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WISSENSSPEICHER: Entwicklungen und Ergebnisse in der wissenschaftlichen Begleitung des Programms BERLIN HAT TALENT von 2011 bis 2022

Authors:
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Abstract

Von 2011 bis 2021/22 wurden in Berlin rund 76.000 Drittklässlerinnen und Drittklässler bezüglich ihrer motorischen Fähigkeiten untersucht und zu ihrem soziökonomischen Umfeld befragt. Die bei der wissenschaftlichen Begleitung dieser Untersuchungen entwickelten Vorgehensweisen und die dabei erreichten Ergebnisse, Erkenntnisse und Empfehlungen wurde nun in einem WISSENSSPEICHER umfassend festgehalten. Neben der Diskussion innovativer Analyseverfahren (insbesondere auch von FUZZY-Vorgehensweisen) und wichtiger Untersuchungsaspekte im (Quasi-)Längsschnitt über diese 11 Jahre werden insbesondere auch - Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die motorische und gesundheitliche Entwicklung der Berliner Kinder unter besonderer Berücksichtigung der - für jede einzelne der 290 einbezogenen Schulen - (schulscharf) gemessenen sozioökonomischen Beanspruchungen diskutiert sowie - Vorgehensweisen und Ergebnisse vorgestellt, durch die eine valide Verteilung der sportlich besten sowie der bewegungs- und gesundheitlich am stärksten gefährdeten Kinder eines Jahrgangs auf jede der 290 Schulen (schulscharf) ermittelt werden kann.
1
VORABDRUCK
W I S S E N S S P E I C H E R
Entwicklungen und Ergebnisse in der wissenschaftlichen
Begleitung des Programms BERLIN HAT TALENT
von 2011 bis 2022
T E I L 1: BERLIN HAT TALENT
Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung durch die DHGS von Beginn
der Untersuchungen 2011 bis 2022
Jeder hat die Chance, seine motorische
Begabung zu zeigen und Defizite zu erkennen
- Ist-Stand 2023 in Berlin
T E I L 2: TALENTSCREENING IM PROGRAMM BERLIN HAT TALENT
ein Plädoyer für eine verbesserte Balance bei der Kombination quantitativer
Motorik-Daten mit qualitativem Trainerwissen
Zur Methodologie der Anwendung
multiattributiver FUZZY-Analysen
- Ist-Stand 2023 in Berlin
T E I L 3: ENTWICKLUNGSSCHRITTE IM PROGRAMM BERLIN HAT TALENT -
Anschluss- und Begleitprojekte
- im Zeitraum von 2011 bis 2022
HERAUSGEBER: J. Zinner, F. Kainz, D. Lange & C. Werner
Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport
Letzte Bearbeitung: 12.12.2023, Berlin
2
Vorbemerkung
BERLIN HAT TALENT ist ein für die Sportmetropole Berlin sehr bedeutsames
sportpolitisches Projekt. Idee und Ziel des 2011 gestarteten Programms sind,
eine Offensive für Bewegung und Sport in der Stadt zu etablieren und
entwicklungsfördernde Sport- und Bewegungsangebot zu schaffen. Zu diesem
Zweck wird jährlich die physische Fitness von Drittklässlerinnen und
Drittklässlern Berlins mit Hilfe des Deutschen Motorik-Tests (DMT) untersucht.
Jeder Schüler erhält das von ihm erreichte Ergebnis, jede Schule eine
kommentierte Übersicht zu ihren Schülern. In jährlichen Arbeitsberichten
werden die Ergebnisse diskutiert und verallgemeinert, der Einfluss von
Risikofaktoren für die Fitness und die kindliche Entwicklung abgeschätzt sowie
Handlungsempfehlungen zu gesellschaftlich relevanten Inhalten gegeben.
Schüler, die weit über bzw. weit unter dem (Fitness-)Durchschnitt liegen,
werden eingeladen, sechs bzw. zwölf Monate kostenfrei an wöchentlichen
Übungseinheiten in Talentsichtungs- bzw. Bewegungsfördergruppen
teilzunehmen, andere erhalten einen Gutschein zur kostenlosen Teilnahme an
einem 3-monatigen Probetraining in einem Berliner Sportverein.
Seit dem Start des Programms ist das Institut für Leistungssport und
Trainerbildung der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport für die
wissenschaftliche Begleitung zuständig.
In dem vorliegenden Wissensspeicher, der aus drei in sich abgeschlossenen
Teilen zusammengestellt wurde, werden die tragende Ideen, prinzipielle
Vorgehensweisen, innovative Entwicklungen und bedeutsame Ergebnisse und
Erkenntnisse dieser über elf Jahre währenden Begleitung dokumentiert. Dabei
mussten schon aus Umfangsgründen oft nur exemplarische Darstellungen
genügen, Abstriche bei der Ausführlichkeit und Verständlichkeit der Details
hingenommen sowie Brüche und Auslassungen im ganzheitlichen Prozess
zugelassen werden. Für eine tiefgründigere Einarbeitung potenzieller Analysten
sei deshalb auf die angegebene Literatur verwiesen.
Im Teil 1 konzentrieren wir uns dabei auf die inhaltliche Seite von BERLIN HAT
TALENT insgesamt und diskutieren Veränderungen in den sportmotorischen
Testergebnissen der untersuchten Jahrgangskohorten, Idenkaons- und
Fördermöglichkeiten für sportlich besonders talenerte bzw. auch gefährdete
Kinder, Konsequenzen für die Qualität des allgemeinen Sporreibens sowie
den Einuss von biologischen und sozioökonomischen Gegebenheiten bis hin zu
deren Überlagerung mit Auswirkungen der Covid-19 Pandemie u. a..
Im Teile 2 werden - ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zur
Notwendigkeit einer besseren Balance von quantitativen Motorikdaten und
3
qualitativen Theorien wissenschaftlich orientierter Sportpraktiker bei der
Interpretation von sportmotorischen Testprofilen - insbesondere die
wissenschaftlich-methodologischen Schritte des Einsatzes von
multiattributiven FUZZY-Vorgehensweisen erläutert und die dabei erreichbaren
Ergebnisse am Beispiel des Talentscreenings begründet, abgeleitet und auch
mathematisch unterlegt.
Teil 3 nimmt die in den Teilen I und II diskutierten Vorgehensweisen und
Resultate auf und stellt den im Laufe der Jahre durch aktiven Wissenstransfer
bei der Begleitung von BERLIN HAT TALENT erreichten Beitrag innerhalb des
Verbunds mit weiteren ähnlich gearteten sportwissenschaftlichen und
sportpraktischen Projekten sowohl in Berlin als auch bundesweit vor.
Der innovative Charakter der wissenschaftlichen Arbeit wird geprägt durch
1. Überprüfung der Konstruktvalidität des Deutschen Motorik-Tests und die
Ableitung eines statistisch validen Summenwertes, der sich semantisch
als Gesamtfitness belegen lässt,
2. Entwicklung und sukzessive wiederkehrende Evaluierung von
(fünfstufigen) Berliner Normkategorien zur vergleichenden Einordnung
von Testergebnissen innerhalb der Vergleichsgruppe „Berlin“,
3. Entwicklung und sukzessive wiederkehrende Evaluierung von (100-
stufigen) Berliner Normperzentilen, auf deren Basis eine gegenüber den
Normkategorien verbesserte Individualisierung bei der Einordnung von
Testergebnissen in die Vergleichsgruppe „Berlin“ erreicht werden kann,
4. Entwicklung von Vorgehensweisen zum bundesweiten Vergleich Berliner
Testergebnisse auf der Basis der in Deutschland gültigen
Referenzperzentile der MoMo-Studie,
5. Die Ableitung eines Narrativs aus neuesten Erkenntnissen der
Quantenphysik zur Zweckmäßigkeit einer Erweiterung klassischer
Statistikverfahren durch ein verstärktes Einbeziehen qualitativen
Expertenwissens und die Begründung einer dafür geeigneten FUZZY-
Vorgehensweise,
6. Entwicklung bzw. Zusammenführung verschiedenartiger
multiattributiver unscharfer Entscheidungsmodelle bei einer
benutzerfreundlichen Einbindung unterschiedlicher Informationen von
Experten und Erstellung des (FUZZY-) Softwarepakets (MAOE),
7. Entwicklung von Vorgehensweisen zur Identifizierung von besonders
sportlich begabten bzw. körperlich gefährdeten Schülerinnen und
Schülern und deren schulscharfe Zuordnung auf der Basis
4
multiattributiver FUZZY-Rangfolgen (dargestellt am BEST-PRACTICE-
BEISPIEL: Förder- bzw. Talentschwerpunkte 2022),
8. Analysen und Handlungsempfehlungen über besorgniserregende
Verkettungseffekte von Risikofaktoren für eine gute kindliche
Entwicklung bei besonderer Berücksichtigung der schulscharf
gemessenen sozio-strukturellen Belastung von 290 Berliner Schulen
(dargestellt am BEST PRACTICE-BEISPIEL 2022: Effekte der Covid 19
Lockdowns auf Berliner Kinder),
9. Analysen und Handlungsempfehlungen aus Befragungen zum
soziodemographischen Umfeld von untersuchten Schülerinnen und
Schülern (dargestellt am BEST-PRACTICE-BEISPIEL 2022: Zur Modifikation
der Bundesjugendspiele).
10. Die in diesem Bericht verwendeten anonymisierten und ausgewerteten
motorischen Daten sind im Bestand des Forschungs-Repositoriums
(MO|RE data) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und damit
für die Motorik-Forschung zugänglich.
Hervorzuheben ist eine in den Untersuchungsjahren realisierte Kopplung dieser
diagnostischen Arbeiten mit der Ableitung von praxisorientierten
Handlungsempfehlungen zu vielfältigen gesellschaftlichen Inhalten sowie eine
parallele Entwicklung gezielter Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen von
Erfahrungsträgern zur allgemeinen Bewegungsförderung (so beispielsweise
Interventionsprogramme für die Arbeit in den verschiedenen Fördergruppen,
Entwicklungen von Curricula für Bewegungs- bzw. Talentcoaches sowie die
Entwicklung und Realisierung eines Bachelor-Studienganges „Soziale Arbeit und
Sport“ an der DHGS u. a.
Mit dem IST-Stand von BERLIN HAT TALENT im Jahr 2022 gelingt es - neben
einer inspirierenden Ausstrahlung auf die Qualität des Schulsports generell -
sowohl die Talentfindung und -förderung in der Sportmetropole Berlin als auch
eine gute kindliche Entwicklung besonders gefährdeter Kinder in der
Gesundheitsstadt Berlin auf eine ganz neue, bundesweit beispielhafte Weise zu
gestalten.
Mit dem Schuljahr 2021/22 gibt die DHGS die wissenschaftliche Begleitung für
das Programm BERLIN HAT TALENT ab.
Unser Dank für eine langjährige angenehme Zusammenarbeit gilt den
Initiatoren und Förderern des Programms: dem Berliner Senat, dem
Landessportbund Berlin sowie der Berliner Sparkasse und der AOK. Besonders
5
bedanken wir uns bei Senator a. D. Klaus Böger, Dr. Thomas Poller und Frank
Schlizio für die andauernde, inspirierende und unterstützende Mitwirkung an
praktisch allen Entwicklungsschritten in diesen Jahren.
Für die wissenschaftlichen Ergebnisse in den zurückliegenden Jahren war die
Mitwirkung des - vom Institut für Leistungssport und Trainerbildung der DHGS -
initiierten - (informellen) Forschungsverbunds von Wissenschaftlern aus
Münster, Oldenburg, Karlsruhe, Leipzig und Limbach unverzichtbar. Kern dieses
Verbunds waren Prof. Dr. Dirk Büsch, Prof. Dr. Till Utesch, Prof. Dr. Jürgen Krug
und Prof. Dr. Jochen Ester sowie Prof. Dr. Klaus Bös und Dr. Claudia Niessner
vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), die uns in den letzten Jahren
wirksam unterstützt haben.
Ein sehr herzlicher Dank gilt der Unterstützung durch die Hochschule,
insbesondere Prof. Dr. Dr. Christian Werner, Prof. Dr. Florian Kainz und Prof. Dr.
Michael Binninger sowie den Mitarbeitern des Instituts für Leistungssport und
Trainerbildung, insbesondere Dr. Daniel Lange, Christopher Bortel und Dr.
Winfried Heinicke.
Die Herausgeber
Prof. Dr. Jochen Zinner, Prof. Dr. Florian Kainz,
Dr. Daniel Lange, Prof. Dr. Dr. Cristian Werner
6
7
T E I L: 1
BERLIN HAT TALENT
Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung durch die
DHGS von Beginn der Untersuchungen 2011 bis 2022
IST-Stand zum Schuljahresende 2021/22
Jeder hat die Chance, seine
motorische Begabung zu zeigen und
Defizite zu erkennen.
Zinner1), J., Büsch2), D., Utesch3), T., Krug4), J., Ester5), J., C., Bortel1),
C., Lange1), D., Heinicke1), W., Kainz6), F. & Werner1), C.
1)Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport Berlin
2)Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
3)Westfälische Wilhelms-Universität Münster
4)Universität Leipzig
5)Limbach-Oberfrohna
6)Hochschule für angewandtes Management Ismaning
8
Inhaltsverzeichnis:
Einführung
1. Darstellung der Untersuchungsergebnisse von 2022 im Spiegel der Jahre seit 2012
und im Vergleich zu berlin- und bundesweiten Referenzdaten
1.1 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahresvergleich in
der Ebene der Rohdaten
1.2 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahresvergleich in
der Ebene der BERLINER NORMKATEGORIEN
1.3 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahresvergleich in
der Ebene der BERLINER NORMPERZENTILE (Welle 1)
1.4 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahresvergleich in
der Ebene der bundesweit gültigen MoMo-Studie
1.5 Entwicklung weiterer wichtiger Parameter zur körperlichen Gesundheit
2. Zur Identifikation der Kinder mit einzelnen motorischen Defiziten und zu
Risikofaktoren für eine gute gesundheitliche Entwicklung
2.1 Zum Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf die körperliche Fitness
2.2 Zum Einfluss der Sportvereinszugehörigkeit auf die körperliche Fitness
2.3 Zum Einfluss der sozioökonomischen Bedingungen auf die körperliche
Fitness der Kinder
2.3.1. Zur Abhängigkeit der Fitness und des BMI von der schulscharf
gemessenen soziostrukturellen Belastung der Schulen
2.3.2 Zur Verkettung der Risikofaktoren Fitness, Übergewicht, sozioöko-
nomische Bedingungen und Vereinszugehörigkeit während der Covid-19
Lockdowns
3. Zur Identifikation motorisch begabter Drittklässlerinnen und Drittklässler –
Talentscreening
3.1 Talentscreening auf der Basis der der BERLINER NORMKATEGORIEN
3.2 Talentscreening auf der Basis von multiattributiven FUZZY-Analysen
3.3 Zum Vergleich der Talentidentifikation auf Ebene der Normkategorien und auf
der Basis der multiattributiven unscharfen FUZZY-Vorgehensweise – zu einer
gelingenden Differenzierung in der Gruppe der „Besten
4. Fazit
9
Literatur
Anhang
Anhang 1: Bundesjugendspiele werden reformiert: Spaß statt Wettkampf
Anhang 2: CORONA, SOZIALES UMFELD, ÜBERGEWICHT UND SPORT
(Ausgewählte Ergebnisse und Empfehlungen aus dem DFG-Forschungsprojekt
PESCov für Berlin)
Anhang 3: BERLIN HAT TALENT 2011-2022 – Entwicklungsschritte, Umfeldprojekte
10
Einführung
Die in den Jahren um 2008/9 spürbaren Anstrengungen des Berliner
Schulsenats zur Verbesserung der Qualität des Schulsports, die Unzufriedenheit
des Landessportbundes über zu viele weiße Flecken“ in der Sportmetropole
Berlin, wo zu wenige Kinder die Möglichkeit haben, ihr Talent zu zeigen und die
Sorge des Olympiastützpunktes, die Spitzenposition im deutschen
Leistungssport zu verlieren, wurden in dieser Zeit an einem runden Tisch
Spitzen- und Leistungssport beim Staatsekretär Sport des Berliner Senats
zusammengeführt und waren der Ausgangspunkt für das Programm BERLIN
HAT TALENT.
