Content uploaded by Karl-Ludwig Kunz
Author content
All content in this area was uploaded by Karl-Ludwig Kunz on May 13, 2024
Content may be subject to copyright.
Karl-Ludwig Kunz
Philosophie der Kriminalität oder Wissenschaftstheorie der Kriminologie?
Verbreitet wird Beides auf Unverständnis stossen. Kriminologie betreibt man einfach, indem man
Gesetzesverstösse erfahrungswissenschaftlich studiert. Aber welche Entscheidungsprozesse gehen
dem voraus, dass man ein bestimmtes Kriminalitätsthema gerade so und nicht anders behandeln
möchte? Was sind (mit Kant) die philosophisch-theoretischen Bedingungen der Möglichkeit eines
reflektierten kriminologischen Studiums?
Philosophieren tut man nicht über Sachen, sondern über deren Wesen, also über Gedanken, wie
man sich Sachen vorstellt. Es geht also nicht um eine Philosophie der Kriminalität, sondern um eine
Theorie der wissenschaftlichen Kriminalitätsbetrachtung. Einer Philosophy of Science (Gerard
Radnitzky, Wissenschaftstheorie und Wissenschaften, Berlin 1991) entsprechend ist eine Reflexion
(im ürsprünglichen Sinn des Nach-Denkens) über das Tun der Wissenschaft gefordert.
Am Anfang stehen Einsichten in die Beschränktheit und Fehleranfälligkeit menschlicher Erkenntnis,
unsere Neigung zu Vorurteilen, die Perspektivengebundenheit auch des wissenschaftlichen Sehens,
das Fehlen eines Master-Standpunktes und unsere Befangenheit in nicht verallgemeinerungsfähigen
Traditionen. Eine sorgfältige und ehrliche Offenlegung des eigenen partikularen Standpunkts ist
gefragt.
Wissenschaftsphilosphie ist Sprachphilosophie, sie lebt von der Freiheit des gesprochenen und
geschriebenen Worts, von der treffenden Formulierung, von Diskussion und Skepsis.
Kriminologiephilosophie oder –theorie ist eine Meta-Wissenschaft, die sich mit der kriminologischen
Theoriebildung, den Forschungsmethoden und Studienthemen befasst und diese kritisch reflektiert.
So wird das Verständnis der empirischen Forschung von quantitativen auf qualitative Methoden
erweitert, den Blick von der individuellen Aktivität auf makrosoziologische Strukturen ausgeweitet,
die täterbezogene Forschung um einen Opferbezug (Viktimologie) ergänzt, die gewöhnlich mit
unteren sozialen Schichten assoziierte Kriminalität auf die Makrokriminalität der Mächtigen
ausgeweitet, das Studium kriminalitätsfördernder Strukturen um dasjenige kriminalitätshemmender
Umstände ergänzt. Bei alledem geht es nicht um die empirische Sammlung von Informationen über
Kriminalität, sondern um die theoriegeleitete Reflektion der kriminologischen Praxis und deren
Neuorientierung entsprechend gewandelter sozialer Verhältnisse.
Es gibt keine Kriminalität als Objekt. Sie wird von Gesellschaft und Wissenschaft in eine Form
gegossen, in der scheinbar Dasselbe eine spezifische je verschiedene Gestalt gewinnt.
Bandenkriminalität ist nicht Clankriminalität, Weisse Kragen-Kriminalität (white collar crime) nicht
Wirtschaftskriminalität, Korruption nicht einfach Bestechung. Die Begrifflichkeit gibt einen
besonderen Beobachtungsstandunkt wieder, der in Bezug auf das Beobachtete nicht geteilt zu
werden braucht. Indem man den Beobachtungsstandpunkt nachvollzieht und relativiert, entsteht
kein naturgetreues Foto von Kriminalität, sondern eher der Eindruck eines Gemäldes, das bestimmte
Aspekte hervorhebt und andere weglässt. Thema der philosophisch-theoretischen Analyse ist das
Gemälde, nicht das darin abgebildete Objekt.