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Europäische Sicherheit angesichts eines abrupten oder graduellen Rückgangs amerikanischer Sicherheitsgarantien

Authors:

Abstract and Figures

Zusammenfassung Es wird für die Europäer Zeit, sich darüber Gedanken zu machen wie man damit umgeht, dass in den USA die Bereitschaft deutlich sinkt, den Europäern Garantien für ihre Sicherheit zu geben. Diese Furcht wird besonders durch die Aussicht auf eine Wiederwahl von Donald Trump als Präsidenten genährt. Aber auch wenn Trump es nicht schaffen sollte, muss konstatiert werden, dass eine der beiden Systemparteien in den USA – die Republikaner – nicht mehr hinter den internationalen Engagements ihres Landes stehen. In diesem Artikel wird die innenpolitische Entwicklung in den USA daraufhin analysiert, wie sicher wir uns der amerikanischen Garantie in den kommenden Jahren noch sein können. Ausgehend von dieser Analyse werden unterschiedliche Szenarien vorgestellt, wie sich ein abrupter oder ein kontinuierlicher Rückgang der US-Sicherheitsgarantie vollziehen könnte. Dem folgt eine Erörterung der politischen Optionen, die die deutsche Politik einschlagen sollte – und zwar jetzt, bevor es zu spät ist. Der Verfasser plädiert dafür, die schon lange geforderte Umverteilung der militärischen Lasten zwischen den USA und den Europäern endlich anzugehen, im Rahmen einer kooperativen Auseinandersetzung mit den USA – solange diese noch möglich ist.
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SIRIUS 2024; 8(3): 251–266
Aufsatz
Joachim Krause*
Europäische Sicherheit angesichts eines abrupten
oder graduellen Rückgangs amerikanischer
Sicherheitsgarantien
https://doi.org/10.1515/sirius-2024-3002
Zusammenfassung: Es wird für die Europäer Zeit, sich
darüber Gedanken zu machen wie man damit umgeht, dass
in den USA die Bereitschaft deutlich sinkt, den Europäern
Garantien für ihre Sicherheit zu geben. Diese Furcht wird
besonders durch die Aussicht auf eine Wiederwahl von
Donald Trump als Präsidenten genährt. Aber auch wenn
Trump es nicht schaffen sollte, muss konstatiert werden,
dass eine der beiden Systemparteien in den USA– die Re-
publikaner– nicht mehr hinter den internationalen Enga-
gements ihres Landes stehen. In diesem Artikel wird die
innenpolitische Entwicklung in den USA daraufhin analy-
siert, wie sicher wir uns der amerikanischen Garantie in
den kommenden Jahren noch sein können. Ausgehend von
dieser Analyse werden unterschiedliche Szenarien vor-
gestellt, wie sich ein abrupter oder ein kontinuierlicher
Rückgang der US-Sicherheitsgarantie vollziehen könnte.
Dem folgt eine Erörterung der politischen Optionen, die die
deutsche Politik einschlagen sollte– und zwar jetzt, bevor
es zu spät ist. Der Verfasser plädiert dafür, die schon lange
geforderte Umverteilung der militärischen Lasten zwi-
schen den USA und den Europäern endlich anzugehen, im
Rahmen einer kooperativen Auseinandersetzung mit den
USA– solange diese noch möglich ist.
Stichworte: Deutschland, USA, Republikanische Partei,
NATO, Lastenteilung, strategische Handlungsfähigkeit
Europas, erweiterte nukleare Abschreckung
Abstract: It is time for the Europeans to think about how
to deal with the fact that the willingness in the USA to give
Europeans guarantees for their security is declining sig-
nificantly. This fear is particularly fueled by the prospect
of Donald Trump being re-elected president. But even if
Trump does not make it, it must be stated that one of the
two system parties in the USA– the Republicans– no longer
supports their country’s international commitments. The
article analyzes domestic political developments in the U.S.
to determine how sure we can still be of the American guar-
antee in the coming years. Based on this analysis, different
scenarios are presented as to how an abrupt or a contin-
uous decline in the US security guarantee can take place.
This is followed by a discussion of the political options that
the German policy should take– now, before it is too late.
The author argues that the long-demanded redistribution of
military burdens between the US and the Europeans should
finally be tackled now, within the framework of a coopera-
tive debate with the US– as long as this is still possible.
Keywords: Germany, USA, Republican Party, NATO, bur-
den-sharing, strategic autonomy of Europe, extended
nuclear deterrence
1Einleitung
Die Sicherheit Europas– sowohl was den Schutz vor Russ-
land als auch was Interventionen in Krisen betrifft– hängt
seit vielen Jahren in hohem Maße von dem dauerhaften
Interesse der USA an Europa und der Bereitschaft Wa-
shingtons ab, militärisch und diplomatisch die Handlungs-
fähigkeit des atlantischen Bündnisses herzustellen. Dieser
Zustand ist wiederholt bemängelt worden. Eine Trans-
formation der NATO zu einem gleichgewichtigen Bündnis
zwischen Europäern und den USA wird zwar seit den
1990er-Jahren gefordert, diese ist jedoch regelmäßig von
der Politik Deutschlands und auch anderer europäischer
Regierungen missachtet worden. Die meisten europäischen
Staaten haben sich an diesen Zustand gewöhnt und ihre
*Kontakt: Prof. Dr.Joachim Krause, Geschäftsführender Herausgeber
von SIRIUS, E-Mail: Jkrause@politik.uni-kiel.de.
Der Beitrag basiert auf einem Papier, das der Verfasser für die Liebenberg
Konferenz geschrieben hatte, die von der Gesellschaft für Sicherheitspoli-
tik e. V. und dem Mittler Report Verlag vom 6.–8.Mai 2024 veranstaltet
wurde. Der Verfasser dankt all denen, die Kommentare und Ergänzungen
gegeben haben, insbesondere General a.  D. Manfred Lange, Brigadege-
neral a.  D. Rainer Meyer zum Felde und Professor Dr.Karl Kaiser.
Open Access. © 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons
Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
252  Joachim Krause
Verteidigungslasten in den vergangenen 35Jahren deutlich
heruntergefahren.
Die Staaten Europas waren und sind zu einem Einsatz
ihrer Militärkräfte nicht in der Lage, der über begrenzte
Interventionen unter günstigen Bedingungen hinausgeht.
In den meisten Interventionen der vergangenen drei Jahr-
zehnte war nichts ohne die Mitwirkung der USA möglich.
Die Europäer wären derzeit nicht in der Lage, trotz beein-
druckender Streitkräfte und Verteidigungsausgaben, einen
Angriff Russlands auf einen ihrer Mitgliedstaaten alleine
abzuwehren.
Mit dem Ukraine-Krieg hat sich in vielen europäischen
Staaten mittlerweile das Bewusstsein durchgesetzt, dass
mehr für die Bündnisverteidigung und den Abwehrkampf
der Ukrainer getan werden muss. Aber angesichts der
Wahlen im November in den USA macht sich eine neue Ver-
unsicherung breit: Sollte Donald Trump gewinnen, ist nicht
mehr auszuschließen, dass sich die USA aus der NATO zu-
rückziehen und die Europäer sich selber überlassen. Zwar
wäre es objektiv gesehen nicht im Interesse der USA, sich
aus den Bindungen an Europa zu lösen, denn es handelt
sich um wichtige Verbündete, die man gerade angesichts
der stärker werdenden Rivalität mit China nötig hätte.
Außerdem sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Verbindungen zwischen Europa und Nordamerika sehr
eng und beiderseitig vorteilhaft. Aber in der Politik obsiegt
nicht immer die Vernunft, Emotionen sind oftmals stärker.
Und bei Donald Trump ist mit allem zu rechnen, sowohl mit
irrationalen Entscheidungen als auch mit Anfällen von Ver-
nunft. Aber auch ohne einen Präsidenten Trump wird es
für die Europäer Zeit, sich darüber Gedanken zu machen
wie damit umzugehen ist, dass in den USA die Bereitschaft
deutlich sinkt, den Europäern Garantien für ihre Sicherheit
zu geben, die diese auch alleine herzustellen in der Lage
wären. Dies gilt insbesondere angesichts der zunehmenden
militärischen Bedrohung der USA und ihrer Verbündeten in
Asien-Pazifik durch China. Europa ist nicht mehr die wich-
tigste strategische Gegenküste der USA.
Worauf müssen die Europäer sich mit Blick auf die USA
einstellen? Wie muss man sich die eventuelle Rücknahme
amerikanischer Sicherheitsgarantien vorstellen? Welche
Herausforderungen ergeben sich daraus für Deutsch-
land und seine europäischen Nachbarn? Welche Optionen
stehen den europäischen Regierungen und den Institutio-
nen des Westens (EU, NATO) zur Verfügung und was sind
die Mindestvoraussetzungen für eine europäische Verteidi-
gung, die weitgehend alleine auf sich gestellt ist– angesichts
1Jäger 2024.
2Colby 2021.
einer fortbestehenden russischen Bedrohung? Und welche
Optionen hat die deutsche Politik in dieser Lage? Welche
Ergebnisse lassen sich durch ein aktives Mitgestalten erzie-
len? Was hätte Passivität zur Folge? Im Folgenden soll eine
nüchterne Auseinandersetzung mit diesen Fragen angeris-
sen werden. Die hiesige Diskussion in den Medien ist häufig
sehr oberflächlich und landet schnell bei der Frage nach
deutschen oder europäischen Atomwaffen. In der Politik
herrscht eine große Scheu, dieses Thema aufzugreifen. Und
wenn das mal geschieht, dann gerät es auch schnell wieder
in Vergessenheit. Mancher erinnert sich noch an die Rede
von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2017 in einem
Bierzelt in München, wo sie sagte: „Die Zeiten, in denen
wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück
vorbei.“ Das wurde damals frenetisch begrüßt. Wer erwar-
tet hatte, dass daraus ein Politikwechsel– etwa eine Stär-
kung der Bundeswehr oder eine distanziertere Haltung zu
Russland– resultierte, der sah sich enttäuscht. Es passierte
danach gar nichts.
