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sozialpsychiatrische
informationen
3/2024 – 54. Jahrgang
ISSN 0171 - 4538
Verlag: Psychiatrie Verlag GmbH, Ursulaplatz 1,
50668 Köln, Tel. 0221 167989-11, Fax 0221 167989-20
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Redaktion:
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Silvia Krumm, Ulm
Daniel Nischk, Reichenau
Klaus Nuißl, Regensburg
Sven Speerforck, Leipzig
Annette Theißing, Hannover
Samuel Thoma, Berlin
Sonderdruck
Warum tun wir eigentlich nicht, was wir schon
wissen?
Zum Stand der Supported Employment-
Implementierung in Deutschland
Zusammenfassung Seit vielen Jahren wird die Einführung von Ansätzen gemäß Supported Employment
(SE) als Regelleistung gefordert, um Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen Teilhabe am
Arbeitsleben zu ermöglichen. Jedoch scheinen weder Evidenz noch Leitlinienempfehlungen auszurei-
chen, um den allerorts angemahnten Transformationsprozess anzuschieben. In diesem Beitrag identi-
zieren wir einige Stolpersteine und Hemmnisse und entwickeln – auch mit Blick auf andere Länder –,
wie mit diesen angemessener umgegangen werden könnte.
Autorin und Autor:
Dorothea Jäckel,
Daniel Nischk
Seite 29 – 32
Transformationen in der Psychiatrie – Veränderungsexpert:innen am Limit
Maike Wagenaar, Hannover
Dyrk Zedlick, Leipzig
29sozialpsychiatrische informationen 54. Jahrgang 3/2024
Warum tun wir eigentlich nicht, was wir
schon wissen?
Zum Stand der Supported Employment-
Implementierung in Deutschland
Zusammenfassung Seit vielen Jahren wird die Einführung von Ansätzen gemäß Supported
Employment (SE) als Regelleistung gefordert, um Menschen mit schweren psychischen
Erkrankungen Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Jedoch scheinen weder Evidenz noch
Leitlinienempfehlungen auszureichen, um den allerorts angemahnten Transformationspro-
zess anzuschieben. In diesem Beitrag identizieren wir einige Stolpersteine und Hemmnisse
und entwickeln – auch mit Blick auf andere Länder –, wie mit diesen angemessener umgegan-
gen werden könnte.
Autorin und Autor:
Dorothea Jäckel, Daniel Nischk
Einleitung
Individual Placement and Support (IPS;
Becker, Drake 2003) ist das bekannteste Ver-
fahren der Supported Employment-Ansätze
und nach gegenwärtiger Forschungslage
das wirksamste beruiche (Wieder-)Ein-
gliederungsverfahren für Menschen mit
psychischen Erkrankungen weltweit (Bond
u.a. 2020). Die »S3-Leitlinien Psychosozia-
le Therapien« haben es aufgrund der aus-
gezeichneten Evidenz mit dem höchsten
Empfehlungsgrad versehen (DGPPN 2019).
Bei IPS spielt die Berufsvorbereitung, d.h.
das Training bestimmter Fähigkeiten in
beschützenden Kontexten (wie bei vielen
der gegenwärtigen berufsvorbereitenden
Maßnahmen) keine Rolle mehr. IPS setzt auf
ein individuelles, und alltagsnahes 11-Coa-
ching, integriert in ein multiprofessionelles
Behandlungsteam, mit dem Ziel eine Tä-
tigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
(wieder) aufzunehmen und langfristig zu
erhalten. Jeder kann teilnehmen, es gibt
keine besonderen Zugangsvoraussetzungen
(»Zero Exclusion-Prinzip«). Die Unterstüt-
zung richtet sich nach den individuellen Be-
darfen und ist dementsprechend langfristig
ausgelegt, d.h. kann sich im (seltenen) Ein-
zelfall über mehrere Jahre erstrecken. Somit
setzen die IPS-Prinzipien par excellence die
Forderungen der UN-Behindertenrechts-
konvention nach inklusiver Beschäftigung
um (Aichele 2019). Die Grundannahmen
von IPS, wie rasche Stellensuche und indi-
viduelle Unterstützung, solange diese not-
wendig ist, klingen nicht nur für Betroene,
Angehörige und Kostenträger, sondern auch
für viele psychiatrisch Tätige attraktiv, ja
verheißungsvoll, denn sie alle kennen die
vielen Fallstricke des segmentierten Hilfe-
systems, in denen man sich allzu leicht ver-
heddern kann (Nischk u.a. 2020).
