Herrmann Fellner, sprach sich damals
vehement gegen solche Entschädigungszahlungen aus. Er argumentierte, dass eine
moralische Notwendigkeit dafür nicht bestehe und das eigentliche Problem sei, dass
„die Juden sich schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in den deutschen Kas-
sen Geld klimpert“ (zitiert nach Voigt, S. 182) womit er bewusst das Topoi der
„raffgierigen Juden“ bespielte.
Zusammengefasst entlarven diese hohen Zustimmungswerte das Selbstbild einer
Gesellschaft, die Antisemitismus überwunden hat, als Mythos (Öztürk und Pickel
2022). Die Annahme, dass es ohne die Einwanderung von Muslim*innen kaum
Antisemitismus in Deutschland gäbe, ist empirisch nicht haltbar. Dies ist ein weiterer
Grund, warum der Begriff „importierter Antisemitismus“ in der wissenschaftlichen
Debatte keine Resonanz gefunden hat (Arnold 2023).
6.2 Exkurs über das Antisemitismus-Blame-Game: Was steckt hinter der
einseitigen Verortung des Antisemitismus in den Reihen der Muslime?
Die Debatte über den sogenannten „importierten Antisemitismus“ läuft auf zwei
Kernaussagen hinaus: Erstens habe Deutschland den Antisemitismus weitgehend
hinter sich gelassen, und zweitens würden antisemitische Einstellungen durch die
Zuwanderung von Muslim*innen in der deutschen Gesellschaft wieder Fuß fassen
(Arnold und Kiefer 2024b, S. 39). Ironischerweise sind es gerade die Vertreter der
Alternativen für Deutschland (AfD), die solche Behauptungen bei jeder Gelegenheit
verbreiten (Öztürk und Pickel 2022; Pfahl-Traughber 2019; Rohde 2019). Ob die
Anhänger*innen der AfD dieser Sichtweise folgen, ist wiederum eine andere Frage,
die in diesem Exkurs untersucht werden soll.
Auch diese Frage kann anhand der Daten der Leipziger Autoritarismus-Studie
(Decker et al. 2022a) untersucht werden. In der Umfrage wurde die Mehrheitsbe-
völkerung gefragt, welche Gruppen ihrer Meinung nach die größte Bedrohung für
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C. Öztürk, G. Pickel
66,9 3,6 5,1
10,6
4,5 4,7
31,5 31,3 27,2 29,2
39,8 35,9
31,3
49,1 49,4
54,5
45,1 48,8
54,8
66,9
67,5
87
80,4
68,1
61
71
40,1
0
25
50
75
100
Deutschland Die Grünen Die Linke SPD FDP CDU/CSU AfD
Juden werden von Christen bedroht Juden werden von Linken bedroht
Juden werden von Muslimen bedroht Juden werden von Rechten be droht
Abb. 2 Subjektive Einschätzungen über gesellschaftliche Gruppen, die eine Bedrohung von Juden dar-
stellen. Quelle: Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker et al. 2022a). Anmerkung: Den Items liegt eine
vierstufige Likert-Skala zugrunde. In der Abbildung wir der Anteil der Befragten dargestellt, die glau-
ben, dass Juden von den genannten Gruppen „stark bedroht“ oder „sehr stark bedroht werden“. Eigene
Darstellung
Jüd*innen und Juden darstellen. Den Befragten standen dabei vier soziale Gruppen
zur Auswahl: Christ*innen, Muslim*innen sowie linke und rechte Gruppierungen.
Abb. 2zeigt den prozentualen Anteil der Gesamtbevölkerung sowie der Wäh-
ler*innen der im Bundestag vertretenen Parteien, die der Meinung sind, dass
Jüd*innen und Juden von den genannten Gruppen ,stark bedroht oder sehr stark
bedroht werden. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die deutsche Bevölkerung den
verschiedenen sozialen Gruppen ein unterschiedliches Bedrohungspotenzial in Be-
zug auf die Gefährdung von Jüd*innen und Juden zuschreibt. So betrachtet nur
eine kleine Minderheit (6%) Christ*innen als Bedrohung für Jüd*innen und Juden.
Gruppen des linken politischen Spektrums werden problematischer eingestuft: Etwa
ein Drittel der Bevölkerung (31,5%) sieht in ihnen eine Bedrohung für Jüd*innen
und Juden in Deutschland. Besonders auffällig ist jedoch, dass zwei andere Gruppen
als besonders gefährlich wahrgenommen werden: Ungefähr die Hälfte der Bevöl-
kerung (49,1%) sieht Muslim*innen als Bedrohung für Jüd*innen und Juden an,
während eine absolute Mehrheit (67,5%) überzeugt ist, dass rechte Gruppierungen
die größte Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland darstellen.
Die subjektive Wahrnehmung dieser Bedrohungslage entspricht den Erhebungen
zu antisemitisch motivierten Straftaten, die kürzlich vom Bundesministerium des In-
nern und für Heimat sowie vom Bundeskriminalamt (2024) veröffentlicht wurden.
Von den 5164 im Jahr 2023 registrierten antisemitischen Straftaten wurden 58,7 %
von rechten Gruppierungen verübt. Dies liegt deutlich über der Zahl der Hasskri-
minalität, die Gruppen mit einer ausländischen oder religiösen (33,2 %) sowie einer
linken Ideologie (0,7%) zugeschrieben wird.
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Die in Deutschland weit verbreitete Auffassung, dass „die Muslime“ eine Bedro-
hung für Jüd*innen und Juden darstellen, deutet darauf hin, dass die Diskussionen
über den sogenannten „importierten Antisemitismus“ nicht ohne Einfluss auf die öf-
fentliche Meinung geblieben sind. Diese Wahrnehmung wird sicherlich auch durch
Berichte über antisemitische Parolen bei israelfeindlichen Demonstrationen, Gewalt
und islamistischen Terror gegen Juden sowohl in Europa als auch in Israel
verstärkt. Selbst wenn diese Einschätzungen teilweise auf realen Ereignissen basie-
ren, lassen sie dennoch auf die Existenz von Vorurteilen schließen. Schließlich wird
,den Muslimen‘ pauschal eine Gewaltneigung sowie ein Hang zum Antisemitismus
unterstellt (Cinnirella 2012ztürk2023b; Pollack et al. 2014).