Seit dem Schuljahr 2011/12 wird nun regelmäßig in den dritten Klassen Berlins
der Deutsche Motorik-Test (Bös et al., 2016) durchgeführt und es werden -
zweigleisig – sowohl Talentsichtungsgruppen als auch Bewegungsförder-
gruppen gebildet und deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeweils spezifisch
gefördert. Darüber hinaus waren die Vorbereitung und Durchführung einer
Vielzahl von Talentiaden im Rahmen von BERLIN HAT TALENT in den Bezirken
Berlins eine spürbare Inspiration für den Sportunterricht in den Schulen, die
Lehrkräfte, die Angehörigen und viele weitere Personen im Umfeld.
Insgesamt wurden bis zum Schuljahr 2021/22 75.948 Drittklässlerinnen und
Drittklässler untersucht (Tabelle 1).
Tab. 1: Untersuchungsstatistik
Geschlecht
Gesamt
Weiblich.
Männlich
1131
1226
2357
1372
1363
2735
1531
1629
3160
2490
2691
5181
3511
3622
7133
2977
3101
6078
3650
3723
7373
4227
4393
8620
5096
5386
10482
3246
3361
6607
7876
8346
16222
Gesamt
37107
38841
75948
11
Ausgangspunkt für den vorliegenden Bericht sind die wissenschaftlichen
Analysen und Ergebnisse aus den zurückliegenden 11 Jahren – inklusive die
des Untersuchungsjahres 2022 (Schuljahr 2021/22), in dem 16.222 Kinder der
3. Klasse (7.876 Mädchen und 8346 Jungen)
1
aus insgesamt 290 Schulen Berlins
an den Tests teilnahmen. Im vorliegenden Bericht wird eine Erläuterung und
Darstellung von prinzipiellen Vorgehensweisen, Entwicklungen und
bedeutsamen Ergebnissen in den zurückliegenden Jahren vorgenommen und
vertiefend am Beispiel von Untersuchungsergebnissen aus dem Jahr 2022
dokumentiert und diskutiert.
Auf diese Weise bildet der Bericht den IST-Stand in der wissenschaftlichen
Bearbeitung des Programms BERLIN HAT TALENT durch die DHGS nach dem
Schuljahr 2021/22 ab.
Die Verbindung der Analyse des Schuljahres 2022 mit einer (Quasi-)
Längsschnittanalyse über die bisher untersuchten Kohorten seit 2012 erscheint
uns auch deshalb sinnvoll und notwendig, weil viele der innerhalb eines Jahres
auftauchenden Fragestellungen nur dann tiefgründig bearbeitet werden
können, wenn die in der langfristigen Dynamik der Parameter enthaltenen
Informationen berücksichtigt werden. So war beispielsweise die Diskussion zu
den Effekten der Covid-19 Pandemie (siehe Kapitel 2.3) nur durch einen
Vergleich mit der Entwicklung relevanter Parameter (nach Ausschluss von
säkularen Trends…) in den coronafreien Jahren möglich.
Die in der Zeit seit 2011/12 schrittweise entwickelten Methodiken und
Vorgehensweisen und die dabei erreichten Ergebnisse werden im Bericht so
dokumentiert, dass sie insbesondere einerseits den heutigen Stand der
geschaffenen Möglichkeiten zur individuellen Identifikation motorischer
Defizite (Kapitel 2) bzw. auch motorischer Begabungen (Kapitel 3) im Projekt
BERLIN HAT TALENT verdeutlichen und andererseits künftig weiter umgesetzt
und ausgebaut werden können. Die Identifikation von motorischen Defiziten
haben wir dabei damit verbunden, Einflüsse und Wirkungen von Risikofaktoren
auf eine gute motorische und gesundheitliche Entwicklung zu diskutieren und
zu quantifizieren; bei der Identifikation von Talenten wollen wir insbesondere
zeigen, wie es durch eine Kopplung der quantitativen motorischen Daten mit
1
Auf Initiative des Senats und des Landessportbunds Berlin wird BERLIN HAT TALENT seit dem Schuljahr
2020/21 durch eine inklusive Komponente der DMT-Untersuchungen ergänzt. Seit dieser Zeit nahmen 215
Kinder mit Handicaps aus den Berliner Regelschulen (44 im Schuljahr 2020 und 171 im Schuljahr 2021) an
diesen Untersuchungen teil. Für die Sicherung einer größtmöglichen Durchführbarkeit für alle Schülerinnen und
Schüler mit Handicaps wurden - wo notwendig Originaltests im Testprofil des DMT durch entsprechende
Äquivalenztests ersetzt (Jahresbericht 2020/21).
12
qualitativem Trainerwissen gelingen kann, vor allem auch noch in der Gruppe
der Besten (und wenn gewollt auch noch in der Gruppe der weniger Guten…)
Leistungsunterschiede zu erkennen.
Um den Umfang des Berichts nicht zu sprengen, werden methodologische
Verfahren und Vorgehensweisen, auch Tabellen und Abbildungen meist nur
grob erläutert. Zum tiefgründigeren Verständnis ist eine Beschäftigung mit
unseren ausführlichen Veröffentlichungen in Forschungsberichten, in
Zeitschriften wie German Journal of Exercise and Sport Research, Informatik-
Spektrum oder der Zeitschrift Leistungssport, sowie in Vorträgen zu
verschiedenen nationalen und internationalen Symposien unter dem Bezug
„BERLIN HAT TALENT“ zu empfehlen (siehe Literatur).
Den Besonderheiten des Schuljahres 2022, dass nämlich erstmals diese
Untersuchungen flächendeckend in allen Berliner Bezirken durchgeführt
worden sind und dass sich nach 2020 und 2021 nun zum Ende des
Berichtsjahres 2022 der Charakter der Covid-19 Pandemie grundlegend
geändert hat, wird durch spezifische Analysen zu den bisherigen Auswirkungen
dieser Pandemie auf die motorische und gesundheitliche Entwicklung der
Berliner Kinder insbesondere in Abschnitt 2.3 Rechnung getragen und stellt
einen besonders innovativen Teil des Berichts dar.
1. Darstellung der Untersuchungsergebnisse von 2022 im Spiegel
der Jahre seit 2012 und im Vergleich zu berlin- und
bundesweiten Referenzdaten
Nachfolgend werden die Untersuchungsergebnisse des Jahres 2022 (Schuljahr
2021/22) zunächst im direkten Vergleich innerhalb der Jahrgangskohorte sowie
im (Quasi-)Längsschnitt aller zurückliegenden Jahrgangskohorten in der Ebene
der Rohdaten (Abschnitt 1.1) dargestellt, es folgt der indirekte Vergleich mit
verschiedenen Referenzstichproben: den (5-stufigen) BERLINER
NORMKATEGORIEN (Abschnitt 1.2), den (100-stufigen) BERLINER
NORMPERZENTILEN (Abschnitt 1.3) und den bundesweit verwendeten
Referenzperzentilen der MOMO-STUDIE (Abschnitt 1.4). Die Einordnung der
Berliner Testergebnisse in diese verschiedenartig aggregierten
Referenzengruppen erlaubt, über die Interpretation der individuellen
Testergebnisse in unterschiedlicher Differenziertheit und aus verschiedenartiger
(bundes- bzw. berlinweiter) Sicht hinaus, den Zusammenhang motorischer
Leistungen mit weiteren, z. B. gesundheitlichen und sozialen Gegebenheiten
13
herzustellen. Dabei wollen wir hier – und an gegebenen Stellen in den weiteren
Abschnitten des Beitrags – immer wieder auch einen Zusammenhang zu den
gemessenen (vertrauten…) Rohwerten herstellen, um ein Gefühl für die
verrechneten Größen zu erhalten und nicht nur auf Meta-Ebenen mit
Übungsleitern, Sportlehrern oder Trainern kommunizieren zu müssen.
1.1. Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-
Jahresvergleich in der Ebene der Rohdaten
Tabelle 2 zeigt den Vergleich der Übersichten über die Mittelwerte im DMT
sowie in weiteren wichtigen Parametern des Jahres 2022 (n= 16.222)
gegenüber dem 10-Jahres-Zeitraum von 2012 bis 2021 (n=59.726).
Tab. 2: Vergleich der Mittelwerte von 2022 mit den Mittelwerten des 10-Jahres-Zeitraums
von 2012 bis 2021
Mittelwert-Übersicht 2022
KH
KG
a20m
Bal
SHH
RB
LS
SU
SW
a6min
Fit MoMo
Fit BLN.
n=7876
MW W
1,36
32,36
4,66
33,1
29,0
2,2
13,1
17,2
121,0
821,6
50,24
48,72
n=8346
MW M.
1,37
33,08
4,45
30,1
29,5
-1,0
13,1
18,2
130,7
882,5
54,59
49,71
Mittelwert-Übersicht 2012 bis 2021
KH
KG
a20m
Bal
SHH
RB
LS
SU
SW
a6min
Fit MoMo
Fit
BLN.
n=29231
MW W
1,34
31,61
4,62
33,8
27,4
2,5
12,9
16,8
121,4
839,4
50,69
48,78
n=30495
MW M
1,36
32,34
4,43
30,9
27,8
-1,1
12,8
18,0
130,3
896,7
54,24
48,97
Legende: Körperhöhe (KH), Körpergewicht (KG), 20m-Test (a20m), Balancieren rückwärts (Bal),
Seitliches Hin- und Herspringen innerhalb von 15 Sekunden (SHH), Rumpfbeuge (RB), Liegestütze
innerhalb von 40 Sekunden (LS), Situps innerhalb von 40 Sekunden (SU), Standweitsprung (SW), 6-
Minuten-Lauf (a6min), Einordung der Berliner Testwerte in die Momo-Perzentile (Fit MoMo),
Einordung des Berliner Testwerte in die Berliner Normperzentile (Fit Bln).
In den folgenden Abbildungen 1 bis 8 ist der Verlauf der einzelnen DMT-
Parameter (Rohwerte) im 11-Jahres-Zeitraum von 2012 bis 2022 dargestellt.
Die Ergebnisse der Jungen übertreffen – bis auf Balancieren rückwärts und
Rumpfbeugen – die Ergebnisse der Mädchen in jedem Jahr. Man erkennt
sowohl Testparameter des DMT, die über die 11 Jahre tendenziell eine positive
14
Leistungsentwicklung zeigen (Liegestütze, Seitliches Hin- und Herspringen), als
auch solche, bei denen die Leistung tendenziell stagniert (Standweitsprung)
oder sogar zurückgeht (6-Minuten-Lauf, Balancieren rückwärts).
Abb. 1: Parameter 6-Minuten-Lauf, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
Abb. 2: Parameter Liegestütze, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
2858,6 802,5 841,1 833,4 876,1 850,8 832,9 833,5 823,4 842,3 821,6
3924,9 856,1 905,5 908,0 943,1 906,2 892,8 868,2 880,2 899,1 882,4
700
750
800
850
900
950
1.000
Mittelwert 6-Min
UJahr
Testleistungen 6-Minuten-Lauf
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
211,2 11,4 12,5 12,7 12,2 12,6 12,8 14,1 13,5 12,8 13,1
311,3 11,7 12,2 12,5 12,4 12,6 12,8 13,7 13,5 12,7 13,1
11
12
12
13
13
14
14
15
15
Mittelwert LS
UJahr
Testleistung Liegestütze
15
Abb. 3: Parameter Balancieren rückwärts, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
Abb. 4: Parameter Rumpfbeugen, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
236,4 34,2 35,3 34,6 34,7 34,0 33,4 34,3 32,5 32,4 33,1
333,3 31,2 31,9 31,4 32,4 31,4 30,5 30,8 29,9 29,6 30,1
25
27
29
31
33
35
37
Mittelwert Bal
UJahr
Testleistung Balancieren rückwärts
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
20,57 1,55 2,36 2,09 2,70 2,98 2,24 3,18 2,95 1,83 2,22
3-2,72 -0,35 -1,55 -1,32 -0,89 -0,87 -1,21 -1,03 -1,09 -1,28 -0,96
-4,0
-3,0
-2,0
-1,0
0,0
1,0
2,0
3,0
4,0
Mittelwert RB
UJahr
Testleistung Rumpfbeugen
16
Abb. 5: Parameter Seitliches Hin- und Herspringen, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
Abb. 6: Parameter Sit ups, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
225,4 27,2 26,8 27,0 27,5 27,6 27,2 28,5 27,9 26,9 29,0
325,2 27,0 26,7 27,2 28,3 28,0 27,8 28,7 28,4 27,6 29,5
25
26
26
27
27
28
28
29
29
30
30
Mittelwert SHH
UJahr
Testleistung Seitliches Hin- und Herspringen
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
217,5 16,4 17,2 17,3 16,5 16,5 16,3 17,0 16,6 17,1 17,2
318,7 18,2 18,2 18,5 17,6 18,0 17,6 17,6 18,2 18,3 18,2
16,0
16,5
17,0
17,5
18,0
18,5
19,0
Mittelwert SU
UJahr
Testleistung Sit ups
17
Abb. 7: Parameter 20m-Sprint, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
Abb. 8: Parameter Standweitsprung, n=75.948 (2-weiblich, 3-männlich)
Hinweis: Trotz einer extrem sorgfältigen Datenerhebung durch eine
professionelle Firma mit über alle 11 Jahre quasi gleichbleibenden
Testverantwortlichen, beobachtet man über die Jahre - neben erklärbaren
Schwankungen in den erfassten Daten (beispielsweise verursacht durch eine
(jährlich) veränderte Auswahl von einbezogenen Berliner Bezirken) –
offenbar auch solche Daten, die eventuell auf Erfassungsdefizite
(beispielsweise Genauigkeit bei zählbaren Parametern, Schwierigkeiten bei
der Testdurchführung durch unterschiedliche Orts- und Testbedingungen)
zurückzuführen sein könnten.
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
24,54 4,57 4,58 4,56 4,65 4,62 4,62 4,55 4,64 4,73 4,66
34,37 4,39 4,41 4,39 4,45 4,43 4,43 4,38 4,45 4,55 4,45
4,30
4,35
4,40
4,45
4,50
4,55
4,60
4,65
4,70
4,75
4,80
Mittelwert 20-m
UJahr
Testleistung 20m-Sprint
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
2122,7 117,0 121,7 121,6 121,8 120,1 121,2 123,2 121,8 120,2 121,0
3130,9 127,3 129,2 131,1 131,4 129,2 130,5 131,4 130,9 128,5 130,7
115,0
117,0
119,0
121,0
123,0
125,0
127,0
129,0
131,0
133,0
Mittelwert SW
UJahr
Testleistung Standweitsprung
18
EINSCHUB:
So ist – doch ein wenig überraschend - beispielsweise auch zu
berücksichtigen, dass „unsere“ 7-jährigen Drittklässler eben keine
„normalen“ 7-jährigen sind, sondern eventuell früher eingeschult wurden,
weil sie schon damals den Gleichaltrigen „irgendwie voraus“ waren.
Dieser eventuelle „Klassen-Bias“ wird erkennbar beim Vergleich der
Perzentilverläufe vor allem der 7- bzw. 10-jährigen Berliner Kinder in den
dritten Klassen unserer Untersuchungen mit denen gleichaltriger
deutscher Kinder in den bundesweit gültigen MoMo-Untersuchungen
(Abbildung E1).
Abbildung E1: links: Perzentile für Mädchen der dritten Klassen Berlins
im Alter von 7-10 Jahren im Zeitraum von 2011 bis 2021 am Beispiel „6-
Minuten-Lauf“ (n=29.149); rechts: MoMo-Perzentile für Mädchen im
Alter von 7-10 Jahren (Bös et al. (2016)).
Dass selbst bei außergewöhnlicher Sorgfalt der Datenerhebung offenbar
weitere ergebnisbeeinflussende Unregelmäßigkeiten auftreten können,
verdeutlicht die außerordentlich hohen Anforderungen, die man an die
Datenqualität von Datenbasen - die aus verschiedenen, heterogenen
Stichproben bestehen und zum Vergleich mit den eigenen Daten verwendet
werden sollen - zu stellen und zu sichern hat (siehe Abschnitt 3). Es ist
diesbezüglich ein Gewinn, dass mit den in diesem Bericht verwendeten
anonymisierten und ausgewerteten motorischen Daten das Forschungs-
Repositorium (MO|RE data) künftig qualitativ und quantitative gestärkt wird
und dass damit sowohl die Analysen im Rahmen von BERLIN HAT TALENT als
auch die Motorik-Forschung insgesamt profitieren werden (Zinner et al. 2023).