Nur heute– fast drei Jahre nach dem Überfall Russ-
lands auf die Ukraine und angesichts der Möglichkeit, dass
Donald Trump erneut Präsident der USA werden könnte–
ist die deutsche Politik gefordert, sich dieses unangeneh-
men Themas anzunehmen und nicht wie bisher den Kopf
in den Sand zu stecken und darauf zu hoffen, dass alles
am Ende doch nicht so schlimm wird. Wissenschaft kann
in dieser Situation dazu beitragen, dass die entsprechende
Debatte seriös und sachorientiert bleibt und nicht gleich in
Dystopien oder in völlig unrealistischen Phantasiegebilden
endet. Dieser Aufsatz ist ein Versuch in diese Richtung. Zu
diesem Zweck wird in einem ersten Schritt die innenpoli-
tische Entwicklung in den USA daraufhin analysiert, wie
sicher wir uns der amerikanischen Garantie in den kom-
menden Jahren noch sein können. Ausgehend von dieser
Analyse werden unterschiedliche Szenarien vorgestellt, wie
sich ein abrupter oder ein kontinuierlicher Rückgang der
US-Sicherheitsgarantie darstellen lässt. Dem folgt eine Er-
örterung der politischen Optionen, die die deutsche Politik
einschlagen sollte.
Der Verfasser plädiert dafür, die schon lange geforderte
Umverteilung der militärischen Lasten zwischen den USA
und den Europäern jetzt endlich anzugehen, und zwar im
Rahmen einer kooperativen Auseinandersetzung mit den
USA– solange diese noch möglich ist.
3Die Rede kann man auszugsweise hören unter https://www.spiegel.
de/politik/deutschland/angela-merkel-zeigt-sich-nach-g7-gipfel-
enttaeuscht-von-donald-trump-a-1149588.html.
Europäische Sicherheit  253
2Mögliche Entwicklungen in den
USA
Für die meisten Beobachter wäre ein Sieg Donald Trumps
bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 das
schlimmste Szenario. Trump könnte der NATO den Rücken
kehren und, wie angekündigt, in „Verhandlungen“ mit Putin
einen „Deal“ zur Beendigung des Ukraine-Krieges beginnen.
Das wäre der Super-GAU europäischer Sicherheit. Auf diese
Lage traut sich– zumindest offen– kaum eine europäische
Regierung einzustellen. Alle hoffen, dass Trump nicht ge-
winnen wird. Diese Hoffnung ist nicht unbegründet, aber es
gibt keine Garantie auf einen Sieg von Kamala Harris und
der Demokraten in beiden Häusern.
Aber selbst im Falle einer Niederlage Trumps bei der
Präsidentschaftswahl bleibt das Hauptrisiko unserer Si-
cherheit bestehen: die Radikalisierung der Republikanischen
Partei. Diese durchläuft seit drei Jahrzehnten einen Prozess
der Radikalisierung durch extreme rechtsgerichtete Kräfte,
die in Trump ihren Anführer sehen, dem sie geradezu mit
messianischem Eifer folgen. Trump hat mit Make America
Great Again (MAGA) eine Bewegung geschaffen, die 40
4Zur Entwicklung und Radikalisierung der Republikanischen Partei
vgl. Lütjen 2016, Lütjen 2020, Popkin 2021, Milbank 2022, Janda 2022
und Adorf 2024.
bis 50 Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen um-
fassen dürfte und mit deren Hilfe er die Republikanische
Partei radikalisiert hat. Der Ausgang der Vorwahlen 2024
hat gezeigt, dass die Graswurzelbewegungen von MAGA
die Kandidatenaufstellung zunehmend kontrollieren und
Donald Trump ein Maß an Kontrolle über die Partei hat, wie
es bislang noch kein Politiker dieser Partei geschafft hat.
Die Bewegung MAGA ist kein monolithischer Block. In
ihr befinden sich radikale Evangelisten, radikale Kritiker
eines starken Staates (Tea-Party-Bewegung, Milizen), An-
hänger der Waffenlobby, rechtsextreme Gegner jeglicher
Migration, Rassisten, Kritiker von Aufklärung, Moderne
und Wissenschaftlichkeit sowie traditionelle Isolationisten,
deren Forderungen keinesfalls immer zueinander passen.
Das sieht man bei Themen wie Abtreibung oder Unterstüt-
zung für Israel. Die extremen Vorstellungen der Evangelika-
len zur Abtreibung werden nicht überall geteilt, ebenso wie
deren unbedingte Unterstützung des Staates Israel.
Trotz dieser widersprüchlichen Positionen hat sich
Trump zum Führer dieser Bewegung gemacht, obwohl er
persönlich keinesfalls alle diese Positionen teilen muss.
5Krause 2021.
6Editorial Board: Trump’s Conquest of the Republican Party Matters
to Every American, New York Times, 6.3.2024
7Karen Tumulty: How Donald Trump came up with ‚Make America
Great Again‘, Washington Post, 18.1.2017.
Donald Trump vor einer ihn begeistert zuhörenden Menge
254  Joachim Krause
Es sind sein Redetalent und seine Hemmungslosigkeit im
Umgang mit Wahrheit und Tabus, die ihm diese Machtposi-
tion verschafft haben. Die Existenz dieser Massenbewegung
macht ihn für den Fall eines Sieges auch zum Getriebenen
dieser Menschen und ihrer radikalen Ziele. Von daher
würde eine zweite Trump-Administration anders aussehen
als die erste. Letztere bestand weitgehend aus Republika-
nern mit Regierungserfahrung, die in traditionellen Bahnen
dachten und professionell agierten. In einer zweiten Ad-
ministration muss man damit rechnen, dass die Mehrheit
der politischen Positionen von Menschen besetzt wird, bei
denen die Ergebenheit zu Trump und den Ideologien der
MAGA im Vordergrund stehen. Das Gleiche dürfte sich in
beiden Kammern des Kongresses wiederholen. Hauptsäch-
lich im Repräsentantenhaus, aber auch im Senat, werden
die extremen MAGA-Kräfte zunehmen und vor allem ver-
suchen, radikale Entscheidungen zu bewirken oder zu er-
zwingen.
Wenn man versucht, den Kosmos der MAGA-Bewegung
auf zentrale Themen zu reduzieren, bei denen im Falle
eines Sieges von Trump und der Republikaner im Kongress
am ehesten politische Veränderungen erwartet werden
können, dann sind das die folgenden:
Die Abwehr der illegalen Migration durch Grenzbefes-
tigungen zur Verhinderung neuer Einwanderung sowie
die Internierung und massenweise Ausweisung illega-
ler Migranten aus den USA.
Der massive Abbau des Bundesstaates durch Schlie-
ßung von Behörden, Rücknahme von Auflagen (beson-
ders für Klima und Umwelt) sowie die Reduzierung von
Bundessteuern.
Ein voranschreitender außenpolitischer Isolatio-
nismus, zumindest gegenüber Europa, vermutlich
weniger gegenüber Ostasien, wo die USA Verbündete
gegen China brauchen. Aber auch hier kann nicht
ausgeschlossen werden, dass Trump sich entschließt,
Taiwan den Chinesen zu überlassen.
Mit diesen drei Themen würden in den USA wieder jene
Positionen mehrheitsfähig, die in den 1930er- und 1940er-
Jahren des 20.Jahrhunderts vorherrschten. Diese Einstel-
8Philip Bump: What might happen after another inauguration of
Donald Trump?, Washington Post, 22.4.2024; siehe auch The Heritage
Foundation: Project 2025. Building now for a conservative victory
through policy, personnel, and training, https://www.project2025.org/.
9Vgl. Janes 2024, Fukuyama 2024, siehe auch Beth Reinhard: Trump lo-
yalist pushes ‚post-Constitutional‘ vision for second term. Russ Vought,
the former president’s budget director, is laying the groundwork for
a broad expansion of presidential powers, Washington Post, 8.6.2024.
10Vgl. Bennet 1995.
lungen haben die Roosevelt-Administration daran gehin-
dert, frühzeitig die Kriegsbereitschaft des Dritten Reiches
gemeinsam mit Briten und Franzosen einzudämmen. In
einer Zeit, in der Russland zu einem faschistischen Staat ge-
worden ist, der Europa seine Ordnung mit Gewalt aufzwin-
gen will, wäre das eine fatale Entwicklung.
Man mag dagegen argumentieren, dass Trump 77Jahre
alt ist und auch nicht ewig leben und vor allem politisch
aktiv sein kann. Das ist korrekt, aber die Massenbewegung,
die er in Bewegung gesetzt hat und die dadurch ausgelöste
Polarisierung der Gesellschaft bleiben auf absehbare Zeit
bestehen– und die damit verbundene Lähmung der Politik.
Wenn Trump nicht mehr wäre, gäbe es viele Nachahmer,
11Vgl. hierzu Trefousse 1969.
12Eine andere Einschätzung findet sich bei MarcA. Thiessen: The
myth of MAGA isolationism. Like their leader, Trump voters don’t want
to retreat from the world. But they do want to win, Washington Post,
25.6.2024. Thiessen zitiert aus einer Analyse des Reagan-Institute, die
Republikaner unterschiedlicher Zuordnung befragt haben. Demnach
seinen auch die MAGA-Anhänger in der Mehrzahl positiv zur NATO
und zur Übernahme internationaler Verantwortung bereit. Schaut
man sich das prospektive Führungspersonal um Trump an, dann ge-
winnt man allerdings einen anderen Eindruck.
Ein Trump-Mobil der MAGA-Anhänger in Concord, New Hampshire
Europäische Sicherheit  255
die sein „Erbe“ fortsetzen und die Republikaner möglicher-
weise noch weiter radikalisieren würden.
In einem politischen System wie dem der USA, in dem
eine der beiden Systemparteien durch radikale Graswur-
zelbewegungen in dieser Größenordnung in eine rechts-
extreme Ecke gesteuert wird, werden Wahlen zum Kongress
(alle zwei Jahre) und zum Präsidentenamt (alle vier Jahre)
zu existenziellen Risiken für Regierungen und Nationen,
deren Überleben von einer Sicherheitsgarantie der USA
abhängt. Das ist die zentrale Herausforderung, der sich
Deutschland und seine Partner in Europa und Asien in einer
Phase ausgesetzt sehen, in der die militärische Bedrohung
durch Russland, unterstützt durch China, zunimmt.
