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Entzauberung des Körpers In: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Heft 42

Authors:
48
Umfrage
Hannelore
Schlaffer
„Wäre
Gesundheit
machbar,
sste
man
nicht
sterben."
V
Beides
trifft
zu.
Es
ist
eines
der
Symptome
für
die
Aufgeklärtheit
der
Men
schen.
In
einer
götterlosen
Welt
kann
nur
noch
das
Lebensglück
selbst
das
Ziel
des
Daseins
sein.
Das
ist
zwar
tautologisch,
aber
wahr.
Zu
2)
Das
eine,
die
sozialen
und
moralischen
Werte,
muss
das
andere,
die
indivi
duellen
Werte,
nicht
ausschließen;
sie
tun
es
aber.
Tatsächlich
ist
das
Inter
esse
der
Menschen
mehr
auf
den
eigenen
Zustand
als
auf
soziale
Werte
gerichtet.
Das
liegt
auch
daran,
dass
es
uns
relativ
gut
geht
und
das
soziale
Mitgefühl
daher
kaum
mehr
herausgefordert
wird.
Z
„3)
Natürlich
ist
es
so,
dass
man
heute
länger
gesund
bleiben
kann
als
früher.
Das
Kranksein
ist
gleichsam
spezialisiert
worden
und
auf
die
ganz
Alten
übertragen
worden.
Man
macht
sie
angeblich
(wieder)
gesund
und
hält
sie
dadurch
immer
länger
krank
am
Leben.
Nach
jeder
Behandlung
verspricht
man
ihnen
noch
ein
weiteres
c]ual(itäts)-volles
Leben;
es
ist
aber
nur
ein
qual-volles
lieben.
Wäre
Gesundheit
grundsätzlich
machbar,
müsste
man
ja
nicht
sterben,
zum
Ende.
Gesundheil
49
Schürmann „Entzauberung
des
Körpers"
I
Um
die
Frage
nach
der
Bedeutung
des
gewachsenen
Interesses
an
Gesund
heit
beantworten
zu
können,
muss
man
meines
Erachtens
zunächst
diffe
renzieren.
Nach
einer
Unterscheidung
des
Psychologen
Leontjew
lässt
sich
zum
einen
fragen,
welchen
persönlichen
Sinn
die
beteiligten
Individuen
heut
zutage
mit
Gesundheit
verbinden.
Das
scheint
mir
weitgehend
eine
zu
nächst
empirisch
zu
klärende
Frage
zu
sein,
die
nicht
in
meinen
Kompe
tenzbereich
fällt.
Zum
anderen
artikuliert
sich
im
persönlichen
Sinn
die
gesellschaftliche^)
Bedet/tmg(en)
von
Gesundheit.
Meine
folgenden
Ausführun
gen
beziehen
sich
auf
diese
zweite
Dimension,
wobei
das
theoretische
Pro
blem
des
Verhältnisses
beider
Fragen
darin
steckt,
was
hier
„Artikulation
heißen
soll.
Zwei
Anliegen,
die
Leontjew
mit
dieser
Unterscheidung
ver
bindet,
sind
Idar:
1.
die
Dimension
der
gesellschaftlichen
Bedeutung
ist
eine
überindividuelle,
d.h.
eine
solche,
die
nicht
auf
die
Dimension
des
persönli
chen
Sinns
rednfierbar
ist.
Die
Dimension
gesellschaftlicher
Bedeutung
ent
steht
nicht
als
Durchschnittsbildung
aller
persönlichen
Sinnbildungen,
da
der
persönliche
Sinn
immer
schon
eine
Variation
bereits
gelebter
gesell
schaftlicher
Bedeutungen
ist.
2,
Persönlicher
Sinn
ist
nicht
einfach
eine
(verzerrte
oder
,
authentische')
Wiedergabe
vorliegender
gesellschaftlicher
Bedeutung,
sondern
eine
prinzipiell
realisierte,
je
individuelle
Modifikation.
Mir
scheint,
dass
,
Körper'
und
,
Gesundheit'
zunehmend
ivstrnmentell
ge
dacht
und
praktiziert
werden.
Ob
als
Mittel
zur
Arbeits-
und
Leistungsfä
higkeit,
der
sozialen
Anerkennung,
der
Kostensenkung,
des
je
eigenen
Wohlbefindens
(„Spaß
“)
oder
was
immer,
muss
dazu
gar
nicht
entschieden
werden.
Die
zentrale
Tendenz,
die
in
der
Entzifferung
des
menschlichen
Genoms
zugleich
ihren
Ausdruck
und
Katalysator
findet,
scheint
mir
-
50
Umfrage
ganz
im
Sinne
Max
Webers
die
der
zunehmenden
.Entzauberung
des
menschlichen
Körpers'
zu
sein.
