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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller repräsentativer Befragungen zu Trends seit 2021 und den Einflüssen von Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit und Religiosität

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Abstract and Figures

Since October 7, 2023, and the subsequent Gaza War, anti-Semitism in Germany has once again received considerable attention. Anti-Semitism among Muslims living in Germany is a particularly sensitive issue. Based on data from three representative, nationwide surveys, this article examines trends in the prevalence of antisemitic attitudes since 2021. Analyses are carried out both in relation to the adult population as a whole and separately contrasting different social subgroups. The results show slight, non-significant increases in anti-Semitic attitudes between 2021 and 2023 for the German population. However, clear differences between subgroups should be noted: Muslims not only show significantly higher rates of anti-Semitic attitudes but also marked increases between 2021 and 2023 that are not found in other subgroups. Even after multivariate controlling for socio-demographic characteristics and other social and economic predictors, significantly higher levels of anti-Semitic attitudes remain. Furthermore, tendencies to accept conspiracy narratives prove to be a stable predictor for all groups. For both Christians and Muslims, there are no effects of the intensity of personal faith and the centrality of religion in everyday life on anti-Semitism. However, fundamentalist attitudes increase anti-Semitic resentment in both groups alike. Only among Muslims, collective religious practice, measured by the frequency of attending mosques, is also associated with an increase in anti-Semitic prejudice, even after multivariate controlling for the intensity and rigidity of faith and social predictors. The political implications of these results for the prevention of anti-Semitism in the modern German migration society are discussed.
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ARTIKEL
https://doi.org/10.1007/s41682-024-00167-6
Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik
Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in
Deutschland: Befunde aktueller repräsentativer
Befragungen zu Trends seit 2021 und den Einflüssen
von Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit
und Religiosität
Jannik M. K. Fischer · Peter Wetzels
Eingegangen: 16. Februar 2024 / Überarbeitet: 1. März 2024 / Angenommen: 4. März 2024
© The Author(s) 2024
Zusammenfassung Seit den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 und im Gefolge
des anschließenden Gaza-Krieges erfährt Antisemitismus in Deutschland wieder
erheblich gesteigerte Aufmerksamkeit. Ein besonders sensibles Thema ist dabei An-
tisemitismus unter in Deutschland lebenden Muslim:innen. Auf Basis der Daten aus
drei repräsentativen, bundesweiten Befragungen untersucht der vorliegende Beitrag
Trends der Verbreitung antisemitischer Einstellungen seit 2021. Analysen erfolgen
sowohl in Bezug auf die erwachsene Bevölkerung insgesamt als auch kontrastierend
für verschiedene gesellschaftliche Subgruppen. Im Ergebnis finden sich für die er-
wachsene Gesamtbevölkerung keine signifikanten Anstiege von Formen tradierter
antisemitischer Einstellungen zwischen 2021 und 2023. Es sind jedoch deutliche
Binnendifferenzen zu erkennen. Insbesondere sind bei Muslim:innen nicht nur er-
heblich erhöhte Raten antisemitischer Einstellungen zu registrieren, sondern auch
statistisch signifikante Zuwächse zwischen 2021 und 2023, die sich bei anderen
Gruppen so nicht finden. Auch nach multivariaten Kontrollen soziodemografischer
Merkmale und weiterer aus der Forschung bekannter sozialer Einflussgrößen sind
bei ihnen weiterhin signifikant erhöhte Ausprägungen antisemitischer Einstellungen
nachweisbar. Ferner erweisen sich Neigungen zur Akzeptanz von Verschwörungs-
narrativen für alle Gruppen als ein stabiler, signifikanter Prädiktor. Bei Christ:innen
wie Muslim:innen finden sich daneben keine Zusammenhänge der persönlichen
Die beiden Autoren widmen diesen Artikel als Geburtstagsgabe mit sehr herzlichen Glückwünschen
dem früheren Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e. V. (KFN) und
niedersächsischen Justizminister a.D. Herrn Prof. Dr. Christian Pfeiffer, der am 20. Februar 2024 sein
80. Lebensjahr vollendet hat, verbunden mit den besten Wünschen für seine weitere Gesundheit.
Jannik M. K. Fischer · Peter Wetzels
Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg,
Rothenbaumchaussee 33, 20148 Hamburg, Deutschland
E-Mail: jannik.fischer@uni-hamburg.de
Peter Wetzels
E-Mail: peter.wetzels@uni-hamburg.de
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
Gläubigkeit oder der Zentralität der Religion mit Antisemitismus. Es zeigen sich
aber Zusammenhänge der Ausprägung eines fundamentalistischen Religionsver-
ständnisses mit erhöhten antisemitischen Ressentiments bei beiden Gruppen. Nur
bei Muslim:innen ist darüber hinaus die Intensität der kollektiven Religionspraxis,
gemessen über die Häufigkeit des Besuchs von Moscheen, nach multivariaten Kon-
trollen der Intensität der individuellen Gläubigkeit sowie sozialer Kontrollvariablen,
mit einer Erhöhung antisemitischer Vorurteile verbunden. Politische Implikationen
dieser Ergebnisse für die Prävention von Antisemitismus in der modernen deutschen
Migrationsgesellschaft werden daran anknüpfend diskutiert.
Schlüsselwörter Antisemitismus · Religiosität · Religionszugehörigkeit ·
Fundamentalismus · Islam · Migration
Prevalence of antisemitic attitudes in Germany: findings from recent
representative surveys on trends between 2021 and 2023 and the
influence of migration background, religious affiliation and religiosity
on antisemitism
Abstract Since October 7, 2023, and the subsequent Gaza War, anti-Semitism
in Germany has once again received considerable attention. Anti-Semitism among
Muslims living in Germany is a particularly sensitive issue. Based on data from three
representative, nationwide surveys, this article examines trends in the prevalence of
antisemitic attitudes since 2021. Analyses are carried out both in relation to the adult
population as a whole and separately contrasting different social subgroups. The
results show slight, non-significant increases in anti-Semitic attitudes between 2021
and 2023 for the German population. However, clear differences between subgroups
should be noted: Muslims not only show significantly higher rates of anti-Semitic
attitudes but also marked increases between 2021 and 2023 that are not found in other
subgroups. Even after multivariate controlling for socio-demographic characteristics
and other social and economic predictors, significantly higher levels of anti-Semitic
attitudes remain. Furthermore, tendencies to accept conspiracy narratives prove to be
a stable predictor for all groups. For both Christians and Muslims, there are no effects
of the intensity of personal faith and the centrality of religion in everyday life on
anti-Semitism. However, fundamentalist attitudes increase anti-Semitic resentment
in both groups alike. Only among Muslims, collective religious practice, measured
by the frequency of attending mosques, is also associated with an increase in anti-
Semitic prejudice, even after multivariate controlling for the intensity and rigidity
of faith and social predictors. The political implications of these results for the
prevention of anti-Semitism in the modern German migration society are discussed.
Keywords Anti-Semitism · Religiosity · Religion · Fundamentalism · Islam ·
Migration
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
1 Einleitung
Seit dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und
den nachfolgenden militärischen Reaktionen Israels im Gazastreifen mit zahlrei-
chen zivilen Todesopfern auf beiden Seiten kam es in Deutschland an vielen Or-
ten zu umfangreichen Protesten. Diese Entwicklungen wurden von umfassenden,
stark polarisierenden gesellschaftlichen und politischen Debatten begleitet. Deren
Akteur:innen lassen sich grob in proisraelische sowie propalästinensische Lager un-
terteilen. Dabei ging es immer wieder um Fragen der Legitimität einer Kritik an der
israelischen Regierung und ihrer Politik sowie die Abgrenzung und Unterscheidung
einer solchen politischen Kritik von antisemitischen und israelfeindlichen Ressen-
timents (sehr deutlich etwa in der Kontroverse um die Bewertung von Statements
zum Abschluss der Berlinale im Februar 2024; vgl. Tagesschau 2024).
Besonderes Aufsehen erzeugten öffentliche Reaktionen unmittelbar nach dem
Bekanntwerden dieses Angriffs der Hamas auf Israel, die etwa in Berlin zu beob-
achten waren, wo es zu Sympathiebekundungen und zustimmenden Bewertungen
dieser grausamen Gewalttaten kam (TAZ 2023). Ähnlich starke Resonanz und Kri-
tik erzeugte eine islamistische Demonstration in Essen, auf der das Existenzrecht
Israels grundlegend infrage gestellt wurde (SZ 2023). Seit der erneuten Eskalation
des Konflikts zwischen Israel und der Hamas im Oktober wurden auch vermehrt
antisemitische Straftaten und Übergriffe auf Jüd:innen und jüdische Einrichtungen
registriert (Tagesschau 2023). Daneben sehen sich vor allem Menschen aus dem
arabischen Sprachraum sowie Personen, die in der Öffentlichkeit als Muslim:innen
wahrgenommen werden, in Deutschland aktuell in erhöhtem Maße mit muslimfeind-
lichen Ressentiments konfrontiert (BR 2023; s.a. zu früheren Entwicklungen dieser
Art Brettfeld und Wetzels 2022). In Reaktion auf die erkennbaren Polarisierungen
und angesichts erwartbarer Vorfälle und Eskalationen kam es in einigen Bundeslän-
dern präventiv zu Verboten propalästinensischer Demonstrationen (NDR 2023).
Diese und weitere anekdotische Evidenzen deuten darauf hin, dass die Eskalation
eines internationalen Konflikts, wie aktuell im Nahen Osten, auf die nationale Ebene
in Deutschland ausstrahlen und in relevantem Maße zu gesellschaftlicher Polarisie-
rung und Radikalisierungsprozessen beitragen kann. Ähnliche Erkenntnisse wurden
bereits im Kontext des Ukraine-Kriegs dokumentiert, u. a. zum Zusammenhang zwi-
schen Kriegsangst und einer gesteigerten Autokratieakzeptanz (Kleinschnittger et al.
2023). Des Weiteren konnte empirisch gezeigt werden, dass Berichte über terroris-
tische Anschläge in Deutschland politische Debatten in Richtung rechtsextremer
Narrative verschieben können (Völker 2023). Experimentell konnte weiter nach-
gewiesen werden, dass die Konfrontation mit Menschenrechtsverletzungen durch
Institutionen des islamischen Staates Iran im Kontext der Proteste gegen die Tötung
von Mahsa Amini im Polizeigewahrsam unter bestimmten Randbedingungen eine
signifikante Steigerung muslimfeindlicher Einstellungen bei Menschen in Deutsch-
land bewirkt (Wetzels und Brettfeld 2023b). Mit Blick auf Antisemitismus ließ sich
ferner quasiexperimentell nachweisen, dass die Eskalation des Konflikts zwischen
Israel und der Hamas im Mai 2021 zu einer Steigerung antisemitischer Vorurtei-
le in Deutschland und einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Delikte führte
(Richter et al. 2022). Insoweit steht der demokratische Rechtsstaat in Deutschland
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erheblichen Herausforderungen gegenüber, Ausstrahlungswirkungen von Konflikten
mit internationalen Bezügen in einer zunehmend heterogen geprägten Migrationsge-
sellschaft zu verhandeln, um den sozialen Zusammenhalt auf Basis der freiheitlich
demokratischen Verfassung weiterhin zu gewährleisten.
Der Umgang mit solchen Debatten zum Thema Antisemitismus wird zum einen
durch den historischen Kontext Deutschlands und zum anderen durch die unter-
schiedlichen Erscheinungsformen, Hintergründe, Funktionen und ungleiche soziale
Verteilung antisemitischer Einstellungen erschwert. Im Bereich der politischen Ra-
dikalisierung nimmt der Antisemitismus eine Sonderstellung ein. Unter anderem
fungiert er als ein politisches „Brückennarrativ“, das Anknüpfungspunkte für ver-
schiedenste extremismusaffine Ideologien und Gruppierungen bietet (Meiering et al.
2018). U.a. trifft dies auf völkisch-nationalistische, israelfeindlich-antizionistische
oder islamistisch-antijudäisch geprägte Bewegungen zu (Staetsky 2017; Rabinovici
und Sznaider 2019; Mendel 2023). Zudem wird der Vorwurf des Antisemitismus in
Teilen von entsprechenden Bewegungen instrumentalisiert; etwa wenn rechtsextre-
me Akteur:innen versuchen „den Islam“ pauschal für Antisemitismus in Deutschland
verantwortlich zu machen, um bestehende Probleme als einen „Antisemitismus der
Anderen“ zu externalisieren (Arnold 2019, S. 128–133).
Vor dem Hintergrund des durch die Hamas begangenen größten Massenmordes
an Jüd:innen seit der Shoah im Oktober des letzten Jahres einerseits sowie den
hohen Opferzahlen in der palästinensischen Zivilbevölkerung im danach einsetzen-
den Gaza-Krieg andererseits ist angesichts der Ausstrahlungswirkung, die dies auf
Deutschland haben kann, eine datengestützte Differenzierung der Debatten über und
um Antisemitismus notwendig sowohl um der gesellschaftlichen Polarisierung ent-
gegenzuwirken als auch, um zielgerichtete Präventionsmaßnahmen auf den Weg zu
bringen, die Intoleranz und Hass eindämmen und vorbeugen.
Im vorliegenden Beitrag werden dazu Erkenntnisse zur Verbreitung und Entwick-
lung antisemitischer Einstellungen in der erwachsenen Wohnbevölkerung auf Basis
von Daten der bundesweit repräsentativen Trendstudie „Menschen in Deutschland“
(MiD) für den Zeitraum der Jahre 2021–2023 vorgestellt (Brettfeld 2023; Brettfeld
et al. 2023; Wetzels et al. 2023a).1Eine Besonderheit gegenüber den ansonsten
zu dieser Thematik verfügbaren Studien ist, dass das Design von MiD es gestattet,
Analysen für verschiedene gesellschaftliche Teilgruppen, die nach Migrationshinter-
grund und/oder Religionszugehörigkeit differenziert werden, mit hinreichend großen
repräsentativen Teilstichproben durchzuführen.