19
1.2 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahres-
vergleich in der Ebene der BERLINER NORMKATEGORIEN
Die BERLINER NORMKATEGORIEN für jeden der DMT-Parameter wurden
2014/15 im Rahmen von BERLIN HAT TALENT von uns entwickelt, veröffentlicht
und nach festen zeitlichen Vorgaben aktualisiert. Dabei erfolgte für jeden
Testparameter des DMT eine Prozentrangnormierung nach
Flächentransformation und Überführung in Standardnoten 1-5. In deren Folge
wurden die Referenzkategorien so gebildet, dass in den Randgruppen 1 und 5
jeweils 2,35% der Kinder sind, in den Gruppen 2 und 4 jeweils 13,5% und in
Gruppe 3 68% der Kinder.
Nach Prüfung mittels ordinaler Rasch-Tabellen, ob säkulare Veränderung in den
Jahreskohorten zu einer Verzerrung im latenten Konstrukt führen und ob in
den Zeiträumen ein stabiles Leistungsniveau (zufällige, nicht systematische
Veränderungen) vorliegt, erfolgte eine Zusammenfassung der
Jahrgangsstichproben zu einer Gesamtstichprobe. Bei der Berechnung eines
Gesamtergebnisses auf Basis dieser Referenzkategorien und der Herausnahme
der Tests Rumpfbeugen und Balancieren rückwärts aus dem Testprofil des DMT
zur Sicherung der Eindimensionalität, ergab sich statistisch legitim ein
Summenwert, der ein valides Konstrukt der physischen Fitness im Kindesalter
begründet (ausführlich dazu Utesch et al. 2018). Auf der Grundlage dieses
Konstrukts werden im Rahmen der Untersuchungen von BERLIN HAT TALENT
die Kinder in die fünf Fitnessklassen (Normkategorie 1 – weit
unterdurchschnittlich fit, Normkategorie 2 – unterdurchschnittlich fit,
Normkategorie 3 – durchschnittlich fit, Normkategorie 4 – überdurchschnittlich
fit, Normkategorie 5 – weit überdurchschnittlich fit) eingeordnet. Weil die
körperliche Fitness in diesem Altersbereich zahlreichen Erkrankungen sowohl
im aktuellen Zustand als auch in der Entwicklungsperspektive vorbeugen kann,
ist ein gutes Monitoring der motorischen Kompetenz wichtig, um frühzeitig
gesundheitliche Risiken zu erkennen (Köster et al. 2021). Darüber hinaus sind
das Fitnesskonstrukt und die Einordnung in die Normkategorien innerhalb von
BERLIN HAT TALENT gut geeignet, um Zusammenhänge von motorischen
Leistungen mit weiteren, komplexen Einflussgrößen (z.B. gesundheitlichen,
sozioökonomischen oder auch kognitiven Daten (Schulnoten in den Ver-
gleichsarbeiten Mathematik und Deutsch)) zu untersuchen (Kapitel 2 und 3).
Die BERLINER NORMKATEGORIEN sollen in gewissen Abständen (ca. 5 Jahre)
aktualisiert werden.
20
Abb. 9: Mittelwerte in den BERLINER NORMKATEGORIEN, differenziert nach Jahrgang und
Geschlecht (2-weiblich, 3-männlich), n=75.945
Hinweis: Man sieht auch hier wieder (siehe vorn) deutliche Schwankungen
in den Jahrgangskohorten, die weitere Erklärungen benötigen. So hat
sicherlich die Hinzunahme des Bezirks Neukölln (ein Bezirk mit schwierigen
sozioökonomischen Gegebenheiten) 2013 gegenüber 2012 bzw. auch 2019
gegenüber 2018 Einfluss auf die in der Abbildung sichtbaren Testergebnisse.
Auch die Veränderungen im Zeitraum 2020 bis 2022 (Covid-19 Pandemie)
können spezifisch erklärt werden (Abschnitt 3.4 bzw. Jahresanalysen).
1.3 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahresvergleich
in der Ebene der BERLINER NORMPERZENTILE (Welle 1)
Die BERLINER NORMPERZENTILE (Welle 1) für den Altersbereich der 7-10-
jährigen Drittklässlerinnen und Drittklässler und jeden der acht DMT-Parameter
wurden 2019/20 im Rahmen von BERLIN HAT TALENT von uns auf Grundlage
der hochwertigen Datenbasis des Zeitraums von 2012 bis 2021 entwickelt
(n=59.727) und stellen gegenüber den Berliner Normkategorien eine
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
22,94 2,91 3,00 3,01 3,01 2,98 2,96 3,11 3,01 2,95 2,98
32,95 2,89 2,96 3,02 3,02 2,97 2,98 3,06 3,01 2,93 3,00
2,7
2,75
2,8
2,85
2,9
2,95
3
3,05
3,1
3,15
Mittelwert NK
UJahr
Mittelwerte der BERLINER NORMKATEGORIEN (NK)
21
differenziertere Möglichkeit zur Einschätzung der individuellen Fitness der
untersuchten Kinder dar („100-stufige“ Perzentileinteilung gegenüber 5-
stufigen Normkategorien
2
). Sie erfassen den Informationsgehalt der
ganzheitlichen „Referenzgruppe Berlin“ und schaffen gute Voraussetzungen, um
die Berliner Ergebnisse auch bundesweit vergleichen zu können (ausführlich
dazu Zinner et al., 2022a).
Die Abbildung 10 zeigt die in die Berliner Normperzentile eingeordneten
Berliner Testergebnisse von 2012 bis 2022 („Fit BLN“). Die Berechnung der
Gesamtfitness als Mittelwert aus den Berliner Normperzentilen der einzelnen
Testparameter erfolgt jeweils über eine z-Transformation.
Wie die BERLINER NORMKATEGORIEN sollen auch die BERLINER NORM-
PERZENTILE in einem gewissen Zeitraum (ca. 5 Jahre) aktualisiert werden.
Abb. 10: Mittelwerte der Berliner Testergebnisse nach Einordnung in die BERLINER
NORMPERZENTILE (Welle 1), differenziert nach Jahrgang und Geschlecht, n=75.945
2
Einerseits ist eine solche Individualisierung sehr wichtig, andererseits führt diese insbesondere bei Perzentilen dazu, dass
ihnen eine sehr hohe Genauigkeit und Intervallskalierung unterstellt wird. Die Genauigkeit trügt etwas, wenn man die
geringen deskriptiven Unterschiede (insbesondere bei den gezählten Leistungen) über mehrere Perzentile als „wahre“
Unterschiede interpretiert. Aus diesem Grund bleibt die Bildung und Verwendung von Normkategorien (Abschnitt 1.2), die
gewissermaßen „Vertrauensintervalle“ definieren, weiterhin sinnvoll.
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
249,5 45,1 49,1 49,4 49,0 48,5 47,5 53,1 48,5 45,7 48,7
349,3 46,5 48,1 50,0 50,3 49,1 48,4 50,9 49,2 45,7 49,7
40
42
44
46
48
50
52
54
Mittelwert Fit BLN.
UJahr
Gesamtfitness (BERLINER NORMPERZENTILE)
22
1.4 Einordnung der Berliner Ergebnisse im DMT 2022 und 11-Jahresvergleich
in der Ebene der bundesweit gültigen MoMo-Studie
Aktuell sind die sogenannten MoMo-Perzentile eine akzeptierte Referenz für
den bundesweiten Vergleich von Testergebnissen im DMT (Niessner et al.,
2020, Kloe et al., 2020). Die Referenzwerte für diese Perzentile kommen aus
dem Motorik-Modul (MoMo), einem Teilmodul der bundesweiten Studie zur
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert-
Koch-Instituts (RKI) in Berlin. MoMo erfasst die motorische Leistungsfähigkeit
und körperlich–sportliche Aktivität von Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen in Deutschland (Albrecht et al., 2017). Wenn also die Berliner
Ergebnisse aus der bundesweiten Sicht betrachtet bzw. bewertet werden sollen,
dann ist der Vergleich mit diesen Referenzen die Methode der Wahl
(ausführlich dazu Zinner et al. 2022a).
Die Abbildung 11 zeigt die in die MoMo-Perzentile eingeordneten Berliner
Testergebnisse von 2012 bis 2022 (im Weiteren bezeichnet mit: „Fit MoMo“).
Abb. 11: Mittelwerte der Berliner Testergebnisse nach Einordnung in die MoMo-
Perzentile, differenziert nach Jahrgang und Geschlecht, n=75.945
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
248,0 44,2 51,2 50,9 51,4 50,7 49,4 54,1 51,1 49,5 50,2
351,3 50,2 53,3 54,8 56,0 54,8 53,4 55,2 54,8 53,4 54,6
40
42
44
46
48
50
52
54
56
58
Mittelwert Fit MoMo
UJahr
Gesamtfitness (Fit MoMo)
23
Es zeigt sich, dass die Berliner Testergebnisse durch die Einordnung in die
Referenzwerte der MOMO-Studie und damit im bundesweiten Schnitt eine
„Aufwertung“ erhalten: Die Berliner Testergebnisse liegen gegenüber der
Einordnung in die BERLINER NORMZPERZENTILE höher und sie lassen in den
Jahren tendenziell einen Aufwärtstrend erkennen (Abbildung 12).
3
Abb. 12: Vergleich der Mittelwerte der Berliner Testergebnisse bei Einordnung in die
BERLINER NORMPERZENTILE (Fit BLN) bzw. die MoMo-Perzentile (Fit MoMo), n=75.945
3
Zusammengefasst zu Abschnitt 1.1 bis 1.4 sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass die Einordnung der Berliner
Testergebnisse in diese verschiedenartig aggregierten Referenzengruppen unterschiedlichen Aufgabenstellungen dient:
1. der Interpretation individueller Testergebnisse in unterschiedlicher Differenziertheit
(5- stufige Berliner Normkategorien bzw. 100-stufige Berliner Normperzentile),
2. der Einordnung in die (aggregierten) BERLINER NORMPERZENTILE und damit der
Möglichkeit zum berlinweiten Vergleich bzw. die Einordnung in die (aggregierten)
MoMo-PERZENTILE und damit dem bundesweiten Vergleich.
Die Referenzgruppe LAND BERLIN erhält ihre besondere Bedeutung aus der Geschlossenheit eines Bundeslandes, durch die
professionelle Datenerfassung und die große Zahl an Untersuchten.
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Fit MoMo 49,7 47,2 52,3 52,9 53,7 52,8 51,4 54,7 53,0 51,5 52,5
Fit BLN. 49,4 45,8 48,6 49,7 49,6 48,8 48,0 52,0 48,8 45,7 49,2
30
35
40
45
50
55
Mittelwert
UJahr
Fit MoMo versus Fit BLN.
24
1.5 Entwicklungsverlauf weiterer wichtiger Parameter zur körperlichen
Gesundheit
Seit 2011/12 werden bei BERLIN HAT TALENT auch der Body-Maß-Index (BMI)
erfasst und eine BMI-Typisierung nach Kromeyer-Hauschild et al., (2001)
vorgenommen
4
.
Der BMI dient als Bio-Marker für Adipositas und erlaubt Hinweise auf die
anthropometrische Gesundheit. Adipositas ist ein entscheidender Risikofaktor
beispielsweise für Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen oder Diabetes
und kann zu vorzeitiger Sterblichkeit im Erwachsenenalter führen (Köster et al.
2021).
Die entsprechenden Ergebnisse von 2022 und den Vergleich zu den Vorjahren
zeigen die Abbildungen 13 (bzgl. BMI) und 14 (bzgl. BMI-Typ).
Abb. 13: BMI-Mittelwerte, differenziert nach Jahrgang und Geschlecht, n=75.945 (2-weiblich,
3-männlich)
4
dabei bedeuten: Typ 1 stark untergewichtig (<P3), Typ 2 untergewichtig (P3 bis <P10), Typ 3 normalgewichtig, Typ 4
übergewichtig (>P90 bis P97), Typ 5 - adipös (>P97)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
217,68 17,95 17,19 17,42 17,18 17,41 17,31 17,40 17,38 17,37 17,47
317,53 18,31 17,24 17,34 17,23 17,54 17,61 17,37 17,41 17,46 17,59
16
16,5
17
17,5
18
18,5
Mittelwert BMI
UJahr
BMI-Mittelwerte
25
Abb. 14: Mittelwerte im BMI-Typ, differenziert nach Jahrgang und Geschlecht, n=75.945 (2-
weiblich, 3-männlich)
2. Zur Identifikation der Kinder mit einzelnen motorischen
Defiziten und zu Risikofaktoren für eine gute gesundheitliche
Entwicklung
Zur Identifikation der Kinder mit einzelnen motorischen Defiziten (nicht fit) ist
die Einordnung in die Berliner Normkategorien 1 (weit unterdurchschnittlich
fit) und 2 (unterdurchschnittlich fit) die Methode der Wahl. Im Schuljahr 2022
konnten wir demnach von den 16.222 untersuchten Kindern 2.489 (15,3%)
Kinder als nicht fit identifizieren (1969 als „unterdurchschnittlich fit“, 520 sogar
als „weit unterdurchschnittlich fit“).
Damit rücken (mindestens) die 520 (3,2%) Kinder mit den deutlichsten
motorischen Defiziten in den Blickpunkt, die die Möglichkeit einer besonderen
Förderung in einer Bewegungsfördergruppe von BERLIN HAT TALENT erhalten
sollten.
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Sex
23,23 3,28 3,15 3,21 3,16 3,19 3,17 3,19 3,20 3,21 3,21
33,24 3,38 3,17 3,20 3,19 3,25 3,24 3,19 3,22 3,24 3,23
3
3,05
3,1
3,15
3,2
3,25
3,3
3,35
3,4
3,45
Mittelwert Typ
UJahr
BMI-Typ
26
Als BEST-PRACTICE-BEISPIEL 1 für 2022 kann somit das in Abbildung 15
zusammengefasste Ergebnis der Identifikation der Drittklässlerinnen und
Drittklässler des Jahres 2022 mit Defiziten in der körperlichen Fitness gelten. Es
kennzeichnet schulscharf die Förderschwerpunkte für die Kinder aller 290
untersuchten Schulen Berlins (in der Abbildung am Beispiel zweier Schulen) –
ganz nach dem Motto: „…alle haben die Chance, ihre motorischen Defizite zu
erkennen“
5
.
Abb. 15: Verteilung der Drittklässlerinnen und Drittklässler mit einzelnen motorischen
Defiziten auf die durch BERLIN HAT TALENT im Schuljahr 2021/22 teilgenommenen 290
Berliner Schulen (am Beispiel zweier Schulen)
Interpretationsbeispiel: Von den 16.222 in dem Schuljahr 2021/22 untersuchten DrittklässlerInnen Berlins
sind 2430 fit und 2489 nicht fit, 1.656 sind adipös und 8.237 vereinslos (obere Info-Spalte). Von der Schule
1112 nahmen 102 DrittklässlerInnen am Test teil, von diesen sind 18 fit und 10 nicht fit, 4 sind adipös und 46
(!) noch nicht in einem Sportverein organisiert (untere Info-Spalte) usw., usf.
5
Eine solche nach Bezirk, Schule, Geschlecht und Normkategorie differenzierte Aufstellung aller 16.222
untersuchten Drittklässlerinnen und Drittklässler liegt vor. Sie enthält nach Bezirk und Schule differenzierte
Hinweise, wo Förderschwerpunkte liegen, Fördergruppen gebildet, Teilnehmer angesprochen und mit
Vereinen punktgenau kooperiert werden sollten, wo und wieviel Coaches/Übungsleiter zur Betreuung
benötigt bzw. auch ausgebildet werden müssten usw. usf. Diese Übersicht stellt eine sehr konkrete
Handlungsgrundlage für die zu organisierenden Maßnahmen zur Umsetzung von Schlussfolgerungen der bei
BERLIN HAT TALENT durchgeführten Untersuchungen dar. (So sind eben in der nur zufällig ausgewählten
Schule mit der ID 816 von 44 SchülerInnen, die bei BERLIN HAT TALENT teilgenommen haben, nur 2 (!) fit, 30
(!) noch nicht in einem Sportverein, 7 (!) sind adipös und 7 sind unterdurchschnittlich oder weit
unterdurchschnittlich fit das ist doch der Handlungsbedarf sehr konkret vorgezeichnet…!)
27
Eine weitere Leistungsdifferenzierung in dieser Gruppe der nicht fitten Kinder
ist mit dem Vorgehen nach den 5-stufigen Berliner Normkategorien nicht
möglich – aber für die Identifizierung motorischer Defizite (im Unterschied zur
Talentauswahl - siehe Kapitel 3) auch nicht unbedingt notwendig. Wenn
erforderlich, wären jedoch mit Hilfe der BERLINER NORMPERZENTILE oder mit
dem Vorgehen auf Basis von multiattributiven (FUZZY-)Analysen (Abschnitt 3.2)
weitere individuelle Differenzierungen möglich.