Das
heißt
nicht
(zwingend),
dass
wir
de
facto
alles
oder
auch
nur
sehr
viel
mehr
von
den
körperlichen
Mechanismen
wissen
als
andere
Generationen
oder
Kulturen,
sondern
.Entzauberung'
meint
allein
den
Glauben,
es
im
'Prinzip
wissen
und
berechnen
zu
können:
die
Außerkraftsetzung
jeglicher
geheimnisvoller
Mächte.
Diese
Tendenz
hat
selbstverständlich
vielfältige
Ausdrucksformen.
Sie
kann
sich
auch
darin
zeigen,
dass
nunmehr
endlich
auch
Methoden
fernöstlicher
Heilkunst
ge-
nittcf
werden.
Es
ist
kein
prinzipieller
Unterschied,
ob
der
Körper
durch
das
Einwerfen
von
Aspirin
oder
durch
Akupunktur
repariert
werden
soll.
Wie
der
Verweis
auf
Weber
schon
zeigt;
in
gewisser
und
vielleicht
ent
scheidender
Hinsicht
ist
diese
Tendenz
nichts
Neues.
Die
Nachdrücklich
keit
scheint
zweifellos
zuzunehmen;
aber
im
Prinzip
geschieht
mit
dem
Körper
jetzt
das,
was
das
Kunstwerk
schon
hinter
sich
hat.
So
wie
die
Ent
wicklung
in
den
Künsten
vom
Kunstwerk
zur
Ware
ging,
so
geht
die
Ent
wicklung
in
den
Bewegungs-Künsten
und
in
den
Körper-(Pflege-
)Techniken
vom
Leib
zur
Ware.
War
für
Kant
noch
klar,
dass
der
mensch
liche
Körper
als
Leib
zu
behandeln
sei
und
d.h.
hier;
als
von
grundsätzlich
anderem
Gegcnstandsofo/raterals
die
Dinge
,
so
gilt
der
Körper
nunmehr
zunehmend,
bis
in
die
Rechtsprechung
hinein,
als
ein
Ding
wie
jedes
andere
auch.
Es
bedarf
m.E.
einer
Verständigung
darüber,
was
tatsächlich
neu
ist
an
den
momentanen
Tendenzen.
Liest
man
Texte
aus
dem
oder
über
das
Ende
des
19.
Jahrhunderts,
dann
kann
man
sich
des
Eindrucks
nicht
er
wehren,
dass
alles
schon
da
gewesen
ist.
Die
ganze
Klaviatur
der
sachli
chen
Probleme
und
Begrifflichkeiten
steht
seitdem
bereit;
und
die
Frage
ist
schlicht,
ob
wir
sie
heute
nicht
lediglich
virtuoser
beherrschen
als
z.ß.
die
Lebensreformbewegung.
Um
einen
vergleichsweise
harmlosen
Punkt
zu
nennen:
das
System
des
sog.
„deutschen
Turnens
Ende
des
19.
Jahr
hunderts
war
in
zentraler
Hinsicht
ein
Programm
zur
technologischen
Disziplinierung
des
Körpers.
Und
selbst
im
Bereich
der
Gentechnologie
und
der
latenten
Idee,
unsere
Evolution
selbst
in
die
Hand
nehmen
zu
können,
ist
Entscheidendes
bereits
in
der
Eugenik formuliert
worden.
Was
sich
geändert
hat,
sind
die
Möglichkeiten
und
Wirklichkeiten
der
technologischen
Umsetzung.
Der
Körper
wird
nicht
nur
als
entzaubert
gedacht.,
sondern
vielfach
und
wie
selbstverständlich
als
ein
solcher
traktiert.
Gesundheit
51
Die
Floskel
vom
Körper
als
Ersatztcillager
trifft
etwas.
Das
alles
manife
stiert
sich
darin
und
ist
vermudich
ein
ganz
eigenständiger
Punkt
realer
Veränderung
,
dass
so
etwas
wie
,
Schicksal
im
Umgang
mit
dem
eigenen
Körper,
also
Geschehnisse,
die
als
nicht
in
unserer
Verfügungsgewalt
ste
hend
angesehen
werden,
zunehmend
abgeschafft
wird.
Heute
können
Ärz
tinnen
verklagt
werden,
weil
sie
die
Behinderung
von
Menschenmaterial
nicht
vorgeburtlich
erkannt
haben.
Und/aber
dennoch:
Ist
dies
alles
eine
Frage
quantitativ
zunehmender
Ausweitung
(der
Entzauberung
auf
den
Körper
und
auf
immer
mehr
vom
Körper)
oder
liegt
hier
ein
qualitativer
Schritt?
Parallel
dazu;
ist
die
sog.
„Globalisierung
lediglich
exzessiverer
Kapitalismus
oder
ein
qualitativer
Schritt?
