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Wie kann das Verhältnis von Nutzer*innen und algorithmischen Empfehlungssystemen
zueinander konzeptionell gefasst werden? Denn beide Seiten nehmen Einfluss auf das
Medienhandeln. Aus tätigkeitstheoretischer Perspektive betrachtet der Beitrag, wie Subjekt
und Medien konzeptionell gefasst werden können und konkretisiert dies mit ausgewählten
Ergebnissen einer qualitativen Studie zum Umgang von Jugendlichen mit algorithmischen
Empfehlungssystemen.
How can the relationship between users and algorithmic recommendation systems
be conceptualised? Aer all, both sides have an influence on media action. From an
activity-theoretical perspective, the article looks at how the subject and media can
be conceptualised and concretises this with selected results of a qualitative study on
young people’s interaction with algorithmic recommendation systems.
DAS VERHÄLTNIS VON SUBJEKT
UND MEDIEN ANGESICHTS
ALGORITHMISCHER
EMPFEHLUNGSSYSTEME
ÜBERLEGUNGEN AUS
TÄTIGKEITSTHEORETISCHER PERSPEKTIVE
Niels Brüggen, Achim Lauber und Maximilian Schober
Brüggen | Lauber | Schober
„Also ich like, kommentiere und interagiere auf
irgendeine Art und Weise und dadurch verbes-
sert sich der Content, der Algorithmus, das Pro-
fil von mir. Also das Profil, was Instagram von
mir hat, was glaubt, was mir gefällt, was mir
nicht gefällt, was mir irgendwann mal gefallen
hat. Und baut sich dann halt irgendwie Wis-
sen über dich auf und schlägt dir halt immer
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BRÜGGEN | LAUBER | SCHOBER
passendere Sachen vor. Aber es dauert auch
Zeit […] Die sind nicht ganz so schnell, die gan-
zen Algorithmen. Die brauchen schon ihre Zeit,
bis du mal so ein bisschen interagiert hast, ein
bisschen was gemacht hast, bis du auch was
kriegst, was dir auch irgendwie gefällt.“ (Sam,
13 Jahre)
Das Zitat stammt aus einem Interview mit Sam,
13 Jahre, bei dem der Umgang mit algorithmi-
schen Empfehlungssystemen (AES) in Medien-
angeboten im Fokus stand. An diesem Zitat las-
sen sich zwei Aspekte gut herausstellen, die dem
Handeln mit digitalen Medien heute immanent
sind: Erstens wird deutlich, dass das Handeln in
einer wechselseitigen Verwobenheit von Mensch
und Medienangebot stattfindet. Auch wenn Sam
gezielt bestimmte Handlungen vollzieht, um aus
der eigenen Sicht relevante Inhalte angezeigt zu
bekommen, bleibt immer eine Abhängigkeit vom
Algorithmus bestehen. So können bereits in die-
sem kurzen Zitat machtvolle Momente ausge-
macht werden, die als Ausdruck der subjektiven
Handlungsfähigkeit von Sam gewertet werden
können. Aber es wird ebenso erkennbar, dass
auch der Algorithmus als machtvoll beschrieben
wird und potenziell die subjektive Handlungs-
fähigkeit beschränkt. Charakteristisch erscheint
gar eine Gleichzeitigkeit von Einschränkung
und Erweiterung eigener Handlungsmacht, von
Ermächtigung und Kontrolliert-Werden, von
Selbst- und Fremdbestimmung. Die eigenen
Handlungsziele können nur erreicht werden,
wenn die verteilte Handlungsmacht mit dem
Algorithmus akzeptiert und mitgedacht wird.
Zweitens wird damit im Zitat deutlich, dass die
Art und Weise, wie Sam mit dem Algorithmus
interagiert, auch beeinflusst ist von seiner Gegen-
standsauassung, also von seinem Wissen und
seinen Vorstellungen von der Funktionsweise
und Zielausrichtung des AES. Konkret benennt
Sam das Ziel, dass der Algorithmus „immer pas-
sendere Sachen“ vorschlage. Falls Nutzer*innen
allerdings eher im Blick haben, dass durch Algo-
rithmen möglichst alle Handlungen mit dem
Angebot monetarisiert werden sollen oder die
getätigten Handlungen durch die Unterneh-
men (und potenziell durch Geheimdienste oder
Strafverfolgungsbehörden) überwacht werden,
könnte dies andere Umgangsweisen begründen
(gerade mit Blick auf Konsequenzen, die auch
außerhalb der jeweiligen medialen Umwelten
eintreten könnten). Das Handeln mit solchen al-
gorithmischen Empfehlungssystemen ist also ein-
gebettet in gesellschaliche Zusammenhänge zu
betrachten, die über den unmittelbaren Inter-
aktionskontext hinausreichen und potenziell
auch dort die Verteilung von Handlungsmacht
betreen. Dennoch konkretisieren sich derartige
Machtverhältnisse immer im konkreten Tätig-
Sein mit den Angeboten, im Zusammenspiel von
in den Angeboten angelegten Nutzungsweisen
und subjektiven Handlungsanteilen.
Angesichts dieser Verwobenheit und Gleichzei-
tigkeit von Einschränkung und Erweiterung der
subjektiven Handlungsmacht stellt sich die Fra-
ge, ob das in verschiedenen Definitionen von
Medien kompetenz formulierte Ziel des souveränen
Handelns mit digitalen Medien problematisch
geworden ist. Zugleich stellt sich die Frage, in-
wiefern in den der medienpädagogischen Arbeit
grundgelegten Theorien ein Subjektverständnis
angelegt ist, das diese Phänomene fassen kann
oder ob es hier anderer Ansätze bedarf.