Angesichts der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland sollte
deutlich sein, dass Antisemitismus nicht ausschließlich als Problem ,der Muslime‘
betrachtet werden kann (Öztürk und Pickel 2022). Da insbesondere sekundäre und
damit schuldabwehrende Formen des Antisemitismus in der Gesellschaft weit ver-
breitet sind, liegt die Vermutung nahe, dass die Externalisierung des Antisemitismus
auf andere Gruppen zur eigenen Entlastung dient (Arnold und Kiefer 2024a, S. 39).
Ein Hinweis auf ein solches ,Blame-Game‘ ist die auffallende Abweichung der AfD-
Wähler*innen vom gesellschaftlichen Mainstream in ihrer Wahrnehmung des An-
tisemitismus: Nur eine Minderheit von ihnen (40,1%) sieht rechte Gruppierungen
als Bedrohung für Jüd*innen und Juden an, während eine Mehrheit der AfD-Wäh-
ler*innen (66,9 %) die Hauptquelle des Antisemitismus einseitig in den Reihen von
Muslim*innen verortet.
Dieses Antwortverhalten spiegelt, wie bereits erwähnt, die Selbstdarstellung der
AfD wider. In den vergangenen Jahren hat sich die Partei wiederholt als Garant für
ein sicheres jüdisches Leben in Deutschland präsentiert und vor einem sogenannten
„importierten Antisemitismus“ gewarnt, der hauptsächlich von Muslim*innen aus-
gehe. Dieser demonstrativ zur Schau gestellte Anti-Antisemitismus, der sich gegen
Muslim*innen richtet, steht jedoch auf tönernen Füßen.
Unabhängig davon, ob es sich um tradierten, sekundären oder israelbezogenen
Antisemitismus handelt, findet sich der größte Zuspruch r diese Ausdrucksformen
des Antisemitismus stets unter den Wähler*innen der AfD (siehe Abb. 3). Die Un-
terschiede in den Mittelwerten im Vergleich zu den Wähler*innen anderer Parteien
sind dabei durchweg statistisch signifikant (Schuler et al. 2018, S. 18).
Diese Einstellungen der AfD-Wählerschaft stimmen mit den zahlreichen, gut do-
kumentierten antisemitischen Äußerungen führender AfD-Politiker überein (Pfahl-
Traughber 2017). Wenn Björn Höcke das Berliner Denkmal für die ermordeten Ju-
den Europas als „Mahnmal der Schande“ bezeichnet (Kamann 2017) und Alexander
Gauland dazu aufruft, mehr Stolz auf die „Leistungen deutscher Soldaten in zwei
Weltkriegen“ zu empfinden (Frankfurter Rundschau 2017), ist es offensichtlich, dass
hier eine implizite Schuldabwehr und eine Verharmlosung des Nationalsozialismus
zum Ausdruck kommen (Rensmann 2020, S. 332, 334).
Es stellt sich die Frage, warum gerade die AfD sich als Garantin für ein siche-
res jüdisches Leben darstellt und Antisemitismus nur dann wahrzunehmen scheint,
wenn er von Muslim*innen oder Geflüchteten ausgeht. Offenbar verfolgt die AfD
damit zwei Ziele: Erstens kann sie durch den Verweis auf den Antisemitismus der
Muslim*innen ihre antimuslimischen Positionen legitimieren. Zweitens nutzt die
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C. Öztürk, G. Pickel
Partei ihr scheinbar anti-antisemitisches Auftreten, um sich vom Vorwurf einer Nä-
he zum Rechtsextremismus zu distanzieren und sich eine bürgerliche Fassade zu
geben (Pfahl-Traughber 2019, S. 19; Rohde 2019, S. 65). Vor diesem Hintergrund
liegt die Vermutung nahe, dass die betonte Hervorhebung des „Antisemitismus der
Abb. 3 Die Prävalenz antise-
mitischer Einstellungen unter
den Wählern der im Bundes-
tag vertretenen Parteien. Quel-
le: Leipziger Autoritarismus-
Studie (Decker et al. 2022a).
Anmerkung: Auf Grundlage
einer Faktorenanalyse wurden
die einzelnen Items zu drei
Skalen zusammengefasst, die
Auskunft über die Verbreitung
des tradierten, sekundären und
israelbezogenen Antisemitis-
mus geben. Dabei wurden die
Skalen auf einen Wertebereich
zwischen 0 und 1 transformiert.
Die Violin-Plots beinhalten alle
Informationen eines Boxplots,
aber ergänzen diesen um ein
Dichtediagramm der jeweiligen
Verteilung. Eigene Darstellung
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Abb. 4 Der Einfluss antisemitischer Einstellungsmuster auf die Wahrnehmung, dass die Bedrohung für
Juden von Muslimen und nicht von rechten Gruppierungen ausgeht. Quelle: Leipziger Autoritarismus-
Studie (Decker et al. 2022a). Anmerkung: Die Skala auf der Y-Achse nimmt hohe Werte an, wenn die
Befragten die Bedrohung von Juden in den Reihen der Muslime verorten und keine Gefährdung von
rechten Gruppen erkennen. Auf der X-Achse wird eine Antisemitismus-Gesamtskala dargestellt, die ei-
ne Empfänglichkeit für den tradierten, sekundären und israel-bezogenen Antisemitismus zusammenfasst.
Der Effekt der Empfänglichkeit für antisemitische Ressentiments auf die Einschätzung, dass Juden von
Muslimen und nicht von rechten Gruppierungen bedroht werden, wird dabei getrennt für Wähler der AfD
und Wähler anderer Parteien dargestellt. Die Abbildung wurde mit dem STATA-Befehl scatterfit (Ahrens
2024) erstellt. Eigene Darstellung
Anderen“ dazu dient, vom Antisemitismus in den eigenen Reihen abzulenken (Öz-
türk und Pickel 2022).