3Szenarien des Rückgangs oder
der Rücknahme der amerikani-
schen Sicherheitsgarantie für
Europa
Der Rückgang des amerikanischen Sicherheitsbeistands
und die Rücknahme der Sicherheitsgarantien müssen nicht
in einem Schritt erfolgen. Vielmehr ist von unterschiedli-
chen Szenarien auszugehen:
Erstes Szenario: Beendigung der amerikanischen Mili-
tärhilfe und Wirtschaftshilfe für die Ukraine. Dieses Sze-
nario war zwischen Oktober 2023 und April 2024 bittere
Realität. Getrieben von einer kleinen, aber radikalen
Minderheit im Haus und tatkräftig unterstützt durch
Donald Trump blockierten Republikaner die Freigabe
von Mitteln für die Ukraine beziehungsweise von
Mitteln, mit denen amerikanische Streitkräfte (zumeist
das Heer) Beschaffungen vornehmen wollten als Ersatz
für Waffen, die an die Ukraine geliefert wurden. Die
Blockade führte zu einer erheblichen Gefährdung der
ukrainischen Verteidigung. Zwar sind die Lieferungen
nach einem entsprechenden Gesetzgebungsbeschluss
wieder aufgenommen worden. Aber die Gefahr bleibt
bestehen, dass Trump erneut seine Meinung ändert
und die Zahl der radikalen MAGA-Anhänger in der
Fraktion der Republikaner im Haus zunimmt.
Zweites Szenario: Konditionierung amerikanischer Si-
cherheitszusagen für Europa durch den Kongress oder
gar den Präsidenten. Derartige Überlegungen gab es
13Vgl. Nikolas Busse: Trump ist nur ein Symptom, Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 30.1.2024.
14Rhode 2024.
schon in den 1960er- und 1970er-Jahren. Eine derartige
Konditionalität könnte sich auf die zwei Prozent Vertei-
digungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt eines jeden
Landes beziehen, es könnten aber auch drei oder gar
vier Prozent gefordert werden. Während zwei Prozent
für viele europäische NATO-Mitglieder mit einer hohen
Schuldenlast und anspruchsvollen Sozialsystemen
schon derzeit kaum vorstellbar sind (insbesondere in
Südeuropa oder in Belgien), wären drei oder gar vier
Prozent für Deutschland oder Frankreich und Groß-
britannien innenpolitisch schwer umzusetzen. Sollte
es nicht zur Erfüllung der amerikanischen Konditionen
kommen, könnte das in der Folge bedeuten, dass ein re-
publikanisch dominierter Kongress (oder auch nur eine
Kammer) Gelder für die Stationierung amerikanischer
Truppen in Europa schrittweise kürzt oder sperrt. Eine
derartige Entwicklung ist auch denkbar unter einer Prä-
sidentin Harris, sofern in einer der beiden Kammern
eine Mehrheit von Republikanern besteht. Aber unter
diesem Szenario sind Möglichkeiten der kooperativen
Auseinandersetzung möglich (siehe unten).
Drittes Szenario: Aufkündigung des Nordatlantik-Ver-
trages. Ein derartiger Schritt wäre nur unter der Be-
dingung denkbar, dass Donald Trump erneut Präsident
der USA wird. Dieser Schritt würde entsprechend der
amerikanischen Gesetzeslage allerdings erfordern,
dass eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Senats dem zu-
stimmt. Das bleibt absehbar unwahrscheinlich. Aber
da die Beistandsverpflichtung gemäß Artikel 5 des
Nordatlantik-Vertrags der amerikanischen Regierung
sehr viel Spielraum im Falle einer Aggression gegen
einen Mitgliedstaat des Bündnisses lässt (bis dahin,
dass man nichts tut), wäre unter einem Präsidenten
Donald Trump nicht zu erwarten, dass er den Vertrag
kündigen muss. Er kann einfach nur erklären, dass er
die Beistandspflicht nur dann gegeben sieht, wenn die
Europäer genug für ihre eigene Verteidigung ausgeben.
Derartige Stellungnahmen hat er wiederholt abgege-
ben, das Problem dabei ist nur, dass er nie klar gesagt
hat, was er damit konkret meint. Und man sollte davon
ausgehen, dass er darüber auch keine klaren Vorstel-
lungen hat. Aber das wäre ein Ausgangspunkt für einen
kooperativen Ansatz zur Neuverteilung der Verteidi-
gungslasten. Das heißt, man zeigt Bereitschaft für eine
erhöhte Lastenübernahme, erkundigt sich aber erst
einmal, was die andere Seite konkret im Auge hat.
15Zum Thema „Lastenteilung in der Geschichte der deutsch-amerika-
nischen Beziehungen“ vgl. Thiel 1979 sowie Zimmermann 1996.
16Vgl. Maegan Vazquez: Congress approves bill barring presidents
from unilaterally exiting NATO, Washington Post, 18.12.2023.
256  Joachim Krause
Viertes Szenario: Austritt aus der integrierten Struktur
der NATO und Rückzug weitgehend aller US-Truppen
aus Europa bei Verbleib einer nuklearen Garantie: Ein
solcher Austritt könnte aufgrund einer Entscheidung
durch einen Präsidenten Trump erfolgen. Entschei-
dend ist dabei der Zeitraum, der den Europäern ver-
bleibt, um die amerikanischen Verbände zu ersetzen.
Die Beibehaltung von nuklearen Garantien könnte
durch den Wunsch motiviert sein, zu verhindern, dass
sich europäische Staaten nuklear bewaffnen. Es würde
erfordern, dass ein gewisses Kontingent an amerikani-
schem Militär in Europa verbleibt. Auch dieses Szena-
rio würde einen kooperativen Ansatz zur Neuvertei-
lung der Lasten in der NATO erlauben. Er könnte einen
Prozess in Gang bringen, in dessen Rahmen nach einer
neuen Formel des Lastenausgleichs gesucht wird.
Fünftes Szenario: Austritt aus der integrierten Struktur
der NATO und Rückzug weitgehend aller US-Truppen
aus Europa unter Aufgabe der nuklearen Garantie. Auch
dieses Szenario ist nur unter einer Präsidentschaft
Trump denkbar und würde den größten annehmbaren
Schaden für europäische Sicherheit bedeuten. Es wäre
eine totale Katastrophe für Deutschland und Europa
und würde keinen Ansatzpunkt für eine kooperative
Lösung zur Neuverteilung der Lasten erlauben.
Sechstes Szenario: Austritt der USA aus der integrierten
Struktur der NATO, verbunden mit der Bereitschaft,
jenen Staaten bilateral eine Sicherheitsgarantie zu
geben, die genügend Mittel für ihre eigene Verteidi-
gung ausgeben. Damit würde der multilaterale Charak-
ter des Bündnisses der USA mit europäischen Staaten
wegfallen. Auch Nukleargarantien könnten sich nur
auf jene Staaten beziehen, die ohnehin viel für ihre Ver-
teidigung ausgeben und in denen US-Soldaten auf der
Basis bilateraler Vereinbarungen stationiert bleiben.
Inwieweit dieses Szenario realistisch ist, ist fraglich.
Es hängt davon ab, wie viele Staaten bereit wären, sich
auf derartige bilaterale Abkommen einzulassen. Aber
man kann nicht ausschließen, dass eine derartige Ent-
wicklung kommt. Auch dieses Szenario würde keinen
Ansatzpunkt für eine kooperative Lösung zur Neuver-
teilung der Lasten erlauben.
All dieses sind idealtypische Szenarien. Es kann im Einzel-
fall ganz anders kommen, gerade bei einem so erratischen
Präsidenten wie Donald Trump und unter Bedingungen
einer Republikanischen Partei, die sich in vielen Dingen
keinesfalls schon einig ist. Aber es ist anzuraten, sich auf
derartige Szenarien einzustellen. Am schlimmsten wäre
es, wenn Trump Präsident würde und die Republikaner
in beiden Häusern die Mehrheit hätten. Kritisch könnte es
schon werden, wenn Kamal Harris die Wahl gewinnt, aber
in einer der beiden Kammern (oder in beiden) die Republi-
kaner die Mehrheit hätten. Erleichterung würde sich ein-
stellen, wenn Harris Präsidentin würde und beide Häuser
von Demokraten kontrolliert würden. Aber alle zwei Jahre
finden Wahlen zum Repräsentantenhaus statt und jedes Mal
würde das Zittern wieder losgehen. Die politische Polarisie-
rung in den USA bleibt bestehen, und der Eifer der immer
extremistischer werdenden MAGA wird nicht nachlassen.
4Welche Herausforderungen
bedeuten diese Szenarien für
Deutschland und Europa?
Jedes dieser Szenarien – aber insbesondere die beiden
zuletzt genannten – würde die Gefährdung, wenn nicht
sogar den Kollaps der internationalen Sicherheitsstruktur
bedeuten, die für mehr als 70Jahre für Frieden in Europa
gesorgt hat; das eine Szenario mehr, das andere weniger
radikal. Die Zeitrahmen für die Implementierung der Sze-
narien sind unterschiedlich. Es könnte sich lohnen – so
manche Beobachter– eine Trump-Administration auszusit-
zen. Aber das könnte sich auch als Fehler erweisen. Diese
Szenarien sind insbesondere deshalb kritisch, weil wir
eine klare russische Bedrohung haben. Tatsächlich wird es
darum gehen müssen, die in den ersten vier Szenarien auf-
geführten Chancen für eine Verhandlungslösung zu nutzen,
bei der sich die USA und die europäischen Mitgliedstaaten
(allen voran Deutschland, Großbritannien, Frankreich und
Polen) auf eine zeitlich gestreckte Neuverteilung der kon-
ventionellen Verteidigungslasten einigen. Dies wäre mit der
Harris-Administration leichter möglich als mit einer
Trump-Administration. Aber auch mit einem Präsidenten
Trump wäre eine solche Lösung denkbar. Am schlimmsten
wäre es, gar nichts zu tun und abzuwarten, dass sich die
Dinge von alleine klären.
