ArticlePDF Available

Senkt endlich die Verschreibungsrate von Antidepressiva! Aufforderung an die Regierung, ihrer Verantwortung nachzukommen

Authors:

Abstract

Werden sich auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz Persönlichkeiten und Organisationen im psychosozialen Bereich angesprochen fühlen, eine ähnliche Aktion wie im British Medical Journal beschrieben in Richtung ihrer nationalen Regierungen zu starten? Im deutschsprachigen Raum sind die Steigerungsraten kaum anders als in Großbritannien. Um Aktionen wie die britische zu initiieren, habe ich den englischen Artikel ins Deutsche übersetzt. In: Rundbrief des Bayerischen Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V. (Augsburg), 2024
16
Peter Lehmann
Senkt endlich die Verschreibungsrate
von Antidepressiva!
Aufforderung an die Regierung, ihrer Verantwortung nachzukommen
Im British Medical Journal erschien am 5. De-
zember 2023 (Band 363, S. 2730) der Artikel
ÈPoliticians, experts, and patient representatives
call for the UK government to reverse the rate of
antidepressant prescribingÇ (zu deutsch: ÈPolitike-
rInnen, ExpertInnen und PatientenvertreterInnen
fordern die britische Regierung auf, die Verschrei-
bungsrate von Antidepressiva zu senkenÇ). Online
ist der englische Originaltext abrufbar von
https://doi.org/10.1136/bmj.p2730.
Werden sich auch in Deutschland, …sterreich
und der Schweiz Persšnlichkeiten und Organisa-
tionen im psychosozialen Bereich angesprochen
fŸhlen, eine Šhnliche Aktion in Richtung ihrer
nationalen Regierungen zu starten? Im deutsch-
sprachigen Raum sind die Steigerungsraten kaum
anders als in Gro§britannien. In Deutschland wer-
den Antidepressiva an ca. 5 bis 10 Prozent der
Erwachsenen verordnet Ð wegen Depressionen,
Angst, Zwangs, Schlaf- und posttraumatischen
Belastungsstšrungen. Hinzu kommen noch all die
Verabreichungen bei chronischen SchmerzzustŠn-
den, funktionellen Organbeschwerden oder Ent-
zugssymptomen bei Medikamenten-, Alkohol-
und DrogenabhŠngigkeit.
Um Aktionen wie die britische zu initiieren,
habe ich den Artikel aus dem British Medical
Journal ins Deutsche Ÿbersetzt. Ich wŸrde mich
freuen, wenn er flŠchendeckend verbreitet wird.
Aufforderung von PolitikerInnen, Ex-
pertInnen und PatientenvertreterInnen
an die britische Regierung, die Ver-
schreibungsrate von Antidepressiva zu
senken (1)
Wir, eine Gruppe von MedizinerInnen, Forsche-
rInnen, PatientenvertreterInnen und PolitikerIn-
nen, fordern die britische Regierung auf, sich zu
einer Umkehr der Verschreibungsrate von Antide-
pressiva zu verpflichten.
In den letzten zehn Jahren haben sich die Ver-
schreibungen von Antidepressiva in England fast
verdoppelt: von 47,3 Millionen im Jahr 2011 auf
85,6 Millionen im Jahr 2022/23. Mehr als 8,6
Millionen Erwachsene in England bekommen sie
inzwischen jŠhrlich verschrieben (fast 20% der
Erwachsenen) (NHS Business Services Authority
2023), und die Verschreibungen werden in den
nŠchsten zehn Jahren weiter steigen. DarŸber
hinaus hat sich die durchschnittliche Einnahme-
dauer eines Antidepressivums zwischen Mitte der
2000er-Jahre und 2017 verdoppelt, so dass etwa
die HŠlfte der PatientInnen heute als Langzeitan-
wenderInnen eingestuft wird (NHS Digital 2017).
In Schottland, Wales und Nordirland sind die Ver-
schreibungsraten fŸr Antidepressiva Šhnlich hoch.
Der zunehmende Langzeitkonsum wird mit
zahlreichen unerwŸnschten Wirkungen in Verbin-
dung gebracht, darunter Gewichtszunahme, sexu-
elle Funktionsstšrungen, Blutungen, StŸrze und
bei einigen PatientInnen schlechtere Langzeiter-
gebnisse. Etwa die HŠlfte der PatientInnen leidet
17
unter Entzugserscheinungen, wobei fast die HŠlfte
der PatientInnen ihre Symptome als schwerwie-
gend bezeichnen und ein erheblicher Teil von
diesen Ÿber mehrere Wochen, Monate oder lŠnger
unter dem Entzug leidet (Davies & Read 2018).
Die zunehmende Verschreibung von Antide-
pressiva geht nicht mit einer Verbesserung der
psychischen Gesundheit der Bevšlkerung einher.