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1 SOUVERÄNES HANDELN
VON SUBJEKTEN, SUBJEKT-
ORIENTIERUNG UND DAS
TÄTIGKEITSTHEORETISCH
FUNDIERTE SUBJEKT-
VERSTÄNDNIS
Das Subjekt steht im Mittelpunkt medienpäda-
gogischer Arbeit. Das souveräne Handeln dieser
Subjekte ist dabei ein zentrales Leitbild, beispiels-
weise wenn Schorb/Wagner (2013) Medien-
kompetenz als die „Befähigung zur souveränen
Lebensführung in einer mediatisierten Gesell-
scha“ definieren. Souveränität beschreibt in
diesem Zusammenhang die Möglichkeit, sich von
Machtstrukturen zu emanzipieren und setzt da-
mit voraus, dass Subjekte zur produktiven Reali-
tätsverarbeitung, zur aktiv-handelnden Weltaus-
legung und gesellschalichen Teilhabe fähig sind.
Ein solches Subjektbild wurde durchaus nicht
immer in der Medienpädagogik vertreten. So ist
bei Schorb (1995, S. 15 .) und Brüggen (2018,
S. 38 .) nachzulesen, wie in frühen Jahren der
Disziplin die Rezipient*innen betrachtet wurden:
Sie seien den potenziell negativ ausgelegten Me-
dieneinflüssen weitgehend machtlos ausgesetzt.
Die Hinwendung zu einem zu souveränem Handeln
fähigen Subjekt und damit den komplexen Leistun-
gen von Menschen, wenn sie mit Medien umgehen,
stellt eine zentrale konzeptionelle Entwicklung in
der medienpädagogischen Disziplin dar, die im We-
sentlichen nach entsprechenden Vorarbeiten ab
den 1980er-Jahren stattfand. Zeitgleich wurde das
Konzept von Medienkompetenz eingeführt, von
einer Reihe von Autor*innen ausgearbeitet und die
Förderung von Medienkompetenz zu der zentralen
Zielstellung medienpädagogischer Praxis.
Die eingangs dargestellte gegenwärtige Konstella-
tion im Medienhandeln mit AES wir nun die
Frage auf, inwieweit diese Konzepte auf die heutige
Lebenswirklichkeit bezogen werden können. Wir
folgen der These, dass die theoretischen Grund-
lagen des Konzeptes Medienaneignung und die
daraus entwickelte Perspektive auf Medienkom-
petenz genutzt werden können, um Fragen nach
Subjektivierungsprozessen im Handeln mit algo-
rithmusbasierten Medien und Fragen nach der
Souveränität der handelnden Subjekte konzeptio-
nell zu fassen, darin Handlungsoptionen und
-restriktionen der Subjekte einzuordnen und da-
raus ein gegebenenfalls verändertes Begris-
verständnis als Grundlage der Förderung von
Medien kompetenz abzuleiten. Mit diesem Ziel
wird zunächst untersucht, welches Subjekt- und
Medienverständnis in den tätigkeitstheoretischen
Grundlagen des Konzepts Medienaneignung
angelegt ist. Diese theoretische Arbeit wird mit
ausgewählten Ergebnissen aus einer aktuell
durchgeführten qualitativen Studie zum Umgang
von Jugendlichen mit algorithmischen Empfeh-
lungssystemen konkretisiert. Dieser Fundus an
theoretischen, konzeptionellen und empirischen
Befunden fließt in den letzten Teil des Beitrags
ein, in dem kompetenztheoretische Überlegungen
angestellt werden.
2 DAS ANEIGNUNGS-
KONZEPT IN DER
MEDIENPÄDAGOGIK
Der Begri Medienaneignung beschreibt das Ver-
hältnis von Subjekt und Medium (Schorb 2017,
S. 215). Da im tätigkeitstheoretischen Aneig-
nungsbegri die wechselseitige Einwirkung der
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BRÜGGEN | LAUBER | SCHOBER
materiellen und sozialen Umwelt auf die Subjekte
und der Subjekte auf die Umwelt angelegt ist,
verspricht es Potenzial, dieses Konzept gerade für
die Betrachtung heute zu beobachtender Mediati-
sierungsprozesse heranzuziehen. Dabei gilt es zu-
gleich aufzudecken, wo dieses Konzept an Gren-
zen stößt.
2.1 DIE GRUNDLEGENDE BEDEUTUNG
MENSCHLICHER TÄTIGKEIT
Eine erste Annäherung an das Subjektverständ-
nis, das mit dem Begri der Medienaneignung
verbunden ist, erönet sich, wenn die grund-
legende Bedeutung der menschlichen Tätig-
keit in diesem Konzept betrachtet wird. Das von
Schorb und Theunert formulierte und am JFF
weiterentwickelte Konzept der Medienaneignung
basiert auf einem theoretischen Grundverständ-
nis von Menschen und ihrer sozialen und mate-
riellen Umwelt, das in der interaktionistischen
Sozialisationstheorie und in der Tätigkeitstheo-
rie der kulturhistorischen Schule der Psychologie
verankert ist. Die psychologische und anthropo-
logische Ausgangsperspektive ist in mehrfacher
Hinsicht bedeutsam. Erstens kann mit diesem
Ansatz die Frage nicht vernachlässigt werden,
wie die theoretischen Überlegungen auf konkre-
te Menschen zurückübertragen werden und bei-
spielsweise mit entwicklungspsychologischen
Erkenntnissen in Verbindung gebracht werden
können. Und zweitens ist damit eine Perspekti-
ve angelegt, die die Menschen in den Fokus stellt
und sichtbar macht: Menschen eignen sich die
materiellen und ideellen Gegebenheiten ihrer Ge-
sellscha an, indem sie diese zugleich herstellen
(Kuckhermann 2018, S. 83 f.). Dies schließt kei-
nesfalls aus, dass nicht auch nicht-menschliche
Faktoren bedeutsam sind und Einfluss nehmen.