Mein
Vorschlag
ist,
den
momentanen
gesellschaftlichen
Umgang
mit
un-
seren
Körpern
in
unserer
Kultur
als
einen
qualitativen
Schritt
zu
behandeln
-
qualitativ
im
Sinne
des
Praktizierens
einer
weiteren
Reflexionsstufe.
Das
würde
bedeuten,
dass
wir
im
Umgang
mit
dem
Körper
ihn
nicht
nur
be
handeln
und
thematisieren,
sondern
ihn
in
diesem
Umgang
eigens
ah
Körper
behandeln
und
thematisieren.
Um
ein
Symptom
und
eine
Metapher
dafür
zu
geben;
Sport
zu
treiben,
ist
zweifellos
eine
körperliche
Aktivität,
die
in
aller
Regel
auch
dieser
Körperlichkeit
wegen
betrieben
wird.
Aber
genau
das
kann
als
ganz
selbstversndlich
und
.nicht
eigens
der
Erwähnung
wert'
betrachtet
werden.
Man
trifft
sich,
um
Fußball
oder
Handball
zu
spielen.
Aber
hinsichtlich
der
Kennzeichnung
dieser
Aktivität
als
einer
solchen,
an
der
betont
der
Körper
beteiligt
ist,
kann
man
sich
durchaus
.gehen'
oder
.hängen'
lassen.
Man
kann
die
Nase
rümpfen
über
,die
Anderen'
und
sich
herauszuputzen,
das
habe
doch
nichts
mehr
mit
Sport
zu
tun.
Von
diesen
Anderen
dagegen
wird
bei
solchen
Aktivitäten
auch
der
Körper
ah
Körper
gestylt;
und
von
Jüngeren
werde
ich
darauf
angesprochen,
dass
und
wenn
ich
meinem
Freizeitsport
nicht
.ordentlich'
bzw.
.angemessen
gekleidet
nachgehe.
Es
gibt
keine
Grenzen
der
Verfügbarkeit
über
den
Körper
falls
man
mit
„Grenzen
geben
die
Idee
verbindet,
dass
irgendetwas
am
Körper
selbst
ist,
das
sich
der
Verfügbarkeit
entzieht.
Grenzen
der
Verfügbarkeit
gibt
es
dann
und
insofern,
wenn
es
ein
öffentliches
Klima
gibt,
in
dem
bestimmte
Ver
fügungspraktiken
z.B.
Folter
entschieden
nicht
in
Frage
kommen.
Dies
ist
völlig
analog
zur
Würde
des
Menschen.
Aber
auch
die
Würde
ist
kein
natürlicher,
naturrechtlicher,
sozialer,
göttlicher
etc.
Tatbestand,
den
man
52
Umfrage
an
Exemplaren
der
Gattung
homo
sapiens
ablesen
könnte.
Würde
und
analog:
eine
Grenze
der
Verfügbarkeit
über
den
Körper
ist
vielmehr
ein
Politikum,
ein
freier
Akt
des
Anerkennens,
ein
entschiedenes
und
bis
auf
weiteres
fraglos
zu
gelten
habendes
Gebot,
so
und
nicht
anders
miteinander
(bzw.
mit
menschlichen
Körpern)
umzugehen.
Würdevolles
Umgehen
miteinander
und
Respektieren
von
Grenzen
im
Umgang
mit
Körpern
ist
je
eine
Frage
der
Sitte
(die
ihr
Gerüst
im
herrschenden
Recht
hat),
aber
keine
von
lediglich
zu
ratifizierender
Tatbeständen.
Dass
die
Würde
als
unantast
bar
gilt,
war
bei
uns
bis
dato
so
Sitte
und
wir
wollen,
dass
dies
so
bleibt,
oder
wollen
es
nicht.
Konkrete
Vorfälle
von
unwürdigem
Miteinander
O
konnten
bis
dato
kritisiert
und
verurteilt
werden,
weil
die
Würde
fraglos
als
unantastbar
gilt.
So,
wie
es
„keinen
logischen
Beweis
gegen
lyrannei
und
Grausamkeit
gibt
(Horkheimer),
so
gibt
es
keinen
feststellbaren
körperli
chen
Tatbestand,
der
rein
als
solcher
nicht
durch
Menschen
veränderbar
und
gestaltbar
wäre.
Gegen
Grausamkeit
spricht
allein,
dass
wir
sie
nicht
wollen
und
für
oder
gegen
einen
grenzenlosen
Umgang
mit
menschlichen
Körpern
spricht
allein,
was
bei
uns
je
Sitte
ist,
und
wie
wir
wollen,
dass
diese
Sitte
bleibt
wie
sie
ist,
oder
dass
sie
anders
zu
werden
habe.
II.
