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Antisemitismus bei Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland: Zur Bedeutung von Migrationshintergrund und Religion. UHH Forschungsbericht No. 15 aus dem Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft. Hamburg: Universität Hamburg.

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In dem vorliegenden Forschungsbericht werden Ergebnisse einer im Frühsommer 2022 durch-geführten Onlinebefragung einer für die Bevölkerung in Deutschland insgesamt repräsen¬tativen Einwohnermeldeamtsstichprobe von n=3 270 Jugendlichen und Heranwachsenden vorgestellt. Im Mittelpunkt der Analysen stehen die Verbreitung antisemitischer Vorurteile bei jungen Menschen, deren soziale Verteilung sowie dafür relevante Einflussfaktoren. Die Ergebnisse zeigen, dass insgesamt 2.1% der Jugendlichen und Heran¬wachsenden offen für antisemitische Ressentiments sind. Weitere 2.0% lassen eindeutige, hoch ausgeprägte antisemitische Ein¬stellungen erkennen. Damit sind die Prävalenzraten antisemitischer Einstellungen bei jungen Menschen etwa halb so hoch wie die mit gleichartigen Messinstrumenten im gleichen Jahr in einer repräsentativen Befragung von Erwachsenen festgestellten Raten. Es sind aber erhebliche Differenzen der Präva-lenzraten antisemitischer Einstellungen zwischen Teilgruppen der jungen Menschen zu erkennen. Jugendliche und Heranwachsende mit einem Migrations¬hintergrund weisen signifikant erhöhte Raten antisemitischer Einstellungen auf. Besonders hoch sind diese Raten antisemitischer Vorurteile bei jungen Muslim:innen. Aber auch dort stellen antisemitisch eingestellte Jugendliche und Heranwachsende nicht die Mehrheit. Multivariate Analysen zeigen weiter, dass die hohe Verbreitung antisemitischer Ressentiments bei jungen Muslim:innen nicht durch deren vermehrten individuellen Diskriminierungserlebnisse oder die bei ihnen weit verbreitete Wahrnehmung einer kollektiven Marginalisierung ihrer Eigengruppe erklärt werden kann. Wichtige Einflussfaktoren sind hingegen, neben einer geringen Bildung, die Neigung zum Verschwörungsglauben sowie eine rigide, fundamentalistische Religionsauffassung. Besonders auffallend und für die Praxis relevant ist die erkennbare starke Überrepräsentation von Muslim:innen der ersten Migrantengeneration unter den jungen Menschen mit antisemitischen Einstellungen. Insoweit ist für die Antisemitismusprävention festzustellen, dass ein großer Anteil ihrer Zielgruppe aus jungen Migrant:innen der ersten Migrant:innengeneration besteht, darunter in hohem Maße vor allem junge Muslim:innen, für die geeignete Angebote geschaffen werden sollten. Title in English: Anti-Semitism among juveniles and adolescents in Germany: On the significance of migration background and religion In this UHH MOTRA Research Report No. 14 results of an online survey of a represen-tative sample of n=3,270 young people aged 16 to 21 on the prevalence of anti-Semitic attitudes are presented. With a rate of 2.1% of young people who are open to antisemitic resentment and a further 2.0% who display clear, distinct antisemitic attitudes, the preva-lence rates of antisemitic prejudices among young people are significantly lower than among the adult population in Germany. However, there are important differences between subpopulations of young people in Germany with respect to migration background and religious affiliations. Young people with a migration background are significantly more likely to have anti-Semitic attitudes. Prevalence rates of antisemitic resentments are particularly high among young Muslim migrants. Multivariate analyses confirm these results after controlling for age, gender and education. They show that high prevalence rates of antisemitism among young Muslims are not due to their increased experiences of discrimination or their particularly widespread perceptions of collective marginalization of their own group in Germany. Important factors, in addition to low education, are conspiracy mentality and fundamentalist religious beliefs. A high level of individual faith is not significant in this respect. Furthermore, a considerable high overrepresentation of young Muslims of the first generation of migrants (those who were not born in Germany) among juveniles and adolescents who hold anti-Semitic attitudes is striking. These findings have implications for the practice of anti-semitism prevention, since the target group to be reached, especially among young people, is characterized to a very considerable extent by young migrants who have recently immigrated to Germany, including a very high proportion of strongly religious, fundamentalist Muslims.
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Forschungsbericht No. 15
Antisemitismus bei Jugendlichen und Heran-
wachsenden in Deutschland: Zur Bedeutung von
Migrationshintergrund und Religion
Ergebnisse der repräsentativen MOTRA-Befragung
„Junge Menschen in Deutschland, 2022 (JuMiD)
Jannik M.K. Fischer, Peter Wetzels, Katrin Brettfeld und Diego Farren
Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg
Gefördert durch:
Hamburg, August 2024
© 2024 by the authors. All rights reserved
Universität Hamburg
Fakultät für Rechtswissenschaft
Institut für Kriminologie
Rothenbaumchaussee 33
20148 Hamburg
http://doi.org/10.25592/uhhfdm.14825
Photo by UHH/RRZ/Mentz
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG .................................................................................................................... 1
2 THEORETISCHER UND EMPIRISCHER HINTERGRUND ................................................. 3
2.1 STAND DER FORSCHUNG: VERBREITUNG ANTISEMITISCHER EINSTELLUNGEN IN
DEUTSCHLAND UND DIE BEDEUTUNG VON MIGRATION UND RELIGION ................................. 5
2.2 ANTISEMITISCHE EINSTELLUNGEN BEI JUGENDLICHEN UND HERANWACHSENDEN ................ 7
3 FORSCHUNGSLEITENDE FRAGESTELLUNGEN ............................................................ 8
4 DATENGRUNDLAGE UND METHODE ........................................................................... 10
4.1 STICHPROBENBESCHREIBUNG ....................................................................................... 10
4.2 OPERATIONALISIERUNG UND MESSUNG DER ZENTRALEN KONSTRUKTE ............................ 11
5 ERGEBNISSE ................................................................................................................ 11
5.1 UNI- UND BIVARIATE DESKRIPTIVE ANALYSEN .................................................................. 11
5.2 MULTIVARIATE ANALYSEN: DISKRIMINIERUNG, KOLLEKTIVE MARGINALISIERUNG,
VERSCHWÖRUNGSGLAUBE UND ANTISEMITISCHE EINSTELLUNGEN ................................... 19
5.3 WEITERFÜHRENDE ANALYSEN DER EFFEKTE DER MIGRATIONSGENERATION UND DER
RELIGIONSZUGEHÖRIGKEIT AUF ANTISEMITISCHE EINSTELLUNGEN ................................... 22
6 ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION..................................................................... 25
LITERATUR ........................................................................................................................... 31
SUMMARY IN ENGLISH ........................................................................................................ 39
1
Antisemitismus bei Jugendlichen und Heranwachsenden in
Deutschland: Zur Bedeutung von Migrationshintergrund und
Religion
Jannik M.K. Fischer, Peter Wetzels, Katrin Brettfeld & Diego Farren
Abstract:
In dem vorliegenden Forschungsbericht werden Ergebnisse einer im Frühsommer 2022 durch-
geführten Onlinebefragung einer für die Bevölkerung in Deutschland insgesamt repräsentativen
Einwohnermeldeamtsstichprobe von n=3 270 Jugendlichen und Heranwachsenden vorgestellt. Im
Mittelpunkt der Analysen stehen die Verbreitung antisemitischer Vorurteile bei jungen Menschen,
deren soziale Verteilung sowie dafür relevante Einflussfaktoren. Die Ergebnisse zeigen, dass
insgesamt 2.1% der Jugendlichen und Heranwachsenden offen für antisemitische Ressentiments
sind. Weitere 2.0% lassen eindeutige, hoch ausgeprägte antisemitische Einstellungen erkennen.
Damit sind die Prävalenzraten antisemitischer Einstellungen bei jungen Menschen etwa halb so
hoch wie die mit gleichartigen Messinstrumenten im gleichen Jahr in einer repräsentativen
Befragung von Erwachsenen festgestellten Raten. Es sind aber erhebliche Differenzen der Präva-
lenzraten antisemitischer Einstellungen zwischen Teilgruppen der jungen Menschen zu erkennen.
Jugendliche und Heranwachsende mit einem Migrationshintergrund weisen signifikant erhöhte
Raten antisemitischer Einstellungen auf. Besonders hoch sind diese Raten antisemitischer
Vorurteile bei jungen Muslim:innen. Aber auch dort stellen antisemitisch eingestellte Jugendliche
und Heranwachsende nicht die Mehrheit.
Multivariate Analysen zeigen weiter, dass die hohe Verbreitung antisemitischer Ressentiments bei
jungen Muslim:innen nicht durch deren vermehrten individuellen Diskriminierungserlebnisse oder
die bei ihnen weit verbreitete Wahrnehmung einer kollektiven Marginalisierung ihrer Eigengruppe
erklärt werden kann. Wichtige Einflussfaktoren sind hingegen, neben einer geringen Bildung, die
Neigung zum Verschwörungsglauben sowie eine rigide, fundamentalistische Religionsauffassung.
Besonders auffallend und für die Praxis relevant ist die erkennbare starke Überrepräsentation von
Muslim:innen der ersten Migrantengeneration unter den jungen Menschen mit antisemitischen
Einstellungen. Insoweit ist für die Antisemitismusprävention festzustellen, dass ein großer Anteil
ihrer Zielgruppe aus jungen Migrant:innen der ersten Migrant:innengeneration besteht, darunter in
hohem Maße vor allem junge Muslim:innen, für die geeignete Angebote geschaffen werden sollten.
1 Einleitung
Die Erscheinungsformen und die Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland, sowohl
antisemitische Straftaten und Übergriffe als auch antisemitische Einstellungen und
Vorurteile in ihren diversen Varianten, werden schon seit vielen Jahren sowohl in der
sozialwissenschaftlichen und kriminologischen Forschung als auch in der Praxis von
Prävention und Beratung, in der politischen Bildung und in der Politik sowie nicht zuletzt
auch seitens der Strafverfolgung und Justiz thematisiert (vgl. Bergmann & Erb 1991;
Bergmann 2010; Beyer 2015; Decker et al. 2018; Schäfer 2022; Liebig 2023; Würdemann
2024). Seit Beginn der Corona-Pandemie ist diese Thematik, nicht zuletzt auch im Gefolge
weiterer nationaler sowie internationaler Krisen und politischer Entwicklungen, ganz
besonders in den Fokus sowohl der öffentlichen Wahrnehmung und Debatten als auch der
sozialwissenschaftlichen Forschung gerückt (vgl. Potter & Lauer 2023 m.w.Nachw.; Liebig
2023; Kemmesies et al. 2024).
2
Antisemitismus wird in jüngerer Zeit vermehrt auch im Zusammenhang mit den Themen
Flucht und Migration behandelt (Arnold & König 2016; Arnold 2019; Arnold & Kiefer 2024).
Neben dem in Deutschland als Erbe der NS-Zeit historisch verankerten völkisch-
nationalistischen Antisemitismus der Deutschen steht zunehmend auch ein migrantisch-
muslimisch geprägter Antisemitismus im Zentrum des öffentlichen Interesses (Bauer 2018;
Küntzel 2019; Becker 2020; Öztürk & Pickel 2022; Öztürk et al. 2024). Dies wurde unter
anderem verbunden mit der polemischen, vereinfachend externalisierenden These eines
vermeintlich „importierten Antisemitismus“ (vgl. Arnold & Kiefer 2024, S. 26), was auch im
Kontext von Schuldabwehrtendenzen als Verweise auf den „Antisemitismus der anderen“
kritisch gesehen wurde (Öztürk & Pickel 2022).
Nachdem es im Gefolge des terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober
2023 zu öffentlichen Sympathiebekundungen für die dabei verübten Gräueltaten kam,
unter anderem durch Hamas-Sympathisant:innen in Berlin-Neukölln, verschärften sich die
Polarisierungen und die Vehemenz dieser Debatten deutlich (rbb24 2023; Friedmann
2024; Wolffsohn 2023). Der danach weiter eskalierende Gaza-Krieg zwischen Israel und
der Hamas sorgte auch in Deutschland für eine angespannte Lage, die u.a. mit massiven
Protesten, Anstiegen registrierter antisemitischer Vorfälle, Zunahmen antisemitischer
Einstellungen aber auch einer Zunahme von Muslimfeindlichkeit und darauf bezogenen
intensiven Kontroversen einher ging (vgl. Kemmesies et al. 2024; Kraushaar 2024, S. 179
ff.; Wetzels 2024).
In dieser gesellschaftlichen Situation wurde unter anderem gefordert,
die dürftige
Studienlage zu Antisemitismus unter Muslim:innen und Nicht-Muslim:innen zu verbessern
[…], um Lösungen zu bauen, welche die tatsächlichen Probleme angehen
“ (Sahebi 2024,
S. 252). Es gelte den verschiedenen Ausprägungen und Hintergründen des Antisemitismus
dort zu begegnen, wo sie sich tatsächlich zeigen und entwickeln, unabhängig davon, ob
diese sich aus Ausgrenzungserfahrungen, migrantischen Sozialisationskontexten, religiö-
sen Überzeugungen, völkisch-nationalistischen oder aber antizionistisch-postkolonialen
Ideologien speisen (Peyman Engel 2024).
Abseits dessen, dass direkt von solchen Ressentiments betroffene Jüd:innen einen
Anspruch darauf haben, dass Antisemitismus korrekt sozial verortet wird, um daran
anknüpfend gezielte Gegenmaßnahmen treffen zu können, würde eine differenziertere
Analyse der sozialen Verteilung sowie der Hintergründe antisemitischer Einstellungen und
Vorurteile auch den vielen friedlich in Deutschland lebenden Muslim:innen helfen,
pauschalen Vorverurteilungen wegen eines muslimischen Antisemitismus in Deutschland
entgegentreten zu können (vgl. Wetzels & Fischer 2024; so auch Arnold & Kiefer 2024, S.
30). Darüber hinaus ist es auch für die Ausgestaltung von Antisemitismusprävention
wesentlich, genauere Informationen darüber zu erhalten, welche Zielgruppen in dieser
Hinsicht besonders häufig antisemitische Ressentiments entwickeln und welche Faktoren
dies begünstigen, um dem angemessen entgegentreten und gezielte Maßnahmen
entwickeln und auch anwenden zu können. Peyman Engel zitierte dazu jüngst mit Blick auf
zu beachtende Binnendifferenzen der Verbreitung und der Hintergründe des Antisemi-
tismus bei Migrant:innen und insbesondere innerhalb der Gruppe der Muslim:innen
insoweit den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland mit folgender
Feststellung: „
Nicht alle gesellschaftlichen Konflikte, die durch Migration erzeugt werden,
haben etwas mit Diskriminierung oder Rassismus zu tun. Sie zu verleugnen, wäre der
3
wahre Affront auch gegenüber dem Großteil der friedlichen in Deutschland lebenden
Muslime.
(Peyman Engel 2024, S. 11).
Zur Verbreitung von Antisemitismus unter in Deutschland lebenden erwachsenen
Migrant:innen, darunter auch Muslim:innen, liegen mittlerweile einige größere empirische
Studien vor, die bedeutsame diesbezügliche Lücken der Forschung gefüllt haben (vgl.
Arnold & Kiefer 2024; Fischer & Wetzels 2023, 2024; Hinz, Marczuk & Multrus 2024).
Hinsichtlich junger Migrant:innen und/oder Muslim:innen ist der Forschungsstand aller-
dings weniger entwickelt. Für diese liegen kaum aktuelle verallgemeinerbare Befunde
empirischer Forschung vor, obwohl es gerade junge Menschen sind, die in öffentlichen
Debatten besonders häufig mit einem migrantisch-muslimisch geprägten „neuen
Antisemitismus“ in Verbindung gebracht werden (Hößl 2020; Schubert 2023; Arnold &
Kiefer 2024). Erkenntnisse zur Verbreitung antisemitischer Ressentiments unter Studie-
renden und deren Zusammenhänge mit Religionszugehörigkeit haben insoweit in jüngster
Zeit zum Teil Erstaunen hervorgerufen und große Aufmerksamkeit sowohl in der
Wissenschaft aber auch in der Politik, in den Medien sowie in der allgemeinen Öffent-
lichkeit erhalten (vgl. Hinz et al. 2024).
Das Forschungsprojekt „Junge Menschen in Deutschland“, über dessen Ergebnisse im
Folgenden berichtet wird, verfolgt unter anderem auch das Anliegen, einen Beitrag zur
Ausfüllung dieser speziellen Forschungslücke zu leisten. Ziel ist es diesbezüglich, auf
repräsentativer Datenbasis Erkenntnisse über Ausmaß und soziale Verteilung antisemi-
tischer Einstellungen unter jungen Menschen in Deutschland zu gewinnen und dabei auch
die Situation unter jungen Migrant:innen und Muslim:innen genauer in den Blick zu
nehmen. Ferner sollen individuelle Einflussfaktoren und soziale Hintergründe für
antisemitische Ressentiments untersucht werden, darunter unter anderem auch kollektive
Marginalisierungs- und individuelle Ausgrenzungserlebnisse, die Ausprägung von
Verschwörungsglauben sowie die Bedeutung von Religion und Religiosität (vgl. zu
weiteren Einzelheiten der Anlage und der Ziele der JuMiD Studie: Farren et al. 2022, 2023).