Abb. 4unterstützt diese Annahme und zeigt, dass die eigene Anfälligkeit für
Antisemitismus eine wichtige Rolle bei der Einschätzung spielt, dass Jüd*innen
und Juden eher durch Muslim*innen als durch rechte Gruppierungen bedroht wer-
den. Dieser Zusammenhang ist auch unter den Wähler*innen anderer Parteien zu
beobachten (β= 0,17, p< 0,001), jedoch fällt er unter den Wähler*innen der AfD
deutlich stärker aus (β= 0,33, p< 0,001). Der Grund für diesen signifikanten Mode-
rationseffekt ist simpel: Innerhalb der AfD besteht nachweislich die größte Neigung,
den eigenen Antisemitismus zu externalisieren (Schuler et al. 2018) und die eige-
nen muslimfeindlichen Positionen zu rationalisieren (Öztürk et al. 2023; Pickel und
Öztürk 2022; Pickel und Yendell 2018).
Das von der AfD propagierte Bild einer von Antisemitismus geläuterten deut-
schen Gesellschaft, die allenfalls ein berechtigtes Misstrauen gegenüber ,antisemi-
tischen Muslimen‘ hegt, erweist sich auch in anderer Hinsicht als unglaubwürdig.
Wie Abb. 5zeigt, gibt es in der deutschen Gesellschaft eine starke Verknüpfung
zwischen muslimfeindlichen Einstellungen und antisemitischen Ressentiments (β=
0,41, p< 0,001). Genau diese Verknüpfung zwischen Muslimfeindlichkeit und An-
tisemitismus scheint die AfD bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien wie
dem ,großen Austausch‘ zu setzen. In dieser Erzählung sind es jüdisch konnotierte
,Verschwörer‘ wie George Soros, die in Zusammenarbeit mit nationalen und europä-
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Abb. 5 Der Zusammenhang zwischen muslimfeindlichen Einstellungsmustern und der Empfänglichkeit
für den Antisemitismus. Quelle: Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker et al. 2022a). Anmerkung:Auf
der Y-Achse wird die Antisemitismus-Gesamtskala abgebildet. Auf der X-Achse werden muslimfeindliche
Positionen abgebildet. Die Skala nimmt hohe Werte an, wenn die Befragten den Aussagen „Die hier leben-
den Muslime gehören [nicht] zu Deutschland“, „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal
wie ein Fremder im eigenen Land“ und „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt
werden“ zustimmen. Die Abbildung wurde mit dem STATA-Befehl scatterfit (Ahrens 2024) erstellt. Eige-
ne Darstellung
ischen Eliten aus Feindschaft gegen ,das deutsche Volk‘ die Flüchtlingsströme von
2015 orchestriert haben sollen, um die sogenannte ,Islamisierung des Abendlandes‘
voranzutreiben (Rensmann 2020, S. 334; Öztürk und Pickel 2019, S. 55–56).
6.3 Alles nur eine Externalisierungsstragie? Die Verbreitung antisemitischer
Ressentiments im konfessionellen Vergleich
Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die hohe Verbreitung antisemiti-
scher Ressentiments in der deutschen Gesellschaft und die Tendenz, Antisemitismus
als ein Problem von Muslim*innen zu externalisieren müssen in den Debatten
über Antisemitismus unter Muslim*innen stets berücksichtigt werden. Es ist kaum
zu leugnen, dass der Diskurs über den ,importierten Antisemitismus‘ oft zur Stig-
matisierung von Muslim*innen verwendet wird (Becker 2020, S. 76). Gleichzeitig
können aber auch linke und linksliberale Milieus zu verzerrten Kommunikationsbe-
dingungen beitragen. Dies geschieht, wenn Diskussionen über Antisemitismus unter
Muslim*innen von vornherein als rechte Fantasie abgetan werden oder wenn Bedro-
hung und Hasskriminalität gegen Jüd*innen und Juden ausschließlich dem rechten
Spektrum zugeschrieben werden (Öztürk und Pickel 2023, S. 372).
Angesichts der vom Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie dem
Bundeskriminalamt (2024) vorgelegten Daten zu antisemitischen Straftaten zeigt
sich, dass diese Einschätzung nicht der Realität entspricht.
Dass der Antisemitismus unter Muslim*innen keinesfalls verharmlost werden
darf, verdeutlicht auch Abb. 6, die die religiöse Zugehörigkeit der Befragten mit ihrer
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Abb. 6 Prävalenz antisemiti-
scher Ressentiments im kon-
fessionellen Vergleich. Quelle:
Leipziger Autoritarismus-Stu-
die (Decker und Brähler 2020).
Anmerkung: Auf Grundlage
einer Faktorenanalyse wurden
die einzelnen Items zu drei
Skalen zusammengefasst, die
Auskunft über die Verbreitung
des tradierten, sekundären und
israelbezogenen Antisemitis-
mus geben. Dabei wurden die
Skalen auf einen Wertebereich
zwischen 0 und 1 transformiert.
Die Violin-Plots beinhalten alle
Informationen eines Boxplots,
aber ergänzen diesen um ein
Dichtediagramm der jeweiligen
Verteilung. Eigene Darstellung
Unterstützung verschiedener Formen von Antisemitismus vergleicht. Eine genauere
Analyse von tradiertem, sekundärem und israelbezogenem Antisemitismus zeigt al-
lerdings auch, dass Muslim*innen keineswegs pauschal eine höhere Anfälligkeit für
antisemitische Einstellungen zugeschrieben werden kann. Im Gegenteil: Die Ver-
breitung des sekundären Antisemitismus ist bei Konfessionslosen und Mitgliedern
christlicher Kirchen sogar etwas stärker ausgeprägt als unter Muslim*innen. Gleich-
wohl ist es beachtlich, dass es selbst bei dieser spezifischen Form des Antisemitismus
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C. Öztürk, G. Pickel
die ein Charakteristikum der post-nationalsozialistischen Gesellschaft ist keine
signifikanten Unterschiede in den Mittelwerten zwischen Muslim*innen, Konfessi-
onslosen und Christ*innen gibt. Muslim*innen sind in dieser Hinsicht wenn man
es überspitzt ausdrücken möchte wesentlich besser in die Gesellschaft integriert,
als es die Diskussion um den ,importierten Antisemitismus‘ suggeriert.