Anknüpfend an die Beschreibung der jüngeren Trends wird auf Basis der aktu-
ellen Welle der MiD-Studie aus dem Jahr 2023 ferner in multivariaten Analysen
der Frage nachgegangen, welche Rolle Migrationserfahrungen, Religionszugehörig-
keit und unterschiedliche Aspekte der individuellen Religiosität für die Verbreitung
antisemitischer Einstellungen spielen. Ein besonderes Augenmerk liegt diesbezüg-
1Die MiD-Studie ist Bestandteil des Forschungsverbundes MOTRA (Monitoring und Transfer Radikali-
sierung) https://www.motra.info. Dieser Forschungsverbund insgesamt wie auch die hier vorgestellte Stu-
die werden finanziell durch Zuwendungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
unter dem Förderkennzeichen 13N1522 gefördert. Weitere ergänzende Fördermittel für den Verbund ins-
gesamt wie auch für dieses Forschungsvorhaben wurden durch das Bundesministerium des Innern und für
Heimat (BMI) zur Verfügung gestellt.
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
lich auf der Gruppe der in Deutschland lebenden Muslim:innen. Ziel ist es, Bin-
nendifferenzierungen in dieser gesellschaftlichen Teilgruppe zu identifizieren. Dies
erscheint erforderlich, um pauschalen Etikettierungen von Muslim:innen als juden-
feindlich und antisemitisch empirisch fundiert entgegentreten zu können. Ferner
sind Erkenntnisse über spezifische Hintergründe antisemitischer Einstellungen bei
Muslim:innen für eine evidenzbasierte Konzeption und Zielgruppenbestimmung von
Präventionsmaßnahmen im Bereich Antisemitismus in diesem Teilsegment der deut-
schen Gesellschaft relevant. Gleichartige multivariate Analysen werden ebenso mit
den in der MiD-Studie befragten Christ:innen durchgeführt, um Ähnlichkeiten und
Unterschiede hinsichtlich der Zusammenhänge von Migrationserfahrungen, Religi-
onszugehörigkeit und verschiedenen Aspekten der Religiosität mit Antisemitismus
identifizieren zu können.
2 Theoretisch-empirischer Hintergrund
Mit dem Begriff des Antisemitismus werden feindselige, pauschalisierend abwer-
tende Einstellungen und Handlungen gegen Jüd:innen, ihren Lebensraum, ihre Ge-
meinden und Institutionen sowie religiösen Einrichtungen bezeichnet (IHRA 2016).
Es handelt sich um eine spezifische Form von Intoleranz. Diese stellt eine Facet-
te des übergreifenden Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dar
(Mokros und Zick 2023, S. 157).
Der Antisemitismus nimmt allerdings eine Sonderstellung unter den Formen
der Intoleranz sowie innerhalb des Syndroms der gruppenbezogenen Menschen-
feindlichkeit ein. Während andere Formen der Intoleranz wie Fremdenfeindlichkeit,
Muslimfeindlichkeit oder die pauschale Ablehnung von Asylsuchenden und ande-
ren sozialen Minderheiten sich vornehmlich durch Ungleichwertigkeitsideologien
im Sinne einer Abwertung der jeweils in den Blick gerückten Gruppen auszeich-
nen, wohnen dem Antisemitismus neben derartigen abwertenden Komponenten auch
Annahmen und Vorstellungen inne, die Jüd:innen mit übermäßigen Machtzuschrei-
bungen versehen (Imhoff 2020, S. 98–99; Mudde 2019, S. 26). Solche Mythen
komplettieren das spezifische Stereotyp „der Juden“, wonach sie trotz einer ver-
meintlichen Unterlegenheit und Minderwertigkeit großen politischen und ökono-
mischen Einfluss besitzen, den sie nutzen, um die Weltpolitik in ihrem Sinne zu
beeinflussen. Dies macht einen wesentlichen Aspekt des subjektiven Bedrohungs-
szenarios aus, welches den Antisemitismus mit speist. Hier schließt sich der Kreis
zwischen Formen des tradierten Antisemitismus und Verschwörungsmythen, die ihre
Narrative wechselseitig aufgreifen und reproduzieren (Damm 2023, S. 98–99; Pi-
ckel et al. 2023, S. 562–563; Salzborn 2021). Entsprechende, antisemitisch getränk-
te, westliche Verschwörungsmythen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch
islamistische Vordenker aufgegriffen und in Kombination mit pauschalisierenden
Auslegungen antijudäischer Koranpassagen zum Topos einer ,ewigen Feindschaft‘
zwischen dem Islam und dem Judentum überhöht (Jikeli 2019, S. 71; Becker 2020,
S. 78ff.).
Antisemitismus stellt sich somit als ein vielschichtiges, wandelbares Phänomen
mit unterschiedlichen Erscheinungsformen dar, das nicht nur in den klassischen,
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direkt auf Personen abzielenden Vorurteilen, sondern auch in indirekten oder un-
eindeutigen Formen in Erscheinung treten kann (Arnold 2019, S. 138; Bernstein
2021, S. 20–27). So richtet sich der israelbezogene Antisemitismus gegen den Staat
Israel, der von Antisemit:innen als eine gefährliche Manifestation jüdischen Lebens,
Glaubens und Kultur wahrgenommen wird (Öztürk und Pickel 2023, S. 353f.). An-
tisemit:innen nutzen eine solche Kritik am Staat Israel oder seiner Politik u.a. als
Deckmantel, um antijüdische Ressentiments zu verbreiten, ohne soziale Sanktionen
fürchten zu müssen (Brumlik 2020, S. 72–75; Öztürk und Pickel 2022, S. 4–5). Dies
bedeutet indessen nicht, dass jegliche Kritik an der israelischen Regierung oder ih-
rer Politik antisemitisch motiviert wäre. Insoweit ist es erforderlich, sachbezogene
Auseinandersetzungen in Bezug auf politische Streitfragen klar von pauschalisieren-
den Haltungen zu differenzieren, die die Legitimation und das Existenzrecht eines
jüdischen Staates grundsätzlich infrage stellen oder eine solche Kritik mit genera-
lisierenden Ausgrenzungen oder Abwertungen von Jüd:innen oder dem Judentum
verbinden (Mendel 2023). Letzteres kann z.B. auch über nicht sofort durchschau-
bare Argumentationsfiguren oder Symbole geschehen, die aus der Zeit des Natio-
nalsozialismus stammen und nun auf den heutigen Staat Israel angewendet bzw.
verallgemeinernd auf dessen Bürger:innen bezogen werden (Bernstein 2021, S. 47).
Eine weitere Form antisemitischer Haltungen stellt der sogenannte Schuldab-
wehrantisemitismus dar, dem eine Täter-Opfer-Umkehr zugrunde liegt (Benz 2016,
S. 221–227; Salzborn 2020). Er unterstellt Jüd:innen eine Mitschuld an der Shoah
oder wirft ihnen vor, die Erinnerungskultur an die NS-Zeit im Eigeninteresse zu
instrumentalisieren (Öztürk und Pickel 2022,S.4).
2.1 Verbreitung antisemitischer Einstellungen: Entwicklungen in Deutschland
In Deutschland werden bereits seit längerer Zeit verschiedene Spielarten des Anti-
semitismus auf der Einstellungsebene untersucht, um ihre Verbreitung in der Gesell-
schaft und ihre Hintergründe genauer analysieren zu können. Bevölkerungsrepräsen-
tative Studien kamen dabei in den vergangenen Jahren zu teilweise unterschiedlichen
Befunden.
Die Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker et al. 2022, S. 48–49) stellte im Jahr
2022 fest, dass die Prävalenzrate für die manifeste, d.h. klar ausgeprägte Zustim-
mung zu tradiertem Antisemitismus mit 3,3 % im Vergleich zu früheren Erhebungen
in der Tendenz rückläufig war. Bei den vorangehenden Studien waren 2018 und
2020 mit 4,4% und 3,6 % höhere Raten gefunden worden, die jedoch deutlich unter
dem 2004 gemessenen Höchstwert von 9,9 % lagen. Im Kontrast dazu wurde in der
jüngsten Veröffentlichung der Bielefelder Mitte-Studie unter Verwendung gleichar-
tiger Items ein erheblicher Anstieg ausgeprägter antisemitischer Einstellungen von
1,7% (2020/21) auf 5,7 % (2022/23) festgestellt was einen neuen Höchststand in
dieser Studienreihe markiert (Zick und Mokros 2023, S. 69–70).
Trotz dieser gegenläufigen Feststellungen zu Trends liegen die Schätzungen für
die Prävalenz von manifestem tradiertem Antisemitismus in den vorgestellten Stu-
dien letztlich auf einem ähnlichen Niveau. Im Vergleich zu anderen Formen von
Vorurteilen gegenüber Fremdgruppen wie Muslim- oder Ausländerfeindlichkeit, die
deutlich zweistellige Prävalenzraten aufweisen, fällt die Verbreitung antisemitischer
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Einstellungsmuster allerdings deutlich niedriger aus (Fischer und Wetzels 2023,
S. 349).
In jüngster Zeit fanden sich aber auch deutliche Anstiege der polizeilich registrier-
ten antisemitischen Straftaten, sowohl während der Corona-Pandemie (BMI 2022)
als auch insbesondere zuletzt seit dem Überfall der Hamas auf Israel im vergange-
nen Jahr (Tagesschau 2023;SZ2024). Aus Sicht der Einstellungs- und Umfragefor-
schung sind solche erkennbaren Diskrepanzen der Beschreibung von Entwicklungen
und Trends einerseits auf mögliche Effekte sozialer Erwünschtheit mit Blick auf
Selbstberichte und darüber erfolgende Aufklärung eines Dunkelfeldes zum einen
sowie veränderte Kontrollintensitäten und Schwerpunkte mit Blick auf das Hellfeld
zum anderen zurückzuführen; andererseits deuten sie auf einen möglichen Wandel
der in Deutschland vorherrschenden Spielarten des Antisemitismus sowie seiner Trä-
ger:innen hin. So erhalten Aussagen zu israelbezogenem Antisemitismus oder zum
Schuldabwehrantisemitismus studienübergreifend in der Gesamtbevölkerung deut-
lich höhere Zustimmungsraten als dies bei tradiertem Antisemitismus der Fall ist
(Decker et al. 2022, S. 67–69; Fischer und Wetzels 2023, S. 359–361; El-Menouar
und Vopel 2023, S. 3; Mokros und Zick 2023, S. 164). Gerade der Schuldabwehr-
antisemitismus scheint tief in die deutsche Mehrheitsgesellschaft hineinzureichen
wobei er vor allem im rechten Spektrum verankert ist (Decker et al. 2022, S. 70;
Öztürk und Pickel 2023, S. 372–374). Formen eines israelbezogenen Antisemitis-
mus sind ferner Phänomene, die im Kontext von Protesten als Varianten politisch
motivierter Kriminalität häufiger auftreten und leicht erkennbar sind, weshalb diese
gut registriert werden können, wie z.B. der Ausruf „Tod Israel“ oder das Verbren-
nen der israelischen Staatsflagge bei Demonstrationen. Dies kann ggfs. zumindest
teilweise Diskrepanzen der Trends zwischen Daten der Polizeistatistik zu politisch
motivierter Kriminalität (PMK) und Einstellungsbefragungen erklären.
2.2 Antisemitismus unter Muslim:innen
Spätestens seit dem Israel-Gaza-Konflikt 2021 steht Antisemitismus unter in
Deutschland lebenden Muslim:innen vermehrt im Fokus öffentlicher Debatten
und ist vielfach Anlass für Spekulationen. Empirisch deuten verschiedene Studien
darauf hin, dass die Verbreitung von tradiertem sowie von israelbezogenem Antise-
mitismus unter Muslim:innen höher ist als in den meisten anderen gesellschaftlichen
Teilgruppen (Koopmans 2014; Öztürk und Pickel 2022, S. 19–20; El-Menouar und
Vopel 2023, S. 5; Fischer und Wetzels 2023).
In der zweiten Welle der MiD-Studien aus dem Jahr 2022 wurde beispielswei-
se das Item „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man
etwas gegen Juden hat“ von 13,7 % der Gesamtstichprobe zustimmend beantwor-
tet; unter Muslim:innen war die entsprechende Rate mit 34,4% hingegen erheblich
erhöht (Fischer und Wetzels 2023, S. 359). Gerade in Zeiten der weiter eskalie-
renden Konflikte in Nahost scheint hier ein nicht zu vernachlässigendes Potenzial
antisemitischer Ressentiments zu existieren.
Speziell im Vergleich zu anderen Religionsgruppen findet sich bei in Deutschland
lebenden Muslim:innen ein höheres Ausmaß von tradiertem und israelbezogenem
Antisemitismus (Öztürk und Pickel 2023, S. 375–378). Das Phänomen eines er-
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höhten Antisemitismus bei Muslim:innen zeigt sich in ähnlicher Form in anderen
europäischen Ländern gleichfalls (Jikeli 2018, S. 120–126; Öztürk und Pickel 2022,
S. 15–16).
Hintergründe und Ursachen des erhöhten Aufkommens antisemitischer Einstel-
lungen unter Muslim:innen in Deutschland sind jedoch, abseits plausibler Überle-
gungen und anekdotischer Evidenzen, bislang nicht hinreichend wissenschaftlich
geklärt. Insbesondere die Frage, ob es religionsgruppenspezifische Einflussfaktoren
gibt, die im Hinblick auf die Konzeption von Prävention von Antisemitismus in
Bezug auf die Zielgruppe der Muslim:innen zu beachten wären, ist weitestgehend
ungeklärt.