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
Unter dem Begriff der antisemitischen Einstellungen werden im Folgenden pauschal
abwertende und feindselige Haltungen verstanden, die sich gegen jüdische Menschen ins-
gesamt und deren Gemeinden, Institutionen und wichtige Akteure richten (IHRA 2016).
Antisemitismus wird insoweit als soziales Vorurteil konzeptualisiert, eine spezifische Form
der Intoleranz, die auch einen wichtigen Teilaspekt des multidimensionalen Syndroms der
gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit darstellt (Mokros & Zick 2023).
Hinz, Marczuk und Multrus (2024, S. 5) unterscheiden, anknüpfend an Rensmann (2017)
und Sharansky (2004), zwei Formen des Antisemitismus: den allgemeinen Antisemitismus
mit pauschalisierenden Ressentiments gegen als jüdisch eingeordnete und so wahrge-
nommene Personen einerseits und den israelbezogenen Antisemitismus, der sich gegen
Israel als „Staat der Juden“ richtet.
Eine Besonderheit des allgemeinen Antisemitismus der auch als klassischer oder
tradierter Antisemitismus bezeichnet wird besteht darin, dass ihm neben abwertenden
Ungleichwertigkeitsideologien im Sinne von pauschalisierenden, personenbezogenen
Minderwertigkeits- und Unwertzuschreibungen zusätzlich auch ein Stereotyp von „den
Juden“ als einer Gruppe besonders mächtiger und zugleich hinterhältiger Feinde inne-
4
wohnt (vgl. Imhoff 2020). Diesem folgend wird Jüd:innen häufig eingebettet in einen
jahrhundertealten antijudäischen Mystizismus eine übermäßige Macht zugeschrieben,
die sie angeblich nutzen, um das Weltgeschehen aus dem Verborgenen zu ihrem Vorteil
zu beeinflussen und andere zu schädigen (Blume 2019; Bernstein 2021). So werden
Jüd:innen u.a. in der Neuen Rechten weniger als greifbare Konkurrenten um Raum und
Ressourcen angesehen, wie das in Bezug auf Geflüchtete oder Muslim:innen der Fall ist.
Sie gelten vielmehr als die wahren „Schuldigen“, die hinter Globalisierung und uner-
wünschter Liberalisierung sowie sozialen Krisen und Problemen stecken. Beispielsweise
Migration und damit verbundene soziale „Probleme“ werden insoweit nur als Symptome
des Agierens von bösen Mächten im Hintergrund angesehen, darunter vor allem auch
vermeintlich übermächtiger jüdischer Gruppierungen und Personen (Weiß 2018; Zarbock
et al. 2023). Es sind genau diese Vorstellungen von verborgener Macht und großem
Einfluss der Juden, die den Antisemitismus von der primären Verächtlichmachung und
Intoleranz in den Ressentiments gegenüber anderen Fremdgruppen unterscheidet (Imhoff
2020).
Solche tradierten antisemitischen Vorurteile finden sich in zahlreichen Verschwörungs-
narrativen, die das Stereotyp von „den Juden“ teils offen und teils verborgen, z.B. auch in
Symbolen, Bildern und Erzählungen, aufgreifen (Brumlik 2020; Damm 2023; Pickel et al.
2023; Öztürk et al. 2024). Derartige mit antisemitischen Aussagen, Figuren und Symbolen
gefüllte westliche Verschwörungsnarrative fanden historisch im 20. Jahrhundert über
islamistische Vordenker auch Einzug in den islamischen Kulturraum, wo sie sich zu einer
wichtigen Säule des modernen Antisemitismus unter Muslim:innen entwickelt haben (vgl.
Abdel-Samad 2014; Jikeli 2018; Becker 2020; Klevesath 2022).
Aktuell ist Antisemitismus in Deutschland, abseits seiner tradierten Varianten, auch in
indirekten, uneindeutigen Ausdrucksformen zu finden (Arnold 2019; Würdemann 2024).
Dazu gehört vor allem auch der israelbezogene Antisemitismus, dessen zentrales Element
die Negation des Existenzrecht eines jüdischen Staates ist, d.h. des Staates Israel als
sicherer Lebens- und Zufluchtsort für die Jüd:innen in der Welt (Würdemann 2024). Unter
dem Deckmantel einer Kritik am Staat Israel, bzw. der Politik der Repräsentant:innen
dieses Staates, werden auch pauschalisierende Vorurteile gegenüber Jüd:innen als
homogen konstruierte Gesamtgruppe transportiert. Dieser Umstand der vielfach beob-
achtbaren Verquickung sachbezogener Kritik an politischen Maßnahmen von Entschei-
dungsträgern mit pauschalisierenden negativen Zuschreibungen auf die Gesamtheit „der
Juden“ erschwert politische Debatten und vor allem auch Kritik an der israelischen
Regierung und diesbezügliche kontroverse Debatten sehr (Bernstein 2021; Würdemann
2024). Es entstehen hier auch irritierende Allianzen. So kommt es beispielsweise in anti-
imperialistischen, postkolonialen und linken Diskursen immer wieder auch zu Brücken-
schlägen zwischen islamistischen und politisch links verorteten Akteur:innen (Meiering &
Foroutan 2020; Elbe 2024; Kraushaar 2024, S. 119; Riebe 2023), die sich ansonsten klar
voneinander abgrenzen würden (Peymann Engel 2024, S. 169).
Eine weitere wichtige Variante des Antisemitismus ist der sogenannte Schuldabwehr-
antisemitismus, der auch als sekundärer Antisemitismus bezeichnet wird (Kraushaar 2024,
S. 186). In seinem Zentrum steht eine Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf die Verbrechen
der NS-Zeit. Die Shoah wird als selbstverschuldet dargestellt bzw. bagatellisiert, z.B.
indem heutige Vorkommnisse unreflektiert damit gleichgestellt werden. Diese Form des
Antisemitismus versucht zudem zusätzlich auch, die heutige Erinnerungskultur an die NS-
5
Zeit und den Holocaust als vermeintliches Machtinstrument ‚manipulativer Eliten‘ zu
diskreditieren (Benz 2016; Öztürk & Pickel 2022).
2.1 Stand der Forschung: Verbreitung antisemitischer Einstellungen in
Deutschland und die Bedeutung von Migration und Religion
Der klassische bzw. tradierte Antisemitismus wird in der soziologischen und kriminolo-
gischen Forschung schon seit vielen Jahren thematisiert. Unter anderem werden die
Verbreitung und die Trends tradierter antisemitischer Einstellungen bereits seit 2002 über
wiederholte bevölkerungsrepräsentative Studien analysiert, wie etwa in den Studien zu
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (vgl. Heitmeyer 2003).
Diese Forschungstradition wird bis heute durch die Bielefelder Mitte-Studie sowie die
Leipziger Autoritarismus-Studie fortgeführt. Diese beiden Forschungsprojekte kamen
allerdings zuletzt zu gegenläufigen Befunden in Bezug auf das Ausmaß der Verbreitung
antisemitischer Einstellungen. Die Leipziger Autoritarismus-Studie verzeichnete 2022
rückläufige Zahlen und schätzte die Prävalenzrate für manifeste antisemitische Ein-
stellungen in der Bevölkerung mit 3.3 %. Das bedeutet einen Rückgang im Vergleich zu
früheren Erhebungen aus den Jahren 2018 (4.4 %) und 2020 (3.6 %) (Decker et al. 2022).
Die Bielefelder Mitte-Studie verzeichnete hingegen einen deutlichen Anstieg manifest
antisemitischer Einstellungen von 1.7 % (2020/21) auf 5.7 % (2022/23), was den bisherigen
Höchststand in dieser Trendstudie markierte (Zick & Mokros 2023).
Die seit 2021 jährlich stattfindenden bundesweit repräsentativen MiD-Studien (vgl. dazu
Brettfeld et al. 2023) , die anders als die Bielefelder und die Leipziger Studien auch große
repräsentative Teilstichproben von Migrant:innen und Muslim:innen enthalten, stellten
leicht zunehmende Prävalenzraten klar antisemitisch eingestellter Personen von 3.5 %
(2021) über 4.0 % (2022) auf 4.1 % (2023) in der erwachsenen Wohnbevölkerung fest, was
primär auf deutlich steigende Raten innerhalb der Teilgruppe der Muslim:innen zurückzu-
führen war (Fischer & Wetzels 2024).
Seit dem 7. Oktober konnten zudem in der Studie „Menschen in Deutschland:
International“ (MiDInt) über die Befragung von Online-Access-Samples deutliche kurz-
fristige Anstiege tradierter Formen antisemitischer Einstellungen verzeichnet werden (vgl.
Kemmesies et al. 2024; Wetzels 2024).
Solche teilweise gegenläufige Trends und Differenzen der ermittelten Prävalenzraten
sind höchstwahrscheinlich auch auf unterschiedliche Erhebungsmethoden und Stich-
probendesigns sowie Periodeneffekte der jeweiligen Feldphasen zurückzuführen
(Reuband 2023). Andererseits liegen die Schätzungen des Umfangs manifester, d.h. hoch
ausgeprägter, tradierter Formen antisemitischer Einstellungen bei diesen Studien in Bezug
auf die erwachsene Gesamtbevölkerung in der jüngsten Zeit auf einem recht ähnlichen
Niveau.
Unterschiede der Verbreitung von Antisemitismus zwischen verschiedenen gesellschaft-
lichen Teilgruppen zeigen sowohl Untersuchungen aus Deutschland als auch Studien aus
anderen westlich geprägten Ländern. Danach geht ein Migrationshintergrund zumeist mit
erhöhten Raten antisemitischer Vorurteile einher, wobei die Raten höher ausfallen, wenn
auch eine muslimische Religionszugehörigkeit vorliegt (Koopmans 2014; Friedrichs &
Storz 2022; Öztürk & Pickel 2022; Öztürk et al. 2024; El-Menouar & Vopel 2023; Fischer &
Wetzels, 2023, 2024; Hirndorf 2023; Storz & Friedrichs 2023; Jikeli 2024; Hinz et al. 2024).
6
Allerdings finden sich in den vorliegenden Studien immer auch deutliche Binnen-
differenzen der Prävalenzraten antisemitischer Einstellungen in den jeweiligen Teil-
gruppen, so auch innerhalb der Gruppe der Muslim:innen. Insoweit ist eine pauschale
Feststellung dahingehend, dass eine muslimische Religionszugehörigkeit generell mit
einem vermehrten Antisemitismus verbunden sei empirisch nicht haltbar (vgl. Öztürk et al.
2024; Fischer & Wetzels 2023, 2024; Arnold & Kiefer 2024). Es lassen sich sowohl
herkunfts- als auch religionsbezogene Einflussfaktoren für antisemitische Einstellungen
unter Muslim:innen erkennen (Öztürk & Pickel 2022; Öztürk et al. 2023; Hinz et al. 2024).
So sind unter gering religiösen Muslim:innen antisemitische Einstellungen nicht stärker
verbreitet als in der autochthonen Allgemeinbevölkerung (El-Menouar & Vopel 2023;
Fischer & Wetzels 2023, 2024). Unterschiedliche Kontexte im Hinblick auf die jeweiligen
Herkunftsländer können allerdings auch bei eher säkularen Muslim:innen die Prävalenz-
raten antisemitischer Einstellungen beeinflussen (Storz & Friedrichs 2023). Gleiches gilt
für aktuelle politische Geschehnisse auf internationaler Ebene. So konnte beispielsweise
in einer quasiexperimentellen Untersuchung gezeigt werden, dass antisemitische
Einstellungen in Deutschland in Reaktion auf die Eskalation des Konflikts zwischen Israel
und der Hamas im Mai 2021 zugenommen haben dies gilt insbesondere auch für
Muslim:innen (Richter et al. 2022).
Bei religiösen Muslim:innen spielt ferner die Auslegung der eigenen Religion und die
Ausprägung ihrer individuellen Religiosität eine wichtige Rolle. So geht eine fundamen-
talistisch geprägte religiöse Orientierung mit deutlich erhöhten Raten antisemitischer
Einstellungen einher (Öztürk & Pickel 2022; Fischer & Wetzels 2023, 2024; Hinz et al.
2024). Des Weiteren steht bei erwachsenen Muslim:innen in Deutschland die kollektive
Religionspraxis, hier die Frequenz des Besuchs einer Moschee oder eines Gebetshauses,
in Zusammenhang mit einem höheren Ausmaß antisemitischer Einstellungen (Fischer &
Wetzels 2024).
Abseits der Religionszugehörigkeit und der religiösen Rigidität gibt es Hinweise darauf,
dass auch die individuelle Migrationsgeschichte einen relevanten Einfluss auf die
Auftretenswahrscheinlichkeit antisemitischer Einstellungen bei Migrant:innen hat.
Angehörige der zweiten Migrationsgeneration weisen seltener judenfeindliche Ressen-
timents auf als Angehörige der ersten Generation, die selbst nach Deutschland
zugewandert sind (Friedrichs & Storz 2022; El-Menouar & Vopel 2023).
Ein weiterer relevanter Einflussfaktor für antisemitische Einstellungen, neben Migrations-
hintergrund und Religion, ist nach zahlreichen Befunden internationaler Studien das
Vorliegen einer Verschwörungsmentalität (vgl. Allington et al. 2023; Bertlich et al. 2024).
Das Ausmaß von Verschwörungsglaube zeigte in den dazu verfügbaren deutschen
Studien sowohl bei muslimischen und nichtmuslimischen Migrant:innen als auch bei
Personen ohne Migrationshintergrund erhebliche Effekte auf das Ausmaß antisemitischer
Einstellungen (vgl. Fischer & Wetzels 2023, 2024; Hinz et al. 2024).
Verschiedene Studien deuten außerdem darauf hin, dass sowohl der Schuldabwehr- als
auch der israelbezogene Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft insgesamt eine
höhere Verbreitung hat als tradierte Formen antisemitischer Einstellungen (Kiess et al.
2020). Besonders hohe Raten eines israelbezogenen Antisemitismus zeigen sich bei
Muslim:innen (El-Menouar & Vopel 2023; Fischer & Wetzels 2023; Allington et al. 2023),
während der Schuldabwehrantisemitismus in Deutschland häufiger in der autochthonen
Wohnbevölkerung vorzufinden ist (Öztürk & Pickel 2022).
7
2.2 Antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen und Heranwachsenden
Zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen unter jungen Menschen und den dafür
relevanten Einflussfaktoren sind die Befunde der für Deutschland verfügbaren
repräsentativen Studien nur begrenzt aussagefähig und vergleichbar. Dies gilt in
besonderem Maße für Erkenntnisse zu jungen Migrant:innen in dieser Hinsicht, die noch
weniger verfügbar sind.
Die für junge Menschen in verschiedenen Studien festgestellten Prävalenzraten unter-
scheiden sich zudem zum Teil sehr deutlich. In der Bielefelder Mitte-Studie zeigte etwa die
Gruppe der jungen Erwachsenen (18 bis 34 Jahre) im Altersgruppenvergleich die höchste
Zustimmungsrate zu tradiertem Antisemitismus (Zick & Mokros 2023), während in der
Leipziger Autoritarismus-Studie die 16 bis 30 Jahre alten Befragten niedrigere
Zustimmungsraten zu tradiertem Antisemitismus aufwiesen als die Kohorte der über 60-
Jährigen (Decker et al. 2022). Im SVR Integrationsbarometer 2020 war die Zustimmung zu
Antisemitismus unter jüngeren Befragten (14 bis 34 Jahre) am niedrigsten und zwar
sowohl zum tradierten als auch zum israelbezogenen und dem Schuldabwehranti-
semitismus (Friedrichs & Storz 2022). Befunde der MEMO-Jugendstudie 2023 deuten
ebenfalls darauf hin, dass Antisemitismus wie auch andere Formen der gruppenbezo-
genen Menschenfeindlichkeit unter jungen Menschen im Alter von 16 bis 25 Jahren
weniger verbreitet ist als in der erwachsenen Wohnbevölkerung (Papendick et al. 2023).
Die Ergebnisse des Religionsmonitors 2023 weisen ferner auf mögliche altersspezifische
Verschiebungen der Formen von Antisemitismus hin. So waren bei jungen Menschen im
Alter zwischen 16 bis 24 Jahren zwar niedrigere Raten des tradierten Antisemitismus zu
finden als bei älteren Befragten. Die Jüngeren zeigten aber nach diesen Ergebnissen in
erhöhtem Maße israelbezogenen Antisemitismus (El-Menouar & Vopel 2023). Eine beson-
dere Relevanz von israelbezogenem und Schuldabwehrantisemitismus bei Jüngeren
zeigte auch eine Online-Befragung von Kart und Zimmer (2023), die sich mit
verschiedenen Spielarten antisemitischer Einstellungen bei 16- bis 27-Jährigen befasst
haben. Die Studierendenbefragung von Hinz und anderen (2024, S. 23) hingegen fand
keine Differenzen der Prävalenzraten zwischen klassischem und israelbezogenem Antise-
mitismus bei Studierenden.