Die Staaten Europas werden – wie es der frühere
schwedische Ministerpräsident Carl Bildt kürzlich ausge-
drückt hat– unter der Bedingung eines langsamen oder
abrupten Rückzugs der USA aus der Verteidigung Europas
„sehr schmerzliche Entscheidungen“ treffen müssen– was
immer er sich darunter vorgestellt hat. Es kommt darauf
an, Lösungen zu finden, die nicht „sehr schmerzlich“ sind,
sondern unter denen ernsthaft die Verteidigungsfähigkeit
Europas gestärkt wird. Angesichts der Tatsache, dass Russ-
17Zitiert bei Fareed Zakaria: At Davos, all eyes are on America’s pre-
sidential election, Washington Post, 18.1.2024.
Europäische Sicherheit  257
land 142Millionen Einwohner hat und ein Bruttoinlands-
produkt (BIP) von 1,2 Billionen US-Dollar (kaufkraftberei-
nigt etwa 3,5 Billionen) aufweist, sollten die EU-Staaten und
Großbritannien mit 500Millionen Menschen und einem BIP
von etwa 18 Billionen Euro in der Lage sein, sich selbst zu
verteidigen. Das setzt allerdings einen politischen Willen
und einen sense of drama voraus, den man derzeit lediglich
in Osteuropa finden kann. Und es setzt politische Führung
unter Bedingungen großer innenpolitischer und nationaler
Heterogenität voraus. Und es bedeutet, dass ein Paradig-
menwechsel in der Verteidigungspolitik einsetzt, der wirk-
lich fundamental sein muss.
Es geht ums Ganze und in einer derartigen Lage bleibt
es wichtig, klaren Kopf zu bewahren. Die allfälligen Diskus-
sionen um eine Europa-Armee oder um europäische Kern-
waffen oder gar deutsche Atomwaffen sind dabei eher kon-
traproduktiv. Sie gaukeln Lösungsansätze vor, die entweder
völlig unrealistisch sind oder die die Sicherheitslage nur
verschlimmern würden. Dazu gehört auch die Idee eines
rotierenden nuklearen Einsatzkoffers oder die schlichte
Annahme, wonach die USA den Europäern 1.000 Atomwaf-
fen verkaufen könnten.
Egal wie die Wahlen im November 2024 ausgehen,
Europa wird seine konventionelle Verteidigung gegen Russ-
land und möglicherweise auch eine gewisse Fähigkeit zur
nuklearen Abschreckung selber aufbauen müssen. Selbst
unter der Bedingung eines Sieges der Demokraten bei den
Novemberwahlen werden sich die Staaten Europas (unter
Mitwirkung Großbritanniens und vielleicht auch Kanadas)
dieses Ziel setzen müssen. Solange eine der beiden System-
parteien in den USA den Weg des Isolationismus, der poli-
tischen Selbstzerstörung und der unbedingten Abwehr jeg-
licher Migration gehen will, bleibt das Atlantische Bündnis
in einer Konstellation gefährdet, in der die effektive Militär-
macht von den USA gestellt wird, während die Europäer
munter ihre nationalen und politischen Besonderheiten
pflegen. Notwendig sind eine Umkehrung vieler bisher
geübter Gewohnheiten und die Überwindung der nationa-
len und politischen Fragmentierung. Es bedeutet vor allem
für Deutschland, dass es die pazifistische Grundlinie seiner
Sicherheitspolitik aufgibt und sich in militärischer Macht-
politik übt. Allerdings ist es unbedingt geboten, in dieser
Frage multilateral zu handeln, weil nur so gesichert werden
kann, dass erneut Ressentiments gegen Deutschland auf-
kommen. Wenn es eine Lehre aus mehreren Jahrzehnten
deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt, dann
die, dass Deutschland in Europa immer der Treiber multi-
lateraler Lösungen sein sollte.
18Vgl. hierzu Krause 1996, Krause 2004, Krause 2007 und Krause 2014.
Was den Europäern eine Chance auf Erfolg eröffnet, ist
die Tatsache, dass sich Russland mit seinem Angriffskrieg
auf die Ukraine übernommen hat. Der Krieg hat die 2022
vorhandenen Landstreitkräfte Russlands, die als professio-
nell und gut ausgerüstet galten, weitgehend dezimiert. Russ-
land kämpft gegen die Ukraine mit schlecht ausgebildeten
Reservisten, mit einer mittlerweile stark gebeutelten Luft-
waffe und auch die Schwarzmeerflotte ist weitgehend nicht
mehr operationsfähig. Russland setzt gegen die Ukraine auf
die größere Masse an Material (insbesondere Artilleriemu-
nition) und Menschen. Das kann es tun, weil die westlichen
Staaten sich schwertun, der Ukraine jene Waffen zu liefern,
die sie selber einsetzen würden, um einen russischen
Angriff in der vollen Tiefe des Aufmarschraums abzuweh-
ren. Zwar produziert Russland weiterhin mehr Artillerie-
munition als die gesamte westliche Welt, aber das ist nicht
die einzige Waffenkategorie, die in einem Krieg in Europa
zählen muss, an dem auch modern ausgerüstete westliche
Streitkräfte teilnehmen.
Es ist nicht klar, wie viel Zeit den Europäern bleibt, bis
nach einem Ende des Ukraine-Kriegs Russland in der Lage
sein wird, einzelne Staaten mit einem Angriffskrieg zu über-
ziehen. Optimistische Beobachter gehen von mindestens
fünf Jahren, wenn nicht noch länger aus. Pessimistische
Stimmen setzen den Zeitpunkt sehr viel früher an, etwa bei
zwei bis drei Jahren. Sicher sind sich fast alle Beobachter
(und vor allem die Nachrichtendienste), dass sich Russland
schon jetzt auf einen Krieg mit der NATO vorbereitet.
5Was sind die Optionen deutscher
und europäischer Politik?
Da Sicherheits- und Verteidigungspolitik in erster Linie eine
Angelegenheit nationaler Regierungen ist, muss davon aus-
gegangen werden, dass sich die europäischen Staaten ihre
eigenen Gedanken machen und auf die Kombination der He-
rausforderungen durch Trump und Putin sehr unterschied-
lich reagieren. Es gibt die Versuchung der Anpassungspoli-
tik an Russland, kurz Orbanisierung genannt. Staaten wie
Ungarn oder derzeit auch die Slowakei scheinen der Idee
einer Anbiederungspolitik an Russland nicht abgeneigt zu
sein. Ähnliche Stimmen gibt es in anderen Ländern, ins-
besondere auch in Deutschland, wo die AfD (derzeit die
zweitstärkste Partei), das Bündnis Sarah Wagenknecht
(BSW) und Teile der Partei „Die Linke“ ganz klar russland-
freundliche Positionen vertreten. Diese ähneln auffällig
denjenigen, die die Regierungspartei SPD bis Anfang 2022
vertreten hat. Es ist bis heute noch nicht klar, wie radikal
sich die SPD von diesen Positionen verabschiedet hat. Wer
258  Joachim Krause
immer in den kommenden Jahren die deutsche Bundesre-
gierung stellt, sollte sich der zentralen Rolle Deutschlands
in dieser Frage bewusst sein: Sollte Deutschland einen wie
auch immer gearteten (und mit friedenspolitischen Parolen
garnierten) Sonderweg mit Russland einschlagen, wäre
das das Ende eines freiheitlichen und friedlichen Europas.
Von daher ist es für die deutsche Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik essenziell, dass Berlin eine führende
Rolle bei der Verteidigung Europas in einem multilatera-
len Rahmen übernimmt. Deutschland hat in dieser Phase
der internationalen Politik die einmalige Chance, auch mal
etwas Positives von historischem Gewicht für Europa zu
leisten. Orbanisierung darf keine Option sein.
Eine andere Option wäre die, dass einzelne Staaten
Europas Sonderregelungen mit den USA treffen, um so ihre
Sicherheit vor russischen Aggressionen zu wahren. Polen,
Rumänien und die baltischen Staaten wären die ersten Kan-
didaten dafür. Ob sich das mit einer Trump-Regierung reali-
sieren lässt, steht auf einem anderen Blatt. Aber mit dieser
Möglichkeit muss gerechnet werden, insbesondere dann,
wenn die deutsche Politik durch Ambivalenzen bezüglich
Russlands gekennzeichnet bleibt.
Wenn es aus diesen Überlegungen eines zu schließen
gilt, dann ist es, dass Deutschland eine führende Rolle bei der
Fortführung der Versorgung der Ukraine mit Waffen und bei
dem Aufbau einer konventionellen Verteidigungsfähigkeit
Europas in einem multilateralen Rahmen spielen sollte. Dies
tut es teilweise schon, aber eine gewaltige Erhöhung der
Anstrengungen wäre nötig, sollten die USA als Sicherheits-
garant ausfallen. Dieser multilaterale Rahmen kann nur
die NATO sein. Sie stellt eine komplexe und erprobte Struk-
tur der verteidigungspolitischen und militärstrategischen
Kooperation dar, die auf keinen Fall aufgegeben werden
sollte, selbst wenn sich die USA aus ihr herauszögen. Die
Idee einer europäischen Armee ist reines Wunschdenken.
Es wäre angesichts des oben aufgezeigten Zeitrahmens
unverantwortlich, wollte man eine völlig neue integrierte
Führungsstruktur für Streitkräfte in Europa aufbauen. Die
NATO hat alles vorrätig, was notwendig ist, und sie garan-
tiert, dass Großbritannien mit dabei ist (und Kanada). Die
Beibehaltung der NATO würde den USA die Rückkehr in die
Allianz ermöglichen, sollten sich die politischen Verhält-
nisse in Washington wieder ändern. Aber die Europäische
Union kann eine wichtige Rolle bei der Neustrukturierung
und Defragmentierung der europäischen Rüstungsindust-
rie spielen.
Geht man von den oben genannten sechs Szenarien
aus, so ergeben sich die folgenden Optionen.