Obwohl IPS eine wirksame Methode ist,
bleibt Deutschland hinter dem eigenen An-
spruch nach evidenzbasierter Rehabilitati-
on zurück. Lediglich rund 350 Personen, d.h.
weniger als 0,5% der Menschen mit schwe-
ren psychischen Erkrankungen (siehe Güh-
ne, Riedel 2015), die an Beschäftigungs- oder
Rehabilitationsmaßnahmen teilnehmen,
haben Zugang zum IPS (Jäckel u.a. 2020). Bei
den meisten gegenwärtigen IPS-Angeboten
handelt es sich überdies um Modellprojekte,
deren Zukunft nach dem Ende der Projekt-
nanzierung ungewiss ist.
Uns interessiert die Frage, warum ein Kon-
zept, das Praktiker:innen, Klient:innen und
Angehörige überzeugt und das weltweit
als eektiv gilt, nicht viel konsequenter
umgesetzt wird, zumal es als ambulantes
Angebot deutlich kostenezienter ist, als
die traditionellen, oft (teil-)stationären Trai-
ningsangebote, wie die Studienlage zum
»Return on Investment« aus Deutschland,
der Schweiz und den Niederlanden zeigt
(Nisch k u.a. 2023, Homann u.a. 2014, Vu-
kadin u.a. 2024).
Im Folgenden möchten wir auf einige Stol-
persteine und Hemmnisse eingehen, die der
Implementierung von IPS in Deutschland
im Wege stehen und Vorschläge entwickeln,
an welchen Stellen angesetzt werden muss,
damit die von Betroenen, Angehörigen
und Pros angemahnte Transformation
des Rehabilitationswesens umgesetzt wer-
den kann. Klar scheint: Die Forderung nach
einem Paradigmenwechsel zum »place and
train« reicht für sich genommen nicht aus,
den nun anstehenden Umsetzungsprozess
anzuschieben. Weder Evidenz noch Leitli-
nienempfehlungen führen ohne weiteres
Zutun zur Schaung einer Finanzierung
und der ächendeckenden Installierung
von IPS-Angeboten.
Hemmnisse und Blockaden
Umsetzungsprobleme und Abrechnungs-
fragen: Das deutsche Sozial- und Rehabi-
litationssystem ist auf die Durchführung
von inhaltlich genau denierten »Maßnah-
men« spezialisiert, die im Regelfall durch
eine Ärztin/einen Arzt indiziert, von einem
Kostenträger geprüft und ggf. genehmigt
und über einen denierten Zeitraum durch
einen zertizierten Leistungserbringer
durchgeführt werden. Es sind aber gerade
die Kernprinzipien des IPS-Ansatzes, die mit
dieser Verwaltungs- und Abrechnungspra-
xis der Maßnahmenlogik nicht vereinbar
sind: Die Selbstzuweisung durch das »Zero
Exclusion«-Prinzip, das Nutzen der Eigen-
motivation, die Ausrichtung an den indivi-
duellen Präferenzen sowie die unbefristete
Unterstützung – all das kann auf Mitarbei-
tende im Jobcenter, in der Agentur für Ar-
30 sozialpsychiatrische informationen 54. Jahrgang 3/2024
beit und in anderen Institutionen befremd-
lich und schlimmstenfalls sogar sinnlos wir-
ken. Dabei sind sich viele Praktiker:innen
einig: Diese Prinzipien sind entscheidend
für den Erfolg von IPS, besonders weil sie
einige Nachteile unseres Versorgungssys-
tems, u.a. die »Schnittstellenproblematik«
und die mangelnde personelle Kontinuität,
ausgleichen. Es braucht für viele Menschen
im Hilfesystems einen »Lotsen«, sonst un-
terlaufen sich die Maßnahmen schnell
gegenseitig. Einige Beispiele: So passiert
es IPS-Klient:innen, dass sie während des
IPS-Coachingprozesses durch das Jobcenter
oder die Agentur für Arbeit zu einem Bewer-
bungstraining aufgefordert werden. Man-
che sollen auch einen Rehabilitationsantrag
oder gar Rentenantrag stellen. Absurd wird
es, wenn andere soziale Hilfen, wie z.B. das
Wohnen in einer therapeutischen Wohnge-
meinschaft eine reguläre Berufsausbildung/
Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
verhindern, weil Gruppengespräche wäh-
rend der Arbeitszeit stattnden müssen.