In der fünften Welle des Niedersachsensurveys, einer repräsentativen Dunkelfeld-
befragung von Neuntklässler:innen in Niedersachsen, zeigten sich im Jahr 2022 ebenfalls
keine nennenswerten Differenzen der Zustimmungsraten zwischen tradiertem und
israelbezogenem Antisemitismus. Im Zeitverlauf war hier für die Zeit seit 2017 ein relativ
stabiles Niveau antisemitischer Einstellungen zu erkennen (Dreißigacker et al. 2023).
Hinsichtlich möglicher Einflüsse von Religion und Religiosität auf Antisemitismus
verglichen Baier, Krieg und Kliem (2021) Ergebnisse des Niedersachsensurvey aus den
Jahren 2017 und 2019 mit denen einer Schülerbefragung aus dem Jahr 2017 in der
Schweiz (Manzoni et al. 2019). In beiden Ländern zeigte sich, dass junge Muslim:innen
häufiger antisemitisch eingestellt sind als junge Menschen mit anderen Religionszuge-
hörigkeiten oder Konfessionslose. Weiter stand der Grad der Religiosität bei jungen
Muslim:innen im Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen (Baier, Krieg & Kliem
2021).
Insgesamt führt die Sichtung des Forschungsstandes zu dem Ergebnis, dass die
Erforschung antisemitischer Einstellungen bei jungen Menschen in Deutschland nicht so
8
umfassend erfolgt ist, wie das bei Erwachsenen der Fall ist. Informationen über etwaige
Altersspezifika des Antisemitismus bei jungen Menschen und mögliche Zusammenhänge
mit Religion und Migration sind in Bezug auf die jüngere Zeit nur sehr begrenzt auf
repräsentativer Basis verfügbar. Dabei besteht in der Praxis durchaus Bedarf an
genaueren Informationen zu Antisemitismus speziell bei jungen Menschen, da dies gerade
in dieser Altersphase ein wichtiges Thema darstellt. Darauf haben verschiedene Studien
und Berichte aus den Bereichen der Jugendarbeit, der Schulpädagogik sowie des
Jugendstrafvollzuges mehrfach hingewiesen (vgl. u. a. Bernstein 2020; Chernivsky &
Lorenz 2020; Stelly et al. 2022; Giesel & Meyer 2023).
3 Forschungsleitende Fragestellungen
Anknüpfend an den für Deutschland vorliegenden Forschungsstand und dort erkennbare
Lücken wird in der vorliegenden Studie die Frage verfolgt, wie verbreitet tradierte
antisemitische Ressentiments unter Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland
im Alter zwischen 16 und 21 Jahren sind. Weiter wird analysiert, inwieweit Unterschiede
der Verbreitung antisemitischer Einstellungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen
Teilgruppen junger Menschen zu erkennen sind, insbesondere mit Blick auf Migrations-
hintergrund und Religion, und welche Faktoren dies ggfs. erklären können.
Die verfügbaren Forschungsarbeiten geben Anlass zu der Annahme, dass antise-
mitische Ressentiments vermehrt bei Personen mit Migrationshintergrund und bei Perso-
nen mit muslimischer Religionszugehörigkeit vorzufinden sind (u. a. Schröder 2020; Baier
et al. 2021; Öztürk & Pickel 2022; Kart & Zimmer 2023; Fischer & Wetzels 2023, 2024). Als
dafür relevante Einflussfaktoren werden unter anderem individuelle Diskriminierungs-
erfahrungen und kollektive soziale Marginalisierungswahrnehmungen in Bezug auf die
Eigengruppe diskutiert (Fischer & Wetzels 2023, 2024; Arnold & Kiefer 2024; Öztürk et al.
2023). Verschiedene Studien zeigen, dass gerade junge Menschen mit einem Migrations-
hintergrund in Deutschland deutlich häufiger auch ganz persönlich als direkt Betroffene
Erfahrungen mit Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres ethnischen Hintergrundes
bzw. Nationalität sowie ihrer Religion machen als diejenigen ohne Migrationshintergrund
(vgl. Wetzels et al. 2022b).Besonders betroffen sind sowohl bei Erwachsenen (Wetzels et
al. 2022b) als auch bei jungen Menschen die in Deutschland lebenden Muslim:innen
(Farren et al. 2023).
Jüngste Studien legen allerdings auch die Annahme nahe, dass Zusammenhänge
zwischen persönlichen Diskriminierungserfahrungen und politischen Radikalisierungs-
prozessen zumindest in Teilen speziell bei Muslim:innen eher schwach ausgeprägt sind
(Endtricht 2023; Uslucan et al. 2023). So konnte z.B. mit Blick auf Einstellungen zum
politischen Islam Kanol (2024) auf Basis der Daten der ersten Welle der Studie „Menschen
in Deutschland“ aus dem Jahr 2021 zeigen, dass multivariat die Ausprägung individueller
Diskriminierungserlebnisse für die Erklärung islamistischer Einstellungen keinen statistisch
signifikanten Beitrag leistet, wenn religiöse Haltungen und die Identifikation mit dem
Herkunftsland in die Vorhersagemodelle einbezogen werden (s. Kanol 2024, Tabelle 1).
Demgegenüber konnte für kollektive Marginalisierungen, die sich nicht nur auf die Person
selbst, sondern insgesamt auf die Eigengruppe beziehen, denen Personen sich zugehörig
fühlen, mehrfach signifikante und teilweise auch recht starke Zusammenhänge mit extre-
mismusaffinen Einstellungen sowie mit Vorurteilen oder Formen der Intoleranz gegenüber
9
Fremdgruppen gezeigt werden (Fischer et al. 2022; Fischer & Farren 2023; so auch Kanol
2024).
Marginalisierungswahrnehmungen dahingehend, dass der Islam bzw. Muslim:innen
insgesamt durch „den Westen“ benachteiligt, ausgegrenzt und diskreditiert werden,
werden von einer Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslim:innen geteilt (Brettfeld &
Wetzels 1997; Wetzels & Brettfeld 2023; Kanol 2024). Sie haben sich empirisch als
relevanter Prädiktor für islamismusaffine Einstellungen bei Erwachsenen erwiesen
(Wetzels & Brettfeld 2023; Kanol 2024). In Bezug auf antisemitische Einstellungen
scheinen diese Zusammenhänge allerdings weniger ausgeprägt zu sein (Fischer &
Wetzels 2023, 2024).
Bei jungen Menschen ist die Forschungslage zu solchen Fragen nach Differenzen der
Verbreitung von Antisemitismus zwischen sozialen Teilgruppen und den dafür entschei-
denden Einflussfaktoren noch dürftig. Kurtenbach et al. (2020) weisen jedoch, im Einklang
mit Forschungen zu erwachsenen Personen in dieser Frage, darauf hin, dass
Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen Jugendliche empfänglicher für salafisti-
sche Narrative machen. So sind es gerade junge Menschen, bei denen die Wahrnehmung
von Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Teilhabedefiziten zu Entfremdungspro-
zessen führen kann, die die Empfänglichkeit für demokratieablehnende, autoritäre und
menschenfeindliche Ideologien steigern (Uslucan et al. 2023). Gerade der Kontakt mit
islam- oder muslimfeindlichen Vorurteilen kann zu Radikalisierungsspiralen führen und
Vorurteile gegenüber Fremdgruppen verstärken und befördern (Öztürk et al. 2023; Uslucan
et al. 2023; Öztürk et al. 2024).
Als eine relevante Größe im Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen hat sich
in der Forschung das Vorliegen einer Verschwörungsmentalität erwiesen (Allington et al.
2023; Papendick et al. 2023; Bertlich et al. 2024; Fischer & Wetzels 2023, 2024). Diese
steht zudem in engem Zusammenhang mit Gefühlen mangelnder politischer Teilhabe
sowie mit geringer Bildung und sozioökonomischen Benachteiligungen (Imhoff et al. 2022).
Des Weiteren zeigt sich, dass eine Verschwörungsmentalität bei Migrant:innen,
Muslim:innen sowie politisch rechts orientierten Menschen vermehrt anzutreffen ist
(Wetzels & Brettfeld 2022, 2023; Fischer & Wetzels 2023; Rothmund & Bojarskich 2024).
Auch in dieser Hinsicht ist die Forschungslage hinsichtlich junger Menschen bislang
allerdings noch recht begrenzt (Bertlich et al. 2024).
Im Folgenden wird zunächst die Prävalenz antisemitischer Einstellungen für die Popula-
tion der 16- bis 21-jährigen jungen Menschen insgesamt untersucht. Weiter werden nach
Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund unterscheidbare Teilgruppen junger
Menschen auch gesondert und vergleichend in den Blick genommen. Dabei erfolgt auch
die Untersuchung der Frage, in welchem Maße diese verschiedenen Teilgruppen junger
Menschen durch individuelle Diskriminierungserfahrungen sowie subjektive kollektive
Marginalisierungswahrnehmungen in Bezug auf die jeweilige Eigengruppe belastet sind.
Zusätzlich wird ferner die Verbreitung der Neigung zum Verschwörungsglauben bei jungen
Menschen in den Blick genommen.
In daran anschließend multivariaten Analysen wird die Frage verfolgt, inwieweit
Unterschiede der Belastung durch Diskriminierungserfahrungen und kollektive Marginali-
sierungswahrnehmungen sowie Divergenzen der Neigung zum Verschwörungsglauben
10
Differenzen antisemitischer Einstellungen zwischen verschiedenen Teilgruppen junger
Menschen zu erklären vermögen.
4 Datengrundlage und Methode
Die Untersuchung der genannten Forschungsfragen erfolgt auf Basis der Daten der
ersten Welle der Trendstudie „Junge Menschen in Deutschland“ (JuMiD), die im Früh-
sommer 2022 als Teilprojekt des Forschungsverbundes „Monitoringsystem und Trans-
ferplattform Radikalisierung“ (MOTRA) durch das Institut für Kriminologie der Fakultät für
Rechtswissenschaft der Universität Hamburg durchgeführt wurde (Farren et al. 2022).
Es handelt sich dabei um eine repräsentative Online-Befragung der deutschen Wohn-
bevölkerung im Alter zwischen 16 und 21 Jahren. Die Ziehung der Stichprobe erfolgte in
Kooperation mit dem Feldforschungsinstitut Kantar (aktuell verian) als mehrstufige Zufalls-
ziehung aus den Registern der Einwohnermeldeämter in deutschen Städten und
Gemeinden.
Die thematischen Schwerpunkte der Studie liegen auf der Erfassung von Meinungen und
Haltungen junger Menschen zu politischen und religiösen Themen, ihren Wahrnehmungen
gesellschaftlicher Herausforderungen sowie ihren Bewertungen des darauf bezogenen
Handelns politischer Akteure. Im Mittelpunkt steht das Ziel einer Analyse extremismus-
affiner und intoleranter Einstellungen, ihrer Verbreitung und sozialen Verteilung sowie ihrer
Hintergründe und Ursachen. In diesem Zusammenhang werden in der JuMiD-Studie unter
anderem auch antisemitische, islamfeindliche und ausländerfeindliche Vorurteile erhoben.
4.1 Stichprobenbeschreibung
Insgesamt konnten im Jahr 2022 N = 3 590 junge Menschen erreicht werden, von denen
verwertbare Daten vorliegen. Im Vergleich zu methodisch ähnlichen Studien ist die
Rücklaufquote für diese Umfrage mit 31.7 % als gut zu bezeichnen (für Details siehe Farren
et al. 2022). Die Rohdaten wurden nach Geschlecht, Alter, Nationalität, Bundesland und
politischer Gemeindegrößenklasse auf Basis der Informationen zur Grundgesamtheit der
deutschen Wohnbevölkerung im Alter zwischen 16 und 21 Jahren in einem mehrstufigen
Prozess gewichtet. Für die folgenden Analysen werden die gewichteten Daten verwendet.
Aufgrund der spezifischen hier verfolgten zentralen Fragstellungen wurden jene Fälle
ausgeschlossen, die keine gültigen Angaben zu Religionszugehörigkeit, zum Migrations-
hintergrund, zur Migrantengeneration oder zu antisemitischen Einstellungen aufwiesen.
Aus der Teilgruppe der jungen Muslim:innen wurden Befragte ohne Migrationshintergrund nicht
einbezogen, da diese sich aufgrund der geringen Fallzahl nicht als gesonderte Gruppe analysieren
lassen. Ausgeschlossen wurden weiter Fälle von Befragten, die weder eine christliche noch eine
islamische Religionszugehörigkeit, sondern einen andere Religionszugehörigkeit angegeben hatten.
Auch diese Gruppe ist für eine gesonderte Analyse zu klein.
Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse basieren danach auf N = 3 270 Fällen. Davon
sind 48.7 % weiblich und 51.3 % männlich. Das Durchschnittsalter liegt bei MW = 18.6
Jahren (SD = 1.8). Einen Migrationshintergrund in der ersten Generation haben 11.4 %.
26.3 % sind als Migrant:innen der zweiten Generation einzuordnen, 62.3 % haben keinen
Migrationshintergrund. 57.4 % sind Angehörige einer christlichen Religion, 10.1 % gehören
einer islamischen Religionsgemeinschaft an und 32.5 % sind konfessionslos.
11
4.2 Operationalisierung und Messung der zentralen Konstrukte
Neben der zentralen abhängigen Variable Antisemitismus wurden als mögliche Einfluss-
faktoren das Ausmaß einer Verschwörungsmentalität sowie kollektive Marginalisierungs-
wahrnehmungen und individuelle Diskriminierungserfahrungen erhoben. Diese Variablen
wurden über Fragen erfasst, die auf vierstufigen Likert-Skalen beantwortet werden
konnten. Antisemitismus und Verschwörungsmentalität fließen dabei jeweils als Mittel-
wertskalen in multivariate Analysen ein, während kollektive Marginalisierung und
individuelle Diskriminierung als Summenindikatoren operationalisiert werden.
Für weitere vertiefende Analysen von Teilpopulation der jungen Muslim:innen wurde
auch religiöser Fundamentalismus über eine Mittelwertskala erfasst. Auch hier kam eine
4-stufige Likert-Skala (von 1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) zum Einsatz.
Darüber hinaus wurde auch die spirituelle Religiosität als Einflussfaktor berücksichtigt.
Diese wurde anhand des Items „Bitte schätzen Sie für sich persönlich ein, wie gläubig Sie
sind“ auf einer fünfstufigen Likert-Skala (1 „Nicht gläubig“ bis 5 „Sehr gläubig“) erhoben.
Die Zuordnung der Befragten zu einer Religionsgruppe erfolgte auf Basis ihrer Selbstzu-
ordnung. Der Migrationshintergrund der Befragten wurde über Angaben zum Geburtsland,
den Geburtsländern der Eltern sowie der Staatsangehörigkeit der Befragten und ihrer
Eltern bestimmt. Migrant:innen, die nicht in Deutschland geboren wurden, werden der
ersten Generation und jene, die in Deutschland geboren wurden, als Migrant:innen der
zweiten Generation eingestuft (vgl. zum Erhebungsinstrument Farren et al. 2022).
5 Ergebnisse
Im Folgenden wird zunächst auf uni- und bivariate deskriptive Befunde zur Verbreitung
antisemitischer Einstellungen sowie individueller Diskriminierungserfahrungen und
subjektiv wahrgenommener kollektiver Marginalisierungswahrnehmungen in verschiede-
nen Teilgruppen der jungen Menschen in Deutschland eingegangen. Daran anschließend
werden die Ergebnisse multivariater Analysen vorgestellt. Abschließend wird vertiefend auf
weitere Befunde für die Teilstichprobe der muslimischen Befragten eingegangen.
5.1 Uni- und bivariate deskriptive Analysen
Antisemitische Einstellungen wurde anhand von zwei Items zu tradierten antisemitischen
Vorurteilen gemessen (Tabelle 1).
Tabelle 1:
Tradierte antisemitische Vorurteile: Verteilung der Einzelitems in der
Gesamtstichprobe (Angaben in Zeilenprozent je Item)
stimme
gar
nicht zu
stimme
eher
nicht zu
stimme
eher
zu
stimme
völlig
zu
MW
SD
1
2
3
4
Juden haben in Deutschland
zu viel Einfluss.
84.1%
12.3%
2.7%
0.9%
1.20
.53
Juden kann man nicht trauen.
90.6%
6.6%
1.8%
1.0%
1.13
.47
Antisemitismus (Mittelwertskala)
1.17
.44
12
Der Aussage „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ stimmten 3.6 % zu, dem Item
„Juden kann man nicht trauen“ 2.8 %. Fasst man diese beiden Items zu einer Mittwertskala
zusammen, dann liegt der Mittelwert bei MW = 1.17 (SD = .44).
Auf Basis dieser Mittelwertskala wurde ein kategorialer Indikator gebildet, der zwischen
Personen unterscheidet, die nicht antisemitisch eingestellt sind (Werte kleiner oder gleich
2), offen für antisemitische Einstellungen sind (Werte über 2 bis einschließlich 2.8) bzw.
eindeutig („klar“) antisemitische Haltungen zeigen (Werte über 2.8, zur Begründung für die
Cut-Off-Werte vgl. Fischer & Wetzels 2024). Mit 95.9 % erweist sich die große Mehrheit als
nicht antisemitisch eingestellt. 2.1 % sind offen für antisemitische Einstellungen während
2.0 % als klar antisemitisch eingestellt zu bezeichnen sind.