Erste Befunde der Forschung machen deutlich, dass Muslim:innen in Deutsch-
land keineswegs als homogene Gruppe mit generellen antisemitischen Tendenzen
verstanden werden sollten wie es rechtsextreme Akteur:innen zu Zwecken anti-
muslimischer und fremdenfeindlicher Mobilisierung ufiger darstellen. Es spricht
vielmehr Vieles dafür, dass der Antisemitismus unter Muslim:innen nur eine Teil-
gruppe betrifft und vielschichtige Ursachen hat, die teils Überschneidungen mit
dem Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft, teils aber auch Differenzen zu ihr
aufweisen. So speist sich der tradierte Antisemitismus unter Muslim:innen nach
vorliegenden Befunden in relevantem Maße aus religionsbezogenen, antijudäischen
sowie herkunftsbezogenen, antizionistischen Haltungen (Öztürk und Pickel 2022;
El-Menouar und Vopel 2023; Fischer und Wetzels 2023). Insbesondere fundamen-
tale und rigide religiöse Orientierungsmuster weisen diesbezüglich einen relevanten
Zusammenhang mit dem Ausmaß antisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen
auf (Koopmans 2014; Öztürk und Pickel 2022, S. 26–27; Fischer und Wetzels 2023,
S. 369–372).
Zur Relevanz der Religiosität und ihrer unterschiedlichen Teilaspekte (z.B. Häu-
figkeit der individuellen oder kollektiven Religionspraxis sowie Intensität des Glau-
bens und der Bedeutung der Religion im Alltag) für die Erklärung von Antisemi-
tismus liegen indessen widersprüchliche Befunde vor (Friedrichs und Storz 2022,
S. 39–41; Öztürk und Pickel 2022, S. 26–27; El-Menouar und Vopel 2023, S. 6–7).
Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass der Herkunftskontext bei kula-
ren Muslim:innen ein Prädiktor für antisemitische Einstellungen darstellen könnte.
So weisen nicht oder nur gering religiöse Muslim:innen aus arabischen Ländern
eher antisemitische Einstellungen auf als solche aus der Türkei oder anderen nicht-
arabischen Ländern (Storz und Friedrichs 2023).
Überdies gilt die Neigung zu Verschwörungserzählungen als ein besonders wich-
tiger Einflussfaktor für antisemitische Einstellungen unter Muslim:innen. Entspre-
chende Zusammenhänge sind allerdings auch in anderen gesellschaftlichen Teil-
gruppen zu registrieren (Fischer und Wetzels 2023, S. 370–371; Pickel et al. 2023,
S. 562).
Schließlich sind individuelle Diskriminierungserfahrungen und kollektive Margi-
nalisierungswahrnehmungen zentrale soziale Belastungsfaktoren für Migrant:innen
in Deutschland, wobei Muslim:innen von diesen in Form antimuslimischer Ressen-
timents besonders häufig betroffen sind (Endtricht 2023ztürketal.2023; Wetzels
und Brettfeld 2023b). Auch diese Phänomene können zur Entwicklung von Bedro-
hungswahrnehmungen und darüber vermittelt zu Vorurteilen und Intoleranz gegen-
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über Fremdgruppen beitragen, die sich gepaart mit Verschwörungsnarrativen
auch in Formen des Antisemitismus niederschlagen.
3 Forschungsleitende Fragestellungen und Analysestrategie
Anknüpfend an die im einschlägigen Forschungsstand vorliegenden Befunde zu Ver-
breitung und Trends eines tradierten Antisemitismus in Deutschland werden im Fol-
genden die Daten der bundesweit repräsentativen und jährlich wiederholten Trend-
studie „Menschen in Deutschland“ (MiD) aus den Jahren 2021 bis 2023 hinsichtlich
der dort erkennbaren diesbezüglichen Entwicklungen in jüngerer Zeit analysiert. Ne-
ben Umfang und Veränderungen der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der
erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung insgesamt werden auch die zeitlichen Ver-
änderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilgruppen kontrastiert. Verglichen
werden insofern Personen ohne Migrationshintergrund, nichtmuslimische Personen
mit Migrationshintergrund sowie Muslim:innen mit Migrationshintergrund.
Weiter wird, anknüpfend an frühere Befunde auf Grundlage von Daten aus dem
Jahr 2022 (Fischer und Wetzels 2023), unter Verwendung aktueller Daten des Jahres
2023 die Frage verfolgt, welche Einflussfaktoren für die Verbreitung antisemitischer
Einstellungen speziell unter Muslim:innen in Deutschland zu identifizieren sind. Es
wird zum einen geprüft, inwieweit multivariat, auch nach statistischer Kontrolle aus
der Forschung bekannter Prädiktoren, eine höhere Ausprägung antisemitischer Vor-
urteile unter Muslim:innen im Vergleich zu den Angehörigen christlicher Religionen
sowie zu Personen ohne eine Religionszugehörigkeit (Konfessionslose) nachweisbar
ist.
Darüber hinaus wird das Ziel verfolgt, neben der relativen Bedeutung der Reli-
gionszugehörigkeit auch Zusammenhänge der Intensität der individuellen religiösen
Bindungen und unterschiedlicher Aspekte des individuellen Religionsverständnisses
mit Antisemitismus genauer zu bestimmen. Für Muslim:innen wird zu diesem Zweck
geprüft, inwieweit neben sozialen Kontextfaktoren, soziodemografischen Merkma-
len und ansonsten für intolerante Einstellungen bekannten Faktoren zusätzlich auch
Aspekte der individuellen Religiosität und des spezifischen Religionsverständnisses
in Zusammenhang mit der Ausprägung antisemitischer Einstellungen stehen. Die
neben den religionsbezogenen Faktoren verwendeten Prädiktoren betreffen aus der
Forschung bekannte Einflussfaktoren für intolerante Einstellungen wie kollektive
Marginalisierungswahrnehmungen, antizipierte ökonomische Belastungen sowie ei-
ne Verschwörungsmentalität (Fischer et al. 2022; Endtricht 2023; Papaioannou et al.
2023; Wetzels und Brettfeld 2022; Brettfeld 2023).
Gleichartige multivariate Analysen werden auch in Bezug auf die in der Stichpro-
be enthaltenen Christ:innen durchgeführt, um im Wege der Kontrastierung mögliche
Spezifika der Faktoren zu identifizieren, die Einfluss auf Zusammenhänge muslimi-
scher Religiosität mit Antisemitismus haben.
Diese Analysen verfolgen das Ziel, Hintergründe antisemitischer Ressentiments
bei Muslim:innen differenzierter zu bestimmen und den relativen Stellenwert von
Religion und Religiosität für die Erklärung von Antisemitismus herauszuarbeiten.
Damit verbunden ist weiter eine anwendungsorientierte Zielsetzung: Auf diesem
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
Wege sollen für Akteur:innen aus Politik und Praxis Erkenntnisse gewonnen wer-
den, die dazu beitragen können, evidenzbasiert die Konzeption von Maßnahmen
der Prävention mit Blick auf Antisemitismus in Bezug auf in Deutschland leben-
de Muslim:innen genauer auf spezifische Teilgruppen und dort relevante Faktoren
ausrichten und optimieren zu können.
Nicht zuletzt soll damit zu einer datengestützten Versachlichung einer kontrovers
geführten gesellschaftlichen Debatte beigetragen werden. Schließlich tragen weder
verallgemeinernde Antisemitismusvorwürfe gegen Muslim:innen noch die schlichte
Leugnung oder Ignoranz vorliegender empirischer Befunde zu erhöhten Raten an-
tisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen konstruktiv zur Lösung der bestehen-
den gesellschaftlichen Probleme in diesem Feld bei. Im Gegenteil, beide Haltungen
stehen eher in der Gefahr, den historischen Bezugspunkt der deutschen Antisemi-
tismusdebatte ganz im Sinne rechtsextremer Bemühungen vom Nationalsozialismus
zum Nahostkonflikt zu verschieben (Arnold 2019; Brumlik 2020, S. 78–81).
4 Datengrundlage und Methode
Die dargelegten Forschungsfragen werden auf Basis der im Trenddesign konzipierten
repräsentativen Umfrage „Menschen in Deutschland“ (MiD) untersucht (Brettfeld
et al. 2021). Verwendet werden dazu Daten der ersten drei Erhebungswellen aus
den Jahren 2021 bis 2023 (Endtricht et al. 2022; Fischer et al. 2023; Wetzels et al.
2023a). Vertiefende multivariate Analysen erfolgen beschränkt auf die Daten der
aktuellsten dritten Welle dieser Studie aus dem Jahr 2023.
Die MiD-Studien werden innerhalb des Forschungsverbundes „Monitoringsystem
und Transferplattform Radikalisierung“ (MOTRA) durch das Institut für Kriminolo-
gie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg durchgeführt.2
Zentrales Anliegen der Studie ist es, Ausmaß und Entwicklung politisch-extremis-
musaffiner sowie intoleranter Einstellungen (wie z. B. Antisemitismus oder Mus-
limfeindlichkeit) in Deutschland fortlaufend zu beobachten und darüber im Kontext
des multimethodalen Ansatzes des Gesamtforschungsverbundes MOTRA zu einem
kontinuierlichen Monitoring beizutragen (Brettfeld et al. 2023). Des Weiteren sol-
len relevante Einflussfaktoren für extremismusaffine Einstellungen und Formen der
Intoleranz analysiert werden, die Ansatzpunkte für Prävention bieten können.
Eine Besonderheit der MiD-Studien ist, dass in allen Wellen, neben repräsentati-
ven Stichproben der erwachsenen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren insgesamt, auch
repräsentative Zusatzstichproben (Oversamplings) für die Teilpopulationen der in
Deutschland lebenden erwachsenen Menschen mit Migrationshintergrund sowie der
in Deutschland lebenden erwachsenen Muslim:innen enthalten sind. Die Teilneh-
menden wurden anhand von Zufallsstichproben aus den Registern der Einwohner-
meldeämter gezogen. Die Befragungen erfolgten im Mixed-Mode-Design, d.h. die
Befragten konnten den in der Erhebung verwendeten standardisierten Fragebogen je
2Für weiterführende Informationen sowie eine Übersicht weiterer im Rahmen dieses Forschungsvor-
habens publizierter Befunde: https://www.jura.uni-hamburg.de/die- fakultaet/professuren/kriminologie/
motra.html.
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
nach Vorliebe schriftlich (PAPI) oder online (CAWI) beantworten. Für die Befragten
aus den Oversamplings und im Speziellen die Muslim:innen standen die Frage-
bögen im CAWI-Format neben Deutsch auch in den Sprachen Türkisch, Arabisch,
Farsi und Englisch zur Verfügung.3
4.1 Stichprobenbeschreibung
Alle bislang durchgeführten Wellen der MiD-Studien befanden sich von März bis
Juni des jeweiligen Erhebungsjahres im Feld. Im Jahr 2021 konnten insgesamt N=
4483, im Jahr 2022 N= 4319 und im Jahr 2023 N= 4253 Teilnehmende gewonnen
werden. Die Rücklaufquoten für die einzelnen Jahre belaufen sich, unter Einschluss
aller Teilstichproben, auf 23,6 %, 20,6 % und 19,7%. Durch die im Stichproben-
design vorgesehenen Oversamplings sind Personen mit Migrationshintergrund und
Muslim:innen in der erreichten Gesamtstichprobe jeweils überrepräsentiert. Daraus
resultierende Verzerrungen in der Gesamtstichprobe wurden anhand von Design-
und Nonresponsegewichtungen ausgeglichen (vgl. dazu ausführlich Endtricht et al.
2022, S. 14–18; Fischer et al. 2023, S. 13–16; Wetzels et al. 2023a, S. 13–16).
Entsprechende Gewichtungen wurden gleichermaßen für die definierten Teilstich-
proben Personen ohne Migrationshintergrund, Nichtmuslim:innen mit Migrations-
hintergrund sowie Muslim:innen mit Migrationshintergrund durchgeführt, sodass
diese sowohl isoliert als auch in Kombination die Verhältnisse in der jeweiligen
Grundgesamtheit adäquat abbilden. Für die Betrachtung antisemitischer Einstellun-
gen im Zeitverlauf werden im Folgenden neben der Gesamtstichprobe auch die
Verteilungen in den genannten Teilgruppen separat analysiert. Entsprechende Auf-
teilungen liegen auch den vertiefenden Analysen zugrunde, die anhand der Daten
der 3. Welle aus dem Jahr 2023 angestellt werden. Eine Übersicht der soziodemo-
grafischen Merkmale der gewichteten Gesamtstichproben und der gewichteten Teil-
stichproben der drei verwendeten Wellen findet sich in Tab. 1.
Diese Eckdaten zeigen für alle drei Wellen jeweils gute Übereinstimmungen der
Stichproben mit den Referenzdaten des Statistischen Bundesamtes für die erwach-
sene Wohnbevölkerung ab 18 Jahren in den jeweiligen Jahren (für Details siehe
Endtricht et al. 2022; Fischer et al. 2023; Wetzels et al. 2023a). Einschränkend ist
allerdings zu beachten, dass amtliche Daten zu den Anteilen und der sozialen Vertei-
lung von Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit nicht zur Verfügung
stehen. Insofern war es notwendig, für die Gewichtung wie auch die Einschätzung
der Qualität der erreichten Stichproben u.a. auf Schätzungen größerer Studien zu
diesen Zielgruppen aus jüngerer Zeit zurückzugreifen (z. B. Pfündel et al. 2021).
Für die gewichteten Teilstichproben finden sich über die Jahre hinweg recht kon-
stante Muster. So sind Personen ohne Migrationshintergrund im Schnitt deutlich
älter (53,5 bis 54,2 Jahre) als die Personen aus den beiden Teilstichproben mit Mig-
3In der 3. Welle der Erhebungen, die Basis der im weiteren Verlauf dargestellten multivariaten Analy-
sen ist, wurde die online Variante (CAWI) von n= 2524 Teilnehmenden der Gesamtstichprobe gewählt
(59,4%). Die dabei zur Verfügung stehenden fremdsprachigen Versionen des Erhebungsinstruments wur-
den von n= 678 Personen genutzt (15,9% der Gesamtstichprobe). Vor allem die arabischsprachige Version
wurde hier in Anspruch genommen. Im Einzelnen nutzten n= 315 Personen die arabische, n= 144 die
englische, n= 82 die türkische und n= 137 die in Farsi angebotene Version.