19Siehe auch den Beitrag von Rainer Meyer zum Felde in diesem Heft.
5.1Militärhilfen für die Ukraine
Sollte die US-Hilfe für die Ukraine erneut ausbleiben,
müssten die Staaten Europas das Niveau ihrer Lieferungen
von Waffen, Rüstungsgütern und vor allem Munition an die
Ukraine mehr als verdoppeln. Um nur mal eine Vorstellung
von den Dimensionen zu geben: Die USA haben bis Ende
2023 der Ukraine etwa 43 Milliarden US-Dollar an Rüstungs-
lieferungen zukommen lassen, die europäischen Staaten im
selben Zeitraum etwa 38 Milliarden US-Dollar. Die Verdop-
pelung der europäischen Militärhilfe für die Ukraine würde
eine erhebliche Zunahme der einheimischen Rüstungspro-
duktion erfordern (auch und gerade von Munition) und die
Nutzung von Möglichkeiten der Beschaffung alter Munition
und Waffensysteme in allen Teilen der Welt. Europäische
Bemühungen zu einer Verstärkung der Rüstungslieferun-
gen an die Ukraine waren in den Monaten zu beobachten,
in denen die Lieferungen aus den USA ausfielen. Auch
Deutschland spielte dabei eine führende Rolle. Aber das
Ergebnis blieb ernüchternd. Die ukrainischen Streitkräfte
leiden immer noch unter erheblichen Defiziten bei Artille-
riemunition und der Luftabwehr und mussten Territorium
aufgeben, um ihre Verteidigungslinien zu verkürzen. Für
die Zukunft kann man daraus nur die Lehre ziehen, dass
es auf politischer Ebene noch erheblicher Impulse bedarf,
damit die hiesige wehrtechnische Industrie entsprechende
Planungen und Initiativen übernehmen kann. Ohne US-
Hilfe würde der militärische Widerstand der Ukraine trotz
europäischer Waffenhilfe zusammenbrechen.
5.2Herstellung einer erfolgreichen
konventionellen Verteidigung Europas
ohne die USA oder mit beschränkten
US-Komponenten
Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage muss
die Bedrohungsanalyse sein. Die Bedrohung, die Russland
derzeit und in absehbarer Zeit für den Rest Europas dar-
stellt, ist in der einschlägigen Fachliteratur klar beschrie-
ben. Diese Bedrohung ist im Prinzip nicht-linearer Natur,
das heißt es gibt keine klare Linie mehr zwischen Krieg und
Frieden. Man muss die Bedrohung als dreistufigen Prozess
20Vgl. Kagan/Bailey 2024.
21Die folgenden Ausführungen basieren auf Monaghan 2015, Wes-
terlund/Norberg 2016, Adamsky 2017, Pynnöniemi 2018, Johnson 2019,
Minic 2023, Watling/Danylyuk/Reynolds 2023 und Minic 2024.
22Zur nicht-linearen Kriegführung allgemein vgl. Beyerchen 1992,
zum russischen Konzept vgl. Schnaufer 2017, Jonsson 2019.
Europäische Sicherheit  259
sehen: Sie besteht aus politischer, hybrider und kinetischer
Kriegführung, wobei die drei Stufen auch unterschiedlich
beschrieben werden können: Subversion ohne Gewaltan-
wendung, verdeckte Gewaltanwendung, und konventionelle
Kriegführung. Die autoritäre und kleptokratische Führung
Russlands führt nicht zuletzt aus Gründen der Stabilisie-
rung der eigenen Herrschaft schon lange einen „politischen
Krieg“ gegen die westlichen Demokratien und gegen alle,
die sich dem internationalen Führungsanspruch Moskaus
entgegensetzen.
Politische Kriegführung ist der Versuch der Destabili-
sierung und der politischen Beeinflussung eines anderen
Landes auf nicht-gewaltsame Weise. Der Instrumenten-
kasten ist breit gefächert. Ein wesentliches Element ist die
Informationskriegführung. Aber auch die Nutzung ethni-
scher Differenzen oder eines innenpolitischen Chaos, der
„Schulterschluss“ mit oppositionellen politischen Kräften
und auch die Bestechung von Personen aus Politik, Medien
und Wirtschaft gehören dazu. Wie man im Fall der Ukraine
sehen konnte, dient politische Kriegführung der Destabili-
sierung von demokratischen Staaten und Gesellschaften
und der unmittelbaren Einflussnahme auf politische Ent-
scheidungsprozesse. Im Fall von Belarus ist das politisch
gelungen, im Fall der Ukraine nicht. Dort zeigte sich,
dass politische Kriegführung (bei Misslingen) die Vorstufe
der hybriden Kriegführung ist, in der Waffengewalt unter-
halb der Ebene des „offenen Krieges“ eingesetzt wird. Bis
2014 war das Land Gegenstand politischer Kriegführung,
in deren Rahmen mit politischen Mitteln (bis hin zur Ver-
giftung von unliebsamen Kandidaten) versucht wurde, das
Land auf Moskauer Kurs zu bringen. Ab 2014 kam es zur
hybriden Kriegführung und im Februar 2022 ging Russland
zur kinetischen, konventionellen Kriegführung über.
Die Kombination aus politischer, hybrider und kine-
tischer Kriegführung verfolgt das Ziel, einzelne Länder
oder Territorien zu destabilisieren und– wenn der richtige
Zeitpunkt erreicht ist– mit Waffengewalt zu unterwerfen.
23Radin 2017.
24Dawisha 2011.
25Zur Informationskriegführung Russlands vgl. Franke 2015, Mölder
2016, Mölder/Sazonov 2018, Fridman 2020, Hansen 2021.
26Zur politischen Kriegführung generell vgl. Robinson/Helmus/
Cohen/Nader/Radin/Magnuson/Migacheva 2018; zur russischen politi-
schen Kriegführung vgl. Galeotti 2017 und Pronk 2019.
27Watling/Danylyuk/Reynolds 2023.
28Frankenthal/de Liedekerke 2022.
29Hybride Kriegführung durch Russland wird nicht als strategisches
Konzept, sondern als operatives Instrument der russischen Kriegfüh-
rung gewertet; vgl. Renz/Smith 2016, Lanoszka 2016, Chivvis 2017a und
Chivvis 2017b, Rusnáková 2017, Fridman 2018, Clark 2020, Pynnöniemi/
Jokela 2020, Berzins 2020, Suchkov 2021.
Dabei geht Russland opportunistisch vor, das heißt es kon-
zentriert sich erst einmal auf Länder, die russische Minder-
heiten haben und deren Regierungen als schwach angese-
hen werden. In der Ukraine läuft dieses Muster derzeit
ab und die baltischen Staaten, Moldau oder auch Polen
befürchten, das nächste Opfer zu sein. Auch Deutschland
ist bereits im Visier politischer und damit hybrider Krieg-
führung seitens Russlands.
Die kinetische oder konventionelle Kriegführung ist
dann die letzte Stufe, bei der auch versucht wird, nach
Möglichkeit kräftesparend, die Schwächen des Gegners aus-
nutzend, vorzugehen, um die gesetzten Ziele zu erreichen.
Ein wesentliches Element ist dabei die Eskalationskontrolle,
das heißt die Fähigkeit, den Ausgang des Krieges im Sinne
Russlands zu steuern. Dies kann durch politische Mittel, die
Erhöhung des Niveaus der konventionellen Kriegführung
oder auch den Einsatz von Kernwaffen oder deren Andro-
hung geschehen. Unter internationalen Experten wird
davon ausgegangen, dass Russland mit dem Einsatz von
Kernwaffen drohen wird, wenn es damit den Krieg erfolg-
reich beenden kann– immer wieder auch als „Eskalation
zur De-Eskalation“ bezeichnet.
Wenn sich Europa selber verteidigen will, dann muss
es gegen diese Strategie ein System der Verteidigung ent-
wickeln, das zwar abschreckend wirkt, aber auch im Fall
einer Kriegseröffnung durch Russland eine effektive Vertei-
digung über längere Zeiträume ermöglicht. Die erfolgreiche
Verteidigung der Ukraine hat gezeigt, dass das möglich ist.
Das bedeutet auch, ein Vorstellungsbild von Kriegen zu ent-
wickeln, welches sich deutlich von dem unterscheidet, das
zur Zeit des Kalten Krieges vorherrschte.
Der Aufbau einer konventionellen Verteidigung
Europas gegen einen russischen Angriff auf eines oder
mehrere Länder erfordert ein strategisches Konzept, das
derzeit in der NATO entwickelt und umgesetzt wird, das
aber auf der Verfügbarkeit US-amerikanischer Fähigkeiten
aufbaut. Der Ersatz dieser Fähigkeiten durch europäische
Streitkräfte muss ernsthaft ins Auge gefasst werden. Das
bedeutet nicht nur erhebliche Zuwächse an Kräften und
Fähigkeiten, sondern deren rechtzeitige Planung sowie die
Sicherstellung von verfügbaren Finanzmitteln und indus-
30Galeotti 2017.
31Vgl. hierzu ausführlich auf der Basis russischer Dokumente Kof-
man/Fink/Gorenburg/Chesnut/Edmonds/Waller 2021.
32Vgl. Kofman/Fink/Edmonds/Stricklin/Baugham/Gorenburg/Chesnut
2020.
33Zum Konzept der Eskalation zur Deeskalation vgl. Kroenig 2018, der
die Mehrheitsmeinung wiedergibt; eine abweichende Meinung findet
sich bei Ven Bruusgaard 2021.
34Vgl. den Beitrag von Rainer Meyer zum Felde in diesem Heft.
260  Joachim Krause
triellen Kapazitäten. Auch hier kommt Deutschland eine
zentrale Rolle zu. Wenn die Regierung in Berlin es schafft,
die Rüstungsausgaben entsprechend zu erhöhen und die
entsprechenden Impulse zu geben, würde das eine positive
Dynamik auslösen.
Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszuge-
hen, dass– gleich wer die Wahlen in den USA im November
2024 gewinnt– über kurz oder lang aus Washington das
Signal kommt, dass sich Europa in die Lage versetzen soll,
seine eigene konventionelle Verteidigung weitgehend oder
vielleicht sogar ausschließlich aus eigener Kraft zu organi-
sieren. Das kann die Folge einer Hinwendung nach Asien
sein, oder– noch wahrscheinlicher– eines nachhaltigen
isolationistischen Impulses aus den Reihen der Republika-
nischen Partei. Die entscheidende Frage ist nur, wie viel
Zeit die Europäer haben werden und wie kooperativ dieser
Prozess ablaufen kann. In einem kooperativen Umfeld und
unter Bedingungen der Einigung auf einen realistischen
Zeitraum könnte man sich vorstellen, dass die NATO-Staaten
Europas innerhalb von zehn Jahren im Prozess des Aufbaus
eines flexiblen Verteidigungsdispositivs in die Lage versetzt
werden, alle oder wesentliche jener militärischen Fähigkei-
ten aufzubauen, die derzeit von den USA im Rahmen der
Bündnisverteidigung gestellt werden. Diese Fähigkeiten gilt
es systematisch aufzulisten und einen Zeitkatalog aufzustel-
len, innerhalb dessen diese durch europäische Fähigkeiten
ersetzt werden. Dabei muss gesichert sein, dass US-Fähig-
keiten erst dann abgezogen werden, wenn die entspre-
chenden europäischen Fähigkeiten verfügbar sind. Dieses
Vorhaben würde erhebliche Anforderungen an die Verteidi-
gungshaushalte in Europa stellen, wobei erschwerend hin-
zukommt, dass alle Staaten eine hohe öffentliche Verschul-
dung aufweisen. Für Deutschland würde es voraussichtlich
bedeuten, dass zwei oder drei weitere „Sondervermögen“
bereitgestellt werden. Es müsste dann auch über die Auf-
hebung der Aussetzung der Wehrpflicht diskutiert werden
und die regulären Verteidigungsausgaben müssten sich bei
einem Anteil von drei Prozent oder mehr am Bruttoinlands-
produkt einpendeln.
Auch müsste eine Transformation der europäischen
wehrtechnischen Industrie einsetzen. Diese ist entlang na-
tionaler Grenzen noch stark fragmentiert und hat erheb-
liche Probleme bei der Beschaffung von Rohstoffen.
35Vgl. den Beitrag von Hans-Christoph Atzpodien in diesem Heft.
NATO-Übung Defender Europe im Mai 2022, hier unter Beteiligung einer französischen Armee-Einheit
Europäische Sicherheit  261
Unter den Szenarien fünf und sechs wären die Europäer
vermutlich mit einer Lage konfrontiert, in der sie keine
ausreichende Zeit hätten, um amerikanische Fähigkeiten
auszugleichen, die sie zur Verteidigung gegen russische Ag-
gressionen einsetzen könnten. Sollte eine republikanisch
geführte US-Regierung (also Administration und Kongress)
diesen Weg einschlagen, wäre das das rapide Ende der
europäischen Sicherheit und der Beginn weiterer russi-
scher Aggressionen.
Unter dem Szenario sechs könnte es sein, dass eine
kritische Masse aus osteuropäischen und skandinavischen
Staaten entsteht, die bilaterale Bündnisse mit den USA als
eine Second-Best-Option ansehen und sich darauf einlassen.
Entscheidend für die Erfolgsaussichten dürfte dann die Mit-
wirkung Deutschlands als logistischer hub sein. Der Verlust
des multilateralen Rahmens wäre für alle beteiligten euro-
päischen Staaten eine erhebliche Einbuße an Souveränität,
aber immer noch besser, als russischen Aggressionen aus-
geliefert zu sein. Angesichts der isolationistischen und teil-
weise russlandfreundlichen Tendenzen in der Republika-
nischen Partei ist es allerdings fraglich, ob dieses Szenario
realistisch wäre und Bestand haben würde.
5.3Die nukleare Frage
In diesem Zusammenhang lässt sich die nukleare Frage
nicht ausblenden. Wenn zu erwarten ist, dass Russland nu-
kleare Waffeneinsätze und deren Androhung in erster Linie
zur Absicherung eroberter Gebiete einsetzen will, so wäre
eine funktionierende konventionelle Abwehr im Rahmen
der NATO schon mal sehr wichtig. Dennoch muss die Frage
nach der nuklearen Abschreckungsfähigkeit neu gestellt
werden.
Wenn wir einen Blick auf die Rolle von Kernwaffen
in der russischen Strategie werfen, so fällt zum einen die
große Anzahl von Kernwaffen auf, die Russland gegen
Europa vorhält. Informierte Schätzungen gehen von bis
zu 2.000 Kernwaffen aus, wobei nicht klar ist, wie viele
davon einsetzbar sind und wie viele in der Reserve liegen.
Die Federation of American Scientists schätzt die Zahl der
operativ einsetzbaren Kernwaffen auf 1.568 ein. Diese
Annahme wird durch die Tatsache unterstützt, dass Russ-
land im vergangenen Jahrzehnt seine Lagerkapazitäten für
taktische Kernwaffen im europäischen Landesteil erheb-
36Vgl. Brauß/Krause 2018.
37Angaben laut HansM. Kristensen/Matt Korda/Eliana Johns/Macken-
zie Knight: Russian nuclear weapons, 2024, Bulletin of Atomic Scientists
Webseite, 7.3.2024.
lich ausgeweitet hat. Träger russischer Kernwaffen sind
Marschflugkörper und ballistische Raketen, die von Land,
von U-Booten und Kriegsschiffen sowie von Flugzeugen aus
gestartet werden und Reichweiten von 400 bis 2.500km
haben. Nach Angaben des IISS verfügt Russland über etwa
30 unterschiedliche Trägersysteme für seine nicht-strategi-
schen Kernwaffen.
Bislang geht man davon aus, dass die nukleare Teilhabe
der Europäer und vor allem das enorme nukleare Potenzial
der mit den Europäern verbündeten USA Russland davon
abhalten, NATO-Staaten mit Kernwaffen anzugreifen. Als
im Herbst 2022 der russische Präsident Putin wiederholt
mit dem Einsatz von Kernwaffen drohte, sollte die Ukraine
nicht kapitulieren, war es eine nicht weiter spezifizierte
Drohung der US-Administration, die ihn zum Nachgeben
brachte. Was wäre, wenn die USA sich faktisch aus der
NATO zurückziehen würden? Dann stünden die Mitglied-
staaten der EU und vor allem die neutralen Staaten Europas
erst einmal ratlos dar. Die USA würden ihre taktischen
Kernwaffen aus Europa abziehen und alles, was der EU
blieb, wären die etwa 280 Kernwaffen Frankreichs, die im
Rahmen der französischen Abschreckungsdoktrin derzeit
alleine der Abschreckung vor einer existenziellen Bedro-
hung Frankreichs dienen. Im NATO-Rahmen kämen noch
die Kernwaffen Großbritanniens hinzu.
Aber was wäre, wenn die USA ihre nukleare Sicher-
heitsgarantie für die NATO aufgeben und die nukleare Teil-
habe beenden (Szenario fünf)? Über diese extreme Lage
wurde in den vergangenen Monaten viel geschrieben und
diskutiert. Vor allem von Personen aus dem politischen und
dem publizistischen Feld (aber auch von Professoren), die
bislang nicht als Experten für Nuklearstrategie aufgefallen
waren, sind dabei eine Reihe von Vorschlägen gekommen,
denen man die Ernsthaftigkeit absprechen sollte. Die Idee
einer Europäischen Atomstreitmacht ist ebenso abwegig
wie die, dass der nukleare „Einsatzkoffer“ Frankreichs
unter verschiedenen europäischen Regierungen rotieren
soll.
Man kann davon ausgehen, dass verschiedene euro-
päische Regierungen überlegen, ob sie angesichts des Dop-
pelproblems Trump/Putin ein eigenes Nuklearwaffenpro-
gramm auflegen sollen. Das wäre die Waltz-Option, benannt
nach dem Politikwissenschaftler Kenneth Waltz, der Anfang
der 1980er-Jahre die Behauptung vertrat, dass die Welt vor
Krieg sicher sei, wenn jeder Staat über etwa 50 Kernwaffen
38Vgl. Kristensen 2018, Nilsen 2018.
39Vgl. Alberque/Wright 2023.
40DavidE. Sanger: Biden’s Armageddon Moment: When Nuclear De-
tonation Seemed Possible in Ukraine, New York Times, 9.3.2024.
262  Joachim Krause
verfügen würde. Die These des Theorieprofessors Waltz
war schon seinerzeit aus guten Gründen heftig umstritten.
Tatsächlich ist es fraglich, ob diese Idee umgesetzt werden
wird. Es gibt folgende Aspekte zu berücksichtigen, die diese
Option erschweren würden:
Zum einen wären derartige Programme sehr auf-
wändig und teuer. Um eine Mindestabschreckung in
der Größenordnung Großbritanniens herstellen zu
wollen, muss man erst einmal etwa 200 Kernwaffen
selbstständig herstellen und gegebenenfalls auch
deren Einsatzfähigkeit testen. Das dauert lange, ist
teuer und bedeutet für die betroffenen europäischen
Regierungen die Verletzung oder die Aufgabe interna-
tionaler Abkommen. Um diese Kernwaffen als Abschre-
ckungswaffen wirksam werden zu lassen, benötigt man
mehrere große U-Boote, die in der Lage sind, unbehel-
ligt in internationalen Gewässern zu operieren und
von dort aus Angriffe gegen Russland durchzuführen.
Frankreich und Großbritannien besitzen diese Fähig-
keiten, die sie sich im Rahmen einer jahrzehntelangen
Entwicklung entweder alleine (Frankreich) oder mit-
hilfe der USA (Großbritannien) und unter dem nuklea-
ren Schutzschirm der USA erarbeitet haben. Die Kosten
der letzten Modernisierung der britischen nuklearen
Vergeltungsstreitkräfte dürften nach heutigen Preiskal-
kulationen bei 22 Milliarden britischen Pfund gelegen
haben. In diesem Preis sind die Kernwaffen selber
nicht enthalten und ohne US-Hilfe wäre es vermutlich
auch noch teurer geworden. Zudem müssen Investi-
tionen getätigt werden, die die Operation derartiger
U-Boote in internationalen Gewässern sichern helfen,
eine entsprechend verstärkte maritime Komponente
ist also wichtig. Alternativ könnten Länder versuchen,
41Waltz 1981.