Bivariate Vergleiche der Verbreitung antisemitischer Einstellungen nach Migrations-
hintergrund und Religionszugehörigkeit der Befragten zeigen deutliche Unterschiede
zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilgruppen (Abbildung 1).
.
Abbildung 1:
Antisemitische Einstellungen bei jungen Menschen im Jahr 2022 (in %)
nach Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit
(Angaben in % mit 95 % KonfidenzintervalIen für Gesamtraten)
So fällt der Anteil derjenigen, die mindestens offen für antisemitische Einstellungen sind,
bei jungen Menschen ohne Migrationshintergrund am geringsten aus, unabhängig davon,
ob sie konfessionslos (2.0 %) oder christlich sind (1.9 %). Innerhalb der Gruppe junger
Menschen mit Migrationshintergrund bewegt sich der Anteil derer, die mindestens offen für
antisemitische Ressentiments sind unter konfessionslosen (4.2 %) und christlichen (3.7 %)
Befragten auf einem ähnlichen Niveau wie es in Bezug auf die Gesamtstichprobe
festzustellen war. Unter jungen Muslim:innen ist demgegenüber mit 17.8 % ein deutlich
größerer Anteil mindestens offen für antisemitische Einstellungen als in den anderen
untersuchten Teilgruppen: 5.7 % zeigen klar antisemitischen Einstellungen und weitere
12.1 % sind offen für antisemitische Ressentiments.
Eine muslimische Religionszugehörigkeit geht insoweit bei jungen Menschen mit einer
deutlich erhöhten Prävalenz antisemitischer Einstellungen einher. Das ist ähnlich wie bei
13
Erwachsenen (vgl. dazu Fischer & Wetzels 2023, 2024), allerdings auf einem insgesamt
niedrigerem Niveau. Zu betonen ist hier aber auch, dass mit 82.2 % die weit überwiegende
Mehrheit der jungen Muslim:innen im Sinne des hier erfassten tradierten Antisemitismus
nicht antisemitisch eingestellt ist.
Zur Erfassung der Verbreitung individueller Diskriminierungserfahrungen wurden den
Befragten drei Merkmale vorgelegt, die Anknüpfungspunkte von Diskriminierungen sein
können. Erhoben wurden persönliche Diskriminierungserlebnisse aufgrund der Hautfarbe,
wegen der Ethnie bzw. Nationalität sowie in Bezug auf die Religionszugehörigkeit in den
letzten 12 Monaten. 4.3 % gaben an, in diesem Zeitraum mindestens „manchmal“ aufgrund
ihrer Hautfarbe diskriminiert worden zu sein. Wegen ihrer religiösen Überzeugungen
fühlten sich 8.3 % innerhalb der letzten 12 Monate mindestens manchmal diskriminiert. Mit
13.9 % ist die Diskriminierung wegen der Ethnie oder Nationalität, die mindestens
manchmal erlebt wurde, bei jungen Menschen am stärksten ausgeprägt (Tabelle 2).
Tabelle 2:
Häufigkeit individueller Diskriminierungserfahrungen bei jungen Menschen
in den letzten 12 Monaten: Verteilung der Einzelitems in der Gesamtstich-
probe (Angaben in Zeilenprozent)
nie
selten
manchmal
oft
MW
SD
1
2
3
4
Hautfarbe
89.0%
6.6%
3.1%
1.2%
1.17
.52
Ethnie/Nationalität
69.5%
16.6%
9.9%
4.0%
1.48
.83
Religion
81.5%
10.2%
5.2%
3.1%
1.30
.71
Auf Basis dieser drei Items wurde ein Summenindikator für individuelle
Diskriminierungserfahrungen in der Weise gebildet, dass für jede Person bestimmt wurde,
wie viele dieser drei Items mit der Angabe „manchmal“ oder „oft“ beantwortet wurden.
Dieser Summenindikator kann folglich Werte zwischen 0 (min.) und 3 (max.) annehmen.
Er zeigt an, von wie vielen verschiedenen Formen persönlicher Diskriminierung die
Befragten mindestens manchmal betroffen waren.
Von den befragten jungen Menschen waren in den letzten 12 Monaten danach 11.4 %
von einer, 5.4 % von zwei und 1.4 % von allen drei Diskriminierungsformen betroffen.
Insgesamt berichten damit 18.2 % von mindestens einer der thematisierten
Diskriminierungsformen. Dieser Grad der individuellen Diskriminierungserfahrungen
korreliert signifikant positiv mit antisemitischen Einstellungen (r = .15, p < .001), allerdings
ist dieser Zusammenhang eher schwach ausgeprägt.
Eine nach Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit differenzierte Betrachtung
der einzelnen Diskriminierungsformen zeigt weiter, dass junge Migrant:innen in Bezug auf
alle drei abgefragten Formen von Diskriminierung signifikant häufiger entsprechende
Erfahrungen berichten (Abbildung 2).
Insbesondere die Verbreitung von Diskriminierungserfahrungen aufgrund der Hautfarbe
(7.1 % bis 16.6 %) sowie der Ethnie bzw. Nationalität (21.2 % bis 47.6 %) heben sich bei
allen drei migrantischen Teilgruppen deutlich von den Werten der anderen Teilgruppen ab.
Innerhalb der jungen Migrant:innen sticht die Gruppe der Muslim:innen deutlich hervor.
Muslimische junge Menschen weisen für alle drei Formen der individuellen Diskrimi-
nierungserfahrungen die mit Abstand höchsten Prävalenzraten auf. Besonders hoch sind
diese in Bezug auf die Religionszugehörigkeit. Hier gaben 44.3 % an, innerhalb der letzten
14
12 Monate diskriminiert worden zu sein. Damit weisen sie hier eine deutlich höhere
Belastung auf als konfessionslose (4.6 %) oder christliche (9.5 %) Migrant:innen.
Junge Migrant:innen, vor allem junge Muslim:innen, werden danach in Deutschland, ihrer
subjektiven Eigenwahrnehmung folgend, in hohem Maße damit konfrontiert, Adres-
sat:innen von Benachteiligungen und Diskriminierungen zu sein.
Abbildung 2:
Prävalenzraten und 95% Konfidenzintervalle für verschiedene Formen
individueller Diskriminierungserfahrungen (wegen Hautfarbe,
Ethnie/Nationalität, Religion/Glaube) nach Migrationshintergrund (MHG)
und Religionszugehörigkeit
Die Prävalenzraten für individuelle Diskriminierungserlebnisse unterscheiden sich
zwischen den fünf hier kontrastierten Gruppen ebenfalls beträchtlich. Von den konfessions-
losen jungen Menschen ohne Migrationshintergrund haben nur 5.6 % mindestens eine
dieser Erfahrungen gemacht; bei jungen Christ:innen ohne Migrationshintergrund sind es
7.0 %. Bei den konfessionslosen Migrant:innen waren hingegen 25.0 % und von den
christlichen Migrant:innen 33.0 % von mindestens einer Form der individuellen Diskrimi-
nierung in den letzten 12 Monaten betroffen. Am höchsten ist diese Rate bei den jungen
Muslim:innen. Hier berichten 58.4 %, von mindestens einer dieser Varianten von
Diskriminierung persönlich betroffen gewesen zu sein.
Die Erfassung der subjektiven Wahrnehmung gruppenbezogener kollektiver Marginali-
sierungen der jeweiligen Eigengruppe erfolgte ebenfalls anhand von drei Items. Diese
wurden mit dem Satz „Hier bei uns werden Menschen wie ich…“ eingeleitet, um einen
Bezug zur Eigengruppe herzustellen, der sich die Befragten zugehörig fühlen. Die
Verteilung der Angaben zu den Einzelitems zeigt, dass solche kollektiven Marginali-
sierungswahrnehmungen recht stark verbreitet sind.
So stimmen 5.3 % der Aussage „völlig zu“, dass ihre Eigengruppe oft geringgeschätzt
wird, weitere 22.9 % stimmen dem „eher zu“. Damit finden sich 28.2 % Zustimmungen zu
dieser Aussage. Der Aussagen, dass Menschen wie sie unfair durch die Polizei behandelt
werden, stimmen 16.7 % „eher zu“ und 7.5 % „völlig“. Besonders hoch sind die Raten für
15
die Einschätzung, dass Menschen wie sie von der Politik nicht ernst genommen werden:
Hier stimmen 42.2 % „eher“ und 19.6 % „völlig“ zu, insgesamt also deutlich mehr als die
Hälfte der Befragten (Tabelle 3).
Tabelle 3:
Subjektive Wahrnehmungen kollektiver Marginalisierungen der
Eigengruppe: Verteilungen der Einzelitems in der Gesamtstichprobe
(Angaben in Zeilenprozent)
Hier bei uns werden Menschen wie ich…
stimme
gar nicht
zu
stimme
eher nicht
zu
stimme
eher
zu
stimme
völlig
zu
MW
SD
1
2
3
4
… von anderen oft geringgeschätzt
37.7%
34.2%
22.9%
5.3%
1.96
.90
… von den Politikern nicht ernst
genommen
13.0%
25.2%
42.2%
19.6%
2.68
.93
… von der Polizei unfair behandelt
41.9%
33.9%
16.7%
7.5%
1.90
.94
Auch für die kollektiven Marginalisierungswahrnehmungen wurde ein Summenindikator
über die drei erhobenen Items gebildet, der Werte zwischen 0 und 3 annehmen kann. Dazu
wurde die Anzahl der Items addiert, denen völlig zugestimmt wurde. Erfasst wird damit, wie
viele unterschiedliche Formen der kollektiven Marginalisierung die Befragten in Bezug auf
ihre jeweilige Eigengruppe als eindeutig zutreffend erachten.
18.5 % der jungen Menschen sehen danach ihre Eigengruppe von einer, 5.0 % von zwei
und 1.3 % von allen drei Formen der kollektiven Marginalisierung betroffen an. Insgesamt
sieht damit ein Viertel (24.8 %) aller jungen Menschen ihre eigene jeweilige Gruppe von
mindestens einer Form kollektiver Marginalisierung betroffen. Das Ausmaß der kollektiven
Marginalisierungswahrnehmungen steht in einem statistisch signifikanten, positiven kor-
relativen Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen (r = .10, p < .001). Die
Intensität dieses Zusammenhangs ist aber eher schwach.
Für die nach Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit gebildeten Teilgruppen
der Stichprobe ergibt sich im Hinblick auf die Verbreitung wahrgenommener kollektiver
Marginalisierungen der Eigengruppe ein sehr unterschiedliches Bild.
Die Rate derer, die wahrnehmen, dass die Eigengruppe von anderen geringgeschätzt
wird, unterscheidet sich zwischen diesen Teilgruppen sehr deutlich (χ2 = 57.66; df = 4;
p < .001). Sie beträgt nur 2.7 % bei Christ:innen ohne Migrationshintergrund und 4.2 % bei
den Konfessionslosen ohne Migrationshintergrund. Demgegenüber fallen diese Raten bei
den migrantischen Gruppen erheblich höher aus. So stimmten sowohl Christ:innen mit
Migrationshintergrund (7.2 %) als auch Konfessionslose mit Migrationshintergrund (7.4 %)
hier häufiger zu. Junge Muslim:innen (12.2 %) berichteten besonders oft eine solche
Marginalisierungswahrnehmung in Form der Geringschätzung und Abwertung ihrer
Gruppe (Abbildung 3).
16
Abbildung 3:
Prävalenzraten und 95% Konfidenzintervalle für kollektive
Marginalisierungswahrnehmungen der Eigengruppe nach
Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit
Ähnliche signifikante Differenzen ergeben sich auch hinsichtlich der subjektiven
Einschätzung, dass die Eigengruppe von der Polizei unfair behandelt wird (χ2 = 68.97;
df = 4; p < .001). Mit nur 4.3 % berichten junge Christ:innen ohne Migrationshintergrund
dies besonders selten. Von den Konfessionslosen ohne Migrationshintergrund gaben
6.6 % eine entsprechende Wahrnehmung an. Unter den jungen Menschen mit Migrations-
hintergrund berichten 8.9 % der Christ:innen und 10.4 % der Konfessionslosen von dieser
Wahrnehmung. Allerdings bewegen sich hier die Prävalenzraten bei den Konfessionslosen
mit Migrationshintergrund (23.0 %) sowie bei den Konfessionslosen ohne
Migrationshintergrund (21.3 %) sowie bei den Christ:innen mit Migrationshintergrund
(23.5 %) auf einem ähnlich hohen Niveau.
Für die fünf Teilgruppen ergeben sich insgesamt deutliche Unterschiede der jeweiligen
Anteile junger Menschen, die ihre Eigengruppe von mindestens einer der drei Formen der
kollektiven Marginalisierung betroffen sehen. Christ:innen ohne Migrationshintergrund sind
davon mit 17.8 % am seltensten betroffen. Von den Konfessionslosen ohne
Migrationshintergrund berichten demgegenüber 25.6 % darüber. Die Raten der jungen
Christ:innen und die Raten der Konfessionslosen mit Migrationshintergrund liegen im
Vergleich dazu mit 29.4 % und 30.7 % etwas höher und nah beieinander. Die höchste Rate
der Belastung durch mindestens eine Form der Wahrnehmung kollektiver Marginalisierung
der Eigengruppe findet sich mit 36.0 % bei Muslim:innen.
Zur Messung der
Verschwörungsmentalität
wurden fünf Items verwendet (Tabelle 2).
Diese betreffen sowohl generelles Verschwörungsdenken als auch den Grad der
Zustimmung zu konkret benannten Verschwörungsnarrativen. Verschwörungsmentalität
wird dabei als eine relative stabile Neigung verstanden, verschiedene gesellschaftliche und
politische Entwicklungen als Resultat der Machenschaften geheimer Mächte mit
böswilligen konspirativen Absichten zu deuten (Lamberty 2019; Imhoff 2020; Imhoff et al.
2022; Bertlich et al. 2024; Imhoff 2024).
17
Mit 32.7 % und 25.9 % finden jene Aussagen die meiste Zustimmung, die einen großen
Einfluss geheimer Organisationen thematisieren bzw. die Behauptung enthalten, Politiker
seien nur Marionetten dahinterstehender Mächte. Die beiden Items, die Verschwörungs-
narrative im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aufgreifen, wurden jeweils von
knapp einem Fünftel (19.5 % und 19.4 %) zustimmend beantwortet. Der Aussage, dass
Studien, die einen Klimawandel belegen, meist gefälscht sind, stimmten demgegenüber
nur 6.6 % zu.
Tabelle 4:
Skala „Verschwörungsmentalität“: Verteilung der Einzelitems in der
Gesamtstichprobe (Angaben in Zeilenprozent)
stimme
gar nicht
zu
stimme
eher nicht
zu
stimme
eher
zu
stimme
völlig
zu
MW
SD
1
2
3
4
Der wahre Ursprung des Corona-Virus wird
von unserer Regierung mit Absicht geheim
gehalten.
56.8%
23.7%
13.7%
5.8%
1.68
.92
Es gibt geheime Organisationen, die
großen Einfluss auf politische
Entscheidungen haben.
33.8%
33.5%
23.8%
8.9%
2.08
.96
Die gefährlichen Nebenwirkungen von
Impfungen werden mit Absicht
verheimlicht.
58.9%
21.7%
12.5%
6.9%
1.68
.94
Politiker und andere
Führungspersönlichkeiten sind nur
Marionetten der dahinterstehenden
Mächte.
38.9%
35.3%
19.6%
6.3%
1.93
.91
Studien, die einen Klimawandel belegen,
sind meist gefälscht.
70.9%
22.5%
4.9%
1.7%
1.38
.66
Skala Verschwörungsmentalität
1.75
.71
Eine Hauptkomponentenanalyse dieser fünf Items ergibt eine einfaktorielle Lösung mit
einer Varianzaufklärung von 64.7 %. Eine auf dieser Basis gebildete Mittelwertskala
(MW = 1.75; SD = .71) weist eine gute interne Konsistenz (Reliabilität) von ω = .85 auf.
Verschwörungsmentalität ist sowohl mit Diskriminierungserfahrungen (r = .21, p < .001)
als auch mit kollektiven Marginalisierungswahrnehmungen (r = .30, p < .001) positiv korre-
liert. Einen besonders ausgeprägten Zusammenhang weist sie mit antisemitischen Ein-
stellungen auf (r = .41, p < .001). Dies stützt Thesen, wonach antisemitische Ressenti-
ments als Brückennarrative zwischen verschiedenen politischen Extremismen fungieren
(Meiering et al. 2018; Rabinovici & Sznaider 2019; Mendel 2023; Bertlich et al. 2024).
Nach Dichotomisierung der Skala „Verschwörungsmentalität“ an ihrem numerischen
Mittelpunkt (Werte > 2.5 = 1) erweisen sich 16.2 % der jungen Menschen als Personen, die
den Items dieser Skala überwiegend zustimmen und insoweit eine deutliche Neigung zum
Verschwörungsglauben erkennen lassen. Dieser Anteil liegt bei Christ:innen ohne
Migrationshintergrund bei 8.3 %. Bei Christ:innen mit Migrationshintergrund liegt er mit
25.6 % etwa dreimal höher. Bei den konfessionslosen jungen Menschen weisen 13.8 %
derjenigen ohne und 17.8 % derjenigen mit Migrationshintergrund eine Verschwörungs-
mentalität auf. Bei Muslim:innen liegt der Anteil an Personen mit einer Neigung zum
Verschwörungsglauben mit knapp einem Drittel (34.2 %) am höchsten.