Eine tätigkeitstheoretische Perspektive legt aber
nahe, dass die Bedeutung von nicht-menschli-
chen Faktoren aus der Perspektive der Menschen
in ihrer tätigen Auseinandersetzung mit ihrer ma-
teriellen und sozialen Umwelt zu betrachten und
zu analysieren ist. Eine entscheidende Vorstel-
lung von Tätigkeit ist demnach, dass man diese
„niemals isoliert von den gesellschalichen
Beziehungen […] betrachten [kann]. Bei all
ihrer Vielfalt stellt die Tätigkeit des mensch-
lichen Individuums ein System dar, das in
das System der gesellschalichen Beziehun-
gen eingeschlossen ist. Außerhalb dieser
Beziehungen existiert keine menschliche Tätig-
keit.“ (Leontjew 1982, S. 84)
Anders formuliert: Mensch und Gesellscha sind
nicht als getrennt voneinander zu denken. In der
menschlichen Tätigkeit (re-)konstitutieren sich
gesellschaliche Beziehungen und damit Ge-
sellscha. Und dies im Rahmen der Formen und
Mittel der Tätigkeit, in der eine Vermittlung „zwi-
schen innerer und äußerer Realität, in der Ter-
minologie Leontjews zwischen den objektiven
und subjektiven Bedeutungen ihrer gegenständ-
lichen Umwelt“ stattfindet (Kuckhermann 2018,
S. 90). In der Tätigkeit leistet das Individuum die
psychische Widerspiegelung der gesellscha-
lich-historischen, objektiv gegebenen, materiellen
Umwelt und entwickelt so eine eigene, subjektiv
geprägte Gegenstandsauassung. Die Tätigkeit
verbindet so das Subjekt mit dem Objekt. Die Ob-
jekte, mit denen Menschen umgehen, sind damit
als Teil des Tätigkeitssystems zu betrachten und
nicht wie in anderen theoretischen Zugängen
als dem menschlichen Handeln außenstehende,
nicht-menschliche „Akteure“ – ohne dabei aber
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deren strukturierenden Einfluss auf das Handeln
geringzuschätzen. Diese Grundüberlegung wur-
de von Schorb/Theunert (2000, S. 35) auf die Be-
deutung von Medien für das heutige Leben in der
Gesellschaft angewendet und Medienaneignung
als „Prozess der Nutzung, Wahrnehmung, Bewer-
tung und Verarbeitung von Medien aus der Sicht
der Subjekte unter Einbezug ihrer – auch me-
dialen – Lebenskontexte“ konkretisiert. Um das
Wechselverhältnis zwischen Subjekt und Medien
genauer zu verstehen, ist folglich genauer zu be-
trachten, wie Medien in einer tätigkeitstheoreti-
schen Tradition verstanden werden.
2.2 DER MEDIENBEGRIFF IN
DIESER DENKTRADITION
An die kulturhistorische Schule anknüpfend wer-
den Medien als historisch entstandene, von Men-
schen geschaene und ihren Entstehungspro-
zess widerspiegelnde Gegenstände konzipiert.
Über ihren Entstehungsprozess hinaus existieren
Medien auch dadurch (weiter), dass sie von an-
deren Menschen angeeignet und dabei wiederum
verändert werden. Daraus folgt, dass ein Medium
in der Analyse in zwei Erscheinungsformen zu be-
trachten ist: zum einen als materiell existierender
Gegenstand, der durch seinen Entstehungsprozess
geprägt ist, zum zweiten als subjektive Auassung
des Gegenstandes, die darüber hinaus auch durch
den Aneignungsprozess des handelnden Subjek-
tes geprägt ist und diesen prägt (vgl. Abb. 1). Mit
dieser tätigkeitstheoretischen Konstruktion von
Medien ist es möglich, die in der interaktionisti-
schen Sozialisationstheorie eingeforderte Wech-
selseitigkeit zwischen den handelnden und sich
dabei entwickelnden Subjekten und ihrer gesell-
schalich geprägten Umwelt genauer zu bestim-
men (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51).
Zusammengefasst lassen sich die gesellscha-
lichen und subjektiven Einflüsse von und auf
Medien im Sozialisationsprozess vier Kategorien
zuordnen:
Abbildung 1: Strukturmoment im Prozess der Medienaneignung
// Brüggen 2018, S. 140
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BRÜGGEN | LAUBER | SCHOBER
• Medien werden in ihrem Entstehungspro-
zess geprägt durch (1) die daran beteilig-
ten Personen, ihre Handlungsmotive und
-ziele sowie durch die (2) gesellschalichen
Rahmenbedingungen und Ressourcen des
Entstehungsprozesses.
• Medien werden in subjektiven Aneignungs-
prozessen geprägt durch (3) die aneignenden
Subjekte, ihre Handlungsmotive und -ziele
sowie durch (4) den gesellschalichen Kon-
text, in dem die Aneignungsprozesse vollzo-
gen werden, und die dabei zur Verfügung ste-
henden individuellen und gesellschalichen
Ressourcen.
Mit dieser Bestimmung des Gegenstandes Me-
dien wird das mehrfach dialektische Verhältnis
von Subjekt und Gesellscha deutlich, das sich
über gesellschaliche Gegenstände (hier Medien)
realisiert, insofern „nämlich der Mensch in der
Gesellscha nicht einfach äußere Bedingungen
findet, denen er seine Tätigkeit anpassen muss,
sondern dass diese gesellschalichen Bedingun-
gen selbst die Motive und Zwecke seiner Tätig-
keit, deren Mittel und Verfahren in sich tragen“
(Leontjew 1982, S. 85).