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
Tab . 1 Verteilung soziodemografischer Merkmale in den Gesamtstichproben sowie den Teilstichproben
in den Erhebungen der Jahre 2021 bis 2023
Erhebungsjahr
(Welle)
Gesamtstichprobe
erwachsene
Wohnbevöl-
kerung
Teilstichprobe
Personen
ohne MHG
Teilstichprobe
Nichtmus-
lim:innen mit
MHG
Muslim:in-
nen
mit MHG
2021
(Welle 1)
Alter (Mittelwert) 50,9 J 54,2 J 41,8J 37,5 J
Geschlecht
(Rate männlich)
48,8% 48,2% 48,0% 56,3 %
Bildungsstand
(Rate Abitur)
35,6% 35,2% 41,8% 28,1 %
Migrationshintergrund
(MHG)
23,4% 100,0% 100,0 %
N(ungewichtet) 4483 1611* 1562 1302*
2022
(Welle 2)
Alter (Mittelwert) 50,9 J 53,5 J 44,0 J 40,3 J
Geschlecht
(Rate männlich)
48,9% 48,1% 50,5% 52,8 %
Bildungsstand
(Rate Abitur)
37,5% 37,0% 43,8% 27,5 %
Migrationshintergrund
(MHG)
23,9% 0,0% 100,0% 100,0 %
N(ungewichtet) 4319 1613* 1451 1247*
2023
(Welle 3)
Alter (Mittelwert) 50,9 J 53,6 J 43,8 J 38,5 J
Geschlecht
(Rate männlich)
49,1% 48,5% 49,8% 52,4 %
Bildungsstand
(Rate Abitur)
38,7% 38,6% 43,2% 30,1 %
Migrationshintergrund
(MHG)
25,9% 0,0% 100,0% 100,0 %
N(ungewichtet) 4253 1426* 1508 1313*
Anmerkung: Die dargestellten Werte basieren auf gewichteten Daten, lediglich die absoluten Nbeziehen
sich auf die ungewichtete Anzahl der Befragten
* In den Gesamtstichproben sind pro Welle n= 8 (2021), n= (2022) sowie n= 6 (2023) Muslim:innen ohne
Migrationshintergrund enthalten, die in die Analysen nicht gesondert einbezogen werden
rationshintergrund. Ferner sind die Stichproben der Muslim:innen im Schnitt jünger
(37,5 bis 40,3 Jahre) und enthalten höhere Anteile männlicher Befragter (52,4 bis
56,3%) als die beiden anderen Teilstichproben. Zudem ist der Anteil Befragter mit
Hoch- bzw. Fachhochschulreife bei ihnen geringer (zwischen 28,1 und 30,1 %).
Alle im Folgenden dargestellten uni-, bi- und multivariaten Analysen wurden
mit Stata/MP 17 unter Verwendung gewichteter Daten berechnet. Für hierarchische
OLS-Regressionsmodelle wurden robuste Standardfehler berechnet, um die Schie-
fe einiger der hier verwendeten Variablen zu kompensieren. In allen multivariaten
Analysen wird in den Modellen einheitlich für Geschlecht, Bildung und Alter kon-
trolliert.
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
4.2 Operationalisierungen und Messinstrumente
Die zentrale abhängige Variable in den folgenden Analysen sind antisemitische
Einstellungen. Deren Messung erfolgt über zwei Items, die Formen eines tradierten
Antisemitismus erfassen und auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 „stimme gar nicht
zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) beantwortet werden.
Unter den unabhängigen Variablen, die zur Kontrolle sozialer Einflussfaktoren
eingesetzt werden, werden die kollektive Marginalisierung und die Verschwörungs-
mentalität anhand von Mittelwertskalen abgebildet. Diesen Skalen liegen sieben be-
ziehungsweise fünf Items zugrunde, die jeweils auf einer vierstufigen Likert-Skala
(1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) beantwortet werden können.
Als kollektive Marginalisierung wird die subjektive Einschätzung der Befrag-
ten verstanden, wie sie das Ausmaß der gesellschaftlichen Benachteiligung und
Ausgrenzung ihrer Eigengruppe einschätzen. Damit wird abseits persönlicher Dis-
kriminierungserfahrungen vor allem die stellvertretend erlebte Diskriminierung von
Mitgliedern der Eigengruppe erfasst.
Unter Verschwörungsmentalität, einer weiteren der als Prädiktor untersuchten un-
abhängigen Variablen, wird die Neigung verstanden, gesellschaftliche und politische
Vorgänge als Machenschaften geheimer Mächte und konspirativer Organisationen zu
deuten. Sie bildet eine generelle Tendenz ab, hinter einer Vielzahl von Geschehnis-
sen und Vorgängen böswillige konspirative Vorgänge zu vermuten (Lamberty 2019;
Imhoff 2020; Imhoff et al. 2022b; Pickel et al. 2023).
Die subjektive Wahrnehmung drohender ökonomischer Einschränkungen fungiert
als eine weitere unabhängige Variable zur Kontrolle sozialer Einflussfaktoren. Die-
se wurden über die subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeiten erfasst, mit der
die Befragten in den nächsten 6 Monaten persönlich bei sich krisenbedingte Ein-
schränkungen im Bereich der Befriedigung von Grundbedürfnissen (Arbeit, Wohnen,
Energieversorgung, Grundnahrungsmittel, Freizeit, Kredite) erwarten. Diese Varia-
ble wird als Summenindex aus den Angaben zu sechs Items gebildet, die auf einer
vierstufigen Likert-Skala (1 „sehr unwahrscheinlich“ bis 4 „sehr wahrscheinlich“)
beantwortet werden. Diese Angaben werden am absoluten Skalenmittelpunkt di-
chotomisiert und anschließend zu einem zwischen 0 und 6 variierenden Indikator
additiv zusammengefasst (vergleichbar auch Brettfeld et al. 2023).
Bei den vergleichenden multivariaten Analysen für Christ:innen und Mus-
lim:innen wird ferner die Ausprägung von religiösem Fundamentalismus als weite-
rer Prädiktor in die Modelle einbezogen. Dieser wird als eine dogmatische Haltung
im Sinne einer besonderen Rigidität in Bezug auf das Verständnis der eigenen
Religion. Dies äußert sich in einem absoluten Richtigkeits- und Wahrheitsanspruch,
der gegenüber anderen Gläubigen und Nichtgläubigen durchgesetzt werden soll.
Ferner werden alternative Interpretationen religiöser Texte sowie Modernisierungs-
bestrebungen strikt abgelehnt (Wetzels und Brettfeld 2023a, S. 378; s.a. Fischer
und Wetzels 2023). Die Messung erfolgt über vier Items, die auf einer vierstufigen
Likertskala (1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) beantwortet werden.
Die individuelle Religiosität der befragten Christ:innen und Muslim:innen wird
darüber hinaus, in Anlehnung an das mehrdimensionale Modell der Religiosität
von Huber (2003,2004), anhand von fünf Items erfasst, die über unterschiedlich
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
skalierte Likert-Skalen beantwortet werden können (siehe dazu auch Wetzels und
Brettfeld 2023a, S. 372–373). Einbezogen werden dazu die Dimensionen der spiri-
tuellen Religiosität (1 „nicht gläubig“ bis 5 „sehr stark gläubig“), der individuellen
Religionspraxis (Gebet alleine von 1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“) und der kol-
lektiven Religionspraxis (Gotteshausbesuch von 1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“).
Die Dimension der Zentralität der Religion wird anhand von zwei weiteren Items
erfasst (Bedeutung der Religion im Alltag und Wichtigkeit der Religion), die auf
einer vierstufigen Likert-Skalen beantwortet werden können.
5 Befunde zu Antisemitismus in Deutschland
Analysen der Verbreitung antisemitischer Einstellungen im Zeitverlauf von 2021
bis 2023 werden sowohl für die bevölkerungsrepräsentativen Gesamtstichprobe als
ganze als auch separat für die darin enthaltenen drei Teilstichproben (1) der Personen
ohne Migrationshintergrund, (2) der Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund
und (3) der Muslim:innen mit Migrationshintergrund durchgeführt.
In allen drei MiD-Wellen wurde tradierter Antisemitismus gleichartig anhand von
zwei Items erfasst (Tab. 2). Das Item „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“
enthält eine im tradierten Antisemitismus typische überhöhte Machtzuschreibung
in Bezug auf Jüd:innen. Bei der Aussage „Juden kann man nicht trauen“ handelt
es sich hingegen um eine vorwiegend die interpersonellen Kontakte betreffende
negativ-abwertende Haltung gegenüber Jüd:innen.
Für die folgenden Beschreibungen des Trends antisemitischer Einstellungen wer-
den sowohl die Ausprägungen der Einzelitems als auch ein zusammenfassender
dichotomer Indikator verwendet. Zur Bildung des dichotomen Indikators werden
die Einzelitems zunächst zu einem Mittelwertindikator (MW= 1,37, SD = 0,61) zu-
sammengefasst, der anschließend bei Skalenwerten über 2,8 dichotomisiert wird,
um die Anteile ausgeprägter antisemitischer Einstellungsmuster zu identifizieren
(für Details zur Auswahl des Cut-Off-Werts siehe Wetzels et al. 2022, S. 84; Fischer
und Wetzels 2023, S. 360).
5.1 Entwicklung der Verbreitung tradierter Formen antisemitischer
Einstellungen in Deutschland seit 2021
Die Entwicklung der Zustimmungsraten (3 „stimme eher zu“ und 4 „stimme völlig
zu“) zu den beiden antisemitischen Einzelitems wird in Abb. 1dargestellt. In Bezug
auf die drei bevölkerungsrepräsentativen Gesamtstichproben erweisen sich die Zu-
stimmungsraten zum Item „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ als relativ
konstant. Signifikante Differenzen im Zeitverlauf liegen nicht vor. Dem Item „Juden
kann man nicht trauen“ stimmen über alle Erhebungszeitpunkte hinweg weniger
Personen aus der Gesamtbevölkerung zu. Die Raten schwanken zwischen 4,3 und
4,6%; signifikante Unterschiede zwischen den Erhebungswellen liegen auch hier
nicht vor.
Bei der isolierten Betrachtung von Personen ohne Migrationshintergrund ergibt
sich ein ähnliches Bild. Die Zustimmungsraten zu der Ansicht, Juden hätten in
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Tab . 2 Tradierte antisemitische Einstellungen in Deutschland 2023: Einzelitems und Gesamtindikator
(Daten der Welle 3 der MiD-Studie aus dem Jahr 2023; gültige n= 4205)
Verteilung in %
1
––
2
3
+
4
++
MW SD
Juden haben in Deutschland zu
viel Einfluss
65,1% 26,4 % 6,1 % 2,4% 1,46 0,72
Juden kann man nicht trauen 77,9% 17,5% 2,8% 1,8 % 1,29 0,61
Antisemitismus total 1,37 0,61
Deutschland zu viel Einfluss, sind ebenfalls über die Zeit nahezu konstant. Sie
waren 2023 (6,3%) nur geringfügig niedriger im Vergleich zu 2021 (6,7%) und
2022 (6,8%). Diese Differenzen sind jedoch klein und statistisch nicht signifikant.
Auch die Zustimmungsraten zu der Aussage „Juden kann man nicht trauen“ sind
mit 3,3 %, 3,0 % und 3,1 % im Zeitverlauf gleichfalls nahezu unverändert geblieben.
In der Gruppe der Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund liegen die Zu-
stimmungsraten zu der Aussage „Juden habenin Deutschland zu viel Einfluss“ in den
Jahren 2021 (9,8%) und 2022 (11,2 %) deutlich über den Werten der Bevölkerung
ohne Migrationshintergrund. Im Jahr 2023 war diesbezüglich jedoch ein Rückgang
auf 7,5% zu verzeichnen, der sich im Vergleich zum Vorjahr als signifikant erweist
(χ2= 11,64, df = 2, p< 0,01). Damit liegt die Rate nun auf einem Niveau, wie es sich
auch bei Personen ohne Migrationshintergrund finden lässt.
Beim Item „Juden kann man nicht trauen“ belaufen sich die Raten bei den nicht-
muslimischen Migrant:innen im Jahr 2021 auf 4,5%, im Jahr 2022 auf 5,7% und
2023 auf 4,4 %. Die Differenzen zwischen den Jahren sind statistisch nicht signifi-
kant.
8,7 8,8 8,5
4,3 4,3 4,6
6,7 6,8 6,3
3,3 3,0 3,1
9,8 11, 2
7,5
4,5 5,7 4,4
27,4 29,6 29,0
12,6
17,4 18,7
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
"Juden haben in
Deutschland zu viel
Einfluss" - 2021
"Juden haben in
Deutschland zu viel
Einfluss" - 2022
"Juden haben in
Deutschland zu viel
Einfluss" - 2023
"Juden kann man
nicht trauen" - 2021
"Juden kann man
nicht trauen" - 2022
"Juden kann man
nicht trauen" - 2023
Gesamt Personen ohne MHG Nichtmuslim:innen mit MHG Muslim:innen mit MHG
Abb. 1 Zustimmungsraten zu antisemitischen Einzelitems in der Gesamtbevölkerung sowie in relevanten
Teilgruppen im Zeitverlauf von 2021 bis 2023 mit 95 % Konfidenzintervall
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
Die befragten Muslim:innen weisen bei beiden verwendeten Items in allen Erhe-
bungsjahren im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen statistisch signifikante,
ganz deutlich erhöhte Zustimmungsraten auf. Der Meinung, dass Juden in Deutsch-
land zu viel Einfluss haben, sind je nach Erhebungszeitpunkt 27,7 %, 29,6 % und
29,0% der befragten Muslim:innen. Diese Raten unterscheiden sich untereinander
nicht signifikant, d.h. sie sind im Zeitverlauf konstant geblieben.
Bei dem Item zum generalisierten Misstrauen gegenüber Juden, das klar eine in-
terpersonelle Ausprägung antisemitischer Einstellungen abbildet, zeigt sich indessen
für Muslim:innen ein signifikanter Trend steigender Raten von 12,6 % im Jahr 2021
über 17,4% im Jahr 2022 auf 18,7 % im Jahr 2023 (χ2= 18,72, df = 2, p< 0,001).