In der Summe lässt sich also festhalten, dass ein Migrationshintergrund mit erhöhten
Raten von Verschwörungsmentalität einhergeht, die bei Muslim:innen am höchsten ist.
18
Für die Teilgruppe der jungen Muslim:innen wurde weiter untersucht, welchen Stellen-
wert bei ihnen religiöser Fundamentalismus hat. Dieser wird als eine dogmatische Haltung
verstanden, die durch eine besondere Rigidität in Bezug auf Handhabung und Verständnis
der eigenen religiösen Überzeugungen gekennzeichnet ist (vgl. Brettfeld & Wetzels 2007;
Wetzels & Brettfeld 2023). Dies äußert sich u.a. durch einen absoluten Wahrheitsanspruch
in Bezug auf die eigene Religion, der auch gegenüber anderen Gläubigen wie auch
anderen Religionsgruppen sowie Nichtgläubigen durchgesetzt werden soll. Dazu gehört
weiter die strikte Ablehnung von alternativen und historisierenden Interpretationen
religiöser Texte sowie die Zurückweisung von Modernisierungsversuchen.
Eine fundamentale religiöse Orientierung ist dabei nicht mit Islamismus gleichzusetzen,
obschon die Phänomene hoch korreliert sind (vgl. Wetzels & Brettfeld 2023). Islamismus
kennzeichnet sich als politisches Konzept dadurch aus, dass islamische religiöse Werte
und Normen auch auf den Bereich des politischen übertragen und dort priorisiert werden
in dem Streben, ein islamisches Staatswesen zu schaffen (Thiele & Jäger 2024, S. 3). Das
zentrale differenzierende Moment ist insofern das Bestreben, den Islam als eine staatliche
Ordnung zu deuten und anstelle eines demokratische, liberalen Systems eine göttliche
Ordnung mit transzendenter Legitimation zu etablieren (vgl. Tibi 2024, S. 22 f.; vgl.
Heidenreuter 2024 zu islamistischen Organisationen in Deutschland).
Dem für den religiösen Fundamentalismus charakteristischen rigiden Gültigkeitsan
spruch verbunden mit der Auffassung, dass es nur eine richtige Interpretation des Islam
gebe, stimmt mit 56.4 % eine Mehrheit der jungen Muslim:innen zu. Mit 46.4 % sind etwas
weniger als die Hälfte von ihnen der Meinung, dass eine Modernisierung des Islam dessen
wahre Lehre zerstören würde. Gut ein Drittel (32.4 %) meint zudem, dass jemand, der die
Regeln des Korans nicht wörtlich befolgt, kein echter Muslim sei. Etwas mehr als ein Viertel
teilt die Ansicht, dass „jeder gute Muslim dazu verpflichtet ist, Ungläubige zum Islam zu
bekehren“.
Tabelle 5:
Religiös-fundamentale Haltungen bei jungen Muslim:innen:
(Verteilung der Einzelitems, Angaben in Zeilenprozent)
stimme
gar nicht
zu
stimme
eher nicht
zu
stimme
eher
zu
stimme
völlig
zu
MW
SD
1
2
3
4
Wer die Regeln des Korans nicht wörtlich
befolgt, ist kein echter Muslim.
24.9%
42.6%
18.5%
14.0%
2.22
.98
Ich glaube, dass jeder gute Muslim dazu
verpflichtet ist, Ungläubige zum Islam zu
bekehren.
39.4%
33.3%
17.6%
9.7%
1.98
.98
Menschen, die den Islam modernisieren,
zerstören die wahre Lehre.
21.3%
31.6%
28.4%
18.7%
2.45
1.03
Es gibt nur eine richtige Interpretation des
Koran, an die sich alle Muslime halten
sollten.
18.5%
24.8%
29.0%
27.7%
2.66
1.07
Skala religiöser Fundamentalismus
2.33
.74
Eine Hauptkomponentenanalyse ergibt, dass alle vier Items auf einem gemeinsamen
Faktor mit einer Varianzaufklärung von 53.0 % laden. Die darüber gebildete Mittelwertskala
(MW = 2.33, SD = .74) erweist sich als zufriedenstellend reliabel = .72). Innerhalb der
19
Teilgruppe der jungen Muslim:innen ergeben sich signifikante Zusammenhänge zwischen
dem Grad der Ausprägung fundamentaler religiöser Haltungen (Mittelwertskala) und dem
Ausmaß antisemitischer Einstellungen (Mittelwertskala) (r = .32, p < .001) sowie der
Ausprägung von Verschwörungsmentalität (Mittelwertskala) (r = .31, p < .001). Der Grad
der Ausprägung fundamentaler religiöser Haltungen weist jedoch keinen Zusammenhang
mit persönlichen Diskriminierungserfahrungen (r = .03, n.s.) oder kollektiven Marginalisier-
ungswahrnehmungen (r = .04, n.s) auf.
Wird die Mittelwertskala der fundamentalen religiösen Haltungen an ihrem numerischen
Mittelpunkt dichotomisiert (Werte > 2.5 = 1), dann finden sich 35.1 % junge Muslim:innen,
die ein fundamentalistisches Religionsverständnis aufweisen. Dies ist mit einem guten
Drittel zwar ein hoher Anteil, gleichwohl aber eine Minderheit der jungen Muslim:innen.
5.2 Multivariate Analysen: Diskriminierung, kollektive Marginalisierung,
Verschwörungsglaube und antisemitische Einstellungen
Auf Basis multivariater Analysen wird weiter die Frage verfolgt, inwieweit individuelle Dis-
kriminierungserfahrungen und kollektive Marginalisierungswahrnehmungen sowie die
Ausprägung von Verschwörungsmentalität die Differenzen der Verbreitung antisemitischer
Einstellungen zwischen den nach Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit
gebildeten Teilgruppen zu erklären vermögen. Dazu werden hierarchische logistische
Regressionsmodelle berechnet (Tabelle 6).
In diesen Modellen werden die Effekte von Alter, Geschlecht und Bildungsstand der
Befragten statistisch kontrolliert. Abhängige Variable ist ein dichotomer Indikator für
tradierte Formen antisemitischer Einstellungen. Personen, die entweder offen für
antisemitische Haltungen (Werte von > 2 bis 2.8) oder klar antisemitisch eingestellt sind
Werte > 2.8) werden dabei als antisemitisch eingestellt codiert.
In Modell 1, in dem soziodemografische Merkmale und der Effekt eines Migrationshinter-
grundes statistisch kontrolliert werden, zeigen sich die aus den bivariaten Analysen
bekannten Effekte. So ist die relative Chance, im Sinne des hier verwendeten Indikators
mindestens offen für Antisemitismus zu sein, bei hochgebildeten jungen Menschen etwa
um das Fünffache geringer als bei denjenigen mit einer niedrigen Bildung (OR = 5.26-1 ***).
Weiter ist im Falle eines Migrationshintergrundes eine Erhöhung des Risikos
antisemitischer Einstellungen um mehr als den Faktor 3 zu erkennen (OR = 3.69 ***).
In Modell 2 werden die Kombinationen von Migrationshintergrund und Religionszuge-
rigkeit in die Analyse einbezogen. Die Vorhersage verbessert sich von Pseudo R² = .131
auf Pseudo R² = .184. Das relative Risiko einer antisemitischen Einstellung ist danach in
der Gruppe der Muslim:innen etwa um den Faktor 10 gegenüber der Referenzkategorie
statistisch hochsignifikant erhöht (OR = 10.05 ***), während sich für die anderen Gruppen
keine signifikanten Unterschiede zur Referenzgruppe finden.
Die Modelle 3a bis 3c beziehen zusätzlich jeweils einzeln Effekte individueller Diskrimi-
nierungserfahrungen, kollektiver Marginalisierungswahrnehmungen sowie der Verschwö-
rungsmentalität auf antisemitische Einstellungen zusätzlich in die Analyse ein.
Während die individuellen Diskriminierungserfahrungen keinen signifikanten Effekt auf
antisemitische Einstellungen bei jungen Menschen haben fällt dieser Effekt mit einer Odds-
Ratio von OR = 1.40 * für kollektive Marginalisierungswahrnehmungen zwar schwach aber
auf dem 5%-Niveau signifikant aus. Der deutlichste Effekt zeigt sich für die Verschwörungs-
20
mentalität (OR = 4.27 ***), die das relative Risiko antisemitischer Einstellungen um mehr
als das Vierfache erhöht. Der Effekt für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen
bleibt aber weiterhin stark ausgeprägt und statistisch signifikant.
Im Falle der Einbeziehung von Verschwörungsmentalität fällt der Effekt für die
Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslime mit OR = 8.12 *** in Modell 3c zwar etwas geringer
aus, ist aber immer noch sehr hoch und statistisch signifikant. Die Varianzaufklärung ist in
Modell 3c (Pseudo R² = .299) in Relation zu den Modellen 1 und 2 deutlich verbessert.
Tabelle 6:
Hierarchische logistische Regression von Antisemitismus (min. offen = 1)
auf individuelle Diskriminierung, kollektive Marginalisierung,
Verschwörungsmentalität, Religionszugehörigkeit und
Migrationshintergrund (Gesamtstichprobe, unter Kontrolle von Alter,
Geschlecht und Bildung)
Modell 1
Modell 2
Modell 3a
Modell 3b
Modell 3c
Modell 4
Alter
1.07
1.06
1.06
1.06
1.03
1.04
Männlich (ja = 1)
1.46
1.43
1.44
1.44
1.99 *
2.05 **
Bildung (hoch = 1)
5.26-1 ***
5.13-1 ***
5.10-1 ***
5.08-1 ***
3.31-1 ***
3.27-1 ***
Migrationshintergrund (ja = 1)
3.69 ***
Religionszugehörigkeit/MHG
(konfessionslos ohne MHG = 0)
konfessionslos mit MHG
2.45
2.40
2.46
2.60
2.53
christlich ohne MHG
1.07
1.07
1.13
1.61
1.55
christlich mit MHG
1.46
1.42
1.42
1.22
1.18
muslimisch mit MHG
10.05 ***
9.33 ***
9.79 ***
8.12 ***
7.99 ***
Indiv. Diskriminierung (Sum.)
1.07
Koll. Marginalisierung (Sum.)
1.40 *
1.21-1
Verschwörungsmentalität (kont.)
4.27 ***
4.66 ***
Modellfit (Wald-Test)
105.30 ***
130.33 ***
135.89 ***
141.16 ***
156.90 ***
170.66 ***
Pseudo R² (McFadden)
.131
.184
.184
.192
.299
.301
N
3 214
Anmerkung: Dargestellt werden Odds-Ratios, risikosenkende Effekte werden als Kehrwert 1/OR in
Exponentialschreibweise dargestellt. * = p < .05, ** = p < .01, *** = p < .001.
Werden die beiden als signifikant identifizierten Einflussfaktoren der kollektiven Margi-
nalisierungswahrnehmung und der Verschwörungsmentalität in Modell 4 simultan einbe-
zogen, verbessert sich die Varianzaufklärung im Vergleich zu Modell 3c kaum. Das relative
Risiko antisemitischer Ressentiments ist hier für Männer (bei Kontrolle aller anderen
Prädiktoren) im Vergleich zu Frauen etwa um den Faktor 2 erhöht (OR = 2.05 **). Hohe
Bildung geht mit einer signifikanten Verringerung des relativen Risikos antisemitischer
Einstellungen um etwa den Faktor 3 einher (OR = 3.27-1 ***). Für die kollektive Margi-
nalisierung kann in diesem Modell kein signifikanter Effekt mehr nachgewiesen werden.
Die Verschwörungsmentalität hat hingegen nach wie vor einen deutlichen
risikoerhöhenden Effekt auf antisemitische Einstellungen (OR = 4.66 ***) und auch die
Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen geht mit einer starken Erhöhung des relativen
Risikos antisemitischer Einstellungen einher (OR = 7.99 ***).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass individuelle Diskriminierungserfahrungen sowie kol-
lektive Marginalisierungswahrnehmungen nur eine untergeordnete Rolle für die Erklärung
des Auftretens tradierter Formen antisemitischer Einstellungen spielen. Antisemitische
21
Einstellungen stehen aber in einem engen Zusammenhang mit Neigungen zum Verschwö-
rungsglauben. Allerdings ist auch nach der statistischen Kontrolle der Verschwörungs-
mentalität eine erheblich höhere Rate antisemitischer Einstellungen im Falle einer
muslimischen Religionszugehörigkeit zu erkennen.
Über eine weitere hierarchische logistische Regressionsanalyse wurde daran
anknüpfend untersucht, inwieweit religionsspezifische Faktoren Binnendifferenzen
innerhalb der Gruppe der Muslim:innen erkennbar werden lassen. Als Prädiktoren wurden
hier zusätzlich die spirituelle Religiosität und religiöser Fundamentalismus einbezogen und
der Effekt der Migrationsgeneration statistisch kontrolliert (Tabelle 7).
In Modell 1 zeigt sich die Relevanz der Migrationsgeneration: Junge Muslim:innen der
ersten Migrationsgeneration weisen gegenüber jenen der zweiten Generation ein um etwa
den Faktor fünf erhöhtes relatives Risiko antisemitischer Einstellungen auf (OR = 5.43 ***).
Tabelle 7:
Hierarchische logistische Regression von Antisemitismus (min. offen = 1)
auf individuelle Diskriminierung, kollektive Marginalisierung,
Migrationsgeneration, Verschwörungsmentalität, spirituelle Religiosität
sowie Fundamentalismus (Teilstichprobe der Muslim:innen, n=267)
Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
Modell 5
Alter
1.06
1.06
1.09
1.08
1.14
Männlich (ja = 1)
1.14-1
1.17-1
1.02
1.03
1.07-1
Bildung (hoch = 1)
2.66-1 *
2.77-1 *
2.72-1 *
2.70-1 *
2.86-1 *
Migrationsgeneration (1. Gen. = 1)
5.43 ***
6.35 ***
8.14 ***
8.05 ***
7.61 ***
Indiv. Diskriminierung (Sum.)
1.17-1
1.36-1
1.37-1
1.40-1
Koll. Marginalisierung (Sum.)
1.49
1.08
1.07-1
1.10-1
Verschwörungsmentalität (kont.)
4.21 ***
4.20 ***
3.58 ***
Spirituelle Religiosität (kont.)
1.04
1.34-1
Fundamentalismus (kont.)
2.61 **
Modellfit (Wald-Test)
27.16 ***
31.85 ***
35.36 ***
35.73 ***
36.04 ***
Pseudo R² (McFadden)
.155
.170
.269
.269
.309
N
267
Anmerkung: Dargestellt werden Odds-Ratios, risikosenkende Effekte werden als Kehrwert 1/OR in
Exponentialschreibweise dargestellt. * = p < .05, ** = p < .01, *** = p < .001.
Für individuelle Diskriminierungserfahrungen und kollektive Marginali-
sierungswahrnehmungen finden sich in Modell 2 keine signifikanten Effekte. Die
Einbeziehung der Verschwörungsmentalität in Modell 3 steigert die Varianzaufklärung
deutlich (Pseudo R² = .269). Verschwörungsmentalität erhöht das Risiko von Anti-
semitismus bei jungen Muslim:innen um mehr als den Faktor 4 (OR = 4.66 ***). Für die in
Modell 4 kontrollierte Ausprägung der spirituellen Religiosität ergeben sich hingegen keine
statistisch signifikanten Effekte.
In Modell 5 wird religiöser Fundamentalismus in die Analysen einbezogen. Dadurch
erhöht sich die Varianzaufklärung des Modells auf Pseudo R² = .309. Eine fundamentale
religiöse Orientierung hat einen signifikanten risikoerhöhenden Effekt auf antisemitische
Einstellungen (OR = 2.61 **). Die Verschwörungsmentalität erweist sich nach wie vor als
relevanter Einflussfaktor (OR = 3.58 ***). Den stärksten risikoerhöhenden Effekt auf antise-
mitische Einstellungen hat allerdings die Migrationsgeneration: Junge Muslim:innen der
ersten Generation weisen durchgehend, das heißt auch nach statistischer Kontrolle von
Alter, Geschlecht, Bildung, spiritueller Religiosität, Fundamentalismus sowie Diskrimi-
22
nierung und Marginalisierung, ein deutlich erhöhtes Risiko für antisemitische Einstellungen
auf. In Modell 5 ist im Falle der Zugehörigkeit zur ersten Migrationsgeneration das relative
Risiko antisemitischer Einstellungen im Vergleich zu jungen Muslim:innen, die in
Deutschland geboren wurden, um mehr als den Faktor 7 erhöht (OR = 7.61 ***).
Zusammenfassend zeigen die multivariaten Analysen, dass bei jungen Menschen mit
muslimischer Religionszugehörigkeit sowie ausgeprägter Verschwörungsmentalität ein
deutlich höheres Risiko für tradierte Formen antisemitischer Einstellungen vorliegt.