Generell rückt bei der Identifizierung von motorischen Defiziten nun aber ein
besorgniserregender Zusammenhang in das Blickfeld, der Zusammenhang
zwischen niedriger motorischer Fitness und Übergewicht. Von den 2489
(15,3%) nicht fitten Kindern der insgesamt 16.222 im Jahr 2022 untersuchten
Kindern sind 1202 (fast 50%) übergewichtig (888 mit überdurchschnittlichem,
314 mit weit überdurchschnittlichem Gewicht). Von den 2.430 fitten Kindern
sind es dagegen nur 134 (5,5%)!
Dieser Zusammenhang bestätigt sich, wenn man ihn in der Zusammenschau der
Jahre von 2012 bis 2022 untersucht: In diesem Zeitraum waren von insgesamt
75.945 untersuchten Kindern 11.055 (14,6%) nicht fit (8.675
unterdurchschnittlich fit, 2.380 weit unterdurchschnittlich fit). Von den nicht
fitten Kindern waren in diesen 11 Jahren 5.199 (47%) übergewichtig (3.723
überdurchschnittlich, 1.476 weit überdurchschnittlich). Von den 11.271 fitten
Kindern sind dagegen nur 657 (5,8%) übergewichtig.
Dieser – für die Vorbeugung zahlreicher Erkrankungen sowohl in der Gegenwart
als auch in der weiteren gesundheitlichen Entwicklung - fatale Zusammenhang
zwischen der körperlichen Fitness und dem Übergewicht zeigt, dass es nicht
genügt, einzelne individuelle motorische Defizite zu erkennen, sondern dass
dieser Identifikationsprozess parallel mit der Suche nach weiteren – vor allem
strukturellen - Hintergründen (beispielsweise sozioökonomischen Einflüssen)
und nach zielführenden Interventionsstrategien verbunden werden muss
6
.
Das war in den vergangenen Jahren besonders auffällig und notwendig, weil in
diesem Untersuchungszeitraum die COVID-19 Pandemie mit den sich daraus
ergebenden Maßnahmen (z. B. den Lockdowns) auftrat. Und es war für die
6
Die Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis „psychosoziale, sozioökonomische Gegebenheiten und Sport“
und die Suche nach zielführenden Interventionen zur positiven Gestaltung dieses Handlungsfeldes führte
2019/20 in enger inhaltlicher Zusammenarbeit mit dem LSB Berlin zur Entwicklung von Zertifikaten für
Bewegungs- und Talentcoaches sowie insbesondere zu einem bundesweit einmaligen Bachelor-Studiengangs
„Soziale Arbeit und Sport“ an der DHGS, an dem seither jährlich ca. 40 Studierende eingeschrieben sind.
In einer Zeit mit fehlenden Sportlehrkräften bzw. Sozialpädagogen und dem Ausbau der Ganztagsschulen kann
und sollte gerade dieser auch für Mitarbeiter vielschichtiger sozialer und sportlicher Projekte passfähige,
attraktive und wertvolle Studiengang noch viel stärker zur Fachkräftegewinnung genutzt werden.
28
Validität dieser Suche sehr förderlich, dass im Jahr 2022 erstmals seit 2012 die
DMT-Untersuchungen flächendeckend in allen Bezirken Berlins durchgeführt
wurden. Dadurch waren solide Möglichkeiten gegeben, die sich überlagernden
Wirkungen verschiedener Risikofaktoren für die motorische Fitness,
insbesondere dem Übergewicht (Abschnitt 2.1), der Vereinszugehörigkeit
(Abschnitt 2.2) sowie der unterschiedlichen sozioökonomischen
Herausforderungen während der COVID-19 Pandemie repräsentativ zu
untersuchen und dabei auch hinsichtlich ihres Einflusses auf die körperliche und
gesundheitliche Entwicklung der Kinder zu quantifizieren (Abschnitt 2.3).
2.1 Zum Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf die körperliche
Fitness
Der Anteil von Berliner Kindern vom BMI-Typ 4 und BMI-Typ 5 mit 20,2%
(15.334 von 75.945 Schülerinnen und Schüler) war im Durchschnitt der 11 Jahre
sehr hoch. Von diesen übergewichtigen Kindern waren sogar 7.119 (9,4%)
adipös (die deutsche Norm liegt zwischen 3% (Kromeyer et al., 2001) und 6%
(Schienkiewitz et al., 2018). Das wirkt sich verheerend auf die Fitness und – wie
mehrfach betont - auch auf eine gute gesundheitliche Entwicklung der Kinder
aus (Abbildungen 16 und 17). Die Gesamtfitness sinkt bei Kindern vom BMI-Typ
3 (normalgewichtig) zu BMI-Typ 5 (Adiposität) um rund 25 Perzentilpunkte, und
zwar sowohl im Jahr 2022 als auch im Schnitt aller 11 Jahre.
Abb. 16: Abhängigkeit der Fitness vom BMI-Typ im Jahr 2022, n=75.945 (2-weiblich, 3-
männlich)
12345
Sex
248,4 55,7 52,5 38,4 28,8
350,0 54,0 54,2 38,7 29,3
25
30
35
40
45
50
55
60
Mittelwerte Fit BLN.
BMI-Typ
Untersuchungsjahr 2022
29
Abb. 17: Abhängigkeit der Fitness vom BMI-Typ im Zeitraum von 2012 bis 2022, n=75.945 (2-
weiblich, 3-männlich)
Der außerordentlich gravierende Zusammenhang zwischen dem BMI-TYP (hier
von „normal“ bis „adipös“) und der motorischen Leistung zeigt sich
überzeugend auch für die Rohwerte in jedem einzelnen Parameter des DMT
sowie in der Gesamtfitness und er trifft stabil für alle Untersuchungsjahre zu
(Abbildungen 18 bis 26).
Abb. 18: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter Liegestütze (Typ 3:
n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
12345
Sex
251,0 54,8 52,3 38,3 28,3
350,5 52,0 53,2 39,4 28,8
25
30
35
40
45
50
55
60
Mittelwert Fit BLN.
BMI-Typ
Untersuchungsjahre von 2012 bis 2022
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 11,6 11,9 12,5 12,9 12,6 12,9 13,1 14,2 13,8 13,2 13,5
4,0 10,5 11,1 11,9 11,9 11,3 12,0 12,1 13,2 12,8 12,1 12,2
5,0 9,4 10,1 10,9 10,8 10,4 11,1 10,8 12,2 11,7 10,5 11,2
8
9
10
11
12
13
14
15
Mittelwert LS
UJahr
Testleistung Liegestütze
30
Abb. 19: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter Standweitsprung (Typ
3: n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
Abb. 20: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter 6-Min.-Lauf (Typ 3:
n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 130,2 125,6 127,9 129,0 129,3 127,7 129,0 130,3 129,8 127,4 129,2
4,0 119,1 115,8 118,1 118,7 117,2 117,6 117,5 119,6 117,7 117,1 117,1
5,0 109,5 108,6 109,0 111,0 110,5 109,3 110,1 110,8 109,3 107,9 110,9
105
110
115
120
125
130
135
Mittelwert SW
UJahr
Testleistung Standweitsprung
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 913,4 851,29 888,74 890,3 929,44 899,14 883,06 868,88 871,97 892,69 874,06
4,0 833,31 789,46 816,29 814,73 838,68 825,88 804,77 797,66 801,99 820,68 798,96
5,0 771,8 738,64 761,36 750,17 798,04 769,71 753,13 745,51 741,64 753,03 739,64
700
750
800
850
900
950
Mittelwert 6-Min
UJahr
Testleistung 6-Min.-Lauf
31
Abb. 21: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter Seitliches Hin- und
Herspringen (Typ 3: n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
Abb. 22: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter 20-m Sprint (Typ 3:
n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 25,9 27,6 27,1 27,5 28,3 28,3 28,0 29,1 28,7 27,8 29,8
4,0 24,4 26,5 25,6 26,1 26,7 26,7 26,4 27,0 26,8 26,1 28,0
5,0 22,1 24,6 23,7 24,0 25,4 25,2 24,5 25,8 25,3 24,4 26,4
20
22
24
26
28
30
32
Mittelwert SHH
UJahr
Testleistung Seitliches Hin-und Herspringen
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 4,40 4,42 4,45 4,43 4,50 4,47 4,47 4,41 4,48 4,58 4,48
4,0 4,59 4,57 4,63 4,60 4,71 4,63 4,64 4,58 4,69 4,75 4,71
5,0 4,79 4,74 4,79 4,76 4,82 4,80 4,82 4,78 4,85 4,96 4,87
4,3
4,4
4,5
4,6
4,7
4,8
4,9
5,0
Mittelwert 20-m
UJahr
Testleistung 20-m Sprint
32
Abb. 23: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter Sit ups
(Typ 3: n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
Abb. 24: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter Balancieren
rückwärts (Typ 3: n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 18,8 18,1 18,1 18,4 17,5 17,9 17,6 18,0 18,1 18,3 18,3
4,0 16,8 16,5 16,4 16,5 15,7 16,0 15,8 15,8 16,0 16,5 16,2
5,0 13,7 13,8 14,2 14,3 14,0 13,7 13,1 13,2 13,4 14,6 14,8
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Mittelwert SU
UJahr
Testleistung Sit ups
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 35,9 34,1 34,4 33,9 34,5 33,9 33,2 33,6 32,4 32,3 32,9
4,0 31,5 30,5 30,4 30,2 30,3 30,0 28,4 29,3 28,1 27,8 28,4
5,0 28,6 26,3 26,7 26,5 27,0 25,3 24,8 25,5 23,6 23,1 23,7
20
22
24
26
28
30
32
34
36
38
Mittelwert Bal
UJahr
Testleistung Balancieren rückwärts
33
Abb. 25: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und Leistung im Parameter Rumpfbeugen (Typ 3:
n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
Abb. 26: Zusammenhang zwischen BMI-Typ und der Gesamt-Fitness Liegestütze (Typ 3:
n=55.716, Typ 4: n=8.215, Typ 5: n=7119)
Der erschreckend deutliche Leistungsunterschied in den motorischen Tests
zwischen normalgewichtigen und adipösen Kindern wurde in einer
repräsentativen Untersuchung von 29.231 Mädchen der dritten Klasse in den
Jahren 2012-2020 weiter spezifiziert und untersetzt. So ist (Abbildung 27 und
Tabelle 3) der quantitative Einfluss von BMI-Typ 3 (normalgewichtig) zu BMI-
Typ 5 (adipös) beispielsweise auf den Standweitsprung (Körpermasse wird
explosiv bewegt) mit einem Unterschied von 18,10 cm am größten, es folgt der
6-Min-Lauf (Körpermasse wird lange bewegt) mit einem Unterschied von 113 m
und der Sprint (Körpermasse wird schnell bewegt) mit einem Unterschied von
0,35 Sekunden.
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 -0,9 0,7 0,4 0,4 1,1 1,2 0,9 1,4 1,2 0,5 0,8
4,0 -2,0 0,5 0,3 0,1 0,0 0,9 -0,2 0,4 0,4 -0,1 0,3
5,0 -1,7 0,5 -0,4 0,2 0,0 0,0 -0,8 -0,2 -0,3 -0,9 -0,1
-2,5
-2,0
-1,5
-1,0
-0,5
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
Mittelwert RB
UJahr
Testleistung Rumpfbeugen
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Typ
3,0 53,2 50,2 51,3 53,0 53,0 52,4 51,8 55,6 52,7 49,7 53,4
4,0 39,7 38,6 38,4 39,9 37,8 40,0 37,8 41,9 38,5 36,4 38,5
5,0 27,4 28,2 28,3 28,6 29,6 29,1 27,3 31,5 28,1 24,8 29,1
20
25
30
35
40
45
50
55
60
Mittelwert Fit BLN.
UJahr
Leistung Gesamtfitness
34
Abb. 27: Abhängigkeit der Parameter des DMT sowie der Gesamtfitness von den BMI-Typen
bei Drittklässlerinnen im Zeitraum von 2012 bis 2021
Tab. 3: Unterschied in den DMT-Testergebnissen zwischen normalgewichtigen und adipösen
Berliner Mädchen der dritten Klassen Berlins.
DMT-
Testübungen
Normal
(Perzent.)
Adipös
(Perzent.)
Differenz
(Perzent.)
Differenz
(Prozent)
Differenz
(Wert)
Rang-
platz
20m Sprint
41,04
20,86
20,18
49,2
0,35
Sec.
3
Balancieren
rückwärts
59,76
33,48
26,28
44,0
8,37
Schritte
4
Seitliches Hin.- und
Herspringen
54,88
38,29
16,59
30,2
3,35
Wdhlg.
7
Rumpfbeugen
47,04
40,39
6,65
14,1
1,42
cm
8
Liegestütze
62,47
44,49
17,98
28,8
2,29
Stück
6
Sit ups
51,75
29,26
22,49
43,5
4,66
Wdhlg.
5
Standweitsprung
42,16
17,33
24,83
58,9
18,10
cm
1
6 Min Lauf
35,95
15,48
18.47
51,4
113,0
m
2
Gesamtfitness
49,38
30,01
19,37
39,2
Interpretationsbeispiel: Man erkennt beispielsweise, dass normalgewichtige Mädchen im
Standweitsprung ein (MoMo-)Perzentil von 42,16, die adipösen Mädchen von 17,33
erreichen, die Differenz beträgt somit 24,83 %. Das ist der stärkste Einfluss (58,9%) des
Übergewichts auf eine Testleistung des DMT (Rangplatz 1) und bewirkt eine
Verschlechterung in der Sprungleistung um 18,10 cm.
20
25
30
35
40
45
50
55
60
12345
Mittelwert Berlin Perzentile
BMI-Typen, Typ 3: n=21.712, Typ 4: N=3.204, TYP 5: n=2.434
Drittklässlerinnen, n=29.231
20-m BhT
Bal BhT
SHH BhT
RB BhT
LS BhT
SU BhT
SW BhT
6 Min. BhT
FIT Berlin
35
2.2 Zum Einfluss der Sportvereinszugehörigkeit auf die körperliche
Fitness der Kinder
In allen Jahresberichten von BERLIN HAT TALENT wurde immer wieder der
enorme positive Einfluss einer Sportvereins-Zugehörigkeit auf die Fitness der
Kinder belegt und der Zusammenhang (siehe Jahresanalysen) ausführlich
diskutiert. Dieser Einfluss zeigt sich durchgehend für den gesamten Zeitraum
aller 11 Untersuchungsjahre und auch für das Jahr 2022 (Abbildung 28 und 29).
Abb. 28: Abhängigkeit der Fitness von der Vereinszugehörigkeit im Jahr 2022
47,1
60,0
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
70,0
0 1
Fit MoMo
0 = nicht im Verein, n=8.234; 1 = im Verein, n= 4.984
Fitness und Vereinszugehörigkeit im Jahr 2022,
n=13.218
36
Abb. 29: Abhängigkeit der Fitness von der Vereinszugehörigkeit im Zeitraum 2012 bis 2022
Desto besorgniserregender ist der Rückgang der Vereinszugehörigkeit der
Kinder der dritten Klassen in den Jahren von 2014 (erstmalig erhoben) bis 2022
(Abbildung 30):
Abb. 30: Rückgang der Vereinszugehörigkeit von 2014 bis 2022, n=60.526
Interpretationsbeispiel: Im Jahr 2022 haben 13.218 Kinder die Frage nach einer
Sportvereinszugehörigkeit beantwortet, davon 37,7% mit „Ja“ usw.
47,7
59,9
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
70,0
0 1
Fit MoMo
0 = nicht im Verein, n=35.447; 1 = im Verein, n= 25.079
Fitness und Vereinszugehörigkeit 2012 bis 2022;
n=60.526
2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
Ja (%) 56 44,9 44,4 40,9 39,7 42,8 42,5 36,3 37,7
30
35
40
45
50
55
60
Anteil Zustimmung in %
Achsentitel
Vereinszugehörigkeit von 2014 bis 2022
n = 2.712 4.800 6.095 4.790 5.958 7.100 9.539 6.314 13.218
37
2.3 Zum Einfluss der sozioökonomischen Bedingungen auf die
körperliche Fitness der Kinder
Aus den in den zurückliegenden Jahren meist punktuellen Untersuchungen in
Bezirken und Regionen Berlins war der Einfluss von soziostrukturellen
Parametern auf die motorische Entwicklung und damit die körperliche
Gesundheit bereits immer wieder besorgniserregend auffallend. Die Abbildung
31 verdeutlicht das am Beispiel des Unterschieds sozioökonomischer
Gegebenheiten und motorischer Kompetenzen zwischen den – nur durch die S-
Bahntrasse getrennten - Regionen Nord und Süd des Berliner Bezirks Marzahn-
Hellersdorf (Zinner et al. 2019).