Bei Verwendung des dichotomisierten Mittelwertindikators für antisemitische
Einstellungen zeigen sich in Abb. 2im Hinblick auf die Niveaus und die zeitlichen
Verläufe gleichartige Befunde. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung findet sich zwar
in der Stichprobe ein leichter Aufwärtstrend von 3,5 % auf 4,0% und danach auf
4,1 %. Diese Differenzen sind aber statistisch nicht signifikant. Die zeitlichen Trends
sind bei Personen ohne Migrationshintergrund und Nichtmuslim:innen mit Migra-
tionshintergrund ähnlich. Demgegenüber finden sich für muslimische Befragte im
Vergleich zu den beiden anderen Gruppen zum einen deutlich erhöhte Prävalenz-
raten sowie zum anderen im Zeitverlauf eine statistisch signifikante, klar steigende
Tendenz. Auch wenn diese Befunde auf ein vergleichsweise hohes und signifikant
gestiegenes Ausmaß manifester antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen in
Deutschland verweisen, ist zu beachten, dass derartige Vorurteile auch Muslim:innen
nur von einer Minderheit geteilt werden. Mehr als 80% erweisen sich auch 2023 als
nicht manifest antisemitisch.
Die Frage, warum antisemitische Einstellungen unter Muslim:innen in den
Erhebungszeiträumen von 2021 (12,5%) bis 2023 (17,5 %) zugenommen haben
3,5 2,7 2,8
12,5
4,0 3,0
4,9
15,6
4,1 2,6 3,5
17,5
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
Gesamt Personen ohne MHG Nichtmuslim:innen mit
MHG
Muslim:innen mit MHG
2021 2022 2023
Abb. 2 Prävalenz antisemitischer Einstellungsmuster (Werte> 2,8) in der Gesamtbevölkerung sowie in
relevanten Teilgruppen im Zeitverlauf von 2021 bis 2023 mit 95 % Konfidenzintervall
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
(χ2= 12,22, df = 2, p< 0,01), während sie in den anderen Teilstichproben weitgehend
konstant geblieben sind (nur bei Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund ver-
zeichnete sich von 2021 (2,8%) auf 2022 (4,9%) ein signifikanter Anstieg auf einem
allerdings deutlich niedrigeren Niveau; χ2= 972, df= 2, p< 0,01), lässt sich an dieser
Stelle nicht abschließend klären. Es ist jedoch zu vermuten, dass der Israel-Gaza-
Konflikt vom Mai 2021 der sich im Anschluss durch zahlreiche Vorfälle in Gaza
und im Westjordanland fortsetzte und weiter schwelte, insbesondere Muslim:innen
empfänglich für antisemitisches Gedankengut gemacht hat. Für diese These sprechen
Befunde aus einem natürlichen Experiment, das mit Daten von MiD 2021 durch-
geführt wurde und die Eskalation der Konflikte zwischen Israel und der Hamas im
Mai 2021 als einen Faktor identifizierte, der kurzfristige Anstiege antisemitischer
Einstellungen in Deutschland zur Folge hatte (Brettfeld et al. 2022; Richter et al.
2022). Dementsprechend ist damit zu rechnen, dass es auch in Folge der aktuel-
len Entwicklungen in Gaza und im Westjordanland zu Zunahmen antisemitischer
Einstellungen in Deutschland kommt.
Weiterhin ist festzuhalten, dass auf Ebene der Einzelitems und des Gesamtindi-
kators die Gruppe der Personen ohne Migrationshintergrund die niedrigste Rate für
antisemitische Einstellungen aufweist. Die auch gegenüber den Nichtmuslim:innen
mit Migrationshintergrund deutlich erhöhten Werte der Muslim:innen sprechen fer-
ner dafür, dass bei letzteren weniger der Migrationshintergrund, sondern eher mit
der Religion und/oder Religiosität in Zusammenhang stehende Faktoren zur Entste-
hung und Verbreitung antisemitischer Einstellungen beitragen (so auch Öztürk und
Pickel 2022; Fischer und Wetzels 2023).
5.2 Multivariaten Analysen: Migration, Religionszugehörigkeit, individuelle
Religiosität und Antisemitismus
Im Folgenden wird anhand multivariater Analysen der aktuellen Daten der Erhe-
bung MiD 2023 diese Frage möglicher Zusammenhänge zwischen Antisemitismus
und Religionszugehörigkeit sowie der individuellen Religiosität der Befragten ver-
folgt. In diese Analysen werden theoretisch relevante, empirisch bereits mehrfach
untersuchte nicht-religionsbezogene Prädiktoren für Intoleranz und antisemitische
Einstellungen einbezogen, darunter u.a. kollektive Marginalisierung, ökonomische
Einschränkungen und die Ausprägung von Verschwörungsmentalität (Fischer et al.
2022; Brettfeld 2023; Fischer und Wetzels 2023; Hirndorf 2022;Pickeletal.2023;
Öztürk und Pickel 2023), um die relative Bedeutung von Religion und Religiosität
zur Erklärung von Antisemitismus einschätzen zu können.
5.2.1 Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund
Um den Zusammenhang eines Migrationshintergrundes und der Zugehörigkeit zu
einer spezifischen Religionsgemeinschaft (bzw. der Nichtzugehörigkeit zu einer Re-
ligion) mit Antisemitismus statistisch kontrollieren und einzeln differenzieren zu
können, werden im Folgenden die Teilgruppen der Personen ohne Migrationshin-
tergrund und der Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund in Christ:innen und
Konfessionslose unterteilt. Personen, die sich anderen religiösen Bekenntnissen zu-
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ordnen, werden aufgrund der niedrigen Fallzahlen bei diesen Analysen nicht be-
rücksichtigt. Von den Personen ohne Migrationshintergrund gaben 61,4 % an, einer
christlichen Religion anzugehören, während 38,6 % sich als Konfessionslose iden-
tifiziert haben. Unter den Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund fällt die
Verteilung mit 66,7% Christ:innen und 33,3% Konfessionslosen ähnlich aus.
In Abb. 3werden die Zustimmungsraten zu den antisemitischen Einzelitems auf-
geteilt in die fünf Gruppen der Christ:innen und Konfessionslosen mit und ohne
Migrationshintergrund sowie der Muslim:innen mit Migrationshintergrund darge-
stellt. Die Muslim:innen weisen mit 29,0% weiterhin statistisch signifikant erhöhte
Werte im Vergleich zu den anderen Gruppen auf (χ2= 350,09, df = 4, p< 0,001) und
18,7% (χ2= 243,85, df = 4, p< 0,001), während zwischen den übrigen Gruppen keine
signifikanten Unterschiede zu erkennen sind.
5.2.2 Skalen für die multivariaten Analysen
Die Einzelitems „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ und „Juden kann
man nicht trauen“ wurden für die weiteren Analysen zu einem kontinuierlichen
Mittelwertindikator Antisemitismus zusammengefasst (MW = 1,37, SD= 0,61), der
die zentrale abhängige Variable darstellt.
Die subjektive Wahrnehmung einer kollektiven Marginalisierung der Eigengrup-
pe wird anhand einer aus sieben Items gebildeten Mittelwertskala (MW = 2,09, SD=
0,71) gemessen, die bereits seit der ersten Welle der MiD-Studien zum Einsatz
kommt (Fischer et al. 2022). Der Eigengruppenbezug wird durch den Einleitungssatz
„Hier bei uns werden Menschen wie ich ...“ hergestellt. Die Einzelitems themati-
sieren verschiedene Formen wahrgenommener Anerkennungs- und Teilhabedefizite
(z.B. „... von anderen geringgeschätzt“ oder „... von Politikern nicht ernst genom-
5,8
8,9 6,8 7,0
29,0
2,8 5,4 3,3 4,4
18,7
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
40,0
Konfessionslose
ohne MHG
Konfessionslose mit
MHG
Christ:innen ohne
MHG
Christ:innen mit
MHG
Muslim:innen mit
MHG
"Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss" "Juden kann man nicht trauen"
Abb. 3 Zustimmung zu den Einzelitems der Antisemitismusskala in fünf Teilgruppen: Christ:innen und
Konfessionslose jeweils mit und ohne Migrationshintergrund sowie Muslim:innen mit Migrationshinter-
grund im Jahr 2023; Prozentraten für Werte> 2 und 95% Konfidenzintervalle
K
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
men“). Alle sieben Items laden auf einen gemeinsamen Faktor. Die über diese Items
gebildete Mittelwertskala weist eine gute Reliabilität auf (ω= 0,88).
Ökonomische Einschränkungen werden in Form eines Summenindex abgebildet.
Anhand von sechs Items wird dazu abfragt, für wie wahrscheinlich die Befragten
es halten, dass Sie in den nächsten sechs Monaten mit verschiedenen wirtschaftli-
chen Schwierigkeiten konfrontiert werden (z. B. „... ihre Miete nicht mehr bezahlen
können?“ oder „... sich beim Einkauf von Grundnahrungsmitteln einschränken müs-
sen?“). Zur Bildung des Summenindikators werden alle sechs Items dichotomisiert,
und die Anzahl der für wahrscheinlich erachteten Einschränkung wird summiert.
Der Indikator kann damit Ausprägungen von null bis sechs annehmen (vgl. dazu
auch Wetzels et al. 2023b).
Zur Erfassung der Ausprägung der individuellen generellen Neigung zur Ak-
zeptanz von Verschwörungsnarrativen (Verschwörungsmentalität) als einem für die
Entwicklung von sozialen Vorurteilen relevanten Risikofaktor auf der Persönlich-
keitsebene, wurde eine Mittelwertskala (MW = 2,04, SD = 0,78) aus fünf Items einge-
setzt. Diese Skala wurde in ähnlicher Form bereits in MiD 2022 eingesetzt (Fischer
und Wetzels 2023). Sie enthält sowohl Items, die eine allgemeine Neigung zum
Verschwörungsdenken thematisieren als auch Items, die die Zustimmung zu kon-
kreten benannten Verschwörungsnarrativen in den Blick nehmen. Befragte werden
hier gebeten anzugeben, in welchem Maße sie den Aussagen „Es gibt geheime Or-
ganisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“, „Politiker
und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden
Mächte“, „Medien und Politik stecken unter einer Decke“, „Studien, die einen Kli-
mawandel belegen, sind meist gefälscht“ und „Der wahre Ursprung des Corona-
Virus wird von unserer Regierung mit Absicht geheim gehalten“ zustimmen. Auf-
grund dessen, dass diese fünf Items eine hinreichend breite Spanne unterschiedlicher
Schwierigkeitsgrade aufweisen und mit einer Varianzaufklärung von 65% auf einen
gemeinsamen Faktor laden, erscheint es berechtigt, diese teils spezifisch und teils
unspezifisch-generalisiert ausgerichteten Items zu einer Mittelwertskala zusammen-
zuführen (zum Problem der Skalenbildung in solchen Fällen vgl. Imhoff et al. 2022a;
Imhoff 2024). Die Reliabilität der so gebildeten Mittelwertskala erwies sich zudem
als gut (ω= 0,87), was die Entscheidung für eine solche Skalenbildung weiter un-
terstützt.
Für die Analysen in den Teilstichproben der befragten Christ:innen und Mus-
lim:innen kommt ferner eine Mittelwertskala zur Messung von religiösem Funda-
mentalismus zum Einsatz. Die vier hier zur Erfassung verwendeten Items themati-
sieren u.a. inwieweit die Befragten Aussagen wie „Menschen, die [den Islam/die
christliche Lehre] modernisieren, zerstören die wahre Lehre“ oder „Es gibt nur eine
richtige Interpretation [des Koran/der Bibel], an die sich alle [Muslime/Christen]
halten sollten“ zustimmen. Das Ausmaß fundamentaler religiöser Einstellungen er-
weist sich bei Muslim:innen (MW = 2,27, SD = 0,84) als deutlich ausgeprägter im
Vergleich zu Christ:innen (MW = 1,57, SD= 0,64); (tWelc h = 615,7; df = 1; p< 0,001).
Die individuelle Religiosität der Befragten wird im Sinne einer persönlichen re-
ligiösen Bindung in vier Dimensionen erfasst, die in die folgenden Analysen ein-
bezogen werden (siehe dazu auch Wetzels und Brettfeld 2023a). So werden die
Befragten zur Erfassung der individuellen Religionspraxis gebeten anzugeben, wie
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
häufig sie beten (1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“). Muslim:innen (MW = 5,30, SD =
2,68) gaben an, häufiger zu beten als Christ:innen (MW= 3,50, SD = 2,40) (tWel ch =
362,2; df = 1; p< 0,001). Auf ähnliche Weise wird die kollektive Religionspraxis
erfasst. Dazu konnten die Befragten angeben, wie häufig sie ein Gebets- oder Got-
teshaus aufsuchen (1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“). Ähnlich wie schon bei der
individuellen Religionspraxis ist die kollektive Religionspraxis bei Muslim:innen
(MW= 2,94, SD = 1,87) deutlich stärker ausgeprägt als bei den Christ:innen (MW =
2,19, SD= 1,25); (tWel ch = 155,6; df = 1; p< 0,001).4
Die Dimension der spirituellen Religiosität wird über die Frage abgebildet, wie
stark gläubig die Befragten sich selbst einschätzen (1 „nicht gläubig“ bis 5 „sehr
stark gläubig“). Christ:innen (MW= 3,01, SD = 1,10) weisen in dieser Dimension
zwar einen leicht über dem numerischen Skalenmittelpunkt liegenden Mittelwert
auf, die Gläubigkeit ist bei Muslim:innen (MW = 3,70, SD = 0,93) im Schnitt aber
deutlich stärker ausgeprägt (tWe lc h = 350,0; df = 1; p< 0,001). Schließlich wird die
Zentralität der Religion anhand eines auf zwei Items basierenden Mittelwertindika-
tors abgebildet. Erstens werden die Befragten gebeten anzugeben, wie wichtig die
Religion für sie persönlich ist (1 „völlig unwichtig“ bis 4 „sehr wichtig“) und zwei-
tens wird ihre Zustimmung zu der Aussage „Mein Glaube ist Richtschnur für alle
meine Entscheidungen im Alltag“ erfragt (1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme
völlig zu“). Erneut zeigt sich, dass diese Dimension der individuellen Religiosität
bei Muslim:innen (MW= 2,96, SD= 0,84) im Durchschnitt stärker ausgeprägt ist als
bei Christ:innen (MW= 2,26, SD= 0,86; tWel ch = 493,1; df= 1; p< 0,001).