Diskriminierungs- oder Marginalisierungserfahrungen spielen hier insoweit keine entschei-
dende Rolle. Weiter ist festzustellen: Männliche muslimische Befragte weisen eher
antisemitische Einstellungen auf als Frauen und im Falle hoher Bildung ist das Risiko
antisemitischer Einstellungen in dieser Teilstichprobe ganz deutlich reduziert.
Innerhalb der Gruppe der Muslim:innen finden sich allerdings erhebliche weitere auch
praktisch bedeutsame Binnendifferenzen. Bei selbst nach Deutschland zugewanderten
Muslim:innen, also jungen Menschen der ersten Migrationsgeneration, sind die Raten für
antisemitische Einstellungen deutlich erhöht. Weiter finden sich starke Effekte für die
Neigung zum Verschwörungsglauben und eine fundamentalistische religiöse Orientierung,
während der Grad der spirituellen Religiosität hier multivariat dann keine Rolle mehr spielt.
Die gesonderten Analysen für die jungen Muslim:innen bestätigen insoweit Befunde
hinsichtlich der Effekte einer Verschwörungsmentalität sowie fundamentaler Einstellungen
als Risikofaktoren für Antisemitismus, die für erwachsene Muslim:innen bereits an anderer
Stelle gezeigt und nachgewiesen werden konnten (vgl. Öztürk & Pickel 2022; Fischer &
Wetzels 2023, 2024). Auffällig und für die Forschung neuartig ist aber der bei jungen
Muslim:innen erkennbare massive Effekt der Migrationsgeneration. Diese deutlich erhöhte
Rate antisemitischer Einstellungen in der ersten Generation junger muslimischer
Migrant:innen erweist sich auch nach multivariater Kontrolle als stabil. Zwar gab es
entsprechende Hinweise in diese Richtung auch schon in anderen Studien, die Effekte
waren da aber weniger stark ausgeprägt. Die dortigen Analysen bezogen sich zudem nicht
ausschließlich auf Jugendliche und Heranwachsende wie hier, sondern in den Stichproben
waren zu großen Teilen auch ältere erwachsene Befragte mit enthalten (z.B. bei Koopmans
2014; Friedrichs & Storz 2022; El-Menouar & Vopel 2023).
5.3 Weiterführende Analysen der Effekte der Migrationsgeneration und
der Religionszugehörigkeit auf antisemitische Einstellungen
Im Folgenden werden diese besonders hervorstechenden Zusammenhänge zwischen
der Migrationsgeneration und Antisemitismus nochmals unter Einbezug der nichtmusli-
mischen Migrantengruppen näher betrachtet. Abbildung 4 zeigt die Prävalenzraten antise-
mitischer Einstellungen für junge Migrant:innen in der ersten und zweiten Generation.
Dies dokumentiert, dass auch bei den jungen, nichtmuslimischen Migrant:innen die Mi-
grationsgeneration eine relevante Rolle im Zusammenhang mit antisemitischen Ein-
stellungen spielt. Mit Prävalenzraten von 5.8 % in der ersten und 3.1 % in der zweiten
Generation sind selbst zugewanderte nichtmuslimische Migrant:innen, die nicht in
Deutschland geboren wurden, signifikant häufiger antisemitisch eingestellt als in
Deutschland bereits geborene und aufgewachsene Befragte der zweiten
Migrationsgeneration.
23
Allerdings ist bei jungen Muslim:innen die Prävalenzrate antisemitischer Einstellungen
mit 34.0 % in der ersten Migrant:innengeneration um mehr als den Faktor 4 höher als bei
Muslim:innen der zweiten Generation mit 8.0 %. Dieser statistisch hochsignifikante Unter-
schied in Abhängigkeit von der Migrationsgeneration fällt damit bei jungen Muslim:innen
deutlich größer aus als bei nichtmuslimischen Migrant:innen, bei denen die erste
Generation nur eine um etwa den Faktor 1.9 höhere Rate aufweist. Anzumerken ist auch,
dass die Prävalenzraten von Muslim:innen der zweiten Generation sich nicht signifikant
von denen der nichtmuslimischen Migrant:innen unterscheiden.
Abbildung 4:
Prävalenzraten und 95% Konfidenzintervalle antisemitischer Einstellungen
(Werte > 2) bei jungen Migrant:innen nach Migrationsgeneration und
Religionszugehörigkeit (Vergleich Muslime und Nichtmuslime)
Es erscheint plausibel anzunehmen, dass Sozialisationseffekte, die zum Teil in den
jeweiligen Herkunftsländern gemacht wurden, die antisemitischen Einstellungen von
jungen Muslim:innen der ersten Migrationsgeneration mit beeinflusst haben dürften und
diese Differenzen mit erzeugt haben. Dies wäre künftig genauer in den Blick zu nehmen,
etwa unter systematischer Einbeziehung schulischer und familiärer Sozialisationser-
fahrungen im Herkunftsland einerseits und in Deutschland andererseits.
Eine vergleichende Darstellung der Anteile, den die fünf nach Migrationshintergrund und
Religionszughörigkeit gebildeten Teilgruppen an der Gesamtstichprobe haben mit den An-
teilen, die jede einzelne dieser fünf Gruppen jeweils an der Gesamtzahl der antisemitisch
eingestellten jungen Menschen hat, verdeutlicht die Relevanz des Migrationshintergrundes
und der muslimischen Religionszugehörigkeit in Bezug auf die Verbreitung antisemitischer
Einstellungen bei Jugendlichen und Heranwachsenden (Abbildung 5).
24
Abbildung 5:
Vergleich der Anteile junger Menschen nach Migrationshintergrund und
Religionszugehörigkeit an der Gesamtstichprobe mit deren jeweiligen
Anteilen an der Gruppe aller jungen Menschen, die offen für
antisemitische Einstellungen sind (in %)
In der Gesamtstichprobe weisen 62.3 % der Befragten keinen Migrationshintergrund auf.
Deren Anteil an denjenigen, die antisemitische Einstellungen zeigen (mind. offen für Anti-
semitismus), liegt hingegen nur bei 29.1 %. Die Raten der konfessionslosen (10.1 %) oder
christlichen Migrant:innen (16.4 %) unter den antisemitisch eingestellten Befragten
entsprechen in etwa ihren proportionalen Anteilen an der Gesamtstichprobe (9.7% bei den
Konfessionslosen und 17.9 % bei den Christ:innen). Deutlich überrepräsentiert sind
hingegen junge Muslim:innen, die lediglich 10.1 % der Befragten ausmachen, aber mit
44.4 % fast die Hälfte der antisemitisch eingestellten jungen Leute stellen.
Die Relevanz der Migrationsgeneration für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen
illustriert Abbildung 6. Migrant:innen der ersten Generation sind danach sowohl unter
muslimischen Befragten mit antisemitischen Einstellungen (32.0 % gegenüber deren
Bevölkerungsanteil von 3.8 %) als auch unter antisemitisch eingestellten nichtmuslimi-
schen Befragten (11.0 % gegenüber 7.6 % Bevölkerungsanteil) überrepräsentiert. Dieses
Phänomen ist bei den Muslim:innen allerdings deutlich stärker ausgeprägt als bei den
nichtmuslimischen oder den konfessionslosen Befragten. Die Teilgruppe der Muslim:innen
der ersten Generation ist relativ betrachtet die insgesamt größte Teilgruppe der antisemi-
tisch eingestellten jungen Menschen.
Angesichts dieser Befunde lässt sich die Annahme eines zumindest in Teilen stark von
neu zugewanderten Muslim:innen geprägten Antisemitismus bei jungen Menschen in
Deutschland kaum von der Hand weisen. Insgesamt haben neu zugewanderte junge
Menschen - unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit - einen Anteil von 43% an allen
antisemitisch eingestellten Jugendlichen und Heranwachsenden. Damit ist diese Gruppe
allerdings keine Mehrheit. Die Mehrheit der antisemitisch eingestellten jungen Menschen
ist mit 57 % in Deutschland geboren und aufgewachsen.
Allerdings bleibt auch festzuhalten, dass unabhängig von der Religionszugehörigkeit
junge Menschen der ersten Migrant:innengeneration, die selbst nach Deutschland
zugewandert sind, nur einen Anteil von 11.4% an der Gesamtgruppe der hier erreichten
jungen Menschen ausmachen, aber mit 43 % unter den antisemitisch eingestellten
Jugendlichen und Heranwachsenden fast um das Vierfache überrepräsentiert sind.
25
Abbildung 6:
Vergleich der Anteile junger Menschen nach Migrationshintergrund,
Migrationsgeneration und Religionszugehörigkeit in der Gesamtstichprobe
mit deren Anteilen an der Gesamtgruppe derjenigen mit antisemitischen
Einstellungen (Werte > 2) (in %)
Diese Befunde, speziell die Ergebnisse zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen im
Vergleich von Migrant:innen der ersten und zweiten Generation, deuten aber zugleich auch
auf mögliche Erfolge integrativer Prozesse bei Migrant:innen der zweiten Generation hin.
So sind nichtmuslimische Migrant:innen der zweiten Generation mit 15.5 % Anteil an
allen antisemitisch eingestellten jungen Menschen im Vergleich zu ihrem Anteil an den
Befragten insgesamt von 20% im Bereich des Antisemitismus eher unterrepräsentiert.
Muslimische Migrant:innen in der zweiten Migrant:innengeneration wiederum sind zwar
gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtstichprobe (6.3 %) unter den antisemitisch einge-
stellten jungen Menschen mit 12.4 % klar überrepräsentiert. Allerdings fällt diese Überre-
präsentation bei ihnen weitaus geringer aus als das bei Muslim:innen der ersten
Generation (nur 3.8 % Bevölkerungsanteil aber 32.0 % Anteil an den antisemitisch
Eingestellten) zu beobachten ist.
6 Zusammenfassung und Diskussion
Tradierter Antisemitismus ist nach den hier vorgelegten Befunden unter jungen
Menschen ein sehr relevantes Phänomen, auch wenn dies bei einer Gesamtbetrachtung
zunächst nur eine kleine Gruppe zu kennzeichnen scheint. So zeigen sich 2.1 % der jungen
Menschen offen für Antisemitismus und weitere 2.0 % weisen klar antisemitische
Einstellungsmuster auf. Die im gleichen Jahr und in demselben Zeitraum mit dem gleichen
Messinstrument durchgeführte repräsentative Befragung Erwachsener im Rahmen der
zweiten Welle der Studie „Menschen in Deutschland“ (MiD) zeigte im Vergleich dazu, dass
die Rate klar antisemitisch eingestellter Personen in der erwachsenen Wohnbevölkerung
in Deutschland mit 4.0 % deutlich höher lag (Fischer & Wetzels 2024). Weitere 4.1%
zeigten Offenheit für antisemitische Vorurteile. Damit erweisen sich die
Antisemitismusraten unter Erwachsenen als doppelt so hoch im Vergleich zu den Raten,
die hier für Jugendliche und Heranwachsende nachgewiesen werden konnten. Insofern
lässt sich festhalten, dass zumindest tradierte Formen antisemitischer Vorurteile in der
26
jüngeren Generation weniger verbreitet sind als in der erwachsenen Gesamtbevölkerung
ab 18 Jahren unter Einschluss der älteren Jahrgänge.
Allerdings sind erhebliche Binnendifferenzen der Verbreitung antisemitischer Ein-
stellungen zwischen verschiedenen Teilgruppen junger Menschen auffallend und zu
beachten. Unter christlichen (1.9 %) und konfessionslosen jungen Menschen ohne
Migrationshintergrund (2.0 %) sind diese Raten besonders niedrig. Christliche (3.7 %) und
konfessionslose Befragte (4.2 %) mit einem Migrationshintergrund weisen demgegenüber
leicht erhöhte Werte auf. Unter jungen muslimischen Migrant:innen ist mit 17.8 % eine ganz
erheblich höhere Prävalenzrate antisemitischer Einstellungen (jeweils unter Einschluss der
Offenheit für antisemitische Ressentiments) zu erkennen. Insofern weist zwar auch in der
Teilgruppe der jungen Muslim:innen die Mehrheit keine tradierten antisemitischen
Vorurteile auf. Gleichwohl besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen antisemi-
tischen Einstellungen und einer muslimischen Religionszugehörigkeit.
Ein ganz erheblicher Anteil der antisemitisch eingestellten jungen Menschen weist einen
Migrationshintergrund sowie - oftmals auch zugleich - eine muslimische Religionszuge-
hörigkeit auf, was insbesondere für die Präventionspraxis in diesem Feld bedeutsam ist mit
Blick auf die Merkmale der zu erreichenden Zielgruppen. Die hier vorgelegten repräsen-
tativen Ergebnisse umreißen in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung für die
Praxis in diesem Feld.
Multivariate Analysen bestätigen und ergänzen diese Ergebnisse. Nach statistischer
Kontrolle von Alter, Geschlecht und Bildung der Befragten bestehen keine nennenswerten
Unterschiede der Prävalenzraten antisemitischer Einstellungen zwischen den vier unter-
suchten nichtmuslimischen Teilgruppen. Für Muslim:innen finden sich hingegen auch
danach weiterhin deutlich erhöhte Raten antisemitischer Einstellungen. Dies ist auch dann
noch der Fall, wenn die Ausprägungen von Diskriminierungserfahrungen und kollektiven
Marginalisierungswahrnehmungen statistisch kontrolliert werden. Insofern erklären derar-
tige Formen individuellen und kollektiven Ausgrenzungserlebens die erhöhten Raten
antisemitischer Einstellungen bei jungen Muslim:innen nicht.
Ein wichtiger Einflussfaktor ist sowohl bei Migrantinnen insgesamt als auch und vor allem
bei Muslim:innen die Neigung zum Verschwörungsglauben. Eine Verschwörungsmentalität
geht mit einer stark erhöhten Wahrscheinlichkeit antisemitischer Einstellungen einher.
Aber auch die erhöhte Verschwörungsmentalität vermag nicht die höheren Raten antisemi-
tischer Einstellungen junger Muslim:innen hinreichend zu erklären. Auch nach deren
statistischer Berücksichtigung bleibt eine signifikante Höherbelastung junger Muslim:innen
mit antisemitischen Einstellungen nachweisbar.
Weiterführende multivariate Analysen, welche die muslimischen Befragten gesondert in
den Blick nehmen, zeigen markante für Praxis wie Politik relevante Binnendifferenzen. So
geht gerade bei Muslim:innen eine Verschwörungsmentalität mit einem besonders deutlich
erhöhten Risiko für antisemitische Einstellungen einher. Die eigene spirituelle Religiosität
spielt bei Berücksichtigung dessen keine Rolle mehr. Ausgeprägte Religiosität im Sinne
individueller Gläubigkeit alleine ist insofern kein entscheidender Risikofaktor. Eine
fundamentalistische religiöse Orientierung erhöht hingegen die Wahrscheinlichkeit
antisemitischer Einstellungen ganz wesentlich.
Insgesamt stehen diese Befunde zur Verbreitung von Antisemitismus bei jungen Men-
schen, insbesondere bei jungen Muslim:innen, in wichtigen Aspekten im Einklang mit
27
aktuellen Befunden zum Antisemitismus in der erwachsenen Wohnbevölkerung (Öztürk &
Pickel 2022; Fischer & Wetzels 2023, 2024). Im Rahmen der vorliegenden Analysen ergab
sich allerdings ein zusätzlicher relevanter Einflussfaktor: Die Migrationsgeneration steht
vor allem bei jungen Muslim:innen in einem sehr engen Zusammenhang mit deren antise-
mitischen Einstellungen. Muslimische Befragte der ersten Migrationsgeneration weisen,
auch nach statistischer Kontrolle aller anderen Einflussfaktoren, ein um etwa das
Siebenfache erhöhte relative Risiko des Auftretens tradierter Formen antisemitischer
Vorurteile im Vergleich zu Muslim:innen der zweiten Migrationsgeneration auf.
Bivariate Analysen des Zusammenhangs der Migrationsgeneration mit antisemitischen
Einstellungen im Vergleich von nichtmuslimischen und muslimischen Befragten unter-
streichen dies nochmals: Während nichtmuslimische Migrant:innen in der ersten
Generation mit 5.8 % zwar ufiger antisemitische Einstellungen zeigen als nichtmus-
limische Migrant:innen in der zweiten Generation (3.1 %), sind diese Differenzen zwischen
den Migrationsgenerationen bei muslimischen Befragten deutlich größer. In der ersten
Generation ist bei Muslim:innen mit 34.0 % gut ein Drittel mindestens offen für Antise-
mitismus eingestellt, während es in der zweiten Generation nur 8.0 % sind.
Die Relevanz dieser Befunde zur Verbreitung von Antisemitismus unter jungen
Menschen für die Praxis lässt sich ermessen, wenn die Anteile der untersuchten Teil-
gruppen unter denjenigen, die antisemitische Einstellungen haben, mit ihren Anteilen an
der Gesamtstichprobe verglichen werden. Insgesamt 10.1 % der hier in die Analysen
einbezogenen Befragten gaben eine muslimische Religionszugehörigkeit an, gleichzeitig
machten sie aber 44.4 % der Befragten aus, die offen für antisemitische Einstellungen sind.