Abb. 31: Unterschiedlichkeit der sozioökonomischen Gegebenheiten in zwei Regionen des
Berliner Bezirks Marzahn-Hellersdorf 2020
Diese und ähnliche Befunde waren für uns Anlass, dieser Verkettung weiter
nachzugehen und deshalb Drittklässlerinnen und Drittklässler im Kontext der
Verbreitung von Übergewicht und Adipositas sowie zu ihrem
sozioökonomischen Umfeld in Intervallen mehrfach nach ihren Eindrücken und
38
Befindlichkeiten zu befragen (in unterschiedlichen Jahren und mit
verschiedenartigen Frageinhalten) und die gewonnenen Schlussfolgerungen in
Handlungsempfehlungen zusammenzufassen. Beispielhafte Erfahrungen und
Erkenntnisse aus diesen Befragungen sollen im nachfolgenden Einschub
auszugsweise gekennzeichnet werden.
EINSCHUB: Beispiele zu Befragungsausschnitten aus verschiedenen
Jahrgangsberichten
Bei den Untersuchungen von Berlin hat Talent in den vergangenen Jahren
waren von 59.727 untersuchten DrittklässlerInnen fast 15% (8.566) motorisch
nicht fit und fast 10% (5.463) adipös. Besonders erschreckend: fast jedes
zweite (!) dieser adipösen Kinder (2.479) war zugleich motorisch nicht fit.
Rechnet man das auf die Gesamtzahl der Berliner DrittklässlerInnen (ca.
35.000) hoch, so „entlassen“ unsere Schulen innerhalb von 10 Jahren allein
aus den dritten Klassen rund 14.000 Schülerinnen und Schüler in eine
körperlich und gesundheitlich riskante Zukunft, weil bekanntermaßen Kinder
mit Übergewicht und Adipositas häufiger einen erhöhten Blutdruck,
Fettstoffwechselstörungen und Störungen des Glukosestoffwechsels
aufweisen und ein hoher BMI- Wert im Kindesalter mit einer höheren
Wahrscheinlichkeit für Typ 2 -Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf--
Erkrankungen im Erwachsenenalter verbunden ist. Übergewicht und
Adipositas bei Kindern sind zumeist auch mit einer erheblichen Reduktion der
Lebensqualität sowie mit einem höheren Risiko für Mobbing verbunden
(Schienkiewitz et al., 2018).
Bei dem unbedingt notwendigen Bemühen, diese Situation zu verbessern, wird
schnell deutlich, dass es dafür nicht den einen, den Königsweg, gibt, sondern ein
Konglomerat ganz verschiedenartiger Einflussfaktoren. Ansätze dazu lassen sich
u. a. aus den Erkenntnissen der Befragungen finden, die neben den
motorischen Untersuchungen parallel bei BERLIN HAT TALENT durchgeführt
werden.
Da ist zunächst ein zutiefst Mut machender Befund, dass die weit
überwiegende Mehrheit der Drittklässlerinnen und Drittklässler dem Sport
außerordentlich positiv gegenübersteht: Von beispielsweise 6.095 im Schuljahr
2015/16 Befragten freuen sich 94% auf Sportstunde, 71% wollen mehr Sport,
67% wollen/haben Sport als Hobby (Jahresbericht 2015/16). 2013/14 geben von
39
2.712 Befragten 77% der Schüler (weiblich 73%, männlich 81%) Sport als ihr
erstes Hobby an. Dagegen werden technische Hobbys nur von 21% der Jungen
und von 18% der Mädchen genannt (JB 2013/14). Ähnlich auch die Befunde in
anderen Untersuchungsjahren.
Offenbar gibt es Gründe, die eine Umsetzung dieser positiven Situation
hemmen:
1. Die Selbsteinschätzung der Kinder entspricht häufig nicht der Realität:
So schätzen sich zum Beispiel von 6.095 befragten Drittklässlerinnen des
Schuljahrgangs 2015/16 69% der Jungen und 55% der Mädchen als total
sportlich ein aber lediglich 19% bzw. 18% können das im DMT-Test
bestätigen (JB 2015/16). Von 1.512 nicht fitten DrittklässlerInnen
bezeichnen sich 2019/20 mehr als 56% als fit, selbst von 994 adipösen
DrittklässlerInnen meinen das 53% - aber nur für 3,6% trifft das zu (JB
2019/20)
2. Auch die Reflexion der (Sport-)Lehrkräfte über die Sportlichkeit der Kinder
ist offenbar wenig real:
Von 4.678 befragten Schülerinnen und Schülern im Schuljahr 2016/17 ist
der Sportnotendurchschnitt 1,54; selbst die Übergewichtigen kommen
auf einen Sportnoten-Durchschnitt von 1,65! (JB 2016/17).
135 im Schuljahr 2019/20 befragten Lehrkräfte schätzen ihre Schüler
insgesamt als fit ein, nur 16% sind es wirklich (JB 2019/20). In der Schule
kann (und muss) der Vergleich „Ich und die Anderen“ organisiert werden,
auch der sportliche! Es ist dramatisch für die Entwicklung der Kinder,
wenn die Schule dabei unangemessene Maßstäbe vorgibt (Wessel, 2015).
3. Die Vorbildwirkung der Eltern auf die Kinder ist sehr bedeutsam und
ausbaufähig:
Von 2.712 befragten Kindern im Schuljahr 2013/14 geben 62% an, dass
sie in Sport-treibenden Familien aufwachsen, 63% solcher Kinder sind im
Verein. Im anderen Fall sind das lediglich 45% (JB 2013/14).
Auch diese Situation lässt sich in verschiedenen Untersuchungsjahren
wiederfinden: Von 6.095 befragten DrittklässlerInnen im Schuljahr
2015/16 bezeichnen 56% ihre Familie als sportlich, 51% der Kinder sind
im Sportverein. 36% bezeichnen ihre Familie (ausdrücklich) als wenig
sportlich, von diesen Kindern sind nur 36% im Verein (JB 2015/16). Von
den insgesamt 39.662 in den Schuljahren von 2011/12 bis 2019/20
40
befragten Schülerinnen und Schülern haben nur 20.762 (51%) der Kinder
ihre Familien als sportlich eingeschätzt…
4. Risikofaktoren verketten sich:
Von den 10.482 im Schuljahr 2019/20 untersuchten Drittklässlerinnen
und Drittklässlern sind 1.512 nicht fit. Von diesen sind ca. 17mal mehr
adipös (465 zu 29), nur etwa halb so viele im Sportverein (560 zu 1.044)
und 1,4mal mehr zum (längeren) Spielen mit digitalen Medien (368 zu
263) unterwegs, als das bei den 1698 fitten Kindern der Fall ist (JB
2019/20).
Im Schuljahr 2016/17 sind von 1.277 Kindern mit Migrationshintergrund
26% im Verein, 10,6% adipös und 17, 5% nicht fit, von den 1.056 Kindern
ohne Migrationshintergrund dagegen sind 46% im Verein, 5,4% adipös
und 9,5% nicht fit. (JB 2016/17).
Insbesondere die Verkettung von Fitness, Übergewicht,
Vereinszugehörigkeit und Migration bleibt im Laufe der Jahre sehr stabil.
So sind im Schuljahr 2018/19 von 3.444 Kindern mit
Migrationshintergrund 37% im Verein, 11,4% adipös und 15,1%
motorisch nicht fit, von 3.656 Kindern ohne Migrationshintergrund sind
dagegen 49% im Verein, 6,2 adipös und 9,7 nicht fit (JB 2018/19).
Neben der in allen Untersuchungsjahren festgestellten sehr positiven
Einstellung der Kinder zum Sport (siehe oben), zeigt sich ebenso in all den
Jahren die außerordentlich hohe Wirksamkeit des Sporttreibens in einem
Sportverein: Von den im Schuljahr 2019/20 9.539 befragten DrittklässlerInnen
sind 4.057 (43%) im Verein. Von diesen sind 24% fit. 5.482 (57%) sind nicht im
Verein, davon sind lediglich rund 10% fit (JB 2019/20).
Von den fitten Schülerinnen und Schülern im Schuljahr 2019/20 sind 63,6%
(977) im Verein, 23,1 % (313) nicht. Von den fitten Schülerinnen und Schülern
sind 1,7% (28) adipös, von den nicht fitten 30,8% (465). Da ist es dann
besonders bedauerlich, wenn von 4.000 vereinslosen Drittklässlerinnen und
Drittklässlern 39% (1560!) keine Kenntnis über das Bestehen von Sportvereinen
haben (JB 2020/21).
Wir konnten in der vergangenen Zeit einerseits auf der Grundlage solcher und
anderer Erkenntnisse aus den für unterschiedliche Inhalte ausgerichteten
Befragungen fundierte Handlungsempfehlungen für verschiedenartige, jeweils
gesellschaftlich bedeutsame Inhalte ableiten und in den betreffenden
Jahresanalysen unterbreiten (siehe dort). So waren die im obigen Einschub
41
über die Jahre gewonnenen Befragungsergebnisse beispielsweise eine wichtige
Grundlage bei der Positionsbestimmung zu den geplanten Modifizierungen bei
den Bundesjugendspielen (siehe BEST-PRACTICE-BEISPIEL 2: Modifizierung der
Bundesjugendspiele im Anhang 1).
Andererseits erhielten wir beispielsweise bei einer spezifischen Befragung im
Schuljahr 2018/19 (siehe entsprechenden Jahresbericht) deutliche Hinweise,
die uns für die doch erheblichen Unterschiede auch im Sportverhalten von
verschiedenen Migrantengruppen sensibilisierten. Abbildung 32 zeigt die
Vielzahl solcher verschiedenartigen Gruppen bei fast 3.000 dieser Kinder. Ein
Blick auf z. B. diejenigen mit vietnamesischem Sprachhintergrund (Tabelle 4)
deutet darauf hin, dass sie offenbar seltener aus sportlichen Familien kommen
und eher Sport-AGs nutzen als Vereine. Ihr relativ geringerer Medienkonsum
und eine vermutlich bewusstere Ernährung (8% adipös) könnten die Ursache
dafür sein, dass sie dennoch mit 21% berlinweit gesehen bemerkenswert fit
sind. Die Differenz etwa zu Schülern mit türkischem Sprachhintergrund, von
denen bei viel höherer Vereinszugehörigkeit (39%) nur 14% fit und 13% adipös
sind, verdeutlicht die Bedeutung und den Einfluss unterschiedlicher Milieus und
damit die Schwierigkeit und die gebotene Differenziertheit bei der Konzeption
und Entwicklung zielorientierter Interventionsprogramme und
Handlungsorientierungen.
Abb. 32: Erstgenannte Fremdsprache bei Berliner Kindern der 3. Klasse mit Migrations-
hintergrund (n = 2.930)
42
Tab. 4: Migrantengruppen und Sportbezug
Insgesamt waren diese - auch durch die Befragungen immer deutlicher in das
Blickfeld gekommenen - bedeutsamen sozioökonomisch begründeten
Unterschiede in der Wirkung der diskutierten Risikofaktoren für uns der Anlass,
nach sehr viel differenzierteren Analysen zum sozioökonomischen Umfeld der
Kinder zu suchen, solche zu konzipieren und zu realisieren. Als geeignete
Grundlage dafür dienten uns die durch den Berliner Senat ermittelten sehr
aufschlussreichen Kennwerte zur quantifizierten Einschätzung der
soziostrukturellen Belastung aller Berliner Schulen (folgender Abschnitt 2.3.1).
2.3.1 Zur Abhängigkeit der Fitness und des BMI von der schulscharf
gemessenen soziostrukturellen Belastung der Schulen
In dem Schuljahr 2022 wurde aus vorgenannten Gründen nun erstmals der
Einfluss unterschiedlicher sozioökonomischer Bedingungen auf den BMI und die
motorischen Testergebnisse für jede der 290 an BERLIN HAT TALENT
teilgenommenen Schulen schulscharf auf Basis des Parameters SEB
(socioeconomic background) durchgeführt (Stojan et al., 2022; Piesch et al.,
2022, Zinner et al., 2023). SEB beruht auf der statistischen Kennzahl, mit der
der Berliner Senat im Rahmen der Schultypisierung (STYPS) die soziostrukturelle
Situation jeder Berliner Schule ermittelt. Die Typisierung benutzt ein
mehrstufiges Verfahren zur Indexbildung. Je höher der SEB ist, desto geringer
ist die strukturelle Belastung dieser Schule durch soziale Herkunft, Integration,
geographische Lage u.a.
Bei diesen Untersuchungen zeigt sich - beeindruckend stabil über alle
Untersuchungsjahre und die SEB-Stufen hinweg - dass eine hohe
soziostrukturelle Belastung eine anhaltende negative Wirkung auf den BMI
(Abbildung 33) hat und dass mit jeder SEB-Stufe ein etwa fünfprozentiger
Unterschied in der motorischen Leistungsfähigkeit einher geht (Abbildung 34).
Der in der Literatur beschriebene signifikante Einfluss von sozioökonomischem
Status auf die Entwicklung motorische Defizite, vor allem auch auf die
Entstehung von Adipositas im Kindesalter und das von WHO und EU erkannte
Türkisch 478 39% 21% 14% 13% 44% 24%
Arabisch 413 24% 21% 9% 15% 45% 26%
Russisch 329 43% 12% 25% 9% 46% 16%
Polnisch 271 44% 11% 23% 8% 49% 23%
Vietnamesisch 163 16% 12% 21% 8% 32% 21%
in Sport-AG
Häufigste Sprachhintergründe
n =
im Verein
nicht fit
fit
sporttr. Familien
adipös
43
„soziale Gefälle“ der Adipositas (beispielsweise Vasquez et al., 2020) wird damit
auch durch unsere Untersuchungen nachdrücklich bestätigt und quantifiziert.
Abb. 33: Deutliche Wirkung von SEB auf den BMI (BMI sinkt mit zunehmenden SEB und
umgedreht)
Abb. 34: Deutliche Wirkung von SEB auf die motorische Leistung stabil über den Zeitraum
von 2012 bis 2020 (mit ca. 20 Prozentpunkten Unterschied zwischen SEB-Klasse 1 und SEB-
Klasse 5 und mit einem Abstand von ca. 5 Prozentpunkten innerhalb dieser Klassen).
44
2.3.2 Zur Verkettung von Risikofaktoren für eine gute kindliche
Entwicklung während der Covid-19 Lockdowns
7
Die Jahre 2020, 2021 und 2022 boten Möglichkeiten, die besorgniserregende
Verkettung von Fitness, Übergewicht, sozioökonomischen Bedingungen und
Vereinszugehörigkeit in der Überlagerung mit COVID-19 auf der Grundlage der
Berliner Datenbasis von insgesamt 33.311 Drittklässlerinnen und Drittklässlern
in diesen Jahren zu analysieren. Die Abbildungen 35 und 36 zeigen
komprimiert den prinzipiellen Zusammenhang zwischen diesen Risikofaktoren
und verdeutlichen die daraus resultierenden Gefahren für eine gute
gesundheitliche Entwicklung der Kinder.
Abb. 35: Covid-19 hat deutlichen Einfluss auf die Fitness und das Übergewicht
7
Mit „Covid“ ist die Auswirkung der Pandemiejahre auf die körperliche Fitness gemeint, nicht die
Auswirkung einer Covid-Infektion!
2012-
16
2016/
17
2017/
18
2018/
19
2019/
20
2020/
21
2021/
22
Übergewicht 19,1 20,9 20,2 19,5 20,4 20,8 21,2
Fitness 13,9 13,1 13,3 19,9 16,2 12 15
10
12
14
16
18
20
22
24
Prozent
Jahre
Übergewicht (Typ 4 & 5) und Fitness (NK 4 & 5)
Corona-Jahre
ab 3/2020
MW von
2012 bis 2016
45
Abb. 36: Covid-19 hat deutlichen Einfluss auf die Vereinszugehörigkeit
Die Dramatik dieser Zusammenhänge lässt sich durch die Einbeziehung des
Parameters der sozioökonomischen Belastung SEB weiter differenzieren und
verdeutlichen:
Die COVID-19 -Pandemie hat während beider Lockdowns zu einem
signifikant höherem BMI der Kinder geführt (Abbildung 37), wobei bei
Kindern mit niedrigem SEB der BMI stärker zugenommen hat als bei
Kindern mit höherem BMI.