Diese hat sich einigen Berechnungen zufolge mit
der zunehmenden Verschreibung von Antidepres-
siva verschlechtert (Middleton & Moncrieff
2011). Es stellt sich die Frage, inwieweit die
schlechten Ergebnisse fŸr viele Gruppen durch
solche unerwŸnschten Wirkungen und die geringe
Wirksamkeit von Antidepressiva begŸnstigt wer-
den. Mehrere Meta-Analysen haben gezeigt, dass
Antidepressiva bei allen PatientInnen Ð mit Aus-
nahme derjenigen mit schwersten Depressionen Ð
keinen klinisch bedeutsamen Nutzen im Vergleich
zu Placebos haben (Kirsch et al. 2005), weshalb
das National Institute for Health and Care Excel-
lence in seinen Leitlinien darauf hinweist, dass
Antidepressiva bei weniger schweren Depressio-
nen nicht routinemЧig als Erstbehandlung ver-
schrieben werden sollten, wobei jedoch die Be-
deutung der gemeinsamen Entscheidungsfindung
gewahrt bleibt.
Trotzdem bleibt die Verschreibungsrate an Pati-
entInnen mit leichten und mittelschweren Depres-
sionen nach wie vor hoch. Eine Studie mit Daten
aus der PrimŠrversorgung im Vereinigten Kšnig-
reich ergab, dass 69% der diagnostizierten De-
pressionen bei Menschen Ÿber 65 Jahren einen
leichten Schweregrad aufwiesen (Coupland et al.
2011). Eine Studie mit Daten aus dem US-ameri-
kanischen National Health and Nutrition Exami-
nation Survey ergab, dass 26,4% der PatientInnen
in der Stichprobe, die Antidepressiva einnahmen,
nur leichte depressive Symptome hatten (Shim et
al. 2006). Eine andere britische Studie zeigte, dass
58% der Menschen, die mehr als zwei Jahre lang
Antidepressiva einnahmen, die Kriterien fŸr eine
psychiatrische Diagnose nicht erfŸllten (Cruicks-
hank et al. 2008).
Es gibt inzwischen evidenzbasierte EinwŠnde
gegen die Verschreibung von Antidepressiva fŸr
Menschen mit chronischen Schmerzen; deren
Wirksamkeit sei sehr gering (Birkinshaw et al.
2023). Und es gibt Belege dafŸr, dass Frauen,
Šltere Menschen und Menschen, die in sozial
schwachen Wohngegenden leben, unverhŠltnismŠ-
§ig hŠufig Antidepressiva verschrieben werden.
Dies wirft die Frage auf, inwieweit wir die Folgen
von Benachteiligung und Entbehrung zu Unrecht
medizinalisieren und mit Psychopharmaka behan-
deln.
Neben den Folgekosten fŸr die Menschen, die
durch die unnštige Verschreibung von Antidepres-
siva verursacht werden, entstehen dem NHS in
England jetzt auch erhebliche unnštige wirtschaft-
liche Kosten in Hšhe von bis zu 58 Millionen
Pfund pro Jahr (Davies et al. 2022) Ð Geld, das
man besser fŸr die Fšrderung nicht-pharmakologi-
scher Ma§nahmen ausgeben kšnnte. Dieses Prob-
lem anerkannte das NHS in seiner ErklŠrung ÈNa-
tional Medicines Optimisation Opportunities
2023-2 (NHS Business Services Authority
2023).
Wir sind der Meinung, dass eine Umkehr der
Verschreibungsrate von Antidepressiva erreicht
werden kann, wenn verschiedene Empfehlungen
des šffentlichen Gesundheitswesens in †berein-
stimmung mit den National Medicines Optimisati-
on Opportunities 2023-24 des NHS befolgt wer-
den. Dazu gehšren
¯das Ende der Verschreibung von Antidepressi-
va bei leichten Beschwerden fŸr neue Patien-
tInnen
¯die Einhaltung der NICE-Leitlinien von 2022
zur sicheren Verschreibung und zum Absetz-
management einschlie§lich einer sachgerech-
ten informierten Zustimmung und einer regel-
mЧigen †berprŸfung von SchŠden und Nut-
zen
¯die Finanzierung und Bereitstellung lokaler
Entzugshilfen, die mit sozialer Verschreibung
(2), Lebensstilmedizin (3) und psychosozialen
Interventionen integriert sind
18
¯die BerŸcksichtigung der verringerten Antide-
pressiva-Verschreibung als Indikator in den
NHS Quality and Outcomes Framework sowie
¯die Finanzierung und Bereitstellung einer na-
tionalen 24-stŸndigen telefonischen Not-
rufstelle fŸr den Entzug Šrztlich verschriebener
Psychopharmaka und einer entsprechenden
Website.