5.2.3 Ergebnisse der multivariaten Analysen
In Tab. 3werden die Ergebnisse für mehrere Modelle dargestellt, in welchen die
Zusammenhänge der verschiedenen unabhängigen Variablen mit antisemitischen
Einstellungen für die fünf Teilgruppen der Christ:innen und Konfessionslosen mit
und ohne Migrationshintergrundsowie den Muslim:innen mit Migrationshintergrund
kontrastiert werden.
In Modell I ist festzustellen, dass weder Alter noch Geschlecht Zusammenhänge
mit antisemitischen Einstellungen aufweisen; lediglich für eine hohe Bildung zeigt
sich ein negativer Zusammenhang im Sinne eines Schutzfaktors (β= –0,193***).
Erwartungsgemäß fällt die Varianzaufklärung in diesem Eingangsmodell mit R2=
3,7% nur gering aus.
Modell II prüft neben den soziodemografischen Kontrollvariablen auch den Zu-
sammenhang von Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund mit Antisemi-
tismus. Die Zugehörigkeit zu den Gruppen der Konfessionslosen mit Migrationshin-
tergrund (β= 0,052*) und der Christ:innen mit Migrationshintergrund (β= 0,058*)
4Diese Unterschiede der individuellen und kollektiven Religionspraxis zwischen Christ:innen und Mus-
lim:innen sind aufgrund der verschiedenen Ge- und Verbote dieser beiden Religionsgruppen zu erwarten.
Gleichwohl sind diese Indikatoren der Religionspraxis relevant und geeignet, um vor allem Binnendiffe-
renzen innerhalb der beiden Gruppen zu erfassen und in getrennten multivariaten Modellen zu berücksich-
tigen.
K
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
Tab . 3 Hierarchische OLS-Regression von Antisemitismus (kont.) auf Religionszugehörigkeit, Migrati-
onshintergrund, kollektive Marginalisierung, ökonomische Sorgen sowie Verschwörungsmentalität
AV: Antisemitismus (kont.) Modell I Modell II Modell III Modell IV Modell V
Alter (kont.) –0,043 0,069** 0,088*** 0,095*** 0,085**
Geschlecht (männlich = 1) 0,013 0,009 0,015 0,021 0,029
Bildung (Hoch = 1) –0,193*** –0,142*** –0,114*** –0,094*** –0,050*
Religionszugehörigkeit/Migrationshintergrund
(Konfessionslose ohne MHG=0)
Konfessionslose mit MHG 0,052* 0,057* 0,046 0,018
Christ:innen ohne MHG 0,007 0,024 0,024 0,012
Christ:innen mit MHG 0,058* 0,065* 0,043 –0,005
Muslim:innen mit MHG 0,369*** 0,350*** 0,307*** 0,238***
Koll. Marginalisierung
(kont.)
0,179*** 0,135*** 0,037
Ökonomische Einschrän-
kungen (kont.)
0,150*** 0,063
Verschwörungsmentalität
(kont.)
0,356***
R23,7% 13,8 % 16,7 % 18,5% 27,6 %
N3786
Anmerkung: Dargestellt werden standardisierte Effekte (Betas), berechnet mit robusten Standardfehlern;
*=p< 0,05, **= p< 0,01, ***= p< 0,001
weist hier einen signifikanten Zusammenhang mit Antisemitismus auf, der allerdings
nur auf dem 5 %-Niveau signifikant ist.
Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen (β= 0,369***) zeigt eine deut-
lich stärkere, signifikante positive Assoziation mit dem Ausmaß von Antisemitismus.
Die Varianzaufklärung des Modells II (R2=13,8 %) ist im Vergleich zum Eingangs-
modell bereits deutlich erhöht.
Wird in Modell III die kollektive Marginalisierung (β= 0,179***) zusätzlich ein-
bezogen, die multivariat einen signifikanten positiven Zusammenhang mit Antisemi-
tismus aufweist, steigt die Varianzaufklärung (R2= 16,7 %) des Modells etwas. Die
zuvor festgestellten Zusammenhänge des Migrationshintergrundes mit Antisemitis-
mus bestehen aber weiterhin; auch die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen
ist weiter mit statistisch signifikant erhöhten antisemitischen Einstellungen verbun-
den (β= 0,350***).
In Modell IV wird neben der kollektiven Marginalisierung (β= 0,135***) zu-
sätzlich auch der Einfluss erwarteter ökonomischer Einschränkungen im Modell
berücksichtigt. Diese stehen ebenfalls in einem statistisch signifikanten Zusammen-
hang mit Antisemitismus (β= 0,150***). Für die Gruppen der Konfessionslosen mit
Migrationshintergrund (β= 0,046) und Christ:innen mit Migrationshintergrund (β=
0,043) finden sich keine signifikante Assoziation mehr mit antisemitischen Einstel-
lungen. Für Muslim:innen zeigt sich aber sehr wohl immer noch ein signifikanter
deutlicher Zusammenhang mit einem erhöhten Antisemitismus im Vergleich zur
Referenzgruppe (β= 0,307***).
Im abschließenden Modell V werden zusätzlich die Zusammenhänge des Anti-
semitismus mit der Verschwörungsmentalität (β= 0,356***) in das Gesamtmodell
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
einbezogen. Die Varianzaufklärung steigt dadurch deutlich auf R2= 27,6 %. Auch
nach dieser umfangreichen multivariaten Kontrolle ist die Zugehörigkeit zur Gruppe
der Muslim:innen mit einer signifikant erhöhten Ausprägung von Antisemitismus
verbunden (β= 0,238***).
Insgesamt zeigt sich damit, dass die deutlich erhöhten antisemitischen Einstellun-
gen von Muslim:innen nicht allein mit Verweis aufeinen Migrationshintergrund, kol-
lektive Marginalisierungswahrnehmungen und vermehrte ökonomische Einschrän-
kungen zu erklären sind. Selbst nach zusätzlicher Kontrolle der Zusammenhänge
mit Verschwörungsmentalität ist ein statistisch relevanter Zusammenhang der mus-
limischen Religionszugehörigkeit mit erhöhtem Antisemitismus nachweisbar.5
Um diesen Befunden weiter auf den Grund zu gehen und die Relevanz von
religionsbezogenen Aspekten für die Erklärung von Antisemitismus genauer her-
auszuarbeiten, wurden weitere multivariate Analysen getrennt für die Gruppen der
Christ:innen und Muslim:innen durchgeführt. In diesen hierarchischen Regressions-
modellen werden sowohl die vier Dimensionen der individuellen Religiosität als
auch fundamentale religiöse Einstellungen d.h. die Rigidität des Umgangs mit
religiösen Ge- und Verboten und den eigenen religiösen Überzeugungen als Prä-
diktoren einbezogen. Über eine Kontrastierung der Ergebnisse dieser Analysen soll
die Frage weiter geklärt werden, inwieweit verschiedene Aspekte der eigenen Re-
ligiosität sowie der persönlichen Religionsauslegung in Bezug auf die Erklärung
antisemitischer Einstellungen bei christlichen und muslimischen Befragten eine un-
terschiedliche Bedeutung haben und insofern Differenzierungen erforderlich sind.
Tab. 4zeigt die Ergebnisse für die Regressionsmodelle bezogen auf Christ:innen.
In Modell I ist erneut zu erkennen, dass die soziodemografischen Variablen nur eine
geringe Erklärungskraft besitzen. Lediglich eine hohe Bildung (β= –0,177***) stellt
einen Schutzfaktor dar. Das Alter (β= 0,090*) sowie der Migrationshintergrund (β=
0,078*) weisen ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang mit Antisemitismus
auf. Es deutet sich hier an, dass tradierte Formen des Antisemitismus bei Christ:innen
mit höherem Alter steigen.
In Modell II werden die Zusammenhänge des Antisemitismus mit kollekti-
ver Marginalisierung (β= 0,024), ökonomischen Einschränkungen (β= 0,079) und
Verschwörungsmentalität (β= 0,365***) einbezogen. Die Verschwörungsmentalität
zeigt hier den stärksten Zusammenhang mit dem Ausmaß antisemitischer Einstellun-
gen. Die Varianzaufklärung steigt durch die Hinzunahme dieser drei unabhängigen
Variablen deutlich (R2= 20,3 %).
In Modell III werden zusätzlich vier Indikatoren der individuellen religiösen
Bindung in das Regressionsmodell aufgenommen (Spiritualität., Zentralität sowie
individuelle und kollektive Religionspraxis). Diesbezüglich nden sich in diesem
5Im Rahmen ergänzender multivariater Analysen wurde auch geprüft, inwieweit die Verwendung fremd-
sprachiger Erhebungsinstrumente in einem statistisch signifikanten Zusammenhang mit Antisemitismus
steht. Hierbei zeigten sich signifikante positive Zusammenhänge für die Verwendung arabisch- und tür-
kischsprachiger Instrumente durch die Befragten. Das Gesamtmodell wurde dadurch jedoch nicht substan-
ziell beeinflusst. Auch nach Kontrolle der verwendeten Sprachversion des Erhebungsinstrumentes bleiben
die Zusammenhänge zwischen Religionszugehörigkeit und Antisemitismus weiterhin statistisch signifi-
kant.
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
Tab . 4 Hierarchische OLS-Regression von Antisemitismus (kont.) bei Christ:innen auf kollektive Mar-
ginalisierung, ökonomische Sorgen, Verschwörungsmentalität, Dimensionen der individuellen Religiosität
sowie religiösen Fundamentalismus
AV: Antisemitismus (kont.) Modell I Modell II Modell III Modell IV
Alter (kont.) 0,090* 0,141*** 0,135*** 0,122**
Geschlecht (männlich = 1) 0,031 0,052 0,052 0,038
Bildung (Hoch = 1) –0,177*** –0,057 –0,060 –0,054
Migrant (Ja = 1) 0,078* –0,007 –0,006 –0,012
Koll. Marginalisierung (kont.) 0,024 0,024 0,012
Ökonomische Einschränkungen
(kont.)
0,079 0,077 0,065
Verschwörungsmentalität (kont.) 0,365*** 0,364*** 0,331***
Individuelle Religiosität
Spirituelle Religiosität (kont.) –0,066 –0,060
Subjektive Zentralität (kont.) 0,072 0,010
Indiv. Religionspraxis (kont.) 0,008 –0,013
Koll. Religionspraxis (kont.) 0,009 –0,005
Fundamentalismus (kont.) 0,164**
R25,0% 20,3 % 20,6 % 22,2 %
N1419
Anmerkung: Dargestellt werden standardisierte Effekte (Betas), berechnet mit robusten Standardfehlern;
*=p< 0,05, **= p< 0,01, ***= p< 0,001
Modell für Christ:innen jedoch keine signifikanten Zusammenhänge mit der abhän-
gigen Variable.
Über diese vier Indikatoren der individuellen religiösen Bindungen hinaus wurde
in Modell IV die Ausprägung von religiös fundamentalen Einstellungen einbezo-
gen. Hier findet sich für Christ:innen ein deutlicher signifikanter Zusammenhang
(β= 0,164**). Am stärksten sind in diesem Modell bei Christ:innen daneben die
Zusammenhänge des Antisemitismus mit Verschwörungsmentalität (β= 0,331***).
Weiter findet sich auch hier der deutliche positive Zusammenhang mit dem Alter
(β= 0,122**).
Abseits des signifikanten Zusammenhangs fundamentaler religiöser Überzeugun-
gen mit Antisemitismus spielen bei den Christ:innen demnach andere religiöse Fak-
toren keine relevante Rolle für die Erklärung antisemitischer Einstellungen. Zentral
sind bei ihnen vorrangig die Verschwörungsmentalität und religiöser Fundamen-
talismus, die auch multivariat mit deutlich erhöhten antisemitischen Einstellungen
einhergehen.
In Tab. 5werden die Ergebnisse gleichartiger multivariater Analysen für die Grup-
pe der Muslim:innen dargestellt. Im Modell I ist zu erkennen, dass hohe Bildung
(β= –0,100*) einen signifikanten, aber nicht stark ausgeprägten negativen Zusam-
menhang mit Antisemitismus hat.
In Modell II steigert die Einbeziehung kollektiver Marginalisierung (β= 0,073 ns),
ökonomischer Einschränkungen (β= 0,045 ns) und vor allem der Verschwörungs-
mentalität (β= 0,379***) die Varianzaufklärung des Modells erheblich (R2= 18,8 %).
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Tab . 5 Hierarchische OLS-Regression von Antisemitismus (kont.) unter Muslim:innen auf kollektive
Marginalisierung, ökonomische Sorgen, Verschwörungsmentalität, die Dimensionen der individuellen Re-
ligiosität sowie Fundamentalismus
AV: Antisemitismus (kont.) Modell I Modell II Modell III Modell IV
Alter (kont.) 0,067 0,041 0,042 0,058
Geschlecht (männlich = 1) 0,016 0,053 –0,003 –0,008
Bildung (Hoch = 1) –0,100* –0,072 –0,064 –0,034
Koll. Marginalisierung (kont.) 0,073 0,042 0,031
Ökonomische Einschränkungen
(kont.)
0,045 0,037 0,009
Verschwörungsmentalität (kont.) 0,379*** 0,334*** 0,326***
Individuelle Religiosität
Spirituelle Religiosität (kont.) –0,029 –0,068
Subjektive Zentralität (kont.) 0,110 0,034
Indiv. Religionspraxis (kont.) –0,007 –0,016
Koll. Religionspraxis (kont.) 0,253*** 0,221***
Fundamentalismus (kont.) 0,234***
R21,6% 18,8 % 27,9 % 30,5 %
N1140
Anmerkung: Dargestellt werden standardisierte Effekte (Betas), berechnet mit robusten Standardfehlern;
*=p< 0,05, ** = p< 0,01, *** =p< 0,001
Wie bei den Christ:innen ist demnach auch bei Muslim:innen eine Verschwörungs-
mentalität in besonderem Maße mit antisemitischen Einstellungen assoziiert.