Abb. 37: Covid hat deutlichen Einfluss auf den BMI, der BMI nimmt in beiden Lockdowns
signifikant zu.
2014-16 2016/17 2017/18 2018/19 2019/20 2020/21 2021/22
Verein 46,9 40,9 39,7 42,8 42,5 36,3 37,7
35
37
39
41
43
45
47
49
Prozent
Jahr
Vereinszugehörigkeit
MW von
2014 bis 2016
Corona-Jahre
ab 3/2020
46
Der Effekt von SEB auf den BMI während der COVID-19 Pandemie wirkt
verstärkend, sodass der BMI von Kindern mit niedrigerem SEB nach dem
ersten und zweiten Lockdown im Verhältnis noch höher ist, als dies
bereits vor der Pandemie der Fall war (Abbildung 38). Die
soziostrukturellen Unterschiede sind stark auffällig: Kinder mit
schwierigem sozioökonomischem Hintergrund legen an Gewicht zu,
während der Rest stabil bleibt und damit die (Übergewichts-)Schere
zwischen den Kindern weiter auseinander geht.
Abb. 38: Covid verstärkt die Wirkung von SEB auf den BMI insbesondere für Kinder im
schwierigen sozioökonomischen Hintergrund
Covid wirkt auf alle Kinder. Die Abbildung 39 zeigt den Vergleich der
mittleren tatsächlichen Leistung mit der geschätzten mittleren Leistung
ohne Corona-Auswirkungen. Die Kinder verlieren im Durchschnitt durch
Corona etwa ein Jahr gegenüber der zu erwartenden motorischen
Entwicklung, und zwar egal, welche SEB-Klasse für sie zutrifft (die besten
eher sogar mehr, weil sie natürlich auch viel zu verlieren haben…)
8
. Damit
erreicht der festgestellte, anhaltende Einfluss von COVID 19 auf die
motorische Leistung der Kinder eine (statistische) Effektgröße, die der für
den Einfluss von Rauchen auf Lungenkrebs entspricht.
9
8
Der Wert und die Zuverlässigkeit der Aussage ergeben sich u. a. auch daraus, dass auf Grund des Vorliegens
der umfangreichen Jahrgangskohorten vor der Pandemie die Auswirkungen säkularer Trends berücksichtigt
werden konnten.
9
…in der Art einer binomialen Effektgröße ausgedrückt heißt das, dass bei rund 10.000 Kindern, die an „Covid-
19-Interventionsmaßnahmen“ teilgenommen haben, 550 Kinder einen negativen Effekt zeigen.
47
Abb. 39: Covid bremst die Entwicklung der motorischen Leistung für jedes Kind um ca. 1 Jahr,
für die Kinder der höchsten SEB-Klasse besonders deutlich
Die Abbildung 40 zeigt nun für jeden einzelnen Parameter des DMT den
Vergleich der mittleren motorischen Leistung für die Kinder der Corona-
Jahre 2021 (links) und 2022 (rechts) mit der Schätzung der Leistung ohne
Corona- Auswirkungen. Wenn die Punkte rechts der mittleren Linie
liegen, haben die Kinder sich verbessert (z. B. beim 6-Minuten - Lauf),
links verschlechtert (z. B. beim 20m-Sprint, bei den Liegestützen und in
der Tendenz auch bei den Sit ups). Damit werden Hinweise sichtbar, in
welchen Fähigkeiten Rückstände wieder aufzuholen und welche
spezifischen Interventionen einzusetzen sind.
Da die Kinder mit schlechterem SEB (rote Punkte) tendenziell etwas
rechts liegen von den blauen Punkten, wird ersichtlich, dass die Schulen,
die eben mehr zu verlieren hatten, tatsächlich auch an Vorsprung
eingebüßt haben. Die Schere in dieser Hinsicht ist offenbar geringer
geworden…
48
Abb. 40: Covid wirkt unterschiedlich auf die verschiedenen Komponenten der motorischen
Fitness.
Die Ergebnisse zu den bisherigen Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die
Berliner Drittklässlerinnen und Drittklässler stellen das BEST-PRACTICE-BEISPIEL 3
unserer wissenschaftlichen Arbeit im Jahr 2022 dar, sie sind zusammengefasst
im Anhang 2: Corona-Studie (Kommentar 2) und sie sind weitergeführt und
spezifiziert bei Stojan, R. et al. 2023 und Piesch et al. 2023)
3. Zur Identifikation motorisch begabter Drittklässlerinnen
und Drittklässler – Talentscreening
3.1 Talentscreening auf der Basis der BERLINER NORMKATEGORIEN
Ähnlich dem Vorgehen bei der Identifikation der Kinder mit motorischen Defiziten,
bei dem wir insbesondere die Kinder mit der Berliner Normkategorie 1 und 2 in
Betracht gezogen haben (siehe vorn), rücken hier die Kinder mit der Normkategorie
4 und 5 in den Mittelpunkt. Im Jahr 2022 konnten wir demnach von den 16.222
49
untersuchten Kindern 2.430 (15%) als „fit“ identifizieren (dabei 1.955 (12,1%) als
„überdurchschnittlich fit“ und 475 (2,9%) als „weit überdurchschnittlich fit“).
Für ein Talentscreening erscheint diese Gruppenbildung als zu grob. Es sollte
möglich sein, auch noch in diesen Gruppen deutlich feiner zu differenzieren und
dabei zugleich Hinweise auf individuelles Entwicklungspotential offen zu legen
10
.
Mit multiattributiven FUZZY-Vorgehensweisen wird das möglich.
Eine Erläuterung dieses Vorgehens soll im Weiteren am Beispiel der 7.876 im Jahr
2022 untersuchten Mädchen vorgenommen werden. Es lässt sich leicht auf die
Jungen übertragen.
Von diesen Mädchen erwiesen sich 943 (12%) als überdurchschnittlich fit (NK 4)
und 214 (2,9%) als weit überdurchschnittlich motorisch fit (NK 5). Üblicherweise
würde man also (mindestens) diese 214 Mädchen mit weit überdurchschnittlichen
Testergebnissen als „motorisch begabt“
11
deklarieren und für Fördermaßnahmen
im Rahmen von Talentsichtungsgruppen vorsehen.
Die motorischen Leistungen dieser 214 Mädchen sind tatsächlich überzeugend
(Tabelle 5): Sie sind alle in der höchsten Leistungsklasse NK 5. Nur rund 10% der
Berliner Mädchen und nur rund 13 % der deutschen Mädchen in den letzten
Jahren konnten solche hohe motorische Leistungswerte erreichen (siehe
Perzentilvergleich FitBln. vs. Fit MoMo). Ein einziges Mädchen ist adipös (BMI-Typ
5), nur 6 Mädchen sind überhaupt übergewichtig (BMI-Typ 4). 46 dieser Mädchen
sind (leider) noch nicht in einem Sportverein.
Tab. 5: Mittelwerte der Gruppe der 214 besten Mädchen nach Berliner Normkategorien
10
Die Doppelgleisigkeit des Berliner Vorgehens einerseits einzelne motorische Defizite zu identifizieren und
andererseits ganzheitliche motorische Begabungen zu entdecken macht BERLIN HAT TALENT zu etwas
Besonderem. Das erfordert offenbar auch ein unterschiedliches, dem jeweiligen Ziel angepasstes methodologisches
Vorgehen (z. B. in der „Feinheit“ der Unterscheidungen zwischen den Testpersonen).
11
Begabung verstehen wir als eine außergewöhnliche Fähigkeit, die angeboren oder sozialisiert also ohne
spezifische Förderung - erworben sein kann und sich schon im frühen Alter zeigt (Hoffmann, 2013). Diese Fähigkeit
bildet das „Rohmaterial“, das erst durch spezifische Förderung in Talent umgewandelt werden soll. Demnach
begreifen wir die in Abschnitt 3.2 ermittelte Rangfolge (siehe dort) nicht schon als „Rangfolge sportlichen Talents“,
sondern eher als eine „Rangfolge sportlicher Begabung“, im besten Fall als ein Talentscreening (Hohman et al.,
2015).
Statistiken NK5
NK
Fit BLN.
Fit MoMo
20-m
Bal
SHH
RB
LS
SU
SW
6-Min
N
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
Mittelwert
5,000
89,748
87,084
4,0146
40,67
38,1822
7,5225
18,65
25,04
153,813
985,18
50
So weit, so gut. Eine weitere Differenzierung unter den Mädchen in dieser Gruppe
bezüglich der „Güte“ ihres „motorischen Talents“ ist mit dem Vorgehen auf der
Basis der (5-stufigen) Normkategorien nun aber nicht mehr möglich. Wenn man
also in dieser Gruppe der Besten noch weiter unterscheiden bzw. mehr oder
weniger Mädchen als Begabte fördern will (und das ist bei einem Talentscreening
durchaus sinnvoll), könnte man nur über den Rückgriff auf die Methodik der stärker
differenzierenden (100-stufigen) Perzentilwerte Mädchen herausnehmen bzw. aus
der Gruppe der 943 Mädchen mit der Normkategorie 4 hinzunehmen.
Dabei stößt man insbesondere auf drei Unbehagen:
1. Unbehagen, weil diese Vorgehensweisen in der Regel eben auf einem
Vergleich mit einem Pool aggregierter bzw. repräsentativer und damit
notwendigerweise heterogener, oft auch länger zurückliegender
Referenzstichproben beruhen. Das kann zu einer „Entfremdung“ der
Untersucher von ihren „vertrauten“ (Roh-)Daten
12
und deshalb zu
Analyseergebnissen führen, bei denen für die Praxis nur die Wahl
bleibt, sie zu akzeptieren - oder zu vergessen…
2. Unbehagen, weil bei der Bildung von Gesamteinschätzungen mittels
solcher Summenscores die Spezifität der einzelnen Parameter und
Kompensationen untereinander nicht berücksichtigt werden – aber
kein Trainer/Lehrer/Experte bewertet alle Testübungen als gleich
wichtig. Den Erfahrungen und Expertisen der
wissenschaftsorientierten Praxis, der Trainer oder Lehrer werden bei
diesem streng statistischen Vorgehen deutlich zu wenig
Aufmerksamkeit und Platz eingeräumt. Sie kommen eigentlich erst ins
Spiel, wenn die „fertigen“ Ergebnisse zu interpretieren sind, also nach
den Algorithmen
13
! Eine
Balance zwischen quantitativen und qualitativen Aspekten ist bei
diesem klassischen Statistik-Vorgehen im Talentscreening wenig
gegeben…
12
Ebenso sollte auch keine „Entfremdung“ der Praktiker von den verwendeten statistischen Analysen und
Verfahren eintreten. Sie sollten das prinzipielle Vorgehen verstehen und bewerten können und deshalb „am
Ende des Tages“ schließlich auch eine Mitverantwortung für die Ergebnisse und deren praktischer Umsetzung
übernehmen.
13
Ein Trainer, Lehrer, Experte mit entsprechender Erfahrung kann aber oft schnell eine Aussage darüber
machen, ob eine so komplexe, zusammengesetzte Eigenschaft wie „Sportliches Talent“ auf eine untersuchte
Testperson zutrifft oder eher nicht. Die Bildung von Zugehörigkeitsfunktionen (siehe dort) ist das Unterfangen,
die oft nicht bewussten, zweifellos unscharfen, aber erfolgreichen Gedankengänge, die hinter derartigen
Leistungen von Spezialisten stehen, im Computer abzubilden (… die Frage, ob ein Apfel reif ist, ist schwierig zu
beantworten. Ob Apfel A reifer ist als Apfel B dagegen leichter).
51
3. Unbehagen, weil bei einem solchen Vorgehen innerhalb der
(Leistungs-) Gruppen - sowohl bei einer 5-stufigen Klassifizierung
14
als
auch bei Perzentilwerten (sind nicht intervallskaliert!) - nicht weiter
differenziert werden kann. Gerade bei umfangreichen Stichproben
(bei BERLIN HAT TALENT bspw. bis zu 20.000 Kinder pro Schuljahr)
kommt es aber vor allem darauf an, in der Gruppe der Besten noch
genauer differenzieren.
Um diesen Unbehagen zu begegnen sind offenbar auch prinzipiell andere, nicht
ausschließlich auf statistischen Überlegungen beruhende Vorgehensweisen und
Algorithmen zu überprüfen, wenn man erfolgreich Talente identifizieren und dabei
insbesondere innerhalb der „besten Gruppe“ noch zuverlässig differenzieren will.
Der Kombination von quantitativen Motorikdaten und qualitativem Trainerwissen
ist dafür eine geeignete Methode der Wahl.
3.2 Talentscreening auf der Basis von multiattributiven FUZZY-Analysen
Geeignet ist dafür eine Nutzung multiattributiver (FUZZY-)Vorgehensweisen, die
auf der Basis der Konstruktion von Zugehörigkeitsfunktionen
15
unter
Berücksichtigung von Expertenwissen und dem Rechnen mit solchen Funktionen
eine verbesserte Balance zwischen Wissenschaft und Praxis erreichen können.
Ein solches Vorgehen wurde in Berlin etabliert und seit 2015/16 bei BERLIN HAT
TALENT zur Formierung von Talentsichtungsgruppen eingesetzt. Hervorzuheben ist,
dass dieses Vorgehen auf der Basis diskursiver Validierungen insbesondere auch in
der Sprache der „Praktiker“ (Trainer, Sportlehrer, Übungsleiter) „gesteuert“ werden
kann und als Ergebnis ein vollständiges individuelles Ranking der untersuchten
Schülerinnen und Schüler generiert (hier soll es vorwiegend um eine mehr
stichpunktartige, qualitative Erläuterung des Vorgehens gehen, die
mathematischen Grundlagen der Verfahren und Modelle und deren
Anwendungsspezifitäten werden ausführlich beschrieben bei Ester et al., 2020 und
Zinner et al., 2022b).
14
Jede Stufe bildet dabei eine Äquivalenzklasse, das heißt: Alle Elemente einer solchen Klasse werden unter der
jeweiligen Fragestellung (hier also „Grad des motorischen Talents“) als äquivalent betrachtet. Was aber würde
Meister Dürer sagen, wenn er sich auf fünf Farben beschränken müsste…?
15
Bei Vorliegen von Ungewissheit löst eine Zugehörigkeitsfunktion die Frage, ob eine Eigenschaft („Talent“) existiert
oder nicht dadurch auf, indem sie ausdrückt, zu welchem Grad diese Eigenschaft existiert. Auf solche Weise erhält
jede untersuchte Schülerin einen Wert für ihre Zugehörigkeit zur unscharfen Menge der Talente
52
Insgesamt aber wird mit dieser Vorgehensweise der übliche Weg, eine
Verbesserung des Talentscreenings insbesondere durch immer weiter spezifizierte
mathematisch-statistische Methoden zu erreichen, deutlich erweitert, indem
Möglichkeiten entwickelt wurden, mit denen subjektive Theorien und empirisches
Wissen von relevanten Erfahrungsträgern modelliert und prominent in die
quantitativen (statistischen) Methoden integriert werden können.
Wir haben bei BERLIN HAT TALENT für das Talentscreening zunächst die acht DMT-
Tests durch weitere Parameter ergänzt, deren Relevanz für die Aufgabenstellung
offensichtlich ist, nämlich durch Parameter mit gewissen Aussagen zum
biologischen Entwicklungsstand (Körperhöhe KH, Biologisches Alter BA bzw.
Körperfinalhöhe maxKH)
16
, durch den BMI sowie das Alter der Kinder in Monaten
(AM). Diese Parameter sind anderen Untersuchungen von uns entlehnt, in denen –
noch spezifischer – nach Begabungen/Talenten beispielsweise in verschiedenen
Sportartengruppen (Ausdauersportarten, Schnellkraftsportarten…) analysiert
werden soll. Hier sind sie zunächst nur versuchsweise mitgeführt und wurden
deshalb – ganz spezifisch und ganz vorsichtig – so bewertet, dass sie die
Analyseergebnisse zu der viel komplexeren Fähigkeit „allgemeine Fitness“ nicht
verzerren. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass solche Möglichkeiten
der Einbeziehung weiterer - für das Talentscreening relevanter - Parameter bzw.
einer Spezifizierung von Gewichtungen und Bewertungen auf Sportarten oder
Sportartengruppen in das multiattributive unscharfe Vorgehen das
Anwendungsspektrum unserer Methodik bedeutsam erweitern.