2.3 DIE WECHSELSEITIGE VERWOBENHEIT
VON MATERIALITÄT UND SOZIALITÄT
Aus den personalen und gesellschalichen Ein-
flüssen ergibt sich, dass erstens für die Medien
selbst als Gegenstände und zweitens für den han-
delnden Umgang mit Medien eine wechselseiti-
ge Verwobenheit von Materialität und Sozialität
charakteristisch ist.
Am Beispiel klassischer Massenmedien ließe sich
etwa für die Tageszeitung analysieren, dass sie
geprägt ist von einem komplexen Zusammen-
spiel der Handlungsstränge von Redaktionen,
Verlagen, der Papier- und Druckindustrie et ce-
tera. Auf der Motivebene kann zwar davon aus-
gegangen werden, dass der Gegenstand Tageszei-
tung die Funktion eines gemeinsamen leitenden
Motivs einnimmt, die Teilziele der beteiligten Ak-
teure aber durchaus unterschiedlich und even-
tuell auch widersprüchlich sein können (etwa
journalistische Qualität, Aktualität, Reichweite,
Leserbindung, Vermarktbarkeit, Rohstopreise,
Kosten-Nutzenabwägung etc.). In diesen Hand-
lungssträngen verschmelzen die Ziele der be-
teiligten Akteur*innen mit den ihnen zu Verfü-
gung stehenden materiellen Ressourcen, prägen
den Entstehungsprozess und kristallisieren sich
als Eigenschaen der Tageszeitung. Anders ge-
sagt: Die Tätigkeiten der beteiligten Akteure ma-
nifestieren sich im Gegenstand Tageszeitung. Tä-
tigkeitstheoretische Forschung interessiert sich
deshalb auch für die historische Gewordenheit
und die gesellschalichen Bezüge ihrer Untersu-
chungsgegenstände. Dabei dient die rückblicken-
de Analyse der Gewordenheit vor allem dazu,
die in die Zukun gerichteten Möglichkeiten der
Veränderbarkeit gesellschalicher Praxis und ih-
rer Gegenstände zu erschließen (Vygotskij et al.
1992, S. 111 .). Auch die materielle Erscheinung
von medialen Gegenständen, ihre technologische
Verfasstheit, ist bedeutungstragend, insofern sie
einerseits die Handlungsmotive und -ziele der sie
schaenden Akteur*innen und zugleich gesell-
schaliche Machtverteilungen in sich tragen.
Schorb kennzeichnet Medien gleichermaßen aus
gesellschalicher wie subjektiver Perspektive als
Träger*innen und Mittler*innen von Information,
Überliefer*innen ebenso wie überlieferte Bot-
scha, Speicher und Archiv menschlicher Kultur
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sowie gleichermaßen als Werkzeuge, diese Kul-
tur zu schaen und zu verändern (Schorb 2011,
S. 85 f.). Diese genannten Funktionen erfüllen
auch digitale, KI-gesteuerte Medien. Welches Po-
tenzial KI-gesteuerte Medien tatsächlich haben,
erweist sich aber in der Tätigkeit der nutzenden
Subjekte und den Ressourcen, auf die sie dabei
zugreifen können. In der Tätigkeit realisieren sie
bestimmte (aber nicht alle) Eigenschaen von KI-
gesteuerten Medien und Handlungsoptionen, die
diese nahe legen, zulassen oder eben auch verhin-
dern. Die in der Tätigkeit gemachten Erfahrungen
inklusive der dabei praktizierten Handlungen,
ihrem emotionalen Erleben und dem dabei erwor-
benen Wissen schlagen sich als Substrat ihrer Me-
dienaneignung in ihrer Gegenstandsau assung
dieser Medien nieder und sind Ausgangs- und
Bezugspunkt ihrer Medienkompetenz.
Strukturell wird zwar deutlich, dass auch bei ei-
ner Tageszeitung viele der notwendigen Ressour-
cen den Rezipient*innen nie verfügbar waren.
Strukturell unterscheiden sich die Tageszeitung
und KI-gesteuerte Medienangebote allerdings
durch die enge Verknüpfung von individuellem
Handeln und der algorithmengesteuerten An-
gebotskuration. Während Medien schon immer
„nach einer vorgegebenen Art der Bedienung
durch den Menschen“ (Schorb, 2007, S. 258) ver-
langen, stellt sich die Frage, wie Menschen im
Zuge ihrer Aneignung Abweichungen von und
Variation des medial Vorgegebenen realisieren
können und so ihre individuell selektive Wahr-
nehmung, ihre subjektiv handlungsleitenden
Themen und aktuelle Problemlagen sowie die
ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur
Geltung kommen.
2.4 EINE ZWISCHENBILANZ
ZUM SUBJEKTVERSTÄNDNIS IN DER
TÄTIGKEITSTHEORIE ANGESICHTS
KI-GESTÜTZTER MEDIENANGEBOTE
In den skizzierten theoretischen Grundlagen
ist das folgende Subjektverständnis angelegt:
Indivi duen realisieren sich als Subjekte von
Abbildung 2: Zwei interaktive Tätigkeitssysteme
// nach Engeström 2008, S. 64
140140
BRÜGGEN | LAUBER | SCHOBER
Geburt an in der tätigen Auseinandersetzung
mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt. Auch
wenn die Perspektive der Subjekte den zentra-
len Zugang zu Phänomenen der sozialen Reali-
tät darstellt, können Subjekte nicht unabhängig
von dieser gedacht werden. Wenn die Handlungs-
möglichkeiten der Subjekte betrachtet werden,
oenbart sich, dass in der Tätigkeit immer bereits
die sozia le und mediale Rahmung des Handelns
mitgedacht werden muss. Daraus ergibt sich in
einem Tätigkeitssystem immer eine geteilte Hand-
lungsmacht zwischen dem Subjekt einerseits und
den Interaktionspartner*innen und gegebenen-
falls auch Medien andererseits. Diesen Umstand
hat Engeström (2001, 2008) als Tätigkeitssys-
tem beschrieben und grafisch aufbereitet (vgl.