Wie lässt sich jedoch erklären, dass zwei von drei befragten Muslim*innen
(67,3%) eine latente oder sogar manifeste Neigung zu sekundärem Antisemitismus
an den Tag legen? Im engeren Sinne kann hier kaum von Schuldabwehr gesprochen
werden, da es im Gegensatz zur nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft abge-
sehen von einigen wenigen Ausnahmefällen und wenn binationale Ehen ausgeklam-
mert werden keine familiären Verbindungen zum Nationalsozialismus gibt. Dieser
Befund könnte darauf hindeuten, dass Muslim*innen, die teilweise bereits in der
dritten oder vierten Generation in Deutschland leben und hier sozialisiert wurden,
sich an ein gesellschaftliches Klima anpassen, in dem sekundärer Antisemitismus
salonfähig ist.
Ebenso plausibel ist die Annahme, dass die in den Herkunftsgesellschaften erlern-
ten antisemitischen Stereotype nahtlos mit dem sekundären Antisemitismus verbun-
den werden können. So findet beispielsweise die Aussage „Menschen hassen Juden,
weil sie sich wie Juden verhalten“ in der MENA-Region im weltweiten Vergleich
den höchsten Zuspruch (Anti-Defamation League 2019). Diese Aussage passt gut
in das Schema der Täter-Opfer-Umkehr, das für den Schuldabwehrantisemitismus
charakteristisch ist. Eine andere Deutung lautet, dass die hohen Zustimmungswerte
auf ein Desinteresse an der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalso-
zialismus und eine mangelnde Empathie gegenüber Jüd*innen und Juden hinweisen.
Ein möglicher Grund dafür ist, dass ,die Juden‘ in einigen islamischen Gemeinschaf-
ten als „übermächtiger Feind und Ränkeschmied“ (Kayman 2021, S. 94) angesehen
werden.
Diese Interpretation wird durch den Befund gestützt, dass der tradierte Antisemi-
tismus unter Muslim*innen im Vergleich zu anderen religiösen Gruppen signifikant
stärker ausgeprägt ist (Abb. 6). Wieder ist ein differenzierter Blick angebracht: Ent-
gegen der Annahmen eines „importierten Antisemitismus“ handelt es sich dabei
nicht um eine Mehrheit, die für tradierte antisemitische Einstellungen empfänglich
ist (siehe auch Fischer und Wetzels 2024). Gleichzeitig gilt es nicht zu beschönigen:
In Bezug auf die Zustimmung zu tradierten Formen des Antisemitismus gibt es zwi-
schen Muslim*innen und den Wähler*innen der AfD praktisch keine Unterschiede
(siehe Abb. 3und 6).
Die Unterschiede in den Einstellungen zwischen den Religionsgemeinschaften
sind beim israelbezogenen Antisemitismus noch ausgeprägter. Über 78% der be-
fragten Muslim*innen zeigen eine latente oder sogar manifeste Empfänglichkeit für
diese Form des Antisemitismus. Diese Ausdrucksform des Antisemitismus ist unter
Muslim*innen ähnlich wie der sekundäre Antisemitismus in der Mehrheitsgesell-
schaft derart weit verbreitet, dass sie gewissermaßen als Norm bezeichnet werden
kann. Daher ist es wenig überraschend, dass antisemitische Ressentiments insbe-
sondere in Zeiten von Eskalationen im Nahostkonflikt unter Muslim*innen verstärkt
auftreten und aktiviert werden können (Diner 2019; Richter et al. 2022; Ranan 2018,
S. 45–47).
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
In einem Submilieu der in Deutschland lebenden Muslim*innen verschwimmen
dabei die verschiedenen Ausdrucksformen des Antisemitismus, die aus analytischen
Gründen getrennt betrachtet werden. Der Slogan „Kindermörder Israel“ beispiels-
weise knüpft (bewusst oder unbewusst) an die Ritualmordlegenden des christlichen
Antijudaismus an und kann nicht einfach als legitime Kritik an der israelischen
Kriegsführung abgetan werden (Kayman 2021, S. 100). Dennoch wäre es naiv, dem
Nahostkonflikt keine katalysierende Wirkung auf den Antisemitismus unter Musli-
men zuzusprechen. Die kontinuierliche mediale Darstellung des Konflikts, bei der
auch Motive und Stereotype des tradierten Antisemitismus verwendet werden, ver-
stärkt offensichtlich die Konstruktion von Gruppenidentitäten, die auf Abgrenzung
beruhen (Holler 2022, S. 109).
6.4 Welche Faktoren begünstigen die Empfänglichkeit für antisemitische
Ressentiments unter Muslim*innen?
Dies bietet eine gute Gelegenheit, abschließend die interne Vielfalt und die trei-
benden Faktoren antisemitischer Einstellungen unter Muslim*innen zu untersuchen.
Sind ihre Herkunftsländer und die Nähe zum Nahostkonflikt wirklich wichtiger als
religiöse Quellen?
Wie dem ersten Regressionsmodell (M1) in Tab. 1zu entnehmen ist, sind die
Herkunftskontexte nicht der entscheidende Faktor für die Anfälligkeit gegenüber
antisemitischen Ressentiments. Zwar sind antisemitische Ressentiments unter Mus-
lim*innen, die in der Türkei und den arabischen Ländern der MENA-Region gebo-
ren wurden, etwas stärker ausgeprägt als unter Muslim*innen, die in Deutschland
geboren wurden. Diese Unterschiede sind jedoch statistisch nicht signifikant.
Relevanter sind religiöse Quellen, wobei mit Blick auf das zweite Regressions-
modell (M2) eine differenzierte Betrachtung notwendig ist. Es ist nicht die Reli-
giosität an sich, die Muslim*innen r antisemitische Ressentiments empfänglich
macht. Zwischen säkularen Muslim*innen und solchen, die sich als stark religiös
bezeichnen, gibt es keine signifikanten Unterschiede. Wichtiger ist eine Identitäts-
konstruktion, die auf Abgrenzung basiert: Befragte, die sich besonders stark mit
der muslimischen Gemeinschaft identifizieren, zeigen eine höhere Anfälligkeit für
Antisemitismus (β= 0,114**). Dieser Befund stimmt zumindest auf den ersten
Blick mit der Einschätzung überein, dass ablehnende Einstellungen gegenüber
,den Juden‘ in einem Submilieu der deutschen Muslim*innen ein fester Bestandteil
ihrer kollektiven Identitätsbildung sind (Dantschke 2010, S. 142–143).