Ausgehend von diesem - gegenüber dem DMT - erweiterten Testprofil definieren
wir nun einen Idealschüler (z. B. einen, der die erreichten Bestwerte in jedem Test
auf sich vereinigen würde)
17
und wir messen die Ähnlichkeit jedes anderen Schülers
zu diesem mit einer Zahl zwischen 0 und 1. Diese Zahl berechnen wir direkt aus
einer mehrdimensionalen Abstandsfunktion als gewichteten und (mit den
Zugehörigkeitsgraden) bewerteten Abstand zum Ideal in Form einer exakt
berechneten Diagonale eines mehrdimensionalen Kubus. Auf diese Weise (Analytic
Hierarchy Process (AHP) mit Rückwärtsfilterung) ergibt sich eine vollständige
Rangfolge unter den Schülern in deren Grad der Zugehörigkeit zur unscharfen
Menge der sportlich talentierten bzw. begabten Mädchen. Die Berechnung der
Diagonale erfolgt auf exakte mathematische Weise, die Unschärfe entsteht durch
16
Wir verzichten hier auf nähere Erläuterungen zu diesen Parametern sowie auch zu den an späterer Stelle auf
dieser Basis abgeleiteten Bewertungen und Komponentenbildungen (siehe dazu Zinner et al., 2022b).
17
Das ist natürlich eine extreme Anforderung und hat zur Folge, dass bei der Bildung eines Gesamtwertes starke
Kompromisse in den Einzelparametern auftreten werden. Statt sich an den Bestwerten zu orientieren, kann man
sich deshalb selbstverständlich auch auf gewisse Wunschwerte verständigen (siehe 3.3).
53
die (subjektive) Gewichtung und Bewertung. In der Folge lösen sich scharfe
Grenzen auf und es lassen sich Kompensationsmöglichkeiten einführen, wenn
beispielsweise Verschlechterungen eines Kriteriums mit Verbesserungen eines
anderen Kriteriums einhergehen.
In dem für BERLIN HAT TALENT adaptierten bzw. angepassten Softwarepaket
MAOE sind sowohl weitere Zugehörigkeitsfunktionen als auch weitere
multiattributive Methodiken (Methode der Unscharfen Güte, PROMETHEE,
Unscharfe Dominanzmengen…) implementiert, die innerhalb der diskursiven
Validierung kombiniert und interaktiv am Computer umgesetzt werden können
(Ester et al., 2019).
Die Bewertung im Rahmen des Analytischen Hierarchie Prozesses erfolgt mit Hilfe
von diskursiven Validierungen mittels Zugehörigkeitsfunktionen (Abbildung 41)
18
,
die Hierarchiebildung und die Gewichtung in den Knoten ebenso (Abbildung 42).
Dabei wird gewährleistet, dass keine scharfen Grenzen gezogen und kein absolutes
Optimum gesucht werden muss. Es reichen mit wahrnehmungsbasierten Worten
unscharf gekennzeichneten Mindestqualitäten („halbwegs zufrieden“, “deutlich
verbessert“, „eher schlechter“…). Eine detaillierte Beschreibung der Schrittfolgen
bei der Diskursiven Validierung findet man in dem Forschungsbericht von Zinner et
al., 2022b).
Einschub:
Es sei hier besonders darauf hingewiesen, dass die Formierung eines
Expertenteams und die Organisation der Zusammenarbeit dieser Experten
(Erfahrungsträger) im Rahmen der Diskursiven Validierung einen
eigenständig zu planenden, zeitaufwändigen Arbeitsschritt darstellt. Der
Diskurs mit den Praktikern über die von ihnen gewünschten Einschätzungen
und Bewertungen setzt von allen Beteiligten zwingend eine tiefgründige
Auseinandersetzung mit den Daten und damit eine fundierte Position der
"Untersucher“ zu den substanziellen Analyseinhalten voraus.
Dieser besondere Arbeitsschritt, der einen erhöhten Aufwand und die
Erhebung zusätzlicher Daten bedeutet sowie kompliziertere
Entscheidungsmodelle verursacht, ist sozusagen der „Preis“ für die
18
Durch die Konstruktion und Verwendung gradueller Zugehörigkeitsfunktionen zur Berücksichtigung von
Expertenwissen kann eine unscharfe Ausgangssituation mathematisch präzise definiert und schließlich auch mit
Hilfe multiattributiver FUZZY-Analysen (scharf) berechnet („beherrscht“) werden. Zugehörigkeitsfunktionen
präzisieren etwas, was unpräzise ist. Mit ihnen verschiebt sich das Denken von „entweder-oder“ hin zu „sowohl-
als-auch“, „zu welchem Grad“, zu „halbwegs zufrieden“, zu „ausreichend“ usw. ….
54
Möglichkeit, zusätzlich zu den quantitativen Analysen nun auch das
subjektive Wissen und die Theoriepositionen von Experten in die Analysen
einzubeziehen. Wir ermöglichen eine solche Einbeziehung beispielsweise
zur Spezifität von Parametern, zu Messfehlern und biologischen
Schwankungsbreiten, zu Normierungsvereinbarungen, zu
Substitutionsraten. Das „erspart“ man sich bei dem üblichen „klassischen
Vorgehen“ – man muss sich nur klar machen, dass dann all diese
Informationen völlig unberücksichtigt bleiben! (Die konkreten Schrittfolgen
einer Diskursive Validierung sowie evaluierende Sensitivitätsanalysen
werden bei Zinner et al. 2022 aufgezeigt).
Abb. 41: Beispiel für eine Zugehörigkeitsfunktion in sigmoider Form.
Interpretationsbeispiel: Auf der x-Achse ist der der Wertebereich der Liegestütze aufgeführt (von 0
bis 32), die Y-Achse bemisst die Zugehörigkeit zur unscharfen Menge der Talente (von 0 bis 100%). Im
Bereich des Mittelwertes der Liegestütze ist ein Kind sowohl Talent als auch Nichttalent, links davon
(exponentiell abnehmend) eher weniger Talent, rechts davon (exponentiell zunehmend) eher mehr...
55
Abb. 42: Beispiel für eine gewichtete Hierarchie
19
Interpretationsbeispiel: In diesem Fall hat man sich in der diskursiven Validierung beispielsweise auf
fünf Knoten/Komponenten geeinigt, für die sich jeweils eine semantische belegbare sportspezifische
Bedeutung erkennen ließ: im Knoten der Ausdauer/Kraft-Ausdauer (A/KA) führte man zum Beispiel
die Parameter Liegestütze, Sit ups und 6-Minuten-Lauf zusammen. Dabei wurde dem Parameter 6-
Minuten-Lauf die höchste Priorität (100%) auf A/KA eingeräumt, den Liegestützen 80% und den Sit ups
60%. Die Komponente A/KA selbst erhielt bezüglich ihrer Bedeutung für die übergeordnete
Komponente „sportliche Begabung“ die zweithöchste Wertung (90%) usw., usf.
Im Ergebnis der Analysen auf Basis des Alternativen Hierarchie-Prozesses und der
Rückwärtsfilterung erhalten wir schließlich für das Jahr 2022 eine vollständige
RANGFOLGE (!) aller 7.876 untersuchten Schülerinnen, in der die auf dem ersten
Platz liegende Schülerin bezüglich der in der diskursiven Validierung getroffenen
Bewertungen dem Ideal jedenfalls am ähnlichsten ist (d. h. am nächsten liegt) und
diese Ähnlichkeit dann mit steigender Platznummer der Mädchen abnimmt.
Unserem bisherigen Vorgehen und der Komplexität und Kompliziertheit des
Gegenstands folgend ist es nun aber auch angemessen, innerhalb dieser Rangfolge
19
…auch wenn die Struktur und alle diese Abschätzungen im Diskurs mit Trainern und Lehrern ermittelt wurden sie
bilden lediglich eine erste Iteration und sind vor allem exemplarisch im Rahmen dieses Beitrags zu sehen. Für den
Diskurs ist es hilfreich, die Auswirkungen unterschiedlicher Abschätzungen in Modellrechnungen interaktiv zu
„beobachten“ und zu evaluieren (siehe weiter unten).
56
nicht etwa eine feste Platznummer vorzugeben, die ein Talent von einem
Nichttalent trennt, sondern sie als eine fundierte Handlungsgrundlage zu nutzen,
um die Mädchen für eine besondere Förderung vorzuschlagen, auf die man
zuallererst blicken sollte, wenn man Talente sucht.
Damit ergibt sich das BEST-PRACTICE-BEISPIEL 4 für die Talentidentifikation des
Schuljahres 2022 bei BERLIN HAT TALENT: Die Abbildung 43 zeigt die (wahlweise
festgelegten) 10% der bewegungsbegabtesten Drittklässlerinnen in Berlin in
diesem Jahr und deren schulscharfe Verteilung auf die 290 teilgenommenen
Berliner Schulen - ganz nach dem Motto: „…alle haben die Chance, ihr motorisches
Talent zu zeigen“.
Abb. 43: Talentscreening unter den Berliner Drittklässlerinnen und Drittklässlern im Jahr
2022
Interpretationsbeispiel: Die 16.222 in dem Schuljahr 2021/22 untersuchten DrittklässlerInnen Berlins wurden
in eine RANGFOLGE entsprechend ihres sportmotorischen Talents gebracht. Unter den beispielsweise n=10%
Besten (n ist variabel, aber fix, im Falle von n=10 sind das also 1.622 SchülerInnen) sind 8 adipös und 474
vereinslos (obere Info-Spalte). Von der Schule 1112 nahmen 102 DrittklässlerInnen am Test teil, von diesen
gehören 16 zu den 10% besten Berlins, 4 davon sind noch vereinslos und keiner von ihnen ist adipös (untere
Info-Spalte) usw., usf.
Eine solche nach Bezirk, Schule, Geschlecht und Normkategorie differenzierte
RANGFOLGE aller 16.222 untersuchten Drittklässlerinnen und Drittklässler liegt
vor. Analog dem Vorgehen für die Förderschwerpunkte (vgl. Fußnote 7) enthält
sie nach Bezirk und Schule differenzierte Hinweise, wo Talentschwerpunkte
57
liegen, Talentsichtungsgruppen gebildet, Teilnehmer angesprochen und mit
Vereinen punktgenau kooperiert werden sollten, wo und wieviel
Coaches/Übungsleiter zur Betreuung benötigt bzw. auch ausgebildet werden
müssten usw. usf. Diese Übersicht sollte (selbstverständlich wenn auch mit
besonderem Aufwand verbunden - unter Berücksichtigung der Datensicherheit…)
die Handlungsgrundlage für die zu organisierenden Maßnahmen zur Umsetzung
von Schlussfolgerungen des bei BERLIN HAT TALENT durchgeführten
Talentscreenings sein. Die Abbildung 44 zeigt die für eine solche Umsetzung
besonders bedeutsamen Player und die Anforderungen für deren
Zusammenarbeit (Jahresanalyse 2018/19).
Abb. 44: Akteure zur Umsetzung der bei BERLIN HAT TALENT erreichten Analyseergebnisse im
Talentscreening und deren inhaltliche Felder für eine zielorientierte Zusammenarbeit
Ob die mit diesem Ansatz identifizierten Kinder nun aber ihr Potential langfristig
tatsächlich ausreizen können und im Sport erfolgreich werden, hängt von vielen
weiteren Einflussgrößen und Bedingungen ab. Der (prognostische) Wert der
ermittelten Rangfolge wird sich deshalb erst in der Zukunft zeigen. Für die heutigen
Nachwuchsverantwortlichen in Berlin konnten aber eine Menge von
Plausibilitätsbetrachtungen sowohl zur Zweckmäßigkeit der in den Diskursiven
Validierungen gefundenen Bewertungen als auch zur Validität der
58
Rangfolgebestimmungen entwickelt werden, die sie als intuitiv einsichtig
verstanden und deshalb ermutigt haben, die Förderentscheidungen tatsächlich
auch auf dieser Grundlage zu treffen. Dieses Vorgehen hat sich im Laufe der Jahre
immer wieder bestätigt und kann als konsensuale Validität gelten: Auch wenn nicht
alle so ausgewählten Schüler ihre (eigenen) Erwartungen erfüllen können, dürfen
gerade sie keinesfalls übersehen werden! Unsere Erfahrung ist, dass die
andauernde Mitwirkung der Experten innerhalb des Vorgehens und dessen
Transparenz Vertrauen schafft und nicht nur zu einer besseren Akzeptanz, sondern
auch zu einer ganz offensiven Übernahme von Mitverantwortung der Praxispartner
für die Ergebnisse einer solchen Talentidentifikation führen.
Im Abschnitt 3.3 wollen wir über die in früheren Veröffentlichungen von uns bereits
diskutierten Plausibilitätsbetrachtungen zu den Rangfolgen hinaus zeigen, wie
überzeugend selbst in der Gruppe der Besten, in der unter Nutzung der
Normkategorien alle „gleich gut“ sind
20
, doch Unterschiede im motorischen
Leistungsstand offengelegt – und damit auch Orientierungen für künftig
individualisierte Trainingsinterventionen gefunden werden können.
3.3 Zum Vergleich der Talentidentifikation auf Ebene der Normkategorien und
auf der Basis der multiattributiven unscharfen FUZZY-Vorgehensweise – zu
einer gelingenden Differenzierung in der Gruppe der „Besten“
Bei einem Vergleich der mit Hilfe der multiattributiven (FUZZY-)Vorgehensweise auf
den Plätzen 1 bis 214 liegenden Mädchen mit jenen 214, die die höchste
Leistungsklasse der Normkategorien (NK 5) erreicht haben (Abschnitt 2.), zeigt sich
zunächst folgende prinzipielle Situation: Von den 214 über FUZZY identifizierten
Mädchen sind 124 in der NK 5, 80 in NK 4 und 10 in NK 3. Es werden also –
insbesondere in Folge der Einbeziehung des Erfahrungswissens zu Bewertungen,
Gewichtungen und Kompensationen - 90 Mädchen der nach Normkategorien
höchsten Klasse durch Mädchen niedrigerer Klassen - aber mit offenbar besseren,
ganzheitlichen Leistungsvoraussetzungen - ersetzt! Das hohe Niveau der auf diese
Weise identifizierten Mädchen verdeutlicht, dass nur rund 12% aller Berliner
Mädchen und rund 14% aller deutschen Mädchen in den letzten Jahren bessere
motorische Leistungswerte (Tabelle 6) erreicht haben. Kein Mädchen dieser Gruppe
ist adipös, nur 3 sind übergewichtig, 43 Mädchen (!) sind noch in keinem Sportverein.
20
Die prinzipiellen Vorzüge des multiattributiven Vorgehens gegenüber einer beispielsweise 5-stufigen Klassifizierung
über Normkategorien liegen auf der Hand (siehe Fußnote 17)
59
Tab. 6: Mittelwerte in den DMT-Tests der über FUZZY identifizierten Mädchen von Rangplatz 1 bis
214
Die Mädchen auf Rangplatz 1 bis Rangplatz 214 sind nun aber nicht mehr bezüglich
des Grads ihrer Begabung/ihres Talents ununterscheidbar, sondern lassen
Leistungsunterschiede, lassen Stärken und Schwächen erkennen. Das zeigt sich
beispielsweise bei einem Vergleich der Mädchen auf den ersten Plätzen der
Rangfolge (erste Gruppe), den mittleren Plätzen (mittlere Gruppe) sowie den am
Schluss liegenden Mädchen (letzte Gruppe): Die (Leistungs-)Unterschiede zwischen
den Gruppen verdeutlichen die Parameter-Mittelwerte (Tabelle 7).
Tab. 7: Vergleich von 3 Gruppen aus den besten 214 über FUZZY identifizierten Mädchen
Kriterien
erste Gruppe
mittlere Gruppe
letzte Gruppe
Mittelwert
Mittelwert
Mittelwert
AM
105,80
106,00
110,50
a20m
3,47
3,89
3,99
Bal
45,40
46,20
41,75
SHH
37,40
35,80
38,13
RB
7,82
7,40
4,63
LS
16,80
15,60
17,00
SU
24,80
22,40
21,50
SW
157,40
148,40
147,75
a6Min.