Abb. 2). Jedes Tätigkeitssystem besteht aus dem
Subjekt, vermittelnden Artefakten (zum Beispiel
Medien mit AES), Regeln, einer Gemeinscha
sowie einer mehr oder weniger ausgeprägten
Arbeitsteilung1 und ganz wesentlich einem Ge-
genstand, auf den die Tätigkeit gerichtet ist.
Dieser Gegenstand – alternativ wird auch Motiv
oder Orientierung der Tätigkeit verwendet – hat
mehrere Bedeutungsebenen: In der klassischen
Tätigkeitstheorie wird zwischen persönlichen
und objektiven Gegenstandsbedeutungen un-
terschieden. Hilfreicher erscheint aber die Dif-
ferenzierung von Kuckhermann in persönliche,
sachliche und gesellschaliche Gegenstands-
bedeutungen (Kuckhermann 2018, S. 90). Wenn-
gleich die Gegenstandsbestimmung also eine
persönliche Komponente hat, nehmen in der Tä-
tigkeit auch immer die vermittelnden Artefakte
(und darin die vergegenständlichten sachlichen
und gesellschalichen Gegenstandsbedeutungen)
wie auch die sozialen Kontexte (und die eben-
falls darin z. B. durch informelle Handlungs-
regeln etablierten sachlichen und gesellschali-
chen Gegenstandsbedeutungen) Einfluss auf das
konkret umgesetzte Medienhandeln. So finden
sich, in Anlehnung an Petersen (2017), im Ge-
genstand auch immer Spuren gesellschalichen
Sollens (diskursive Leitbilder gelungener Sub-
jektivität und institutionalisierte/materialisierte
Anforderungen), subjektiven Wollens (explizite
Handlungsmotive und Interessen sowie prärefle-
xive Bedürfnisse der Individuen) und individuel-
len Könnens (materielle Lebensbedingungen und
körperliche Dispositionen).
Sowohl biografisch als auch situativ konstituiert
und entwickelt sich das Subjekt also im Handeln.
Die persönliche Gegenstandsbedeutung ist Er-
gebnis der und Voraussetzung für Aneignungs-
prozesse. Sie bildet sich damit zwar nicht un-
abhängig von den genannten Einflussfaktoren.
Leontjew schreibt den Menschen aber eine ge-
wisse Reaktionskra zu, die sich zu einem Ei-
gensinn entwickeln kann. Menschen ist es in
Tätigkeitssystemen immer auch möglich, zu hin-
terfragen, (experimentell) umzudeuten und somit
den gemeinsamen Handlungsraum zu erweitern.
Subjektiver Eigensinn ist damit nicht dem Tätig-
keitssystem vorgängig, sondern kann sich erst
innerhalb dieses Systems entwickeln und dieses
aber auch verändern.
Im Zuge dieses Aneignungsprozesses bilden
die Subjekte Fähigkeiten und Fertigkeiten aus,
die sie im Rahmen ihrer Lebensführung benö-
tigen. Damit ist eine starke biografische und le-
1 Engeström entwickelte den Ansatz in der Arbeitsforschung, weshalb die Arbeitsteilung in Institutionen für
ihn von besonderer Bedeutung ist.
141141
bensweltbezogene Prägung der stattfindenden
Subjektivierungsprozesse hervorgehoben. Die
lebensweltlichen Bedingungen, die entsprechend
der gesellschalichen Positionierung variieren,
sind für die Subjekte dabei nicht frei wählbar.
Dennoch besteht für Subjekte immer auch die
Möglichkeit, in der Tätigkeit Veränderungen in
der sozialen und materiellen Umwelt anzustoßen.
3 EXEMPLARISCHE
FALLSTUDIEN ZUM
UMGANG JUGENDLICHER
MIT KI-BASIERTEN
ALGORITHMISCHEN
EMPFEHLUNGSSYSTEMEN
Die voranstehenden theoretischen Überlegungen
werden im Folgenden mit beispielhaen Ergeb-
nissen einer aktuell durchgeführten qualitativen
Studie zum Umgang von Jugendlichen mit KI-
basierten algorithmischen Empfehlungssyste-
men konkretisiert. Diese Studie wurde 2021/2022
im Projekt Digitales Deutschland – Monitoring
zur Digitalkompetenz der Bevölkerung mit einer
Förderung durch das BMFSFJ durchgeführt.
3.1 METHODISCHE ANLAGE DER STUDIE
Grundlegend für diese Studie ist der Ansatz des
Kontextuellen Verstehens der Medienaneignung
(Schorb/Theunert 2000). Zum einen werden darin
Medien, hier nun Angebote mit algorithmischen
Empfehlungssystemen (AES), als existierende Ge-
genstände in ihrer sachlichen und gesellschali-
chen Erscheinungsform analysiert. Zum anderen
werden sie in ihrer subjektiven Erscheinungs-
form als Gegenstandsauassungen untersucht,
die auch durch die Tätigkeit der handelnden
Subjekte geprägt sind, in der sie entstanden sind.