Deutliche Differenzen zu den Christ:innen ergeben sich in Modell III. Die Ein-
beziehung der vier Dimensionen der individuellen Religiosität erhöht die Varianz-
aufklärung des Modells recht deutlich auf R2= 27,9%. Dies ist vor allem auf die
kollektive Religionspraxis (β= 0,253***) zurückzuführen, die bei den Muslim:innen
neben der Verschwörungsmentalität (β= 0,334***) den deutlichsten Zusammenhang
mit antisemitischen Einstellungen aufweist. Alle weiteren Aspekte der individuellen
Religiosität weisen hingegen keine relevanten Zusammenhänge mit Antisemitismus
auf.
Wird in Modell IV zusätzlich religiöser Fundamentalismus einbezogen
(β= 0,234***) verändern sich die Befunde aus Modell III kaum. Sowohl Ver-
schwörungsmentalität (β= 0,326***) als auch die kollektive Religionspraxis (β=
0,221***) stellen neben dem religiösen Fundamentalismus weiterhin wichtige Fak-
toren der Erklärung des Ausmaßes antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen
dar. Alle weiteren Aspekte der individuellen Religiosität spielen für die Erklärung
des Ausmaßes tradierter Formen antisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen
keine relevante Rolle.
Bei einer vergleichenden Betrachtung zeigt sich damit: Sowohl die Verschwö-
rungsmentalität als auch religiös-fundamentale Einstellungen weisen bei Christ:innen
und Muslim:innen ähnliche Zusammenhänge mit antisemitischen Einstellungen auf.
Dabei sind die Effekte der Verschwörungsmentalität bei Christ:innen und Mus-
lim:innen etwa gleich stark. Die Effekte für religiösen Fundamentalismus sind auch
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
bei beiden Gruppen klar signifikant, bei Muslim:innen indessen deutlich stärker
ausgeprägt.
Eine wichtige Differenz findet sich jedoch mit Blick auf die kollektive Religions-
praxis, also die Häufigkeit, mit der Befragte ein Gebets- oder Gotteshaus besuchen.
Bei Christ:innen spielt dieser Aspekt multivariat keine Rolle für das Maß ihres An-
tisemitismus, während er bei Muslim:innen eng mit dem Ausmaß von Antisemitis-
mus assoziiert ist und zwar auch nach multivariater statistischer Kontrolle der vier
Indikatoren persönlicher Religiosität und der religiös-fundamentalen Einstellungen
sowie der Ausprägung von Verschwörungsmentalität.6
Zur deskriptiven Veranschaulichung der Bedeutung dieses Befundes wird in
Abb. 4die Prävalenz antisemitischer Einstellungsmuster (Skalenwerte > 2,8) einge-
schränkt auf die Gruppe der gläubigen und sehr gläubigen Muslim:innen dargestellt,
differenziert nach der Häufigkeit, mit der Moscheen (Gebets- und Gotteshäuser) be-
sucht werden. Der Zusammenhang zwischen einer hoch ausgeprägten kollektiven
Religionspraxis (häufiger Moscheebesuch; mindestens mehrmals im Monat) mit der
Verbreitung manifest antisemitischer Einstellungen wird hier gut erkennbar. Gläu-
bige Muslim:innen, die höchstens einmal im Monat eine Moschee aufsuchen, wei-
sen lediglich zu 9,6% entsprechende antisemitische Einstellungen auf. In gleichem
Ausmaß gläubige Muslim:innen, die demgegenüber regelmäßig Gebets- oder Got-
teshäuser besuchen also mindestens mehrmals im Monat sind mit einer Rate von
35,6 % deutlich häufiger antisemitisch eingestellt.
9,6
35,6
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
max. einmal im Monat min. mehrmals im Monat
Abb. 4 Prävalenz manifest antisemitischer Einstellungen (Skalenwerte > 2,8) bei stark gläubigen Mus-
lim:innen (4 „gläubig“ und 5 „sehr gläubig“) nach Häufigkeit der Besuchs einer Moschee (Prozentraten
und 95% Konfidenzintervall)
6Die gefundenen Zusammenhänge zeigten sich erneut auch dann, wenn in ergänzenden multivariaten
Analysen für die verwendete Sprachversion des Erhebungsinstruments statistisch kontrolliert wurde.
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
6,6
14,3
21,0
43,8
0
10
20
30
40
50
60
Nicht fundamental Fundamental
max. einmal im Monat min. mehrmals im Monat
Abb. 5 Prävalenz manifest antisemitischer Einstellungen (Werte> 2,8) bei fundamentalen (Werte> 2,5)
und nicht fundamentalen Muslim:innen nach Häufigkeit der Besuche von Gebets- und Gotteshäusern
Es ist insofern also nicht der spirituelle Aspekt der individuellen Religiosität von
Muslim:innen, der den entscheidenden Risikofaktor für antisemitische Einstellun-
gen gläubiger Muslim:innen darstellt, sondern relevant ist vor allem der gehäufte
regelmäßige Besuch von Gemeinden und Moscheen.
Vergleichbares lässt sich bei Einbeziehung fundamental religiöser Einstellungen
illustrieren (Abb. 5).
Insgesamt sind fundamental eingestellte Muslim:innen deutlich häufiger antisemi-
tisch eingestellt als nicht fundamental Orientierte, wie sich hier bivariat im Einklang
mit den multivariaten Analysen nochmals zeigt. Innerhalb der fundamental orien-
tierten Muslim:innen ist aber die Rate des Antisemitismus mit 43,8 % im Falle von
gehäuften Moscheebesuchen im Vergleich zu 14,3% bei seltenerem Moscheebesuch
erheblich und statistisch signifikant höher.
6 Zusammenfassung und Diskussion
Auf Basis der Auswertung von drei bundesweit repräsentativen Studien wurde ge-
zeigt, dass die Prävalenzraten manifester tradierter Formen antisemitischer Einstel-
lungen in der erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung zwischen 2021 und 2023
nur leichte Schwankungen zeigen, die statistisch nicht signifikant sind. Die gemesse-
nen Zustimmungsraten zu manifest antisemitischen Einstellungsmustern lagen mit
4,1% in der MiD Studie im Jahr 2023 auf einem ähnlichen Niveau wie es auch
in der Leipziger Autoritarismus-Studie (3,3 %) und der Bielefelder Mitte-Studie
(5,7%) festgestellt wurde. Insofern sind die vorliegend getroffenen Feststellungen
zur Größenordnung der Prävalenz tradierter Formen antisemitischer Einstellungen
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
zum derzeitigen Zeitpunkt mit anderen Studien aus Deutschland gut in Einklang zu
bringen.
Es lassen sich allerdings deutliche Binnendifferenzen für Teilgruppen erkennen,
die in den ansonsten vorliegenden Studien so bislang nicht in dieser Differenziertheit
in den Blick genommen werden konnten. Zum einen sind die Raten antisemitischer
Einstellungen bei in Deutschland lebenden Muslim:innen im Vergleich zu ande-
ren Bevölkerungsgruppen mit und ohne Migrationshintergrund deutlich erhöht. Das
wurde auch in anderen Studien bereits gefunden, allerdings auf einer etwas schma-
leren Datenbasis (vgl. Öztürk und Pickel 2022, S. 19–20, 2023, S. 375–378; El-
Menouar und Vopel 2023,S.5;Jikeli2018, S. 120–126). Auch in dieser Hinsicht
stimmen die Befunde mit anderen Studien überein.
Über den Stand der bisherigen Forschung hinaus konnte weiter hier erstmals für
Deutschland gezeigt werden, dass bei Muslim:innen seit 2021 ein linearer Trend
des Anstiegs manifester antisemitischer Einstellungen stattgefunden hat, der 2023
mit einer Rate von 17 % einen vorläufigen Höchststand erreicht hat. Gleichzeitig
zeigt sich damit allerdings auch, dass manifeste antisemitische Einstellungen unter
der Gesamtgruppe der Muslim:innen in Deutschland auch gegenwärtig nur bei einer
Minderheit anzutreffen sind.
Die Entwicklung antisemitischer Einstellungen im Zeitverlauf, wie sie sich auf
Ebene der Einzelitems darstellt, ist ebenfalls aufschlussreich. Insbesondere die Aus-
sage, die ein generelles Misstrauen gegenüber Jüd:innen abfragt, findet unter Mus-
lim:innen im Laufe der Jahre wachsende Zustimmung. Hier zeichnet sich ein li-
nearer Aufwärtstrend ab, der 2023 vorerst in 18,7% Zustimmung gipfelt. Die Zu-
stimmungsraten zu der Aussage, die unterstellt, Juden hätten in Deutschland zu viel
Einfluss, waren bereits 2021 auf einem deutlich höheren Niveau. Im Zeitverlauf
blieben sie aber relativ konstant mit Werten von 27,4 bis 29,6%.
Es ist anzunehmen, dass diese Zunahmen der Verbreitung tradierter Formen anti-
semitischer Einstellungen unter Muslim:innen auch mit dem seit 2021 eskalierenden
israelisch-palästinensischen Konflikt zusammenhängen (Brettfeld et al. 2022;Rich-
ter et al. 2022). Aktuell ist insoweit seit dem 7. Oktober 2023 mit einer weiterhin
dynamischen Entwicklung des antisemitischen Radikalisierungsgeschehens zu rech-
nen. Dies gilt vermutlich insbesondere für israelbezogene Formen des Antisemi-
tismus. Die Ergebnisse der polizeilich registrierten politischen Kriminalität weisen
jedenfalls in diese Richtung. Insoweit ist ein über die hier vorliegende Studie hin-
ausgehendes kontinuierliches und differenziertes Monitoring dringend geboten.
Multivariate Analysen der jüngsten Daten aus dem Jahr 2023 zeigen daneben
auch einen deutlichen Zusammenhang von Verschwörungsmentalität mit Antisemi-
tismus. Ferner zeigen die multivariaten Befunde auch, dass die Zugehörigkeit zu
einer muslimischen Religionsgemeinschaft selbst nach statistischer Kontrolle der
Verschwörungsmentalität mit einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit antisemi-
tischer Einstellungen im Vergleich zu anderen Religionsgruppen einhergeht (so für
2022 bereits auch Fischer und Wetzels 2023).
Hinweise auf eine erhöhte Neigung zu antisemitischen Einstellungen bei Kon-
fessionslosen mit Migrationshintergrund oder Christen mit Migrationshintergrunds
finden sich hingegen nicht. Der ohnehin nur schwache Erklärungsbeitrag eines Mi-
grationshintergrund für Antisemitismus schwindet zudem völlig, wenn in den Mo-
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
dellen für diese Gruppen kollektive Marginalisierungswahrnehmungen und antizi-
pierte ökonomische Einschränkungen berücksichtigt und statistisch kontrolliert wer-
den. Anders gewendet: Indikatoren der sozialen Lage sowie von Diskriminierungs-
oder Marginalisierungserfahrungen stehen zwar mit antisemitischen Einstellungen
in Zusammenhang. Während diese Erklärung bei Konfessionslosen und Christ:innen
greift, vermögen diese Faktoren die erhöhten Raten des Antisemitismus bei Mus-
lim:innen in Deutschland im Vergleich zu anderen Gruppen aber nicht hinreichend
zu erklären.
Separate multivariate Analysen für Christ:innen einerseits und Muslim:innen an-
dererseits, die weitere religionsbezogene Prädiktoren zu nennen sind hier ver-
schiedene Dimensionen der individuellen Religiosität und fundamentale religiöse
Einstellungen berücksichtigen, ergaben für Christ:innen ein durchaus vertrautes
Ergebnis: den stärksten Zusammenhang mit dem Ausmaß antisemitischer Einstellun-
gen weist die Ausprägung von Verschwörungsmentalität aus. Religiöse Bindungen
im Sinne von Gläubigkeit, Zentralität sowie individuelle und kollektive Religions-
praxis spielen hingegen keine Rolle, wohl aber das Ausmaß religiös-fundamentaler
Haltungen. In diesem Sinne zeigen religiös rigide Christ:innen in erhöhtem Maße
antisemitische Einstellungen. Der Zusammenhang einer solchen Auslegung der ei-
genen Religion mit Antisemitismus ist also keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal
von Muslim:innen. Allerdings ist die Stärke dieses Zusammenhangs bei Christ:innen
deutlich geringer als bei Muslim:innen.
Die Ergebnisse der entsprechenden gleichartigen multivariaten Analysen für die
Muslim:innen weisen sowohl Überschneidungen als auch auffällige Differenzen im
Vergleich zu den Resultaten für Christ:innen auf. So steht das Ausmaß des Anti-
semitismus bei beiden Gruppen am stärksten in einem Zusammenhang mit Grad
der Verschwörungsmentalität. Des Weiteren findet sich auch bei Muslim:innen ein
Zusammenhang zwischen einer fundamentalen religiösen Orientierung und antise-
mitischen Einstellungen. Im Gegensatz zu den Christ:innen, bei denen insbesondere
ältere Befragte entsprechende antisemitische Einstellungen zeigten, spielt das Alter
der befragten Muslim:innen für das Ausmaß antisemitischer Einstellungen jedoch
keine Rolle.
Die deutlichste Differenz der Muslim:innen zu den Christ:innen ergibt sich in
Bezug auf die Relevanz von Faktoren der individuellen Religiosität. Es besteht bei
Muslim:innen ein ausgeprägter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß antisemi-
tischer Einstellungen und der Frequenz der kollektiven Religionspraxis also der
Häufigkeit des Besuchs von Moscheen (Gebets- und Gotteshäusern). Gleichzeitig
gibt es, wie auch bei Christ:innen, keine Hinweise auf Zusammenhänge derspirituel-
len Religiosität, der Zentralität der Religion oder der individuellen Religionspraxis
mit Antisemitismus. Somit erweisen sich diese Aspekte der Religiosität in dieser
Hinsicht als unbedenklich.