Eine
generelle
Bewertung
der
zunehmenden
Orientierung
am
Wert
„Ge
sundheit
dürfte
schwierig
und,
wie
in
vergleichbaren
Fällen
auch,
ambiva
lent
sein.
Zunächst
scheint
mir
die
Orientierung
an
Gesundheit
rein
als
solche
nicht
sozialer
oder
individualistischer
zu
sein
als
andere
Orientierun
gen
auch.
Eine
Orientierung
an
Solidarität,
die
durch
ein
Helfersyndrom
unterlegt
ist,
ist
vermutlich
nicht
sozialer
als
eine
Orientierung
am
eigenen
Wohlergehen,
die
betont
Faktoren
wie
Luft-
oder
Bodenverunreinigungen
mit
einbezieht.
Freilich
kann
eine
Orientierung
am
je
eigenen
Wohlergehen
zugleich
Ausdruck
einer
Nicht-(mehr)-Orientierung
an
der
Gestaltung
der
gemeinschaftlichen
Welt
sein
und
es
steht
zu
vermuten,
dass
dem
de
facto
häufig
so
ist.
Aber
es
ist
eine
ganz
andere
Frage,
ob
sie
eine
tatsäch
lich
aktive
Orientierung
am
je
eigenen
Glück
ist.
Denkbar
ist
auch,
dass
sich
hinter
ihr
eine
(realistische
oder
resigna(ive)
Einschätzung
der
Starrheit
und
Unveränderbarkeit
der
sozialen
Welt
verbirgt,
der
gegenüber
man
in
je
eigenen
Dingen
wenigstens
noch
Gestaltungsspielraum
habe.
So
oder
so
scheint
mir,
dass
sich
das
gesellschaftliche
Klima
in
die
Richtung
verändert
Gesundheit
53
hat,
dass
die
Bedeutsamkeit
des
je
individuellen
Wohlbefindens
größer
geworden
ist.
Ein
politischer
Einsatz
zur
Veränderung
der
sozialen
Welt,
der
primär
motiviert
ist
durch
eine
Haltung,
dass
es
den
Kindern
und
En
keln
einmal
besser
gehen
möge,
dürfte
es
generell
schwerer
haben.
Man
mag
das
bedauern,
denn
ohne
Zweifel
treibt
in
diesem
Klima
so
manche
Form
des
Narzissmus
ihre
Blüten.
Unter
dem
Strich
scheint
es
mir
jedoch
ein
Gewinn
zu
sein.
Im
Prinzip
wird
das
gesellschaftliche
Klima
abwechslungsreicher,
wenn
jeder
und
jede
Einzelne
sich
als
eigenbedeutsam
und
unverwechselbar
begreift.
De
facto
wird
dieses
Prinzip
vielfach
dort
bereits
konterkariert,
wo
es
mitnichten
um
eigenes
Wohlbefinden
geht,
sondern
um
die
Erfüllung
einer
Norm,
des
Ge
wichts,
des
Blutdrucks
oder
eines
mit
Pulsmessgeräten
in
Schach
gehalte
nen
kontrollierten
Pulses
-
so
als
habe
es
Mardi
Grass,
Ment
Loaf,
Obelix
und
all
die
anderen
nie
gegeben
-,
oder
wenn
es
um
die
Erfüllung
der
all
gemeinen
Norm
geht,
etwas
Besonderes
sein
zu
wollen.
Zugleich
scheint
mir,
dass
dieser
Gewinn
zur
Zeit
nicht
zum
'fragen
kommt.
Es
ist
ja
gerade
nicht
so,
dass
das
je
eigene
Wohlbefinden
nur
von
einem
selber
abhängt.
Je
individuelles
Glück
ist
doch
wohl
als
Artikulation
allgemeiner
Sitte
zu
verstehen.
Und
eine
zivilgesellschaftlichc
Debatte
um
den
Zustand
und
die
Veränderungs-
bzw.
Beharrungsoptionen
dieser
Sitte
wird
zur
Zeit
am
Stammtisch
einerseits
und
in
Expertenkulturen
(Ethik
kommissionen
etc.)
andererseits
geführt.
Die
klassische
Trennung
von
Privatheit
und
Öffentlichkeit
in
zivilgesellschaf(liehen
Angelegenheiten
scheint
mir
eher
zementiert
als
durchbrochen
zu
werden.
Dass
jede
Eigen-
bedcutsamkeit
des
Individuellen
in
ziviigesellschaftlicher
Öffentlichkeit
spürbar
zählt
und
nicht
nur
im
Privaten
toleriert
und
ausgchalten
werden
muss
-,
das
scheint
mir
nach
wie
vor
eine
pure
Utopie
eines
gesunden
Kli
mas
unserer
gelebten
Sitte
zu
sein.
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