Anliegen der Aneignungsforschung ist es, das
subjektiv sinnhae Handeln von Menschen mit
Medien zu verstehen und die jeweils relevanten
medialen und nicht-medialen Kontexte für das
Handeln zu identifizieren (Theunert 2013). Mit
diesem Ziel wurden leitfadengestützte Einzel-
interviews mit 16 Jugendlichen in den Alters-
gruppen 13/14/15 Jahre, 16/17 Jahre und 18/19
Jahre durchgeführt. Dabei wurde systematisch
nach der Relevanz von AES in ihrer Mediennut-
zung, nach ihrem Wissen und ihren Annahmen
über KI und AES, ihren Bewertungen von und
ihren Umgangsweisen mit AES gefragt. Um ein
Spektrum an unterschiedlichen personalen Res-
sourcen und Lebenswelten von Jugendlichen
berücksichtigen zu können, wurde bei der Ak-
quise auf eine systematische Einbeziehung von
unterschiedlichen formalen Bildungshintergrün-
den, eine Gleichverteilung der Geschlechter so-
wie auf den Einbezug von Jugendlichen mit Mi-
grationsgeschichte Wert gelegt. Zusätzlich zu
den Einzelinterviews wurden drei Gruppener-
hebungen in Form von Forschungswerkstätten
mit insgesamt 23 Jugendlichen durchgeführt, in
denen insbesondere die gesellschaliche Ebene
des Forschungsgegenstandes fokussiert wurde.
Die Einzelinterviews und Forschungswerkstät-
ten wurden per Audioaufzeichnung, die entstan-
denen Materialien per Foto dokumentiert. Für
jede Erhebung wurde ein Gedächtnisprotokoll
verfasst, das relevante Besonderheiten des Erhe-
bungsverlaufs und der Teilnehmenden enthält.
Sämtliche Daten, die Rückschlüsse auf die inter-
viewten Personen zulassen könnten, wurden ge-
ändert oder herausgenommen. Die Namen der
Einzelfälle sind Pseudo nyme. Das transkribierte
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BRÜGGEN | LAUBER | SCHOBER
Audiomaterial und die weiteren Materialien wur-
de nach den Auswertungskategorien codiert, de-
skribiert und zunächst fallbezogen ausgewertet.
Daran schloss sich die übergreifende Interpre-
tation mit Blick auf die Fragestellungen mit einer
Validierung im Forschungsteam an.
3.2 ANALYSE DER ONLINE-
ANGEBOTE MIT ALGORITHMISCHEN
EMPFEHLUNGSSYSTEMEN
Wir folgen in der Darstellung der Ergebnisse zu-
nächst den Fragen, wie KI-gesteuerte digitale
Medien als materielle und gesellschaliche Ge-
genstände zu bestimmen sind und inwiefern sich
aus ihrem Entstehungsprozess Handlungsmotive
und -ziele ableiten lassen, die in die Gegenstände
eingeschrieben sind.
AES sind Bestandteil aller populären Social-
Media-Angebote, Streaming- und Video-Porta-
le sowie Verkaufsplattformen und Suchmaschi-
nen. AES sind digitale Technologien, die Nutzen-
den Inhalte oder Produkte vorschlagen und zu
deren Vorauswahl die individuellen Daten der
Nutzenden verarbeiten, die diese bei ihrem Me-
dienhandeln zuvor generiert hatten. Ziel ist zum
einen, ein auf persönliche Interessen abgestimm-
tes Angebot zu präsentieren (Personalisierung).
Zum anderen kann davon ausgegangen werden,
dass der Einsatz von algorithmischen Empfeh-
lungssystemen Nutzungsdauer und User-Enga-
gement (z. B. Liken, Kommentieren, Kaufen) stei-
gern sollen (User-Bindung). Mit den Stichworten
Personalisierung und User-Bindung sind Hand-
lungsmotive und -ziele benannt, die von den
Anbietenden angestrebt werden. Diese sind in
den von ihnen geschaenen KI-Medien insofern
materiali siert als die Funktionalität der Techno-
logie zur Erreichung der Ziele beiträgt. Sie wer-
den real in der Funktionsweise von AES und den
Handlungsoptionen, die sie Nutzenden anbieten.
Direkt erkennbar am Gegenstand KI-Medien sind
sie nicht.
Wie personenbezogene Daten von AES verarbei-
tet werden, ist schwer nachzuvollziehen. Der For-
schungsstand verweist auf eine große Intranspa-
renz bezüglich der Funktionsweise von AES und
der Frage, wie mit gesellschalichen Werten und
nicht zuletzt mit Menschen und Gruppen um-
gegangen wird. Diskutiert wird, dass Vorurteile
und Diskriminierungen bei algorithmusbasierten
Empfehlungen potenziell reproduziert werden
(Hagendor 2019; Kolleck/Orwat 2020).
3.3 ANEIGNUNG VON MEDIEN MIT
ALGORITHMISCHEN
EMPFEHLUNGSSYSTEMEN
Die weitere Gegenstandsbedeutung von KI-ge-
steuerten Medien geht aus den Aneignungspro-
zessen hervor. Die forschungsleitende Frage zur
subjektiven Aneignung und Gegenstandsauf-
fassung lautet: Wie werden KI-gesteuerte digi-
tale Medien aus der Perspektive der aneignen-
den Subjekte in ihrem lebensweltlichen Kontext
bestimmt?
Allen befragten Jugendlichen ist bewusst, dass
die Nutzung von Angeboten mit algorithmischen
Empfehlungssystemen mit der Auswertung per-
sönlicher Daten einhergeht. Es zeigen sich aller-
dings große Unterschiede auf der Ebene der An-
nahmen, wie AES Daten verarbeiten und welche
Bedeutung das für das eigene Medienhandeln hat.