Auch wenn dies Ausnahmen sind, so zeigen
sie schon, wie sehr unser Denken und Han-
deln von altbekannten Strukturen geprägt
ist, deren Schwächen wir andererseits auch
immer wieder beklagen.
Übliche Maßnahmen folgen hohen Stan-
dards und Qualitätsvorgaben. Zwar schei-
nen diese Vorgaben, z.B. die bekannte AZAV-
Zertizierung der Agentur für Arbeit, be-
stimmte Standards an Struktur und z.T. an
die Prozessqualität zu sichern, jedoch setzen
sie auch ungünstige Anreize. So erweisen
sich die kaum eektiven berufsvorberei-
tenden (Gruppen-)Maßnahmen nanziell
als lukrativ – wirksame, individuelle und
längerfristige Einzelcoachings jedoch kaum;
ein besonders deprimierender Befund an-
gesichts der oben referierten Befunde zum
Social Return on Investment.
Wer zahlt es? Zuständigkeiten und Ansprü-
che im Rehabilitationssystem lassen sich
aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern
herleiten, was die Etablierung von IPS als
nanzierte Regelleistung nicht einfacher
macht. Forschung, Praxis und Verwaltung
sind weitgehend disparate Sozialräume, mit
jeweils eigener Sprache, Sachlogik und Ri-
tus, die für IPS-Praktiker:innen, die ihr An-
gebot nanziert bekommen wollen, kaum
durchschaubar ist. Das ist schade, zumal
IPS auch eine viel beklagte Angebotslücke
füllen könnte, nämlich eine Unterstützung
beim Stellenerhalt bzw. bei der Rückkehr an
den Arbeitsplatz nach einer Krankheitspha-
se zu bieten. Eine solche Unterstützung ist
faktisch kaum jemandem zugänglich bzw.
in den Sozialgesetzbüchern bislang nicht
vorgesehen. Dies benachteiligt besonders
psychisch Kranke, die (noch) keinen Grad
der Behinderung beantragen wollen und
denen deshalb die – im Übrigen ebenfalls
zeitlich limitierte – Unterstützung durch
den Integrationsfachdienst nicht zur Ver-
fügung steht. Obwohl es unmittelbar plau-
sibel erscheint, Menschen mit psychischen
Erkrankungen beim Erhalt des Arbeits-/
Ausbildungsplatzes zu unterstützen und
ggf. beizeiten nach Alternativen Ausschau
zu halten, sind hier die Arbeitnehmenden
und ihre Vorgesetzten weitgehend auf sich
gestellt. Nicht selten kommt es nach einer
Phase des Überengagements zu Überforde-
rungssituationen und schließlich zum Ver-
lust des Arbeitsplatzes. Erst dann werden
wieder Hilfen für den jetzt arbeitslosen psy-
chisch kranken Menschen möglich.
Negative Erwartungen in Bezug auf die Pro-
gnosen und Bedarfe von Menschen mit psy-
chisch Erkrankungen: Rehabilitationsex-
pert:in nen haben ihre Erfahrungen in
Deutschland fast ausschließlich in »train
and place«-Maßnahmen erwerben können.
Auch wenn diese Angebote für manche
Betroene sinnvoll sind, vermittelt dieser
historisch gewachsene Sozialkontext z.T.
auch fragwürdige Haltungen hinsichtlich
der Voraussetzungen, Bedarfe und Belas-
tungsfähigkeit von psychischen Kranken.