Dieser Effekt verliert jedoch an Bedeutung, sobald der religiöse Fundamenta-
lismus in die Analyse einbezogen wird. Wie im dritten Regressionsmodell (M3)
gezeigt wird, ist der religiöse Fundamentalismus, wenn man den Blick auf reli-
giöse Quellen richtet, der wichtigste Treiber für antisemitische Einstellungen (β=
0,209***). Entscheidend für die Internalisierung antisemitischer Ressentiments ist
also nicht einfach die Identifikation mit der muslimischen Gemeinschaft, sondern
vielmehr, ob diese Identifikation auf einer fundamentalistischen Interpretation des
Islam basiert.
Das vierte Regressionsmodell (M4) liefert zusätzliche Belege dafür, dass re-
ligiöser Fundamentalismus eine weitaus stärkere Determinante für antisemitische
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C. Öztürk, G. Pickel
Ressentiments ist als der Herkunftskontext. Die Wirkung des religiösen Fundamen-
talismus wird durch die Herkunftskontexte nicht nennenswert beeinflusst. Keiner
der modellierten Interaktionseffekte ist signifikant, und Abb. 7zeigt, dass sich der
Einfluss des religiösen Fundamentalismus gleichbleibend und damit unabhängig
von den Herkunftskontexten auf die Neigung zu antisemitischen Ressentiments
auswirkt.
Tab . 1 Determinanten antisemitischer Einstellungen unter Muslim*innen
M1 M2 M3 M4 M5
Andere Länder –0,053
(0,039)
–0,050
(0,038)
–0,037
(0,036)
0,011
(0,054)
–0,037
(0,036)
Türkei 0,032
(0,030)
0,035
(0,029)
0,013
(0,028)
0,045
(0,048)
–0,003
(0,028)
MENA-Region (Ref.:
Deutschland)
0,041
(0,023)
0,025
(0,023)
–0,009
(0,023)
0,031
(0,040)
0,012
(0,030)
Identifikation mit Muslimen 0,114**
(0,033)
0,059
(0,034)
0,057
(0,034)
–0,045
(0,031)
Selbstbeschreibung als religi-
öse Person
0,086
(0,044)
0,014
(0,046)
0,019
(0,046)
0,045
(0,042)
Rel. Fundamentalismus 0,209***
(0,039)
0,282***
(0,063)
0,109**
(0,038)
Andere Länder##Rel. Funda-
mentalismus
–0,164
(0,138)
Türkei##Rel. Fundamentalis-
mus
–0,092
(0,096)
MENA-Region##Rel. Funda-
mentalismus
–0,106
(0,079)
Abitur bzw. Hochschulab-
schluss (Ref.: andere Ab-
schlüsse)
–0,010
(0,018)
Jahre in Deutschland –0,029
(0,068)
Sorge vor Diskriminierung
und rassistischer Gewalt
0,099**
(0,029)
Sado-Masochismus 0,269***
(0,046)
Verschwörungsmentalität 0,213***
(0,028)
Westdeutschland (Ref.: Ost-
deutschland)
0,028
(0,053)
0,017
(0,053)
–0,018
(0,055)
–0,013
(0,055)
0,022
(0,046)
Männer (Ref.: Frauen) 0,056**
(0,019)
0,055**
(0,019)
0,048*
(0,019)
0,049*
(0,019)
0,035*
(0,017)
Alter –0,005
(0,051)
–0,067
(0,053)
–0,036
(0,052)
–0,031
(0,052)
0,020
(0,070)
Adj. R-Quadrat 0,028 0,076 0,144 0,143 0,425
Quelle: RIRA und Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker et al. 2022a). Anmerkung: In der Tabelle wer-
den die Ergebnisse mehrerer OLS-Regressionsanalysen dargestellt. Bei den Einträgen handelt es sich um
die unstandardisierten Koeffizienten und robuste Standardfehler. ** < 0,05, *** < 0,01. Eigene Darstellung
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Dies bestätigt unsere grundlegende These, dass Haltungen wichtiger sind als
die Herkunft: Antisemitische Einstellungen sind ein herkunftsübergreifendes Muster
unter Muslim*innen, die zu einer fundamentalistischen Interpretation ihrer Religion
tendieren.
Dieser Befund zeigt ferner, dass Studien, die nur einzelne Aspekte der individu-
ellen Religiosität betrachten (wie bei Storz und Friedrichs 2023), unter einer Dritt-
variablenproblematik leiden. Sie vermitteln irrtümlicherweise den Eindruck, dass
grundlegende Religiosität eine Quelle für Antisemitismus unter Muslim*innen sei,
während tatsächlich der religiöse Fundamentalismus der zentrale Faktor ist.
Das fünfte Regressionsmodell (M5) zeigt zudem, dass der Einfluss des religiösen
Fundamentalismus (β= 0,109**) auch dann stabil bleibt, wenn alternative Hypo-
thesen berücksichtigt werden. Die Bildungs- und Akkulturationshypothese erhält
dabei keine empirische Bestätigung. Zwar zeigt sich, dass Muslim*innen, die länger
in Deutschland leben und höhere Bildungsabschlüsse haben, weniger anfällig für
antisemitische Ressentiments sind, jedoch sind die Effekte dieser beiden Variablen
statistisch nicht signifikant. Dass formale Bildung nicht vor der Verinnerlichung anti-
semitischer Ressentiments schützt, legt nahe, dass Antisemitismus als ein gesamtge-
sellschaftliches Problem betrachtet werden muss. So belegen Forschungsergebnisse,
dass weder gängige Schulbücher noch Lehrkräfte ohne ihnen eine Absicht zu un-
terstellen davor gefeit sind, antisemitische Stereotype zu reproduzieren (Bernstein
2020; Georg-Eckert-Institut 2023).