Ein Blick auf die Prävalenz manifester antisemitischer Einstellungen bei stark
gläubigen Muslim:innen zeigt diese Binnendifferenzen noch mal eindeutig auf. Be-
suchen diese eher selten Moscheen oder Gebetshäuser, liegt der Anteil der manifest
antisemitisch Eingestellten bei 9,6 %, während er bei den regelmäßigen Moschee-
besucher:innen bei 35,6% liegt was einer Erhöhung um mehr als den Faktor drei
entspricht. Ähnliches gilt innerhalb der Gruppe der religiös fundamental eingestell-
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Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland: Befunde aktueller...
ten Muslim:innen. Auch hier ist der Antisemitismus bei regelmäßigen Moschee-
gänger:innen erheblich stärker ausgeprägt als im Falle seltenerer Moscheebesuche.
Auch hier findet sich eine Steigerung um etwa den Faktor 3.
Diese Ergebnisse haben eine Reihe praktisch-politischer Implikationen, die an
bereits seit längerer Zeit geführte Debatten über den Einfluss islamistischer Grup-
pierungen und ausländischer Regierungen auf muslimische Organisationen, Vereine
und Moscheegemeinden in Deutschland anknüpfen. So formulierte Jikeli (2019,
S. 70) vor wenigen Jahren bereits, es sei nicht verwunderlich, in „Moscheen Predi-
ger, Texte und Filme [zu] finden, die Judenhass offen propagieren“, wenn diese von
islamistischen Organisationen wie Millî rü¸s geführt oder durch andere islamisti-
sche Akteur:innen wie Abspaltungen der Muslimbruderschaft oder dem iranischen
Regime beeinflusst werden. Auch der Einfluss der türkischen Regierungspartei AKP
auf den größten deutschen Islamverband DITIB, der der türkischen Religionsbehör-
de Diyanet unterstellt ist, wäre kritisch zu reflektieren.
In diesem Kontext liegt in Bezug auf die vorgelegten Befunde die Annahme nahe,
dass Moscheen in Deutschland in nicht unerheblichem Maße auch zur Verbreitung
antisemitischer Ressentiments genutzt werden. Während die eher individuell ge-
lebten Aspekte der Religiosität Muslim:innen als spirituelle Anknüpfungspunkte
dienen, die zu Moscheebesuchen veranlassen können, kann eine solche Ausübung
der kollektiven Religionspraxis über Predigten und vermehrte unmittelbare Interak-
tionen mit Vertretern eher traditioneller muslimischer Milieus ein potenzielles Ein-
fallstor für die Verbreitung islamistischer und/oder antisemitischer Narrative sein.
Die vorliegenden Daten deuten jedenfalls darauf hin, dass eine politische Instrumen-
talisierung der kollektiven Religionsausübung von Muslim:innen in Deutschland ein
reales Risiko darstellt.
Es ist allerdings einschränkend zu beachten und hervorzuheben, dass die vorlie-
genden multivariaten Analysen auf querschnittlichen Daten beruhen. Von daher ist
die Deutung der vorgestellten Befunde dahin gehend, dass in den Moscheen bzw. bei
kollektiven religiösen Zusammenkünften Prozesse stattfinden, welche die Etablie-
rung antisemitischer Einstellungen verursachen oder begünstigen, nicht eindeutig
möglich. Was aber im Einklang mit diesen Befunden klar festgestellt werden kann
ist, dass antisemitisch eingestellte Muslim:innen gehäuft in Moscheen oder Gottes-
häusern anzutreffen sein werden. Das heißt auch, dass eine wichtige Zielgruppe für
Antisemitismusprävention dort in relevantem Maße zu verorten ist.
Weiter zeigen die Befunde aber auch, dass selbst in der Hochrisikogruppe der
Muslim:innen mit hohen religiösen Bindungen und/oder fundamentalen Orientie-
rungen Binnendifferenzen existieren. Antisemitisch eingestellte Personen machen
dort eine zwar durchaus beachtliche, aber gleichwohl noch als Minderheit zu be-
zeichnende Gruppe aus. Selbst unter den fundamental orientierten Muslim:innen, die
regelmäßig eine Moschee aufsuchen, sind etwa zwei Drittel (66,2%) nicht manifest
antisemitisch eingestellt.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie die zweifellos bestehenden aus-
geprägten religiösen Bindungen und Bedürfnisse der in Deutschland lebenden Mus-
lim:innen adäquat aufgegriffen und ihre Versorgung sichergestellt werden kann,
ohne dass es zu einer gehäuften Entwicklung oder Förderung antisemitischer Ein-
stellungen kommt. Hier scheinen Reformen erforderlich (so auch bereits Fischer
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J. M. K. Fischer, P. Wetzels
und Wetzels 2023, S. 377). Die Bundesregierung hat in dieser Hinsicht bereits
Reformen der Ausbildung deutscher Imame sowie die mittelfristige Beendigung der
Praxis verkündet, dass Imame aus der Türkei entsendet werden (FAZ 2023;ZDF
2023).
Mit Blick auf die Prävention von Antisemitismus wäre es allerdings wichtig, dass
Akteur:innen aus der Praxis nicht nur dazu befähigt werden, mit theologisch-islami-
schen Argumentationsmustern umzugehen, sondern auch räumlich gerade dort aktiv
zu sein, wo die Teilgruppe der Muslim:innen mit einem erhöhten Ausmaß antise-
mitischer Einstellungen vornehmlich anzutreffen ist also an Orten der kollektiven
Religionspraxis, d. h. in den Moscheegemeinden. Weiter ist nicht nur ein kritischer
Blick auf bestehende institutionelle Strukturen und ihre Verbindungen ins islamisti-
sche Spektrum erforderlich, sondern auch ein verstärktes Bemühen, Muslim:innen
alternative Angebote zur Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse zu unterbreiten,
um sie von politisch-islamistischer Einflussnahme auf diesem Wege abzuschirmen.
Naheliegenderweise ist in diesem Sinne u.a. daran zu denken, insbesondere libera-
le Reformbewegungen innerhalb der muslimischen Gemeinde verstärkt zu fördern,
um ihnen eine breitere öffentliche Sichtbarkeit und Diskursteilhabe zu ermöglichen
(Koopmans 2020, S. 253). Insoweit ist nochmals in Erinnerung zu rufen, dass eine
Mehrheit der Muslim:innen mit ausgeprägten individuellen religiösen Bindungen
und Bedürfnissen weder antisemitische noch islamismusaffine Einstellungen teilt
(vgl. Brettfeld et al. 2023).
In diesem Sinne ist auch der Staat gefordert, Verantwortung für die Versorgung
der religiösen Grundbedürfnisse seiner muslimischen Bürger:innen zu übernehmen
und diese vor politischem Missbrauch ihrer Religion und der Ausnutzung religiöser
Bedürfnisse zu schützen. Ein solches Vorhaben sollte in Kooperation mit verläss-
lichen Partner:innen aus muslimischen Gemeinden geschehen und nicht über ihre
Köpfe hinweg. Die aktuelle Lage im Nahostkonflikt und die damit einhergehenden
Polarisierungen in Deutschland sowie auf internationaler Ebene erleichtern solche
Reformansätze sicherlich nicht, machen sie aber umso dringlicher.
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Interessenkonflikt J.M.K. Fischer und P. Wetzels geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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... Die Positionen sind vielfältig: Sie reichen von der Annahme, dass die Feindseligkeit gegenüber ,den Juden' tief in der islamischen Tradition verwurzelt ist (Ourghi 2024), bis zur Auffassung, dass die antizionistische Sozialisation in arabischen Gesellschaften eine größere Rolle spielt als religiöse Einflüsse (Schüler-Springorum 2020). Andere Studien betonen die Bedeutung fundamentalistischer Interpretationen des Islam (Koopmans 2015;Fischer und Wetzels 2024;. Unsere forschungsleitende These ist, dass antisemitische Einstellungen ein gemeinsames Feindbild von Muslim*innen darstellen, die ihre Religion fundamentalistisch auslegen, während die Bedeutung allgemeiner Religiosität überschätzt wird. ...
... Diese Befunde werden durch weitere Studien gestützt, die zeigen, dass eine dogmatische bzw. fundamentalistische Religionsauslegung maßgeblich zur Internalisierung antisemitischer Ressentiments beiträgt (Fischer und Wetzels 2024. Storz und Friedrichs (2023) untersuchen in ihrer Studie die Wechselwirkungen zwischen Herkunft und Religiosität. ...
... Es besteht die Möglichkeit, dass ein nicht zu unterschätzender Anteil der sehr religiösen Muslim*innen auch zu fundamentalistischen Glaubensauslegungen neigen, die in der Studie jedoch nicht erfasst und somit nicht kontrolliert wurden. Dies ist eine erhebliche Lücke im Untersuchungsdesign, da die bloße Religiosität eines Individuums nicht entscheidend für die Internalisierung antisemitischer Einstellungen ist (Fischer und Wetzels 2024;Koopmans 2015;. ...
Article
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In Germany, debates about antisemitism among Muslims are increasingly being framed on distorted premises. The Alternative for Germany, in particular, portrays antisemitism as an ‘imported’ enmity from the Middle East that is deeply rooted in the Islamic religion. This perspective suggests a simple explanation for the origins of antisemitism among Muslims, but one that is heavily disputed in academic research. There is controversy over whether socialization in the Middle East actually plays a decisive role in the formation of antisemitic attitudes. Likewise, it is questioned whether antisemitism is rooted in the Islamic tradition. Instead, many studies emphasize that it is not the Islam in itself, but Islamic fundamentalism that is the decisive driving force behind antisemitism. This article explores these issues on the basis of several population surveys and, in particular, a survey conducted among German Muslims. The analyses reveal that antisemitic attitudes among Muslims—particularly in their more traditional form and in relation to Israel—are more common than in the average of the population at large. Nevertheless, many of the current assumptions about the causes of antisemitism fail to adequately explain the variations within the Muslim community. The results indicate that the affinity for antisemitic attitudes does not vary significantly between Muslims of different origins. Nor is individual religiosity of Muslims a significant predictor of antisemitic attitudes. Rather, a fundamentalist interpretation of religion emerges a crucial driver. Moreover, a moderation analysis demonstrates that antisemitism represents a transnational hostility amongst fundamentalist Muslims. This impact of religious fundamentalism remains robust when compared to alternative explanations.
... In seinem Zentrum steht eine Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf die Verbrechen der NS-Zeit -insbesondere die Shoah -die als selbst verschuldet dargestellt bzw. in ihren Ausmaßen relativiert oder bagatellisiert werden. Dazu gehören auch Versuche, die heutige Erinnerungskultur an NS-Zeit und Holocaust als Machtinstrument ›manipulativer Eliten‹ zu diskreditieren (Benz, 2016;Öztürk & Pickel, 2022 (Fischer & Wetzels, 2024). ...
... So geht eine fundamentalistisch geprägte religiöse Orientierung mit deutlich erhöhten Raten antisemitischer Einstellungen einher (Öztürk & Pickel, 2022;Hinz et al. 2024). Des Weiteren steht bei erwachsenen Muslim:innen in Deutschland die Intensität der kollektiven Religionspraxis (Frequenz des Besuchs einer Moschee) in Zusammenhang mit vermehrten antisemitischen Einstellungen (Fischer & Wetzels, 2024). ...
... Die Zugehörigkeit zur ersten Migrationsgeneration erhöht in diesem multivariaten Modell die Rate des Antisemitismus gegenüber der zweiten Migrationsgeneration als Referenzgruppe mit 22.7 Prozentpunkten. & Pickel, 2022;Fischer & Wetzels, 2024). Auffällig und für junge Muslim:innen hier erstmals gezeigt, ist der massive Effekt der Migrationsgeneration. Die ganz deutlich erhöhte Rate antisemitischer Einstellungen in der ersten Generation junger muslimischer Migrant:innen bleibt auch nach multivariater Kontrolle nachweisbar. ...
Article
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Zusammenfassung Es werden Ergebnisse einer von März bis Mai 2022 durchgeführten Online-Befragung einer bundesweit repräsentativen Einwohnermeldeamtsstichprobe von N = 3.270 jungen Menschen im Alter von 16 bis 21 Jahren zur Verbreitung und sozialen Verteilung klassischer Formen antisemitischer Einstellungen unter Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland vorgestellt. 2.1 % der jungen Personen sind danach offen für antisemitische Ressentiments und weitere 2.0 % lassen eindeutig antisemitische Einstellungen erkennen. Damit sind die Prävalenzraten antisemitischer Einstellungen in Bezug auf die Gesamtpopulation der jungen Menschen nur etwa halb so hoch wie dies bei Erwachsenen in demselben Jahr mit den gleichen Messinstrumenten festgestellt werden konnte. Es sind allerdings erhebliche Differenzen für nach Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit bestimmte Teilgruppen zu erkennen. Personen mit Migrationshintergrund weisen signifikant erhöhte Raten antisemitischer Einstellungen auf. Besonders stark ausgeprägt ist das bei jungen Muslim:innen. Multivariate Analysen zeigen weiter, dass die hohe Verbreitung antisemitischer Ressentiments bei jungen Muslim:innen nicht auf deren ebenfalls nachweisbar erhöhten Belastungen durch individuelle Diskriminierungserfahrungen oder die Wahrnehmung einer kollektiven Marginalisierung ihrer Eigengruppe zurückzuführen ist. Wichtige Einflussfaktoren sind, neben geringer Bildung, vor allem eine Neigung zum Verschwörungsglauben sowie eine rigide, fundamentalistische Religionsauffassung. Eine hohe individuelle Religiosität und Gläubigkeit sind hingegen multivariat nicht bedeutsam. Auffallend ist die ganz erhebliche Überrepräsentation von Muslim:innen der ersten Migrantengeneration unter den antisemitisch eingestellten jungen Menschen. Die vorgelegten Befunde haben politische wie auch praktische Implikationen für die Antisemitismusprävention. Sie zeigen, dass die zu erreichende Zielgruppe für Antisemitismusprävention unter jungen Menschen zu erheblichen Teilen aus neu zugewanderten muslimischen Migrant:innen besteht.