In diesen Institutionen können sich viele
Mitarbeitende schlichtweg kaum vorstel-
len, dass eine erfolgreiche Vermittlung auf
den allgemeinen Arbeitsmarkt auch ohne
vorbereitendes Training möglich sein soll.
»Für unsere Klient:innen ist IPS nichts, die
schaen das nicht!«, lautet die Erklärung
für den Widerspruch zwischen Evidenzlage
und Rehabilitationspraxis und der Hinweis,
dass »nicht alle psychisch Kranken auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden
wollen« wird prominent angeführt. Remin-
der: Weniger als 0,5% der schwer psychisch
kranken Menschen haben Zugang zum IPS.
Somit steht der Wunsch vieler Betroenen
nach einer Arbeit auf dem allgemeinen Ar-
beitsmarkt (Jäckel u.a. 2020) einem Überan-
gebot geschützter Maßnahmen gegenüber
(die viel zu selten auch betriebsnähere Ele-
mente enthalten). Die institutionalisierte
Grundannahme, dass Menschen mit psy-
chischen Erkrankungen eines beschüt-
zenden Arbeitskontexts bedürfen, scheint
noch immer derartig wirkmächtig, dass die
lange bekannten, potenziell negativen Aus-
wirkungen von Sondermilieus (BMAS 2021,
Nischk u.a. 2020), u.a. Selbststigmatisie-
rung und soziale Exklusion, nicht mehr zur
Kenntnis genommen werden.
Bedrohung professioneller Identität: IPS setzt
auf pragmatische Unterstützung mit per-
sönlicher, kontinuierlicher Begleitung, um
die allgemeine Praxis, Klient:innen an ver-
schiedene Gesundheitsexpert:innen und In-
stanzen beratend »weg zu verweisen«, abzu-
mildern. IPS-Coaches sehen sich in der Regel
als Generalisten, die mit ihren Klient:innen
Spezialist:innen mit Fachwissen aufsuchen,
über das sie selbst nicht verfügen. Diese ein-
fache und klare Vorgehensweise relativiert
den Wert der akademischen Bildung, an
dessen Stelle nun andere Fähigkeiten treten.
Da viele Kolleg:innen lange Jahre für ihre
Hochschulausbildung aufgewendet haben,
fällt die intellektuelle Abrüstung nicht un-
bedingt leicht, ohne gleich die eigene pro-
fessionelle Identität infrage zu stellen. Und
wenn Klient:innen sich auch noch selbst
zuweisen und über ihre beruiche Eignung
mitentscheiden, dann stellt das die (ohne-
hin fragwürdige) an bestimmte Berufsbilder
gekoppelte Richtlinienkompetenz bezüglich
Diagnosestellung, Prognose und Eignung
für bestimmte Berufe und Rehaverfahren
oen infrage. Tatsächlich geht es beim IPS-
Coaching kaum um bestimmte Verfahren
oder um bestimmtes Wissen. Es geht »ein-
fach« um eine individuelle pragmatische
Unterstützung, wie sie seit jeher Teil un-
seres sozio kulturellen Repertoires ist: »IPS
ist so wirksam, weil es so einfach ist«, sagt
Tom Burns, einer der IPS-Väter in Europa,
treend (persönliche Mitteilung 10/2023,
IPS Europe Conference, Rimini). Und dafür
sind andere Fähigkeiten als bei der her-
kömmlichen beruichen Rehabilitation
erforderlich: z.B. die Fähigkeit, sich rasch
einen Überblick über komplexe (sozialrecht-
liche) Probleme und Sachfragen zu verschaf-
fen, Entscheidungen unter Unsicherheit zu
treen, Lösungsorientierung und eine Auf-
geschlossenheit und Neugier gegenüber der
freien Wirtschaft mit Arbeitgebenden, die
oft ganz andere Lebenshintergründe und
Konzepte über psychische Erkrankung ha-
ben (Waghorn u.a. 2020). Diese Anforderun-
gen stellen besonders zu Beginn einer Tätig-
keit als IPS-Coach Herausforderungen dar,
denen nicht mit Lehrbuchwissen begegnet
werden kann und die ohne ausreichende
Unterstützung auch abschreckend wirken
können.