42Mills/Kirk-Wade 2023.
eine landgebundene Abschreckung aufzubauen, die
bei dem Vorhandensein von Gebirgsmassiven denkbar
wäre. Aber auch hier wären die Kosten nicht unerheb-
lich. Zudem kosten Frankreich und Großbritannien die
Unterhaltung der eigenen nuklearen Fähigkeiten pro
Jahr etwa drei bis vier Milliarden Euro, das heißt etwa
zehn Prozent des jährlichen Verteidigungsbudgets.
Diese Gelder würden bei der konventionellen Verteidi-
gung fehlen.
Zum anderen wäre die Zeit zwischen der Entscheidung
zu einem Nuklearprogramm und deren Fertigstellung
einzukalkulieren. In ihr würden sich erhebliche Sicher-
heitsrisiken stellen. Eine vollständige Abschreckungs-
fähigkeit nuklearer Art unter Bedingungen einer rus-
sischen Dominanz auf diesem Gebiet ließe sich nicht
binnen zwei Jahren herstellen. Das bedeutet: Für eine
Reihe von Jahren muss mit Versuchen Russlands ge-
rechnet werden, die Programme mit politischen oder
auch militärischen Interventionen zu sabotieren. Sollte
die Bundesregierung auf die Idee kommen, ein auto-
nomes deutsches Kernwaffenprogramm aufzulegen,
wäre Deutschland besonders von derartigen Interven-
tionen Moskaus betroffen. Das kann auch Angriffe mit
Lenkwaffen gegen die entsprechenden Einrichtungen
bedeuten. Moskau könnte diese Angriffe mit der ver-
traglichen Bindung Deutschlands im Rahmen des Zwei-
plus-Vier-Vertrags von 1990 rechtfertigen. Ein deutsches
Kernwaffenprogramm würde zudem nicht nur durch
den Mangel an entsprechender Expertise behindert
werden, sondern dadurch, dass dieser Schritt auch im
westlichen Ausland mit Misstrauen betrachtet wird.
Vermutlich würde der Wegfall des amerikanischen Nu-
klearschirms– sei es, dass dieser langsam kommt oder in
einem Akt– erst einmal nicht anders zu bewältigen sein, als
dass an der massiven Verstärkung der konventionellen Ver-
teidigung (und der Unterstützung der Ukraine) festgehalten
wird und gleichzeitig Konsultationen mit Frankreich und
Großbritannien aufgenommen werden, in deren Verlauf
über erweiterte Abschreckung auf europäischer Ebene
beraten und entschieden wird. Wie diese Verhandlungen
ablaufen werden, kann nur Gegenstand von Spekulation
sein. Denkbar wäre, dass beide Länder darum bitten, man
möge sie bei der Vergrößerung und Verfeinerung ihrer Ab-
schreckungsarsenale finanziell unterstützen.
Aber keiner weiß, wie weit Frankreich und Großbri-
tannien dabei bereit wären zu gehen und ob sie sich auf
die Fortführung der nuklearen Teilhabe innerhalb der
43Kaiser/Krause 2023.
KennethN. Waltz (1924–2013)
war ein US-amerikanischer
Politikwissen schaftler und
Begründer des Neo realismus
in den Internationalen
Beziehungen.
Europäische Sicherheit  263
NATO unter Einbezug ihrer nuklearen Arsenale einlassen
würden. Außerdem ist auch die innenpolitische Lage in
Frankreich voller Ungewissheiten. Das Problem mit der Zu-
verlässigkeit der Republikaner in den USA würde sich mit
den Rechtsnationalisten in Frankreich in möglicherweise
viel stärkerem Maße ebenso stellen. Mit einer Marine Le
Pen als Präsidentin und der als rechtsextrem eingestuften
Rassemblement National als führender politischer Kraft
wäre eine Abschreckung gegen Russland nicht glaubhaft.
Alternativ wäre zu überlegen, ob sich mehrere große
Staaten Europas (Deutschland, Frankreich, Polen, Italien)
zu einem Bundesstaat zusammenschließen, der Frankreich
als Kernwaffenmacht ersetzt. Das scheint politisch derzeit
jedoch wenig aussichtsreich zu sein.
Aber es muss ja nicht das Szenario fünf eintreten.
Unter dem Szenario vier wäre eine alternative Möglichkeit
denkbar. Sollte es bei der nuklearen Teilhabe bleiben, so
entstünde ein differenziertes Bild. Es gäbe dann nicht nur
nukleare Staaten und Nicht-Kernwaffenstaaten, sondern
auch die Gruppe der nuklearen Teilhabe-Nationen, die mit
ihrem Status eine bedeutende Rolle im Abschreckungsdis-
positiv spielen. In dieser Rolle kann man Deutschland fast
als Quasi-Nuklearmacht mit Minimal-Abschreckungsfähig-
keit auch gegenüber Moskau bezeichnen. Immerhin unter-
hält die Luftwaffe ein ganzes Geschwader hauptsächlich
für diese Rolle vor (demnächst mit F-35 Kampfbombern).
Auch wenn es weiterhin bei freifallenden US-Atombomben
als Bewaffnung bliebe, verfügt die Luftwaffe damit über
eine strategische Reichweite (mittels Luftbetankung) bis in
das ganze westliche Russland einschließlich der Zentren
Moskau und St. Petersburg. Die Fähigkeit zum nuklearen
Schlag wird auch seit Jahren geübt und beherrscht; es bedarf
lediglich einer Freigabe der Waffen durch den amerikani-
schen Präsidenten. Das ist durchaus ein Faktor im Abschre-
ckungskalkül. Moskau muss damit rechnen, dass irgendwo
im Prozess des Übergangs zu Krise und Krieg Deutschland
über Nacht auf diese Weise zu einem nuklear reaktions-
fähigen Gegner wird und somit keineswegs wehrlos gegen
seine atomare Erpressung ist. Viel wichtiger als Gedanken
über deutsche und europäische Atomwaffen anzustellen ist
daher, die nukleare Teilhabe so lange wie möglich beizu-
behalten und effektiv auszustatten.
Sollte Russland ernsthaft damit drohen, gegen Deutsch-
land russische Nuklearschläge vorzunehmen oder diese gar
auszuführen, kann man sich eine prompte Reaktion durch
genau diese deutschen Kräfte mit dann freigegebenen US-
Nuklearwaffen realistischerweise vorstellen. Genau das
wirkt abschreckend auf Russland und sollte auch jetzt schon
kommuniziert werden. Zur Abwehr nuklearer Erpressung
bedarf es aus deutscher und europäischer Sicht keines voll-
umfänglichen Aufbaus eines allumfassenden Nukleardis-
positivs mit Triade. Um sich gegen russische nukleare Er-
pressung und die damit verbundene Selbst- Abschreckung
zu schützen, reicht weniger aus und die nuklearen Teil-
habemächte (Deutschland, Italien, Niederlande, Belgien
Türkei) sowie die, die es noch werden dürften (etwa Polen),
haben schon sehr substanzielle Elemente davon in ihrem
Inventar. Wichtig wäre dann aber, dass die wenigen nuklea-
ren Einsatzkräfte vor einem Entwaffnungsschlag geschützt
werden (etwa durch ein Mobilisierungskonzept und durch
Härtung).
Die Akzentuierung der nuklearen Teilhabe ist deshalb
wichtig, weil wenn Deutschland in seine richtigerweise an-
gestrebte Rolle als Rückgrat der kollektiven Bündnisver-
teidigung hinwächst, wird es aus russischer Sicht immer
mehr zum lohnenden Objekt nuklearer Erpressung. Wenn
die künftige Vorneverteidigung der NATO damit steht und
fällt, dass Deutschland seine Doppelrolle– vorne mit insge-
samt korpsgroßen Landstreitkräften, einer schlagkräftigen
Luftmacht und einer die Ostsee dominierenden Marine und
im rückwärtigen Raum als operative Drehscheibe– erfüllt,
gleichzeitig aber schutzlos gegen nukleare Schläge wäre,
dann gleicht das einer unwiderstehlichen Aufforderung
an Moskau, Deutschland zum frühestmöglichen Zeitpunkt
eines Konflikts mit einigen wenigen nuklearen Schlägen
oder deren Androhung aus der Allianz oder Kriegskoalition
herauszubrechen.
Man kommt daher nicht darum herum, von Anfang an
diesen Schlüsselaspekt mit zu bedenken. Ohne den Fortbe-
stand einer glaubwürdigen, Deutschland schützenden nu-
klearen Abschreckung– sei es wie bisher durch die USA,
sei es durch eine gemeinsam gestaltete erweiterte Abschre-
ckung unter französischer und britischer Führung– würde
der alleinige Aufbau konventioneller Stärke nicht ausrei-
chen.
6Abschließende Bemerkungen
Angesichts der russischen Bedrohung, die durch den Angriff
auf die Ukraine ihr Gesicht gezeigt hat, und angesichts des
Abdriftens der Republikanischen Partei, muss in Europa
ein Umdenken in der Verteidigungspolitik einsetzen. Dieses
muss nüchtern und professionell erfolgen, grelle Thesen, die
sich medienmäßig schön verkaufen, aber in der Substanz
wenig bringen, gilt es zu vermeiden. Dazu gehört in erster
Linie die ständige Erwähnung europäischer oder nationaler
Kernwaffenambitionen. Das führt zu Scheindebatten, die in
der gegenwärtigen Diskussion nicht hilfreich sind.
44Vgl. hierzu den Beitrag von Heinrich Brauß in diesem Heft.