Auällig ist, dass ein großer Teil der Jugendlichen
AES als gegeben betrachtet und ihre Existenz
nicht weiter hinterfragt. Sam, 13 Jahre, schildert
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den Eindruck: „Das kann ich ja nicht kontrollie-
ren und ob die Daten gesammelt werden, […]
also entweder ich nutze es nicht oder die Daten
werden gesammelt. Also wenn ich es nutze, dann
werden die Daten gesammelt.” Diese Auassung
geht mit der Einschätzung einer geringen Selbst-
wirksamkeit in Bezug auf ihre eigene Datensou-
veränität einher. Die Jugendlichen wissen zwar,
dass viele Apps persönliche Daten auswerten,
sind aber zugleich überzeugt, dass sie dagegen
nichts tun können. „Aber so funktioniert halt das
Internet, so ist das Internet halt aufgebaut“, meint
der 15-jährige Tobias. Als Alternative zur Frei-
gabe von Daten wird allenfalls der gänzliche Ver-
zicht auf die Nutzung beschrieben, eine Option,
die sie allerdings weder als erstrebenswert noch
als realistisch betrachten. Um die Angebote ent-
sprechend der eigenen Interessen in Gebrauch zu
nehmen, scheint die Freigabe persönlicher Daten
unerlässlich und alternativlos.
Mehr Zutrauen in die eigene Handlungsmacht in
Bezug auf ihren Einfluss auf die algorithmische
Empfehlung haben die Jugendlichen, die sich
entweder Wissen über die Funktionsweise von
AES angeeignet haben oder zumindest eigene er-
fahrungsbasierte Vermutungen dazu anstellen.
Sie äußern eine dierenzierte Vorstellung von
der Datengrundlage und der Funktionsweise von
AES. Ihnen ist bewusst, dass die Empfehlungen
auf vielfältigen Daten aus verschiedenen auch
angebotsübergreifenden Quellen basieren und
sowohl mit ihrem Nutzungsverhalten im jewei-
ligen Angebot als auch außerhalb des Angebots
zusammenhängen. Zudem nehmen die Jugend-
lichen an, dass algorithmische Empfehlungs-
systeme ‚lernen‘ und somit Empfehlungen ih-
rem Nutzungsverhalten entsprechend anpassen.
Das Wissen dieser Jugendlichen, unabhängig da-
von, wie richtig es ist, bildet die Grundlage der
Wahrnehmung ihrer eigenen Handlungsfähig-
keit. Handlungsfähigkeit bedeutet, dass sich die-
se Jugendlichen im Umgang mit AES selbst in
einer aktiven Rolle wahrnehmen. AES können
sie, so ihre Einschätzung, durch verschiedene
Möglichkeiten gezielt beeinflussen und manipu-
lieren. So wandelt sich der Feed der Jugendlichen
nach ihren Vorstellungen, indem gezielt damit
interagiert wird. Der 16-jährige Jakob schreibt
seinen eigenen Handlungen bezüglich des Algo-
rithmus eine große Wirkung zu und spricht dabei
von Steuerung und Manipulation:
„Ich habe einige Steuerungsmöglichkeiten. Auf
einigen Plattformen mehr, auf anderen weniger.
Und vielleicht in meinem Alter besonders gut,
weil ich bin mit dem Algorithmus aufgewach-
sen. Jede Plattform, wo ich jemals genutzt habe,
war eigentlich Algorithmus dahinter. Ich weiß,
wie ich den manipuliere.“
Wissen und Erfahrungen sind zudem Ausgangs-
punkte für Jugendliche, die eine kritische Hal-
tung zu AES entwickelt haben. So sieht die
16-jährige Sarah in AES auch eine gesellschali-
che Bedrohung. Sie sorgt sich, dass sich diskrimi-
nierende Inhalte und Fake News schnell verbrei-
ten und sich nicht mehr löschen lassen:
„Ich glaube, so ganz große Risiken ist jetzt zum
Beispiel, wenn ein Querdenker auf TikTok ist.
Dann werden ihm ganz viele Querdenker-Sa-
chen angezeigt, die sein Verhalten nur noch
bestätigen. Und dann kommt so ein Corona-
Leugner, der sagt, ja, Corona ist nicht echt. Und
es wird ihm dann noch auf TikTok angezeigt.
Und es hat ja auch einen Rieseneinfluss so auf
die Menschen.“
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Die anbietenden Unternehmen werden, wie in
dem exemplarischen Zitat von Sarah deutlich
wird, von den meisten Jugendlichen als macht-
volle Akteure wahrgenommen, die vor allem im
Kontext gesellschalich relevanter Phänomene
Einfluss auf Inhalte haben. Sie haben den Ein-
druck, dass nicht alle Inhalte auf Plattformen
gleichermaßen behandelt werden. Die Jugendli-
chen beobachten: Videos mit politischen oder kri-
tischen Inhalten werden seltener vorgeschlagen,
da diese „nicht so werbetauglich sind“ (Sam). In-
halte mit „unrealistischen Beautyidealen“ (Jakob)
werden eher vom AES präferiert.
4 ÜBERLEGUNGEN ZUM
SUBJEKT- UND MEDIEN-
BEGRIFF IN BEZUG AUF
MEDIENKOMPETENZ
Vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse
wird abschließend der Frage nachgegangen, in-
wiefern das tätigkeitstheoretische Subjekt- und
Medienverständnis einen Ausgangspunkt dar-
stellen kann, wie Subjekte im Handeln mit algo-
rithmusbasierten Medien konzipiert und inwie-
fern diese dann auch als souverän verstanden
werden können. Zudem wird gefragt, inwiefern
daraus ein verändertes Ziel der Medienkompe-
tenzförderung abzuleiten ist.