Christliche Befragte ohne Migrationshintergrund (39.5 % Stichprobenanteil und 17.8 %
Anteil an allen antisemitisch Eingestellten) und konfessionslose (22.8 % Stichprobenanteil
und 11.3 % Anteil an allen antisemitisch Eingestellten) sind bei diesem Vergleich in der
Gruppe der antisemitisch Eingestellten klar unterrepräsentiert. Der Anteil an antisemitisch
Eingestellten entspricht bei christlichen Migrant:innen (16.4 %) und konfessionslosen
Migrant:innen (10.1 %) wiederum in etwa ihren Anteilen an der Gesamtstichprobe (17.9 %
und 9.7 %).
Aufgeteilt nach Migrationshintergrund, Migrationsgeneration und muslimischer Reli-
gionszugehörigkeit, lässt sich dieses Bild weiter differenzieren: Befragte ohne Migrations-
hintergrund machen unter den mindestens offen für Antisemitismus eingestellten Personen
mit 29.1 % nur einen etwa halb so großen Anteil aus wie in der Gesamtstichprobe (62.3 %).
Nichtmuslimische Befragte in der zweiten Migrationsgeneration sind mit 15.5 % Anteil an
den antisemitisch Eingestellten gegenüber ihrem Anteil von 20.0 % an der Gesamtstich-
probe leicht unterrepräsentiert, während nichtmuslimische Befragte in der ersten
Migrationsgeneration mit 11.0 % Anteil an den antisemitisch Eingestellten gegenüber
7.6 % Anteil an der Gesamtstichprobe leicht überrepräsentiert sind.
Bei den muslimischen jungen Menschen sind sowohl Befragte aus der ersten als auch
der zweiten Generation in der Gruppe derjenigen überrepräsentiert, die offen für Antisemi-
tismus sind. Allerdings sind Muslim:innen in der zweiten Generation hier mit 12.4 % nur
etwa doppelt so häufig vertreten wie in der Gesamtstichprobe (6.3 %). Junge Muslim:innen
in der ersten Generation machen hingegen mit 32.0 % gut ein Drittel der antisemitisch
eingestellten jungen Menschen aus, obwohl sie in der Gesamtstichprobe mit nur 3.8 % eine
kleine Minderheit darstellen.
28
Dies sind in der Summe in einer migrationspolitischen Perspektive durchaus ernüchtern-
de und unerfreuliche Befunde. Sie unterstreichen nachdrücklich die Notwendigkeit der
Intensivierung angemessener Präventionsmaßnahmen in Bezug auf Antisemitismus
gerade für die in der ersten Generation neu zugewanderten jungen Menschen,
insbesondere für junge Muslim:innen. Diese gilt es adäquat in entsprechende Angebote
einzubeziehen und erfolgreich zu erreichen. Das wird vermutlich nicht ohne Kooperation
mit den hiesigen muslimischen Communities gelingen können (so auch schon Fischer &
Wetzels 2024).
Gleichzeitig zeigen aber die vergleichsweise reduzierten antisemitischen Ressentiments
sowohl bei muslimischen wie auch nichtmuslimischen jungen Migrant:innen der zweiten
Generation, dass Integrationsbemühungen in Bezug auf Toleranz, Respekt gegenüber
Minderheiten und die Akzeptanz von Fremdgruppen, im Falle von Antisemitismus wie hier
gegenüber jüdischen Menschen und deren Institutionen, offenbar auch Erfolge zu
verzeichnen haben wenn auch noch vieles zu tun bleibt.
Es ist vor dem Hintergrund der vorgelegten Befunde nachdrücklich auf die Notwendigkeit
einer differenzierten Betrachtung des Phänomens des Antisemitismus unter Migrant:innen
und speziell auch unter Muslim:innen in Deutschland und die Beachtung bestehender
Binnendifferenzen hinzuweisen. Der pauschale, verdinglichende Verweis auf „importierten
Antisemitismus wird den erkennbaren Verteilungen und den hier relevanten Binnen-
differenzen keinesfalls gerecht.
Die Relevanz religionsbezogener Faktoren für die Verbreitung von Antisemitismus unter
in Deutschland lebenden Muslim:innen ist unübersehbar. Dies wurde in den letzten Jahren
mit Blick auf Erwachsene bereits mehrfach empirisch dokumentiert (vgl. Öztürk & Pickel
2022; Fischer & Wetzels 2023, 2024), was hier nun auch in Bezug auf Jugendliche und
Heranwachsende auf repräsentativer Basis erneut erfolgt ist.
Ein religiös-antijudäisch geprägter muslimischer Antisemitismus ist indessen keineswegs
eine hinreichende Ursachenerklärung für die erhöhten Raten antisemitischer Einstellungen
unter in Deutschland lebenden jungen Muslim:innen, wie die multivariaten Befunde auch
zeigen. In den multivariaten Modellen verbleibt noch ein erheblicher Varianzanteil, der
durch sozialen Ausgrenzung- und Diskriminierungserfahrungen, einen
Migrationshintergrund, die Migrantengeneration, Religionszugehörigkeit sowie
Verschwörungsmentalität und Religionsverständnis nicht geklärt werden konnte. Es
handelt sich allerdings um einen wichtigen Teilaspekt des Phänomens, der auf praktische
Handlungserfordernisse verweist.
Daneben bestehen aber auch säkulare politische und herkunftsbezogene Hintergründe
und Motivationen (vgl. Arnold 2019; Klevesath 2022), darunter nicht zuletzt weltpolitische
Entwicklungen, die im Zusammenhang mit Öffentlichkeitskampagnen in den sozialen
Medien und auf Plattformen auch in Deutschland nach den verfügbaren Daten und
Erkenntnissen erheblich zu Radikalisierung beitragen (vgl. dazu auch Endtricht 2024) und
Anstiege des Antisemitismus erzeugen können (vgl. Schnabel 2024; Wetzels 2024).
Als Beispiel ist hier auf Erkenntnisse zu den gesteigerten antisemitischen Ressentiments
in Deutschland in Reaktion auf den Israel-Gaza-Konflikt im Jahr 2021 zu verweisen, die
zwar unter Muslim:innen besonders ausgeprägt waren, aber auch in anderen Teilen der
Gesellschaft deutlich wurden (Richter et al. 2022; Kemmesies et al. 2024). Es ist davon
auszugehen, dass die aktuelle massive Eskalation dieses Konflikts seit dem 7. Oktober
29
2023 mit dem Gaza-Krieg ganz erhebliche Auswirkungen auf das Ausmaß antisemitischer
Ressentiments in der deutschen Gesellschaft hat und weiter entfalten wird. Experimentelle
Befunde weisen in Bezug auf die Akzeptanz antisemitischer Protestformen ganz klar in
diese Richtung (vgl. Wetzels 2024). Dies wird auch durch die Entwicklungen der
registrierten antisemitischen Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 deutlich unterstrichen (vgl.
Antonio-Amadeu-Stiftung 2024; Kraushaar 2024; Kemmesies 2024 m.w.Nachw.;
Bundesamt für Verfassungsschutz 2024).
Wie die vorliegenden Befunde zeigen, ist unter jungen Menschen eine Neigung zu
verschwörungstheoretischen Narrativen ein Merkmal, das sich besonders gehäuft bei
verschiedensten Gruppen von Personen mit antisemitischen Einstellungen findet. Über
Verschwörungsnarrative ist es antisemitischen Gruppierungen auch möglich, aneinander
anknüpfende gemeinsame Deutungsrahmen zu entwickeln, welche die Kooperation unter-
einander fördern und solche Gruppen stärken. Die aktuelle Lage in Israel, insbesondere
der Krieg zwischen Israel und palästinensischen Gruppierungen in Gaza, aber auch im
Westjordanland und an der Grenze zum Libanon, sowie die damit einhergehenden
Desinformations- und Propagandakampagnen bieten zudem zusätzlich einen reichhaltigen
Nährboden für Antisemitismus (Weimann & Weimann-Saks 2024), indem dies diversen
Gruppierungen erlaubt, religiös-antijudäische, israelfeindliche, antizionistische wie auch
völkisch-nationalistische Spielarten des Antisemitismus mit vermeintlichen
Widerstandsszenarien und angeblichen Befreiungsbewegungen zu verbinden und so
Antisemitismus zu legitimieren.
Vor dem Hintergrund solch dynamischer und vielschichtiger Problemlagen erscheint es
für die Präventionsarbeit in Bezug auf junge Menschen naheliegend, Maßnahmen phäno-
menübergreifend auszurichten und sich an den in diesem Feld relevanten vielfältigen
Narrativen zu orientieren, um diese kritisch reflektieren und demaskieren zu können
(Meiering & Foroutan 2020). Auf diese Weise kann auf bestehende Kooperationen und
Vermengungen antisemitischer Organisationen und Gruppierungen und ihrer Agitationen
eingegangen werden, die bei phänomenspezifischen Ansätzen zu kurz kommen würden,
wenn diese sich exklusiv mit rechtsextremen, linksextremen oder islamistischen
Akteur:innen auseinandersetzen (Meiering & Foroutan 2020).
Auch angesichts der aus unserer Sicht recht klaren Befunde ist zu betonen, dass die
breite Mehrheit der in Deutschland lebenden jungen Muslim:innen keine tradierten antise-
mitischen Einstellungen aufweist. Weiter verdeutlichen die Ergebnisse nachdrücklich, dass
es wichtig ist, bestimmte Teilgruppen innerhalb der jungen Muslim:innen verstärkt zu
adressieren, um diese in Präventionsmaßnahmen einzubeziehen, darunter vor allem
solche, deren antisemitische Ressentiments vermutlich (zumindest in Teilen) auf
Sozialisationsprozesse in ihren Herkunftsgesellschaften und dort bestehende Normen und
Traditionen zurückzuführen sind, was sich auch in qualitativen Studien so bereits
angedeutet hat (Jikeli 2020).
Im Rahmen der Integrations- und Präventionsarbeit mit jungen Muslim:innen ist es
insoweit zudem auch sehr wichtig zu beachten, dass diese weit häufiger als andere
gesellschaftliche Teilgruppen von individuellen Diskriminierungserfahrungen aufgrund
ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie bzw. Nationalität und ihrer Religion betroffen sind als andere.
Zusätzlich nehmen junge Muslim:innen, auch unabhängig von ihren persönlichen
Diskriminierungserlebnissen, wesentlich häufiger die aktuelle gesellschaftliche Lage so
wahr, dass sie zu einer Gruppe von Menschen zu gehören scheinen, die eine
30
Geringschätzung durch die Gesellschaft erfahren und benachteiligt werden.
Beispielsweise findet sich die Wahrnehmung, dass Menschen wie sie unfair durch die
Polizei behandelt werden, bei Muslim:innen besonders oft.
Auch wenn solchermaßen erhöhten Raten verschiedener individueller Diskriminierungs-
erfahrungen und kollektiver Marginalisierungswahrnehmungen junger Muslim:innen nach
den hier vorgelegten Erkenntnissen deren erhöhte Raten antisemitischer Einstellungen
nicht zu erklären vermögen, so unterstreichen sie doch nachdrücklich, dass junge
Muslim:innen sich in der Gesellschaft häufig ausgegrenzt oder missverstanden fühlen. Für
die Präventionsarbeit ist das als psychologisch wichtiger Aspekt der sozialen
Ausgangssituation einer wichtigen Zielgruppe in jedem Fall relevant und zu beachten.
Es wäre wichtig, gerade dieser Zielgruppe zu vermitteln, dass Maßnahmen der
Prävention keinesfalls als eine pauschale negative Etikettierung von Muslim:innen als
antisemitisch oder demokratiefeindlich zu verstehen sind. Dies dürfte am ehesten gelingen,
wenn insbesondere solche muslimischen Gemeinschaften, die Prinzipien eines liberalen
demokratischen Rechtsstaates akzeptieren und befürworten, aktiv an der Gestaltung von
Integrations- und Präventionsangeboten beteiligt werden (so auch Fischer & Wetzels
2024).
Abschließend ist einschränkend anzumerken, dass die für die Analysen genutzten Daten
zwar repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der in Deutschland lebenden 16- bis 21-
Jährigen im Jahr 2022 anzusehen sind. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass die Gruppe
der erreichten Muslim:innen vom Umfang her relativ begrenzt ist; ein Oversampling, wie es
etwa in der MiD Studie umgesetzt wurde, wurde in JuMiD nicht vorgenommen. Die deutlich
umfangreichere Stichprobe erwachsener muslimischer Befragter in der MiD-Studie
bestätigt und unterstreicht die hier auf Basis der JuMiD Daten getroffenen Feststellungen
aber ganz deutlich (vgl. Fischer & Wetzels 2023, 2024).
Zudem ist zu beachten, dass die Teilgruppe der jungen Muslim:innen annähernd
repräsentativ abgebildet wurde. Dafür sprechen auch die Befunde der multivariaten
Analysen innerhalb dieser Teilgruppe, die weitestgehend mit Befunden übereinstimmen,
die anhand repräsentativer Stichproben für die Teilgruppe der Muslim:innen in der
erwachsenen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren durchgeführt wurden (Fischer & Wetzels
2023, 2024). Die signifikanten Befunde bei einer solchen eher kleineren Stichprobe
sprechen zudem für besonders hohe Effektstärken.
Mit Blick auf die Erfassung von Antisemitismus ist weiter zu beachten, dass soziale
Erwünschtheit das Antwortverhalten der verschiedenen Migrantengruppen in unterschied-
lichem Maße beeinflusst haben könnte was im Übrigen aber auch für die gesamte
Forschung in diesem Feld gilt. Andererseits setzt soziale Erwünschtheit aber immer auch
den subjektiven Bezug zu einer individuell für relevant erachteten sozialen Norm voraus,
so dass Differenzen auf der Ebene der erfassten Einstellungen auf Grundlage von
Selbstberichten im Kontext des Wirkens sozialer Erwünschtheit immer noch ein relevanter
Aussagewert zukommt. Diese Daten geben u.a. auch Auskunft über die Akzeptanz sozialer
Normen bzw. der Unerwünschtheit von Vorurteilen in verschiedenen Bevölkerungs-
gruppen. Insoweit sind die hier vorgelegten Befunde zur Verbreitung tradierter Formen
antisemitischer Einstellungen, wie bei allen Einstellungsbefragungen in diesem Feld, zwar
nicht als absolut exakt anzusehen. Sie sind aber gleichwohl als aussagekräftige
31
Beschreibung einer gesellschaftlichen Situation und diesbezüglicher Binnendifferenzen in
der Gesellschaft im Sinne einer Momentaufnahme anzusehen.
Einschränkend ist weiter zu berücksichtigen, dass die hier vorgelegten Analysen sich nur
auf tradierte Formen antisemitischer Einstellungen beziehen. Angesichts aktueller Debat-
ten sollte in künftigen Forschungsarbeiten in diesem Feld, vor allem wenn es um junge
Menschen geht, aus unserer Sicht unbedingt auch eine empirische Erfassung auf Israel
bezogener Formen des Antisemitismus einbezogen werden (vgl. dazu experimentell in
jüngerer Zeit u.a. Brettfeld et al. 2024; Wetzels et al. 2024). Hier wird die Herausforderung
darin liegen, zwischen Kritik an staatlichen Entscheidungsträgern und politischen Maß-
nahmen in Israel einerseits und darüber verdeckt zum Ausdruck gebrachten pauschalisie-
renden antijüdischen Vorurteilen andererseits zu differenzieren (vgl. Würdemann 2024).
Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und
deren mehrfach dokumentierten Ausstrahlungswirkungen nach Deutschland (vgl. Richter
et al. 2022; Brettfeld et al. 2024) erscheint es vor allem mit Blick auf die Verbreitung von
Intoleranz, Hass und Vorurteilen, speziell unter jungen Menschen, sehr bedeutsam, Verän-
derungen in diesem Feld weiterhin kontinuierlich, mehrdimensional sowie unter Einsatz
unterschiedlicher methodischer Zugangswege sorgfältig zu beobachten und theoriegeleitet
zu analysieren.
Schließlich legen die Befunde nahe, im Bereich der Forschung zu Prävention von
Intoleranz und Vorurteilen künftig genauer die Frage aufzugreifen, wie gut junge Migrant:in-
nen, darunter vor allem auch die Muslim:innen, von den verfügbaren
Präventionsangeboten tatsächlich erreicht werden und inwieweit hier
Verbesserungspotentiale erkennbar sind. Weiter ist auch eine methodisch anspruchsvolle
Analyse der Effekte von Antisemitismusprävention, darunter speziell auch in Bezug auf die
Gruppe der in Deutschland lebenden Migrant:innen und der Muslim:innen, vonnöten. Hier
liegen für die Evaluationsforschung im Hinblick auf die Praxis der
Antisemitismusprävention aus unserer Sicht für die näherer Zukunft wichtige Aufgaben und
Herausforderungen.
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39
Summary in English
Anti-Semitism among juveniles and adolescents in Germany: On
the significance of migration background and religion
Jannik M.K. Fischer, Peter Wetzels, Katrin Brettfeld und Diego Farren
Abstract:
In this UHH MOTRA Research Report No. 15 results of an online survey of a represen-
tative sample of n=3,270 young people aged 16 to 21 on the prevalence of anti-Semitic
attitudes are presented. With a rate of 2.1% of young people who are open to antisemitic
resentment and a further 2.0% who display clear, distinct antisemitic attitudes, the preva-
lence rates of antisemitic prejudices among young people are significantly lower than
among the adult population in Germany. However, there are important differences between
subpopulations of young people in Germany with respect to migration background and
religious affiliations. Young people with a migration background are significantly more likely
to have anti-Semitic attitudes. Prevalence rates of antisemitic resentments are particularly
high among young Muslim migrants.