264  Joachim Krause
Tatsächlich geht es darum, die Voraussetzung dafür
zu schaffen, dass etwa 500Millionen Europäer in der Lage
sind, ihre Verteidigung gegen einen korrupten Staat wie
Russland mit seinen 142Millionen Einwohnern und seinen
begrenzten ökonomischen sowie technologischen Ressour-
cen alleine zu bewerkstelligen oder gemeinsam mit den
USA in einer NATO, in der wesentliche Fähigkeiten von den
Europäern vorgehalten werden. Dies müsste möglich sein,
wenn der politische Wille dazu besteht. Dabei sind folgende
Voraussetzungen von zentraler Bedeutung:
Es muss auf europäischer Seite der politische Wille da
sein, eine fundamental größere Rolle bei der Unterstüt-
zung der Ukraine und bei der konventionellen Vertei-
digung des Kontinents gegen regionale Aggressionen
Russlands zu übernehmen. Es geht darum, zentrale
Fähigkeiten der USA zu ersetzen. Das bedeutet für
Deutschland den Abschied von friedenspolitischen Irr-
wegen und die Bereitschaft, eine führende Rolle bei
der Herstellung einer konventionellen Verteidigung zu
übernehmen. Diese Bereitschaft muss multilateral aus-
gerichtet sein und kann nur innerhalb der NATO erfol-
gen. Ziel muss es dabei sein, die Ukraine in die NATO
zu bringen, denn sie hat die meiste Erfahrung in der
Abwehr einer russischen Aggression.
Es muss auf amerikanischer Seite ein Mindestmaß an
Verständnis für europäische Anliegen und die Bedro-
hung durch Russland vorhanden sein. Im Fall eines
vollständigen Sieges der Republikaner bei den Wahlen
im November kann man nur begrenzt davon ausge-
hen, dass diese Bereitschaft vorhanden sein wird. Alle
anderen Konstellationen bieten aber Möglichkeiten,
in diese Richtung hinzuwirken. Für die deutsche wie
europäische Politik ist es in einer Phase abnehmender
amerikanischer Bereitschaft zur Verteidigung Europas
und zur Abschreckung Russlands einzustehen wichtig,
politische Optionen anzusteuern, die es erlauben, die
Verringerung des US-Engagements einvernehmlich
mit den USA zu regeln, um eine Abkopplung zu ver-
meiden. Optimal wäre eine Vereinbarung über eine
gerechte Lastenteilung im konventionellen Bereich,
bei der am Ende eine weitgehende Fähigkeit der Euro-
päer zur Selbstverteidigung gegen einen konventionel-
len Angriff Russlands auf eines der NATO-Mitglieder
steht, die aber durch eine nukleare Garantie der USA
im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO unter-
mauert ist.
Entscheidend ist der Zeitfaktor. Europa könnte die
Transformation zu einer gleichgewichtigen Allianz
schaffen, wenn es dazu Zeit hätte. Unter der Bedingung
einer formellen, politischen Vereinbarung innerhalb
der NATO zwischen Europäern und den USA über ein
Programm zur geänderten Lastenverteilung, ist es rea-
listisch davon auszugehen, dass innerhalb eines Jahr-
zehnts eine NATO entstehen kann, deren konventionelle
Verteidigung gegen regionale Aggressionen Russlands
überwiegend durch europäische Kräfte erfolgt. Eine
derartige Vereinbarung sollte von den Europäern ange-
strebt werden. Sie würde den USA signalisieren, dass die
Europäer bereit sind, mehr für ihre Verteidigung auf-
zuwenden. Und sie würde angesichts der unübersichtli-
chen innenpolitischen Lage in den USA ein Element der
Sicherheit über die Rahmenbedingungen dieses not-
wendigen Transformationsprozesses geben. Ein abrup-
ter Wegfall der US-Sicherheitsgarantie und der Abzug
der entsprechenden Fähigkeiten könnte von Europa vo-
raussichtlich nicht ausgeglichen werden und würde zu
dramatischen Sicherheitsgefährdungen führen.
Die nukleare Frage sollte nicht am Anfang dieser
Debatte stehen. Diese könnte im Wege einer Grund-
satzvereinbarung zwischen den europäischen NATO-
Teilnehmern und den USA erst einmal zurückgestellt
werden, solange die nukleare Teilhabe so bleibt wie sie
ist und modernisiert wird. Auf lange Sicht könnte eine
stärkere europäische Komponente durch die Abschre-
ckungsfähigkeiten Frankreichs und Großbritanniens
hergestellt werden, sofern die betreffenden Regierun-
gen damit einverstanden sind und sofern sie finanzielle
Unterstützung für den qualitativen und quantitativen
Ausbau ihrer Nuklearstreitkräfte bekommen. Weitere
europäische nationale Kernwaffenprogramme, die
auf eine gesicherte Minimalabschreckung zielen, sind
kaum realistisch. Sie wären mit enormen finanziellen
und politischen Kosten verbunden und wären in den
Jahren ihres Aufbaus erheblichen Risiken durch Sabo-
tage und militärische Interventionen ausgesetzt.
Deutschland ist in dieser Phase als europäische Füh-
rungsmacht besonders gefordert. Entscheidend für die
Zukunft Europas ist, ob sich Deutschland für eine Ver-
stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit
des Bündnisses und die Beibehaltung der nuklearen
Teilhabe der NATO aktiv einsetzt, oder ob es friedens-
politisch garnierte Sonderregelungen mit Russland
trifft, die die europäische Sicherheitsordnung in eine
katastrophale Schieflage bringen würden. Die Furcht
vor einem derartigen Irrweg Deutschlands ist beson-
ders unter osteuropäischen Staaten groß. Ihr entgegen-
zuwirken, sollte eines der Hauptanliegen deutscher
Politik in den kommenden Jahren sein.
Genauso schlimm wäre es abzuwarten, bis die USA einseitig
neue Realitäten schaffen. In der derzeitigen Phase muss es
Ziel der Europäer sein, aus eigenem Interesse das Austarie-
Europäische Sicherheit  265
ren der Gewichte innerhalb der NATO neu zu gestalten und
damit den USA Anreize zu geben, sich auch unter ändern-
den innenpolitischen Bedingungen für den Fortbestand der
NATO und militärische sowie nukleare Sicherheitsgarantien
zu entscheiden. Mindestvoraussetzung dafür ist, dass die
europäischen Mitglieder der NATO innerhalb der nächsten
zehn Jahre die Fähigkeit zur konventionellen Abwehr eines
russischen Angriffs aus eigener Kraft erwerben und die
USA ihre nukleare Schutzgarantie beibehalten. Diese Kom-
promisslinie könnte aufgehen, sofern sie beide Seiten mit
Augenmaß und Entschlossenheit verfolgen.
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Zusammenfassung Deutschland muss seinen außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum in einer gebrochen bipolaren internationalen Ordnung ausgestalten. Dabei gibt die EU den Rahmen ab, weil sie die europäische Staatenordnung prägt. Sie hebt das Bemühen der einzelnen Staaten aber nicht auf, denn sie garantiert keine Sicherheit. Russland entwickelt sich zur langfristigen Bedrohung, weil innere und äußere Entwicklungen gleichermaßen auf Gewalt gerichtet sind. Die USA kämpfen gleichzeitig in drei Regionen um die Stabilisierung der Ordnung: in Europa, im Pazifik und im Mittleren Osten. Europa hat dabei nicht viel zu bieten. Das amerikanische Interesse zu verhindern, dass China Eurasien beherrscht, ist die Chance von Deutschland und der EU, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand zu bewahren.
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Kurzfassung Eine durchgehende Traditionslinie der westdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik war der Verzicht auf Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen. Dieser Verzicht war die Voraussetzung dafür, dass die Westmächte Anfang der 50er-Jahre den Beitritt der jungen Bundesrepublik in die NATO ermöglichten und den Wunsch nach Wiedererlangung der staatlichen Einheit für alle Deutschen unterstützten. Dennoch kennzeichnete Ambivalenz die deutsche Politik. Obwohl Konrad Adenauer keine Ambitionen in Richtung einer eigenen Nuklearbewaffnung hegte, sprach er sich mit dem wiederholten Verweis auf die Rebus-sic-stantibus-Klausel zumindest indirekt dafür aus, Deutschland die nukleare Option offenzuhalten. Seine Nachfolger Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt strebten keine Nuklearbewaffnung an und hielten nicht an der Klausel fest, aber das ambitionierte und breit aufgestellte zivile Nuklearprogramm der Bundesrepublik verschaffte Deutschland eine latente Kernwaffenfähigkeit. Diese erwies sich als hilfreich bei der Ausgestaltung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags sowie bei der Ausrichtung der Nuklearstrategie der NATO, insbesondere bei der nuklearen Teilhabe. Als sich 1990 die Möglichkeit einer staatlichen Einheit aller Deutschen eröffnete, nutzten die deutschen Verhandlungsführer in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen den uneingeschränkten Verzicht auf Kernwaffen, um die internationale Einbettung der deutschen Einheit im westlichen Bündnis zu erreichen.
Book
Tiefe Gräben durchziehen die politische Landschaft der USA. Die beiden großen Parteien – die Republikaner und die Demokraten – sind ideologisch gespaltener denn je. Diese Entwicklung begann in den 1960er-Jahren, seither hat sich die Republikanische Partei kontinuierlich radikalisiert. Donald Trump ist nicht Ursache, sondern Folge dieses Prozesses. Philipp Adorf hilft dabei, die Grand Old Party zu verstehen. Diese Neuauflage berücksichtigt die aktuellen Entwicklungen und verdeutlicht Auswirkungen auf Europa. Das Buch richtet sich an Studierende der Politikwissenschaft. Es ist auch für Journalist:innen und Interessierte eine spannende und zugleich aufschlussreiche Lektüre.
Book
Crackup: The Republican Implosion and the Future of Presidential Politics explains how changes in campaign finance laws and the proliferation of mass media fractured the Republican Party into uncompromising groups with irreconcilable demands. The 2002 “McCain-Feingold” campaign finance reform bill aimed to weaken the power of big businesses and strengthen political parties by ending corporate donations to the parties. Instead, it weakened legislative leaders and made bipartisanship a four-letter word. Moving money outside the political parties fuelled the rise of “purity for profit” groups and Super PACs funded by billionaires with pet issues. This allowed self-promoting politicians to undermine intraparty colleagues with an unprecedented use of tactics once only used to disrupt the opposition.