Mit Blick auf das Verhältnis von Subjekt und
Medien zueinander zeigen die empirischen Er-
gebnisse ein enges Ineinandergreifen des indi-
viduellen Medienhandelns und der Operationen
algorithmischer Empfehlungssysteme. Zwar kön-
nen viele Aspekte von AES weiterhin auch als
mediale Kontexte des Medienhandelns betrachtet
werden, wie beispielsweise die in den Angeboten
angelegten Interaktionsmöglichkeiten mit dem
Empfehlungssystem (bspw. Liken). Deutlich wird
aber, dass die auf das Handeln der Nutzer*in-
nen gerichteten algorithmischen Auswertungen
und die darauf basierenden Empfehlungen so
eng mit dem vorhergehenden Handeln (poten-
ziell aller Nutzer*innen) in Verbindung stehen,
dass hier eine andere Qualität des Ineinandergrei-
fens bzw. der Verstrickung gegeben ist. Mit den
tätig keitstheoretischen Grundlagen steht dazu
ein Analyse rahmen bereit, welcher Subjekte von
Geburt an im Prozess des Tätig-Seins mit ihrer
materiellen und sozialen Umwelt in Verbindung
versteht. „Subjekt-Sein“ ist ein sich immerzu ver-
änderndes Ergebnis einer unausweichlichen Ver-
wobenheit von Menschen in Tätigkeitssysteme.
In der Tätigkeit vollziehen sich Prozesse der Sub-
jektivierung, im Sinne einer fortwährenden For-
mation und Transformation der Subjekte. Diese
können nicht unabhängig von Gesellscha und
damit von den Anforderungen der Beschaenheit
und Funktionsweise der Angebote sowie deren
kulturellen und gesellschalichen Rahmenbe-
dingungen, und auch nicht unabhängig von der
biografisch unterschiedlich geprägten individuel-
len Entwicklung gedacht werden. Im Tätig-Sein,
dem wechselseitigen Prozess zwischen Subjekt
und Gegenstand, bearbeiten und verändern Men-
schen somit gesellschaliches Sollen, subjektives
Wollen und individuelles Können. Sowohl bio-
grafisch als auch situativ konstituiert entwickelt
sich das Subjekt und (re-)produziert sowohl sich
selbst als auch den (ggf. medialen) Gegenstand
und die damit verwobenen gesellschalichen
Machverhältnisse.
Damit stellt sich auch die Frage nach der Mög-
lichkeit souveränen Handelns. So können im Pro-
145145
zess der Subjektivierung Momente ausgemacht
werden, die sowohl als Ausdruck der subjektiven
Handlungsfähigkeit als auch als Beschränkung
ebendieser gelesen werden können. Fremd- und
Selbstbestimmung greifen im Handeln funktio-
nal ineinander: In der Beschaenheit und Funk-
tionsweise der Angebote ist angelegt, dass jede*r
einzelne Nutzer*in die Empfehlungen der Inhal-
te selbst beeinflusst und gegebenenfalls bewusst
mitgestaltet. Die auf das Handeln der Nutzer*in-
nen gerichteten Auswertungen und die darauf
basierenden Empfehlungen sind eng mit dem vor-
hergehenden Handeln verbunden, da persönli-
che Vorlieben und Verhaltensweisen, auch unbe-
wusst, Grundlage für Empfehlungen (potenziell
auch für andere Nutzer*innen) werden. Mit Blick
auf die Jugendlichen zeigt sich: Die Erstellung
möglichst passender Empfehlungen erfüllt in ih-
rem Medienhandeln einen Zweck und entspricht
in den meisten Fällen ihren Motiven im Medien-
handeln. Diese Verschränkung von Selbst- und
Fremdbestimmung kann von den Subjekten nicht
aufgelöst werden. Aber es zeigt sich, dass Kompe-
tenzen als Teil des subjektiven Könnens erlauben,
Momente der Selbstbestimmung zu stärken und
beispielsweise individuelle Handlungsziele ver-
folgen zu können.
Mit Blick auf Schwerpunkte der Förderung von
Medienkompetenz unterstreicht die tätigkeits-
theoretische Perspektive, dass Medienkompe-
tenz nicht als außerhalb gesellschalicher Zu-
sammenhänge abstrakt formuliertes Konstrukt
begründet und respektive auch gefördert wer-
den kann. Kompetenzanforderungen entstehen
im Zusammenspiel von Nutzungsmotiven der
Jugendlichen, den äußeren Bedingungen der Le-
benswelt als situativem Kontext, der Beschaen-
heit und Funktionsweise der Angebote mit AES
sowie den kulturellen und gesellschalichen
Rahmenbedingungen (Digitales Deutschland
2021) korrespondierend mit persönlichen, sach-
lichen und gesellschalichen Gegenstandsbedeu-
tungen. Wenngleich es immer die Subjekte sind,
die über Kompetenzen verfügen (oder nicht) und
diese einsetzen können (oder nicht), so können
diese Kompetenzen nur in der tätigen Auseinan-
dersetzung mit der Umwelt entwickelt werden.
Im tätigkeitstheoretischen Verständnis verwei-
sen Kompetenzen nicht auf ein unabhängig von
diesen Bedingungen bereits (vorab) bestehendes
Vermögen. Aber dem Menschen ist es in diesem
Denken möglich, die Kompetenzen einzusetzen,
um die Bedingungen zu verändern. Dies setzt
aber eine kritische Auseinandersetzung mit allen
Einflussfaktoren voraus – und damit auch eine in
der Gesellschaskritik fundierte Medien kritik.
Die Ergebnisse legen nahe, dass gerade dieser
Bereich ein besonders wichtiges Handlungsfeld
für die Medienkompetenzförderung darstellt, da
die Jugendlichen sich hier kaum auf vorhandenes
Wissen stützen können.
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