Multivariate analyses confirm these results after controlling for age, gender and
education. They show that high prevalence rates of antisemitism among young Muslims
are not due to their increased experiences of discrimination or their particularly widespread
perceptions of collective marginalization of their own group in Germany. Important factors,
in addition to low education, are conspiracy mentality and fundamentalist religious beliefs.
A high level of individual faith is not significant in this respect. Furthermore, a considerable
high overrepresentation of young Muslims of the first generation of migrants (those who
were not born in Germany) among juveniles and adolescents who hold anti-Semitic
attitudes is striking.
These findings have implications for the practice of anti-semitism prevention, since the
target group to be reached, especially among young people, is characterized to a very
considerable extent by young migrants who have recently immigrated to Germany,
including a very high proportion of strongly religious, fundamentalist Muslims.
Summary of key findings and possible consequences
for policy and the prevention of antisemitism
Results of the representative survey "Young People in Germany" (JuMiD) conducted in
early summer 2022 with n=3 270 participants aged 16 to 21 show that traditional anti-
Semitic prejudice is a relevant phenomenon among young people in Germany, although
the prevalence rates found appear to be rather low at first glance. According to the results
of this survey, 2.1% of young people are open to anti-Semitic prejudice and a further 2.0%
have clear anti-Semitic attitudes.
Results from the second wave of the MiD-Survey, a representative survey of the adult
population living in Germany, which was conducted in the same year and applied a similar
methodology and the same measure for antisemitic attitudes, found a prevalence rate of
4.0% of clearly antisemitic attitudes (Fischer & Wetzels 2024). In addition to that 4.1% of
adult respondents showed openness to anti-Semitic prejudice in des MiD-Survey 2022. In
sum this are rates that are twice as high as the rate among young people found by our
40
representative JuMiD Study in the same year. Overall, traditional anti-Semitism is obviously
less prevalent among the younger generation than in the adult population in total.
However, even if the majority of young people and adolescents do not hold traditional
anti-Semitic prejudices, as has been shown, it should nevertheless be noted that the extent
of anti-Semitism is still an important social problem and a fundamental challenge for liberal
democracy and social cohesion in Germany.
In particular, there are clear differences of the prevalence rates of anti-Semitic attitudes
between different subgroups of young people in relation to their religious affiliation and
migration background which should be considered. Among Christian (rate of anti-Semitic
attitudes 1.9%) and young people without a religious affiliation (rate of anti-Semitic attitudes
2.0%) without a migration background, the rates of those who are at least open to anti-
Semitic prejudice are particularly low. Christian (3.7%) and non-denominational respon-
dents (4.2%) with a migration background show slightly higher prevalence rates for anti-
Semitism. The highest prevalence rate of anti-Semitic attitudes was found among young
Muslims (17.8 %). Accordingly, the majority of young Muslims do not exhibit any traditional
anti-Semitic prejudices. However, there are significant correlations between anti-Semitic
attitudes and Muslim religious affiliation, which are noteworthy.
At the same time, there is also clear empirical evidence that a relevant proportion of
young people with anti-Semitic attitudes have a migration background. Very often, these
are young people and adolescents of Muslim faith, which is of particular importance for
prevention practice in this area and represents a major challenge for politics, especially
when it comes to the integration of young Muslim migrants in Germany.
Multivariate analyses confirm and complement these results. After statistically controlling
for age, gender and education, there are no significant differences in the prevalence rates
of anti-Semitic attitudes between the four non-Muslim subgroups studied.
Among young Muslim the rates of anti-Semitic attitudes remain significantly higher
compared to all other groups studied. This is still the case after individual experiences of
discrimination and collective perceptions of marginalization are statistically controlled for.
Accordingly, such forms of individual and collective experiences of exclusion do not explain
the higher rates of anti-Semitic attitudes among young Muslims.
A statistically significant and important factor in this respect is the tendency to believe in
conspiracies. Conspiracy mentality is positively associated with a significantly higher
probability of anti-Semitic attitudes. However, even after taking the degree of conspiratorial
thinking into account, statistically significant higher rate of anti-Semitic attitudes among
young Muslims are still to be identified.
Further multivariate analyses for Muslim respondents only show significant differences
within this group of young Muslim respondents. A conspiratorial mentality is associated with
a significantly higher rate of anti-Semitic attitudes among Muslims. Their spiritual religiosity,
measured by the degree of their faith, the intensity of their belief in God, has no significant
influence in that respect. A fundamentalist religious orientation, on the other hand,
significantly increases the likelihood of anti-Semitic attitudes. In this respect, the findings
on young people in general and young Muslims in particular are consistent with current
findings on antisemitism in the adult German population (Öztürk and Pickel 2022; Fischer
and Wetzels 2023; Fischer and Wetzels 2024).
41
The present analyses also show that the migration generation of the respondents is
closely linked to the prevalence of antisemitic attitudes among young Muslims. Even after
statistically controlling for all other influencing factors, Muslim respondents from the first
migration generation (those who were not born in Germany) exhibit a seven-fold higher rate
of traditional forms of anti-Semitic prejudice than Muslims from the second migration
generation who were born in Germany after their parents immigrated.
Bivariate analyses of the correlation between migration generation and anti-Semitic
attitudes for non-Muslim and Muslim respondents confirm and underline these findings
once again: while non-Muslim migrants from the first generation show anti-Semitic attitudes
more frequently (5.8%) than non-Muslim migrants from the second generation (3.1%),
these differences between the migration generations are significantly greater among
Muslim respondents. In the first generation of young Muslims a good third (34.0%) are at
least open to antisemitic prejudices, compared to only 8.0% in the second generation.
The practical implications and the political relevance of these findings can be gauged by
comparing the percentages of anti-Semitic attitudes among the subgroups surveyed with
their proportions in the overall sample. Overall, only 10.1% of all respondents stated a
Muslim religious affiliation. At the same time, they account for 44.4% of respondents who
are open to anti-Semitic attitudes. Christian respondents without a migration background
(39.5 % of the sample and 17.8 % of all respondents with anti-Semitic attitudes) and non-
denominational respondents (22.8 % of the sample and 11.3 % of all respondents with anti-
Semitic attitudes) are significantly underrepresented in the group of respondents with anti-
Semitic attitudes. In addition, the proportion of anti-Semitic attitudes among Christian
migrants (16.4%) and non-denominational migrants (10.1%) roughly corresponds to their
proportions in the overall sample (17.9% and 9.7%).
Respondents without a migration background account for only 29.1% of young people
with anti-Semitic prejudices, while their share in the overall sample (62.3%) is more than
twice as high. Non-Muslim respondents from the second migration generation are slightly
underrepresented with 15.5 % of anti-Semitic young people, while their share in the overall
sample is 20.0 %. On the other hand, non-Muslim respondents from the first migration
generation are slightly overrepresented among those with anti-Semitic prejudices at 11.0%,
compared to their share of 7.6% in the general population.
Among young Muslims, both first- and second-generation respondents are overrepre-
sented in the group of those who are open to anti-Semitism. However, at 12.4%, second-
generation Muslims are only about twice as frequently represented here as in the overall
sample (6.3%). Young Muslims of the first generation, on the other hand, make up a good
third of openly anti-Semitic young people (32.0%), although they represent a small minority
in the overall sample (only 3.8%).
Overall, these are sobering results. They underline the need for the improvement and the
intensification of preventive measures in relation to anti-Semitism, especially for young
people who have only recently immigrated to Germany (the first generation of migrants). In
particular, young Muslims who have recently immigrated to Germany should be considered
and reached appropriately. This will probably not be possible without the cooperation of
local Muslim communities (see Fischer and Wetzels, 2024).
At the same time, however, the lower rates of anti-Semitic resentment among both
Muslim and non-Muslim young immigrants of the second generation compared to the rates
42
of the first generation show that integration efforts in terms of tolerance and acceptance
towards foreign groups, in this case towards Jews, have apparently also been successful -
even if much remains to be done.
In this context, it is important to emphasize the need for a differentiated view of the
phenomenon of anti-Semitism among Muslims in Germany and to consider the existing
internal differences within this group.
The relevance of religion-related factors for the spread of antisemitism among Muslims
living in Germany has already been empirically proven several times in recent years for
adult Muslims (e.g. Öztürk and Pickel 2022; Fischer and Wetzels 2023; Fischer and
Wetzels 2024). This has now also been proven for adolescents using a large representative
sample.
However, religiously based islamic anti-Judaism is by no means a sufficient explanation
for the increased rates of anti-Semitic attitudes among Muslims living in Germany as results
of the multivariate analyses reveal. There is much Variance left to be explained. Religion
is an important part of the explanation for this phenomenon, as the analyses presented
here indicate. This points to the need for practical action. However, secular political and
socio-structural factors also are important in this respect (cf. Arnold 2019; Klevesath 2022),
including global political developments which, in conjunction with high-profile campaigns
on social networks, can also contribute to antisemitism among young people, especially
young migrants living in Germany (cf. Schnabel 2024).
As a current example, reference is made here once again to the increased antisemitic
resentment in Germany as a reaction to the Israel-Gaza conflict in 2021, which was
particularly pronounced among Muslims, but was also observed in other parts of society
(Richter et al. 2022; Kemmesies et al. 2024). It can therefore be assumed that the current
escalation of this conflict since October 7, 2023 has had and will continue to have a major
impact on the extent of anti-Semitic resentment in German society (cf. Wetzels 2024).
In view of the findings presented here, which we believe are clear, it should also be
emphasized that the vast majority of young Muslims living in Germany do not have
traditionally anti-Semitic attitudes. Rather, the results make it clear that it is important for
prevention to address a specific subgroup within young Muslims whose antisemitic
resentments are presumably also partly the result of socialization processes and norms in
their societies of origin, as has already been suggested in qualitative studies (Jikeli 2020).
In the context of practical prevention work with young Muslims, it should also be noted
that young Muslims are affected far more often than other social subgroups by individual
experiences of discrimination and prejudices with respect to their skin colour, their ethnic
background or their nationality, and their religion (44.3%). They are also significantly more
likely to perceive a collective marginalization and a lack of social respect, social
participation and social recognition with respect to whole group they feel affiliated to.
Although the increased rates of various individual experiences of discrimination and
collective perceptions of exclusion among young Muslims are not an sufficient explanation
for their increased rates of anti-Semitic attitudes, they describe the important fact that
young Muslims often feel excluded and marginalized in German society. For practical
prevention, it is therefore important to convey to them that preventive measures must not
be understood as a blanket labelling of Muslims as anti-Semitic or anti-democratic.
Photo by UHH/RRZ/Mentz
Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg
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Zusammenfassung Diese Studie untersucht das Zusammenspiel zwischen Identifikation mit dem Herkunftsland, autoritären Tendenzen und der Unterstützung des Politischen Islams unter Muslimen in Deutschland. Basierend auf einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2021 unter 1300 Muslimen in Deutschland wird ein starker Zusammenhang zwischen ausgeprägter Identifikation mit dem Herkunftsland und der Neigung zum Politischen Islam festgestellt. Diese Verbindung bleibt auch nach Berücksichtigung von Religiosität, Diskriminierungserfahrungen, wahrgenommener Diskriminierung, religionsbezogener Marginalisierung und sozioökonomischen Indikatoren bestehen. Bemerkenswert ist, dass autoritäre Einstellungen diesen Zusammenhang moderieren. Das bedeutet, dass die Neigung zum Politischen Islam nicht allein durch die Stärke der ethnischen Identifikation beeinflusst wird, sondern auch durch autoritäre Tendenzen. Dies weist auf eine Konvergenz von autoritärem Nationalismus und Politischem Islam im deutschen Kontext hin.
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Since October 7, 2023, and the subsequent Gaza War, anti-Semitism in Germany has once again received considerable attention. Anti-Semitism among Muslims living in Germany is a particularly sensitive issue. Based on data from three representative, nationwide surveys, this article examines trends in the prevalence of antisemitic attitudes since 2021. Analyses are carried out both in relation to the adult population as a whole and separately contrasting different social subgroups. The results show slight, non-significant increases in anti-Semitic attitudes between 2021 and 2023 for the German population. However, clear differences between subgroups should be noted: Muslims not only show significantly higher rates of anti-Semitic attitudes but also marked increases between 2021 and 2023 that are not found in other subgroups. Even after multivariate controlling for socio-demographic characteristics and other social and economic predictors, significantly higher levels of anti-Semitic attitudes remain. Furthermore, tendencies to accept conspiracy narratives prove to be a stable predictor for all groups. For both Christians and Muslims, there are no effects of the intensity of personal faith and the centrality of religion in everyday life on anti-Semitism. However, fundamentalist attitudes increase anti-Semitic resentment in both groups alike. Only among Muslims, collective religious practice, measured by the frequency of attending mosques, is also associated with an increase in anti-Semitic prejudice, even after multivariate controlling for the intensity and rigidity of faith and social predictors. The political implications of these results for the prevention of anti-Semitism in the modern German migration society are discussed.
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Nach dem Angriff der Hamas auf Israel und der militärischen Reaktion Israels stieg die Anzahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland deutlich an – etlichen Berichten zufolge auch an Hochschulen. Medien berichten über israelfeindliche Stimmungen, jüdische Studierende werden bedroht und angegriffen. Gefördert durch das BMBF, führte die AG Hochschulforschung der Universität Konstanz im Dezember 2023 eine Umfrage unter Studierenden durch, um in der aktuellen Situation das Meinungsklima zum Krieg in Israel und im Gazastreifen, die Protestbereitschaft in Deutschland, die Wahrnehmung von Antisemitismus in Gesellschaft und Hochschule und schließlich antisemitische Haltungen unter Studierenden abschätzen zu können. Teilgenommen haben über 2.000 Personen, die im Wintersemester 2023/24 an deutschen Hochschulen eingeschrieben waren. Die Resultate können mit Ergebnissen einer zeitgleich durchgeführten Bevölkerungsumfrage verglichen werden.
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Angesichts globaler und regionaler Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte steht die Gesellschaft vor erheblichen Herausforderungen wie politischer Instabilität, verschärften Konflikten, Migration, Rassismus, Diskriminierung sowie der Verbreitung von Fake News und Verschwörungserzählungen. Dabei gewinnen Extremismus, Antisemitismus, islamistische Radikalisierung und Rassismus an Bedeutung. In der Phase intensiver Persönlichkeitsentwicklung sind junge Menschen, geprägt von Unsicherheit, besonders anfällig für extremistische Überzeugungen und Handlungen. Der Drang, die eigene Identität zu formen, kombiniert mit der Suche nach einem Sinn im Leben, macht sie besonders empfänglich für Einflüsse aus ihrer sozialen Umgebung. Fehlender Zugang zu staatlichen, zivilgesellschaftlichen und familiären Unterstützungsmaßnahmen erhöht das Risiko einer Radikalisierungsspirale. Diese wird durch die Verbreitung radikaler Versprechungen über Soziale Medien und gezielte Rekrutierung in der sozialen Umgebung begünstigt. Insbesondere die Bedürfnisse und Emotionen junger Menschen werden dabei zum Ziel extremistischer Propaganda. Die Ergebnisse der Studie „IU-Kompass Extremismus“ zu antisemitischen Einstellungen bei jungen Menschen in Deutschland verdeutlichen weitverbreitete Ausprägungen dieses Phänomens. Es gilt, das Bewusstsein für menschenverachtende Ideologien zu schärfen und Jugendliche mit den nötigen Werkzeugen auszustatten, um diese Phänomene zu erkennen, zu benennen und aktiv dagegen vorzugehen.
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Es ist nicht allzu lange her, dass am 21. September 2023 die Bielefelder Arbeits-gruppe um Andreas Zick eine neue Untersuchung im Rahmen ihrer "Mitte"-Stu-dien zum Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in der Bevölkerung veröf-fentlichte (Zick et al. 2023). Berichtet wird von einem massiven Anstieg des har-ten Kerns von Personen mit rechtsextremen Einstellungen: 8,3 % der Deutschen hätten der Umfrage zufolge ein manifestes, geschlossenes rechtsextremes Welt-bild. Dabei hätte dieser Wert seit 2014 nie höher als bei 2-3 % gelegen, selbst in den Jahren zuvor wäre dies der Fall gewesen: 2018/19 seien es 2,5 % gewesen, 2020/2021 1,7 %. Die Verschiebung nach rechts würde sich in den Antworten einer Vielzahl von Fragen niederschlagen, in der Beurteilung der Staatsform ebenso wie in ethnozentrischen Ressentiments und Einstellungen zu anderen Themen. So würden 6,6 % eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland befürworten. 2014-2021 hätte der Wert zwischen 2 % und 4 % gelegen.
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The chapter presents the historical development of the Islamist scene in Germany in its very diverse forms and manifestations. One focus of the article is the transformation of Islamism from a marginal phenomenon of the migrant guest worker milieu to a firmly anchored part of Germany’s extremist landscape. Since Germany was divided into the Federal Democratic Republic of Germany (BRD) and the German Democratic Republic (DDR) until 3rd of October 1990, the period under consideration is maily the time after the unification of Germany.