Die Überprüfung der Diskriminierungshypothese zeigt, dass bei der Themati-
sierung des Antisemitismus unter Muslim*innen ein gewisses Fingerspitzengefühl
Abb. 7 Moderierende Wirkung der Herkunftskontexte auf den Zusammenhang zwischen religiösem Fun-
damentalismus und Antisemitismus. Quelle: RIRA und Leipziger Autoritarismus-Studie. Anmerkung:Die
Abbildung zeigt marginale Effektplots des Interaktionseffekts aus dem vierten Regressionsmodell. Diese
wurden mithilfe des STATA-Befehls „interactplot“ (Helmdag 2017) erstellt. Eigene Darstellung
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C. Öztürk, G. Pickel
erforderlich ist. Das pauschale Misstrauen, das in den Debatten über den „importier-
ten Antisemitismus“ gegenüber Muslimen mitschwingt, könnte schlimmstenfalls zu
einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden (Öztürk et al. 2024). Zumindest zeigt
die Analyse, dass Muslim*innen, die Angst vor Diskriminierung und rassistischer
Gewalt haben (β= 0,099**), anfälliger für antisemitische Ressentiments sind.
Die Autoritarismushypothese erweist sich ebenfalls als sehr stichhaltig. Mus-
lim*innen, die eine Neigung zu Verschwörungsdenken (β= 0,213**) sowie zu auto-
ritärer Unterwürfigkeit, konventionellen Normen und autoritären Aggressionen (β=
0,269**) aufweisen, tendieren zu besonders ausgeprägten antisemitischen Ressenti-
ments. Es muss jedoch betont werden, dass diese Tendenzen auch in der Mehrheits-
gesellschaft zu finden sind (Fischer und Wetzels 2024; Öztürk und Pickel 2023).
Dies deutet darauf hin, dass die Beharrungskräfte des Antisemitismus durch autori-
täre Dynamiken in der Gesellschaft gestärkt werden.
Es bleibt festzuhalten, dass die Quellen des Antisemitismus unter Muslim*innen
auch im religiösen Bereich zu finden sind. Fundamentalistische Strömungen, die
religiöse Texte auf eine strenge und feindselige Weise interpretieren, spielen ei-
ne zentrale Rolle bei der Verbreitung antisemitischer Einstellungen und verstärken
diese innerhalb der Gemeinschaften, auf die sie Einfluss haben. Die Reichweite ih-
res Einflusses darf nicht unterschätzt werden. Fischer und Wetzels (2024) zeigen,
dass gemeinschaftliche religiöse Aktivitäten, wie der regelmäßige Moscheebesuch,
einen eigenständigen Einfluss auf die Anfälligkeit r antisemitische Ressentiments
haben.3
7Fazit
Die Antisemitismus-Kritik steht vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen
muss sie die pauschalen Zuschreibungen gegenüber Muslim*innen infrage stellen.
Ein entscheidender Schritt dabei ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Be-
griff des ,importierten Antisemitismus‘. Die Alternative für Deutschland verwendet
diesen Begriff aus mehreren Gründen: Einerseits stellt sie damit die Gesellschaft als
vom Antisemitismus befreit dar und schiebt das Problem allein den Muslim*innen
zu. Andererseits nutzt sie diese Rhetorik, um den Vorwurf einer Nähe zum Rechtsex-
tremismus abzuwehren und ihre pauschale Abwertung von Muslim*innen zu recht-
fertigen (Öztürk und Pickel 2022; Pfahl-Traughber 2019; Rohde 2019).
Die Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft den Antisemitismus überwunden
hat, steht in eklatanten Widerspruch zur empirischen Realität. Etwa ein Viertel der
Bevölkerung zeigt sich anfällig für tradierte antisemitische Ressentiments. Mindes-
tens ein Drittel der Deutschen stimmt Aussagen zu, die auf antisemitische Einstel-
lungen gegenüber Israel hinweisen. Sekundärer Antisemitismus, der die deutsche
3Leider enthält unsere Umfrage keine Fragen zu regelmäßigen Moscheebesuchen der Befragten, sodass
wir diesen Einfluss nicht untersuchen konnten. Für eine genauere Analyse der Wirkung verschiedener
Aspekte der individuellen Religiosität auf antisemitische Einstellungsmuster sei auf die Studie von Fischer
und Wetzels (2024) verwiesen.
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
Schuld am Holocaust relativiert oder abwehrt, ist mit Zustimmungswerten von über
50% ein Teil der gesellschaftlichen Normalität (siehe Abb. 1).
Auch der demonstrative Anti-Antisemitismus der Alternative für Deutschland
(AfD) ist wenig glaubwürdig. Unter AfD-Anhänger*innen ist Antisemitismus deut-
lich häufiger anzutreffen als unter den Wähler*innen anderer politischer Parteien,
unabhängig davon, um welche Artikulationsform des Antisemitismus es sich handelt
(siehe Abb. 3). Da sekundärer Antisemitismus oft darauf abzielt, die deutsche Schuld
am Holocaust zu leugnen oder zu relativieren, liegt die Vermutung nahe, dass der
Fokus auf ,antisemitische Muslim*innen‘ auch dazu dient, den eigenen Antisemi-
tismus zu externalisieren. Unsere Studie zeigt erstmals anhand von Umfragedaten,
dass eine hohe Anfälligkeit für antisemitische Einstellungen ein bedeutender Prädik-
tor dafür ist, Antisemitismus ausschließlich bei Muslim*innen zu verorten, während
gleichzeitig die Bedrohung durch rechte Gruppierungen für Jüd*innen und Juden
heruntergespielt wird (siehe Abb. 4). Dieses Muster zeigt sich besonders stark bei
AfD-Wähler*innen, da hier der Wunsch, Antisemitismus auf andere Gruppen abzu-
wälzen und gleichzeitig rassistische Vorurteile gegenüber Muslim*innen zu recht-
fertigen, besonders ausgeprägt ist. Beide Feindbilder also Antisemitismus und
Muslimfeindlichkeit sind auf einer gemeinsamen Einstellungsebene eng mitein-
ander verbunden (siehe Abb. 4). Daher sollten sie nicht gegeneinander ausgespielt
werden, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt bewahrt werden soll (Arnold und
Kiefer 2024a).