Schlie§lich hoffen wir, dass andere LŠnder mit
hohen Antidepressiva-Verschreibungsraten sich
ebenfalls zu einer Umkehr verpflichten.
Anmerkungen
(1) Der Aufruf wurde unterzeichnet von James Davies,
au§erordentlicher Professor fŸr medizinische Anthro-
pologie und Psychologie / John Read, Vorsitzender des
International Institute for Psychiatric Drug Withdra-
wal / Danny Kruger, Beyond Pills All Party Parliamen-
tary Group, Houses of Parliament, London / Nigel
Crisp, Ko-Vorsitzender der Beyond Pills All Party
Parliamentary Group, Houses of Parliament, London /
Norman Lamb, ehemaliges Mitglied des Parlaments
und Minister fŸr Pflege und UnterstŸtzung / Michael
Dixon, Vorsitzender des College of Medicine, Lon-
don / Sam Everington, Allgemeinmediziner und Vize-
prŠsident der British Medical Association und des
College of Medicine, London / Sheila Hollins, emeri-
tierte Professorin fŸr Psychiatrie, unabhŠngige Gutach-
terin des House of Lords, London / Joanna Moncrieff,
Professorin fŸr kritische und soziale Psychiatrie / Bog-
dan Chiva Giurca, Gesamtverantwortliche und klini-
sche Leitung der National Academy for Social Prescri-
bing, London / Chris van Tulleken, au§erordentlicher
Professor am University College London / Guy
Chouinard, Professor fŸr klinische Pharmakologie /
Michael Dooley, Schatzmeister des College of Medici-
ne, London / Anne Guy, Mitglied, Sekretariat Beyond
Pills All Party Parliamentary Group, Houses of Parlia-
ment, London / Mark Horowitz, Klinischer For-
schungsstipendiat in der Psychiatrie / Peter Kinder-
man, Professor fŸr klinische Psychologie / Lucy John-
stone, beratende klinische Psychologin / Luke Monta-
gu, GrŸndungsmitglied des Council for Evidence Ba-
sed Psychiatry, London / Antonio E. Nardi, Professor
fŸr Psychiatrie / Sarah Stacey, GrŸndungsmitglied des
College of Medicine Beyond Pills Campaign, London /
Martin Bell, Leiter der Abteilung Politik und šffentli-
che Angelegenheiten der British Association for Coun-
selling and Psychotherapy / Andrew Tresidder, klini-
scher Leiter des Medicines Management NHS Somer-
set / Jo Watson, Psychotherapeutin / Stevie Lewis,
Mitglied des Lived and Professional Experience Advi-
sory Panel for Prescribed Drug Dependence / Marcan-
tonio Spada, Professor fŸr Suchtverhalten / Rupert
Payne, Professor fŸr PrimŠrversorgung und klinische
Pharmakologie / Naveed Akhtar, Co-Vorsitzender der
Integrated Medicine Alliance und Ratsmitglied des
College of Medicine, London / Christian Buckland,
Vorsitzender des UK Council for Psychotherapy / Jon
Levett, Vorstandsvorsitzender des UK Council for
Psychotherapy / Sue Whitcombe, Vorsitzende der
Division of Counselling Psychology der British Psy-
chological Society / Laura Marshall-Andrews, Allge-
meinŠrztin und Autorin.
(2) Soziale Verschreibung (Social Prescribing) ist eine
nicht-medizinische †berweisungsoption fŸr eine Reihe
von Professionellen, darunter AllgemeinmedizinerIn-
nen und medizinisches Personal sowie nicht-medizini-
sche Professionelle, die im Bereich der SozialfŸrsorge
und in WohlfahrtsverbŠnden arbeiten. €rztlich TŠtige
kšnnen ihre PatientInnen an SpezialistInnen fŸr soziale
Verschreibung oder KoordinatorInnen verweisen, die
ihnen Selbsthilfegruppen vorschlagen, denen sie sich
anschlie§en kšnnen, um ihre Gesundheit und ihr Wohl-
befinden zu verbessern (P.L.).
(3) Die Lebensstilmedizin befasst sich mit Gesund-
heitsvorsorge und SelbstfŸrsorge, insbesondere mit der
Vorbeugung, Erforschung, AufklŠrung und Behand-
lung von Stšrungen, die ihre Ursache in einer ungesun-
den Lebensweise mit mšglicherweise tšdlichem Aus-
gang haben wie beispielsweise ungesunde ErnŠhrung,
Bewegungsmangel, chronischer Stress, Rauchen oder
Missbrauch von Drogen und Alkohol (P.L.).
Quellen
Siehe https://www.peter-lehmann.de/docu/bmj.htm
†bersetzung: Peter Lehmann, Berlin
www.peter-lehmann.de
1
BayPE e.V. Rundbrief I / 2024
Von und fŸr Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
ResearchGate has not been able to resolve any references for this publication.