Einstiegs- und Umsetzungsprobleme: So
sinnvoll IPS erscheint, dürfen doch die Um-
setzungsprobleme jenseits der Sozialgesetz-
bücher nicht unterschätzt werden. Das prag-
Transformationen in der Psychiatrie – Veränderungsexpert:innen am Limit
31sozialpsychiatrische informationen 54. Jahrgang 3/2024
matische Vorgehen, den kurzen Dienstweg
zu benutzen, stellt die Verwaltungskultur
deutscher Institutionen zuweilen auf die
Probe. Arbeitsvermittler:innen des Jobcen-
ters fühlten sich in einem Rehapro-Projekt
anfangs in eine ungute Konkurrenzsituati-
on zu den IPS-Coaches gedrängt. In einem
anderen Projekt el es den IPS-Coaches
nicht so leicht, den Fokuswechsel vom
Thema Gesundheit in Richtung Erwerbs-
arbeit zu vollziehen und die Platzierung
auf dem ersten Arbeitsmarkt hinzubekom-
men. Dass man sich überdies gegenüber
dem Arbeitgebenden hinsichtlich seiner
Einschränkungen »outen« soll, nden auch
IPS-Coaches am Anfang ihrer Tätigkeit be-
fremdlich. Einige der IPS-Prinzipien, wie
»Netzwerkpege«, d.h. die Kooperation
mit Arbeitgebenden, Betrieben und Kam-
mern, klingen vielen Kolleg:innen zu sehr
nach schnöder »Kundenbetreuung« oder
»Kaltakquise« – Dingen, mit denen man lie-
ber nichts zu tun haben will. All diese Vor-
behalte sind nachvollziehbar und bedürfen
eines angemessenen Reexionsrahmens.
Ansonsten besteht die Gefahr, dass einzel-
ne Aspekte des IPS-Ansatzes vorschnell als
»hier nicht praktikabel« abgetan werden
und dadurch die IPS-Eektivität reduziert
wird (Catty u.a. 2008).
Interessengeleitete Widerstände: Verände-
rungen in den Sozialsystemen werden u.a.
von Verteilungskämpfen begleitet, da die
eigene wirtschaftliche Existenz (vermeint-
lich) infrage gestellt scheint. So räsonieren
seit über zwei Dekaden einige Vertreter be-
rufsvorbereitender Maßnahmen über den
mangelnden Wirksamkeitsnachweis von
IPS in Deutschland und ignorieren die Be-
funde der internationalen Forschung, dass
sich »train and place«-Ansätze im Vergleich
zu IPS nahezu durchgängig als 1. weniger ef-
fektiv auf die arbeitsbezogene Teilhabe und
2. als kostenintensiver erweisen (Bond u.a.
2020; Richter, Homann 2019; Vukadin u.a.
2024). Zudem wird gern vergessen, dass die
Studienlage zur Wirksamkeit von berufsvor-
bereitenden Trainingsmaßnahmen nicht
nur schmal, sondern auch wenig Anlass zu
Optimismus bietet: So fanden z.B. Reims
und Tophoven (2022), dass selbst nach
zeitlich sehr aufwendigen Trainingsmaß-
nahmen (im Median 500 Tage) lediglich
15% der Teilnehmenden eine nachhaltige
Teilhabe (> 1,5 Jahre) auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt gelang. Andere mäkeln am
»Zero Exclusion«-Prinzip und der zeitlich
unbefristeten Unterstützung herum, ob-
gleich jedem psychiatrisch Tätigen klar sein
dürfte, dass eine Vielzahl von Menschen
mit psychischen Erkrankungen eine lang-
jährige, manchmal auch lebenslange Unter-
stützung zur Sicherung beruicher Teilhabe
(siehe z.B. Bond u.a. 2011 oder Homann
u.a. 2014) benötigen. Zwar erscheint es
menschlich und nachvollziehbar, dass im
Lichte von vermuteten Verteilungskämpfen
diese und andere Vorbehalte gegenüber IPS
eingebracht werden, selbst wenn sich diese
als empirisch haltlos erwiesen haben. Al-
lerdings darf nicht vergessen werden, dass
diese und andere Einwände durch manche
Interessenvertreter:innen im politischen
Entscheidungsprozess zum Teil auch wider
besseren Wissens lanciert wurden und das
Diskussionsklima und die Debattenkultur
über lange Zeit vergiftet und Entwicklungen
merklich abgebremst haben – auf Kosten
von Betroenen, denen dadurch eine sinn-
volle Unterstützung vorenthalten wird.