Innenministerin Nancy Faeser betonte auf der letzten Islamkonferenz zu Recht,
dass Antisemitismus nicht durch antimuslimischen Rassismus bekämpft werden
kann (Öztürk et al. 2024). Gleichzeitig darf der islamisierte Antisemitismus (Kiefer
2006) jedoch auch nicht verharmlost werden. Unsere Analysen bestätigen, in Über-
einstimmung mit anderen Studien (Fischer und Wetzels 2023,2024; Koopmans
2015), dass antisemitische Ressentiments unter Muslim*innen weiterverbreitet sind
als im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Dennoch sollte betont werden, dass
die Mehrheit der Muslim*innen trotz signifikant höherer Werte im Vergleich zu
Konfessionslosen und Mitgliedern christlicher Religionsgemeinschaften tradier-
ten antisemitischen Einstellungen ablehnend gegenübersteht. Gleichzeitig darf man
diese Einstellungsmuster nicht verharmlosen: Es ist beunruhigend, dass es in dieser
Hinsicht kaum Unterschiede zwischen Muslim*innen und AfD-Wähler*innen gibt.
Besonders auffällig sind die Unterschiede bei israelbezogenem Antisemitismus, der
unter Muslim*innen mainstreamtauglich ist. Dass es beim sekundären Antisemitis-
mus keine signifikanten Unterschiede zwischen Muslim*innen und der allgemeinen
Bevölkerung gibt, sollte in zukünftigen Studien genauer untersucht werden. Da-
bei könnte analysiert werden, ob Muslim*innen den sekundären Antisemitismus in
Deutschland übernehmen, ob sie an Stereotype aus ihren Herkunftsländern anknüp-
fen oder ob es wechselseitige verstärkende Feedback-Schleifen gibt. Hier könnten
bestehende Umfragen und qualitative Interviews weiterführende Erkenntnisse lie-
fern.
Eines ist aber auch klar: Das Ausklammern des Themas Antisemitismus unter
Muslim*innen ist keine geeignete Antwort auf die berechtigte Sorge, rassistische
Zuschreibungen zu reproduzieren (Arnold 2023). Es ist wichtig, die Kritik und Pro-
blemanalyse präzise zu formulieren und dabei die Perspektiven der Betroffenen
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C. Öztürk, G. Pickel
einzubeziehen. Eine Umfrage der European Agency for Fundamental Rights (2018)
zeigt, dass Jüd*innen und Juden, die Diskriminierung erfahren haben, Muslim*innen
mit extremistischen Ansichten als häufigste Quelle von Hasskriminalität nannten.
Diese Erkenntnis steht im Einklang mit dem zentralen Befund dieses Beitrags: An-
tisemitische Feindbilder sind vor allem unter fundamentalistischen Muslim*innen
verbreitet und zwar unabhängig von ihrem Herkunftskontext. Das widerspricht
der These, dass die Herkunft und die Sozialisation in arabischen Gesellschaften
wichtiger für antijüdische Ressentiments seien als religiöse Quellen (Arnold und
Kiefer 2024b; Schüler-Springorum 2020).
Gleichzeitig möchten wir betonen, dass diese Debatte noch nicht abgeschlossen
ist und weitere Analysen notwendig sind, um die zentralen Befunde zu untermauern.
Zum einen ist es diskutabel, ob die Herkunftskontexte wirklich eine angemessene
Operationalisierung für den Einfluss des arabischen Nationalismus darstellen. Zu-
künftige Umfragen unter Muslim*innen sollten spezifischere Fragen enthalten, die
nationalistische Haltungen und einseitige Unterstützung für die palästinensische Sa-
che erfassen. Die Vermutung, dass unsere Analyse möglicherweise die nationalisti-
schen Ursprünge des Antisemitismus unterschätzt, wird durch den starken Effekt der
sado-masochistischen Komponente des Autoritarismus gestützt. Im deutschen Kon-
text lässt sich eine enge Verbindung zwischen autoritären Persönlichkeitsmerkma-
len und chauvinistischen oder völkischen Formen des Nationalismus sowie anderen
rechtsextremen Ideologien beobachten (Öztürk und Pickel 2024). Zum anderen soll-
ten künftige Umfragen auch die Einstellungen nicht-muslimischer Minderheiten aus
der MENA-Region stärker einbeziehen. Wenn zwischen ihnen und Muslim*innen
aus derselben Region keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden, könnte
dies ein starkes Argument dafür sein, dass der Herkunftskontext wichtiger ist als die
religiöse Zugehörigkeit.
Aus unserer Sicht verfehlt die Debatte aber teilweise den Kern des Problems.
Muslimische Identitätskonstruktionen oder eine tiefe Religiosität sind nicht automa-
tisch mit antisemitischen Feindbildern verknüpft. Dieser Eindruck entsteht jedoch
immer wieder in Umfragen und Analysen, die spezifische Auslegungen des Islam
nicht ausreichend berücksichtigen. Dadurch ergibt sich ein Problem mit Drittvaria-
blen, da eine fundamentalistische Interpretation des Islam der entscheidende Faktor
für die Anfälligkeit für Antisemitismus ist. Auch wenn dies vereinfacht klingt: Reli-
giöse Fundamentalist*innen identifizieren sich stark mit der muslimischen Gemein-
schaft und bezeichnen sich selbst als sehr religiös umgekehrt ist dies jedoch nicht
der Fall.
Die Kritik muss präziser als bisher formuliert werden. Sie sollte sich nicht an
die heterogene Gruppe der Muslim*innen insgesamt richten, sondern gezielt an die
Anhänger*innen des fundamentalistischen Islam und deren institutionelle Struktu-
ren, die islamismusaffine Haltungen und Normen fördern. Viele Muslim*innen in
Deutschland empfinden den pauschalen Generalverdacht als diskriminierend und
sind sensibel für die damit verbundene Stigmatisierung. Im schlimmsten Fall kann
aus dieser Situation eine selbsterfüllende Prophezeiung entstehen, da Muslim*innen,
die sich vor Diskriminierung und rassistischer Gewalt fürchten, anfälliger für Anti-
semitismus sind. Dieser Befund, der auf die Entstehung einer toxischen Opferkon-
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
kurrenz hinweist, sollte in zukünftigen Studien genauer untersucht und interpretiert
werden.
Muslim*innen sollten nicht den Eindruck gewinnen, dass in Deutschland ein
,selektiver Humanismus‘ vorherrscht, bei dem der Rassismus oder das Leid der
Palästinenser*innen weniger Empörung auslöst als Antisemitismus oder der Tod
unschuldiger Zivilist*innen in Israel. Eigene Diskriminierungserfahrungen rechtfer-
tigen natürlich keinen Antisemitismus. Es gibt jedoch viele Hinweise darauf, dass
Erfahrungen der Marginalisierung auf das religiöse Feld zurückwirken. Diese Er-
fahrungen können islamistischen Viktimisierungsdiskursen in die Hände spielen,
da Islamist*innen geschickt die Frustration über das (reale oder wahrgenommene)
Leid der eigenen Gruppe gezielt gegen ,die Juden‘ lenken (Öztürk und Pickel 2024;
Wetzel 2014).
Ein wichtiger Ort, um ihren Einfluss auf junge Menschen zu begrenzen, ist die
Schule. Der ernüchternde Befund, dass selbst hohe Bildungsabschlüsse nicht vor
der Verinnerlichung antisemitischer Ressentiments schützen, ist ein Warnsignal und
zeigt einen dringenden Reformbedarf auf. Die Inhalte aller Schulbücher sollten
überprüft werden, um sicherzustellen, dass sie keine antisemitischen Stereotype re-
produzieren. Auch die Geschichte und die Hintergründe des Nahost-Konflikts sollten
stärker thematisiert werden. Die politische Bildung steht vor der Herausforderung,
Unterrichtsmaterialien so zu gestalten, dass sie Kinder und Jugendliche vor verein-
fachten Darstellungen islamistischer Akteure schützen und gleichzeitig den Anfor-
derungen einer vielfältigen und vielschichtigen Einwanderungsgesellschaft gerecht
werden. An den Fakultäten der islamischen Theologie sollten Wissenschaftler stär-
ker unterstützt werden, die eine historisch-kritische Auslegung islamischer Quellen
fördern und weiterentwickeln. Diese können einen wichtigen Beitrag leisten, indem
sie theologisch fundiert den judenfeindlichen Positionen und Argumentationen is-
lamistischer Demagog*innen entgegentreten. Ihre Erkenntnisse und Gegennarrative
sollten im islamischen Religionsunterricht mehr Beachtung finden (Öztürk et al.
2024).4
Aus unserer Sicht sollte auch die bisherige staatliche Zusammenarbeit mit islami-
schen Verbänden überdacht werden, die sich nicht glaubwürdig von ihren islamis-
tischen und ultranationalistischen Wurzeln gelöst haben und in zu starker Abhän-
gigkeit von autokratischen Regimen stehen. Diese Verbände tragen zum Problem
bei, und es bleibt unklar, wie ihre Werte und Positionen mit dem Bildungs- und
Erziehungsauftrag der Schulen vereinbar sein sollen (Bozay und Cicek 2023, S. 67;
Öztürk und Pickel 2022, S. 200). Diese Problematisierung ist nicht unbegründet. Wie
bereits erwähnt, zeigt die Studie von Fischer und Wetzels (2024), dass der regel-
mäßige Besuch von Moscheen mit antisemitischen Einstellungsmustern korreliert.
Dieses empirische Muster weist auf ein strukturelles Problem innerhalb deutscher
Moscheegemeinden und der dahinterstehenden Verbände hin. Da die Mehrheit der
Muslim*innen ihre Identität und Religiosität besonders wenn sie eine fundamenta-
4Es ist fraglich, ob dabei schnelle Effekte erzielt werden können. Erste Forschungsergebnisse zeigen, dass
angehende islamische Theolog*innen und Lehrer*innen des islamischen Religionsunterrichts selbst nicht
frei von religiös-fundamentalistischen Ansichten sind, was auch in ihrem Fall eine nicht zu unterschätzende
Empfänglichkeit für antisemitische Ressentiments nach sich zieht Senel und Demmrich 2024).
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C. Öztürk, G. Pickel
listische Interpretation des Islam ablehnen nicht mit antisemitischen Ressentiments
verknüpft, wäre es hilfreich, sie auf alternative bzw. liberale Angebote zur Befrie-
digung ihrer religiösen Bedürfnisse aufmerksam zu machen (Fischer und Wetzels
2024, S. 30).
Es wäre außerdem sinnvoll, bereits bestehende (interreligiöse) Dialogformate stär-
ker zu fördern, die bestehende Konflikte nicht ausblenden, aber dennoch Gemein-
samkeiten in den Vordergrund stellen. Solche Formate bieten die Möglichkeit, durch
persönliche Kontakte und entstehende Freundschaften Vorurteile abzubauen (Allport
1971) und die Fähigkeit zur empathischen Perspektivenübernahme zu stärken. Diese
Fähigkeit ist notwendig, um Konflikte in demokratischen Kontexten auf friedliche
Weise zu lösen (Habermas 1996).
Man darf sich aber auch keinen Illusionen hergeben: Der Antisemitismus ist weit
mehr als nur ein Vorurteil. Seine Existenz basiert nicht auf realen Erfahrungen und
Interaktion mit Jüd*innen und Juden, sondern auf einer wahnhaft-projektiven Welt-
sicht (Klug 2003). In Zeiten, in denen solche Ressentiments aktiviert werden und
sich in Übergriffen auf Jüd*innen und Juden niederschlagen, muss der Rechtsstaat
alle „zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne Sentimentalität“ (Adorno 2024)an-
wenden. Auch wenn sich dieser Hass zunächst gegen Jüd*innen und Juden richtet,
bedeutet er zugleich eine Kriegserklärung an die Demokratie (Salzborn 2024). Die
Reife einer demokratischen Gesellschaft zeigt sich daher nicht in wohlfeilen Paro-
len, öffentlichen Erklärungen oder Sonntagsreden, sondern in ihrem kontinuierlichen
Einsatz gegen Antisemitismus unabhängig von seiner Trägerschaft.
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Interessenkonflikt C. Öztürk und G. Pickel geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
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K
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Antisemitismus unter Muslim*innen: Sozialisation, religiöse Tradierung oder...
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