Wie die Implementierung von IPS gelingen
kann – die Internationale Perspektive
In Europa entstand in den letzten Jahren
eine IPS Learning Community (IPS-Europe)
mit jährlich stattndenden Konferenzen
(https://ipsgrow.org.uk/providers/ips-euro-
pe-learning-community/). Von dort gelan-
gen Praxiserfahrungen, Implementierungs-
strategien sowie Weiterentwicklungen von
IPS in den deutschen Diskurs (Jonasson u.a.
2022, Fioritti u.a. 2024).
Die Erfahrungen mit IPS in den europä-
ischen (Nachbar)Ländern zeigen, dass die
ächendeckende Implementierung und da-
mit die Zugänglichkeit zu IPS in allen Län-
dern durch übergeordnete politische Ent-
scheidungen in Gang gesetzt wurden. Was
in vereinzelten Modellprojekten begann,
konnte u.a. in den Niederlanden, Norwegen,
UK und Island erst im Top-down-Ansatz in
der Versorgung verankert werden (Jonasson
u.a. 2022). Diese Erfahrungen zeigen, dass
eine politische Handlungsorientierung im
Sinne der Teilhabebelange psychisch kran-
ker Menschen notwendig ist und auch funk-
tioniert.
Diskussion
Wir haben in diesen Beitrag versucht, nur
einige der vielen Hürden und Hindernisse
zu identizieren, die dem Transformations-
prozess im Bereich der beruichen Rehabi-
litation psychisch Kranker entgegenstehen.
Es zeigen sich eine Vielzahl von Faktoren auf
der persönlichen, institutionellen und auch
gesellschaftlichen Ebene, die sich zumeist
gegenseitig verstärken. Kein Wunder, dass
viele Veränderungsprozesse scheitern. Zum
Beispiel besagen Schätzungen, dass selbst
in einem überschaubaren Sozialkontext wie
einem Krankenhaus bis zu zwei Drittel aller
Veränderungsprozesse im Misserfolg enden
(Barrow u.a. 2024).
Unsere kurze Analyse zeigt, dass die Debatte
um die Einführung von IPS viel stärker von
psychischen Motiven und ökonomischen
Interessen, etwa nach Status, Kontrolle und
(nanzieller) Sicherheit, bestimmt wird als
von rationalen Argumenten. Wer etwas
seit vielen Jahren auf eine bestimmte Wei-
se tut, der betrachtet das Althergebrachte
oft automatisch als bewährt und auch als
bewahrenswert, das nicht leichtfertig auf-
gegeben werden soll. Das Neue muss sich
beweisen– und doch können rationale Ar-
gumente den Widerstand kaum auösen.
Denn wo psychische Beharrungskräfte am
Werk sind, werden die Anforderungen an
die Qualität wissenschaftlicher Evidenz zu-
weilen in absurde Höhen getrieben und die
eigene Legitimation nicht mehr hinterfragt.
Unsicherheit soll um jeden Preis vermieden
werden, weil es die eigenen Interessen be-
droht. Weitere Forschungsergebnisse dürf-
ten die Umsetzung deshalb kaum befördern.
Eher scheint sich ein Wandel durch Annä-
herung abzuzeichnen, die das Neue nicht
mehr als allzu undenkbar erscheinen lässt.
Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung der
Handlungsempfehlung für Supported Em-
ployment innerhalb der DGPPN, an der ganz
unterschiedliche Interessenvertreter:innen
beteiligt waren (Stengler u.a. 2021). Auch
wächst die IPS-Community in Deutschland
langsam, aber stetig: Im Rahmen des reha-
pro-Programms des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales (BMAS) wurden IPS-
Projekte in Leipzig, Bielefeld, Mecklenburg-
Vorpommern und Ulm gegründet (Hussen-
oeder u.a. 2021, Schniedermann u.a. 2022,
Steinhart u.a. 2021). Eine Multicenterstudie
zum IPS für junge Erwachsene mit Psycho-
sen, in der es nicht nur um Supported Em-
ployment, sondern auch um Supported Edu-
cation geht, läuft noch bis 2025 (Jäckel u.a.
2023). Im Dialogforum der APK werden nun
konkrete Empfehlungen diskutiert, wie im
segmentierten Sozialsystem Deutschlands
IPS in die Routineversorgung implementiert
werden kann. In den Landkreisen, in denen
sich IPS bereits etabliert hat, etwa in Reiche-
nau, sehen auch die Kostenträger die mög-
liche Kostenersparnis und nanzieren nun
(teilweise) das IPS-Angebot.
Jäckel, Nischk: Warum tun wir eigentlich nicht, was wir schon wissen?
32 sozialpsychiatrische informationen 54. Jahrgang 3/2024
Transformationen brauchen oenbar Zeit.
Auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich Ver-
änderungen oft erst innerhalb eines Zeitrah-
mens von Dekaden – man denke etwa an die
Gleichberechtigung, Diversität oder die Ehe
für alle. Was gesamtgesellschaftlich als über-
schaubarer Zeitrahmen erscheint, kommt
jedoch für den einzelnen Betroenen immer
zu spät. Und für die Allgemeinheit ist die be-
ruiche Rehabilitation eben auch sehr teuer.
Die wachsende Akzeptanz für IPS sollte
deshalb mit Blick auf die Erfahrungen in
anderen Ländern nun genutzt werden, um
die Grundlagen für eine Finanzierung von
IPS in die Wege zu leiten, am besten über-
greifend über alle Sozialgesetzbücher, damit
möglichst alle Leistungsträger IPS anbie-
ten und auch damit Erfahrungen sammeln
können. Auf individueller Ebene bedarf es
persönlicher Erfahrungen, um Chancen und
Grenzen besser ausloten zu können. Und da-
durch kann auch die Sicherheit gewonnen
werden, dass beschützende Spezialkontexte
bei aller notwendigen Kritik für manche
Betroene auch weiterhin ihre Berechti-
gung behalten, eben weil sie beschützend
sind und der Sprung auf den allgemeinen
Arbeitsmarkt unerreichbar bleibt. Lang-
fristig wird sich IPS ohnehin durchsetzen,
ganz einfach weil es psychosozial Tätigen
erlaubt, gemäß ihrer Kompetenz ganzheit-
lich, langfristig, nachhaltig und deshalb
auch erfolgreich zu handeln. Wer einmal auf
diese Weise gearbeitet hat, kann sich eine
Rückkehr zum alten Paradigma meist nicht
mehr vorstellen. IPS wird sich auch deshalb
durchsetzen, da es viel mehr den Bedürfnis-
sen psychisch Kranker entspricht und das
Potenzial hat, deren Teilhabe entscheidend
zu verbessern – kurz: weil es Zeit dafür ist.
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Die Autorin, der Autor
Dorothea Jäckel
Dipl.- Psych, ist Leiterin des Individual
Placement and Support (IPS) bei den Kliniken
für Psychiatrie, Psychotherapie und Psycho-
somatik mit FRITZ am Urban und beforscht
gegenwärtig die Eektivität von IPS in
Deutschland im Rahmen der SEEearly-Studie.
Dr. Daniel Nischk, Dipl.- Psych
ist therapeutischer Leiter der Soteria Reiche-
nau und des IPS-Angebotes am Zentrum für
Psychiatrie Reichenau.
Transformationen in der Psychiatrie – Veränderungsexpert:innen am Limit