1128,40
959,20
846,50
Fit MoMo
91,40
83,60
80,25
Fit Berl.
92,80
88,00
83,50
ID
ID
ID
1016-22-002-2
926-22-047-2
111-22-007-2
2K06-22-065-2
419-22-012-2
336-22-033-2
304-22-035-2
1010-22-045-2
519-22-080-2
409-22-032-2
624-22-014-2
621-22-054-2
825-22-030-2
625-22-007-2
-
Mittelwerte Mädchen Platz 1 bis 214 nach FUZZY
NK
FitBerlin
FitMoMo
a20m
Bal
SHH
RB
LS
SU
SW
a6min
N
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
Mittelwert
4,53
87,93
85,50
3,85
41,92
36,50
7,39
17,39
23,12
152,72
959,16
60
Das gilt auch für Repräsentanten aus diesen Gruppen. So zeigt die Abbildung 45 je
ein Mädchen aus den drei verschiedenen Gruppen in einer Spinnengrafik im
Originalraum der (unnormierten) Parameter (ID 1016-22-002-2 ist die Rangfolgen-
Beste, ID 926-22-047-2 ist aus der mittleren Gruppe 2, ID 111-22-007-2 aus Gruppe
3), Darstellung im Raum der normierten, bewerteten und gewichteten Parameter
in Abbildung 46 verdeutlicht diese Unterschiede, die Darstellung im Raum der
(fünf) komplexen Leistungsfaktoren (Abbildung 46) hebt Stärken und Schwächen
der Mädchen weiter hervor.
Abb. 45: Spinnengrafik von je einem Mädchen der drei Gruppen im Originalraum der
(unnormierten) Parameter.
61
Abb. 46: Spinnengrafik von je einem Mädchen der drei Gruppen im Raum der normierten,
bewerteten und gewichteten Parameter. Die Leistungsunterschiede zwischen den Mädchen
werden mit der Gewichtung deutlicher erkennbar: ID 1016-22-002-2 scheint insgesamt
gesehen motorisch besser als ID 926-22-047- 2 und beide besser als ID 111-22-007-2 zu sein,
die relativ hoch gewichteten Merkmale wie 20-m Sprint, Standweitsprung, Sit ups und
Liegestütze begründen die Rangfolge.
62
Abb. 46: Spinnengrafik der auf den Raum der (komplexen, gewichteten) Komponenten/
Fähigkeiten rückgerechneten Werte von je einem Mädchen der drei Gruppen. Bei dem in der
Rangliste auf dem ersten Platz der begabten Mädchen stehende ID 1016-22-002-2 fallen ihre
außergewöhnlich guten Leistungen in den Komponenten der Schnelligkeit/Schnellkraft (am
höchsten gewichtete Komponente) bzw. der Ausdauer/Kraftausdauer auf. Sie ist dort unter
den 7.876 Mädchen auf den Plätzen 2 bzw. 23, bei der Koordination/Beweglichkeit belegt sie
Platz 120. (Bezüglich der niedrigen Bewertung des „Faktor Prognose“ siehe Bemerkung vorn)
Am Beispiel des Mädchens auf dem ersten Platz der Rangfolge (ID 1016-22-002-
2) lässt sich die Wirkung der Einbeziehung des Trainerwissens in die FUZZY-
Analysen deutlich erkennen. Die (rein statistischen) Testergebnisse dieses
Mädchens sind paretooptimal, das heißt, es gibt unter allen 7.876
63
untersuchten Mädchen keines, das mindestens in einem Test (echt) besser und
in allen anderen Tests nicht (echt) schlechter ist. Insgesamt gibt es 2.075
„paretooptimale“ Mädchen. Deren Testergebnisse lassen sich als „Randpunkte“
einer mehrdimensionalen Kugel vorstellen, die alle ohne weiteres
Trainerwissen (also ohne Bewertung, Gewichtung…) nicht mehr bezüglich ihrer
motorischen Kompetenz („Begabung“) unterscheidbar sind. ID 1016-22-002-2
wird erst durch dieses Trainerwissen zur „Begabtesten“, weil sie ihre
(isolierten) Leistungen in den Einzelparametern am besten zu dem Gesamtwert
„begabt, talentiert“ kombinieren kann (…das Ganze ist mehr als die Summe
seiner Teile)! Die multiattributive FUZZY-Vorgehensweise verwirklicht eine
globale Wahrnehmung der Eigenschaft „begabt“ statt einer Zerlegung in
vollständig definierte Kriterien
21
.
Zusammenfassend sollen diese Ausführungen belegen, dass sich mit der FUZZY-
Analytik also selbst noch unter den ersten 2,7% der insgesamt 7.876
untersuchten Mädchen intuitiv einsichtige, plausible Unterschiede in der
motorischen Leistung sichtbar machen lassen. Hinzu kommt, dass die
(rückgerechnete) Charakterisierungen der motorischen Fähigkeiten der
Mädchen in komplexeren Ebenen, als es die einzelnen Testparameter sind,
gestaltbarere Vor- und Nachteile in den motorischen Fähigkeiten offenlegen
und deshalb zielführende Hinweise für geeignete Interventionen geben können.
Unsere Ergebnisse benennen also nicht nur einen Zugehörigkeitsgrad einer
Schülerin zur (unscharfen) Menge der motorisch begabten Kinder, sondern
erlauben zugleich aus deren speziellen individuellen Fähigkeiten abgeleitete
Hinweise in der Art: Mache das und lasse jenes…!
Dabei erreichen wir diese Ergebnisse auf der Basis der quantitativen
motorischen Daten, ohne auf Referenzstichproben zugreifen zu müssen und auf
der Grundlage scharfer mathematischer Verfahren, deren Unschärfe lediglich in
der Einbeziehung des qualitativen Expertenwissens besteht.
21
Das gilt, obwohl ID 1016-22-002-2 beispielsweise 343m weniger läuft im 6-Minuten Lauf als die Beste in diesem Test, 19
cm weniger im Standweitsprung erreicht als die Beste in diesem Test usw. Dass diese Defizite so extrem sind, liegt an
den hohen Kompensationsmöglichkeiten im Testprofil.
64
4. FAZIT:
BERLIN HAT TALENT im Jahr 2022 schafft für das wichtige mittlere Kindesalter,
das von schnellen Fortschritten in der motorischen Lernfähigkeit geprägt ist -
neben einer inspirierenden Ausstrahlung auf die Qualität des Schulsports
generell - erstklassige Voraussetzungen, einerseits in der Sportmetropole Berlin
die Talentfindung und -förderung sowie andererseits in der Gesundheitsstadt
Berlin eine gesunde kindliche Entwicklung besonders gefährdeter Kinder auf
eine ganz neue, bundesweit beispielhafte Weise zu gestalten.
BERLIN HAT TALENT im Jahre 2022 blickt auf in den Vorjahren geschaffene
Vorgehensweisen, Erkenntnisse und Methodiken zurück, die jeder Schülerin
und jedem Schüler der dritten Klassen künftig gute Möglichkeiten eröffnen,
sein Talent zu zeigen bzw. den Bedarf zur Entwicklung seiner vergleichsweisen
geringeren motorischen Fertigkeiten und damit auch zur Vermeidung seiner
gesundheitlichen Risiken zu erkennen.
BERLIN HAT TALENT trägt dazu bei, dass das eigentliche Ziel der
Bewegungsförderung durch Schule und Sport - nämlich die Einladung,
Ermutigung und Inspiration aller Kinder zu einem lebenslangen Sporttreiben -
gelingen kann.
BERLIN HAT TALENT verbessert nachhaltig Klima und Atmosphäre zu
Bewegung und Sport in unserer Stadt.
BERLIN HAT TALENT verändert die Praxis!
65
Literatur
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https://doi.org/10.13140/RG.2.2.26367.07843
68
Anhang 1:
Bundesjugendspiele werden reformiert: Spaß statt
Wettkampf
Anmerkungen
Bei den Untersuchungen von BERLIN HAT TALENT in den vergangenen 10 Jahren waren von
ca. 60.000 untersuchten DrittklässlerInnen fast 15% (8.566) motorisch nicht fit und fast
10% (5.463) adipös. Besonders erschreckend: Fast jedes zweite (!) dieser adipösen Kinder
war zugleich motorisch nicht fit. Rechnet man das auf die Gesamtzahl der Berliner
DrittklässlerInnen hoch, so „entlassen“ unsere Schulen innerhalb von 10 Jahren allein aus
den dritten Klassen mehr als 15.000 Schülerinnen und Schüler in eine körperlich und
gesundheitlich riskante Zukunft, weil bekanntermaßen Übergewicht und Adipositas bei
Kindern zumeist auch mit einer erheblichen Reduktion der Lebensqualität, mit erhöhtem
Blutdruck, mit Fettstoffwechselstörungen und Glukoseintoleranz verbunden sind. Und weil
Übergewicht in Verbindung mit einer fehlenden Fitness auch zu einer geringeren
Motivation für körperliche Aktivität im späteren Erwachsenenalter führt und damit das
Risiko für körperliche, kognitive und psychosoziale Gesundheit latent erhöht.
Das geplante Vorhaben suggeriert, dass der fehlende Spaß am Sport einen wichtigen Anteil
an dieser besorgniserregenden Situation haben könnte. Ist das so?
Unsere Untersuchungen zeigen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Berliner
Drittklässlerinnen und Drittklässler dem Sport außerordentlich positiv gegenübersteht: Von
mehr als 6.000 befragten Kindern freuen sich 94% auf die Sportstunde und 71% wünschen
sich mehr Sport. Das scheint ein doch mutmachender Befund zu sein! Wie kann er verstetigt,
vielleicht sogar ausgebaut werden? Wie werden Kinder zu Sport eingeladen, ermutigt und
inspiriert?
Ohne Zweifel ist Spaß dabei ein wichtiger Ansatz, aber notwendig könnten dazu auch
verstärkte Anstrengungen sein, um beispielsweise
1. Die Selbsteinschätzung der Kinder zu verbessern: Von mehr als 6.000 befragten
Drittklässlerinnen und Drittklässlern schätzen sich 69% der Jungen und 55% der
Mädchen als „echt sportlich“ ein – aber lediglich 19% bzw. 18% können das im
Deutschen-Motorik Test bestätigen. Von über 1.500 nicht fitten Kindern der dritten
Klassen bezeichnen sich mehr als 56% als fit, selbst von rund 1.000 adipösen Kindern
meinen das 53% - aber nur für 3,6% trifft das zu!
69
2. Die Reflexion der (Sport-) Lehrkräfte über die Sportlichkeit der Kinder zu
hinterfragen: Von fast 5.000 befragten Schülerinnen und Schüler ist der Sportnoten-
Durchschnitt 1,54, selbst die Übergewichtigen kommen auf 1,65!
Von 135 befragten (Sport-) Lehrkräfte schätzen 60% die Mehrheit ihre Schüler als fit
ein - nur 16% sind es wirklich.
3. Die Vorbildwirkung der Eltern zu verdeutlichen: Von rund 40.000 in 10 Schuljahren
befragten Drittklässlerinnen und Drittklässlern haben nur 20.762 (51%) der Kinder
ihre Familien als sportlich eingeschätzt. Von den sportlichen Familien sind 63% der
Kinder in einem Sportverein, von denen 24% fit sind. Bei den Kindern ohne
Vereinszugehörigkeit sind 10% fit.
Von den fitten Schülerinnen und Schülern sind rund 65% im Verein, von den nicht
fitten 23%. Von den fitten Schülerinnen und Schülern sind 1,7% adipös, von den nicht
fitten 30,8%.
4. Einer Verkettung der Risikofaktoren Fitness, Übergewicht, fehlende
Vereinszugehörigkeit und Migration entgegenzuwirken: Von 3.444 Kindern mit
Migrationshintergrund sind 37% im Verein, 11,4% adipös und 15,1% motorisch nicht
fit. Von 3.656 Kindern ohne Migrationshintergrund sind dagegen 49% im Verein, 6,2%
adipös und 9,7% nicht fit.
Spaß statt Wettkampf - das muss keinesfalls ein Gegensatz sein. Es könnte vielmehr ein
Verzicht auf das sein, was von klein auf angelegt ist und was gerade mit Sport und Bewegung
erfahrbar wird, nämlich der Vergleich „ICH und die ANDEREN“. Man erlebt „Ich kann es“ und
man versteht: „Ich werde besser, wenn ich übe“! Und es ist eine besonders
entwicklungsfördernde Freude, wenn man etwas erreicht, was man sich selbst nicht
zugetraut hat. Der Vergleich motiviert ein Kind von Geburt an. Es will frühzeitig nicht nur
einen Turm bauen, sondern es will ihn immer höher bauen, möglichst sogar am höchsten
bauen. Und es ist traurig, wenn mit zunehmendem Alter dieses „sich vergleichen“ und die
damit verbundene Lust auf Leistung mehr und mehr verdrängt wird (damit es ja keine
vermeintlichen - Verlierer gibt). Und es ist dramatisch, wenn gerade in den Schulen dazu
unangemessene Maßstäbe vorgegeben werden. Wo soll der Anspruch zur Veränderung
herkommen, wenn man diese nicht klar benennt?!
Prof. Dr. Jochen Zinner / 10.07.2023
DHGS Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport
jochen.zinner@dhgs-hochschule.de
70
ANHANG 2:
Berlin, 06.06.2023
Zinner, J., Büsch, D. & Utesch, T.
COVID-19 Kommentar 2
CORONA, SOZIALES UMFELD, ÜBERGEWICHT UND SPORT
Ausgewählte Ergebnisse und Empfehlungen aus dem DFG-
Forschungsprojekt PESCov für Berlin
Die Ergebnisse und Empfehlungen sind Teil des PESCov-Projektes („Physical
Education, Sport and Corona-Virus Pandemic: Understanding folgens of COVID-
19 pandemic lockdowns on children's and Youth Physical Literacy“), das von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, Nr. UT 158/1-1; Projektleiter Prof.
Dr. Till Utesch (WWU Münster), Prof. Dr. Jochen Zinner (DHGS Berlin), Dr.
Claudia Niessner (KIT Karlsruhe) & Prof. Dr. Dirk Büsch (CvO Oldenburg))
gefördert wurde. Die Daten stammen aus dem vom Berliner Senat und dem
Berliner Landessportbund geförderten Programm BERLIN HAT TALENT
22
.
Gegenstand des Forschungsprojektes war der Einfluss von Maßnahmen im
Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie auf die motorische Entwicklung
von Kindern unter besonderer Berücksichtigung des („schulscharfen“)
sozioökonomischen Hintergrunds (SEB)
23
in Berlin. Erste Ergebnisse und
Schlussfolgerungen dazu wurde bereits im August 2022 von uns veröffentlicht
(Zinner et al., 2022), nun liegen die Forschungsberichte vor und befinden sich
im Publikationsprozess (preprints: Piesch et al., 2023; Stojan et al., 2023)
24
.
22
Weiterführende Erläuterungen und das mathematisch-statistische Vorgehen kann man der im
Anhang zitierten Literatur entnehmen.
23
Der sozioökonomische Hintergrund (SEB) der Kinder beruht auf der statistischen Kennzahl, mit der
der Berliner Senat im Rahmen der Schultypisierung (STYPS) die soziostrukturelle Situation jeder
Berliner Schule ermittelt. Sie benutzt ein mehrstufiges Verfahren zur Indexbildung. Je höher der SEB
ist, desto geringer ist die strukturelle Belastung der Kinder dieser Schule durch soziale Herkunft,
Integration, geographische Lage u.a.
24
Die Stärke dieser Studie sind die große Stichprobe (nur wenige Studien haben die Entwicklung der
motorischen Leistungsfähigkeit im Kindesalter im Kontext der COVID-19 Pandemie untersucht und
dabei die Rolle des SEB berücksichtigt) und die Tatsache, dass die motorische Leistung seit 2011
verfolgt und jährlich ausgewertet wurde (siehe Jahresberichte der DHGS). Letzteres ermöglicht es
uns, säkulare Trends zu berücksichtigen. Dadurch konnte vermieden werden, dass eine geringere
motorische Leistung während der Pandemie im Vergleich zu vor der Pandemie fälschlicherweise auf
die Pandemie zurückgeführt wird, während dies auch durch einen negativen säkularen Trend
begründet sein könnte
71
1. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der damit
verbundenen Lockdowns auf den Body-Mass-Index (BMI)
25
von
Berliner Kindern der dritten Klasse unter gleichzeitiger
Berücksichtigung des jeweiligen sozioökonomischen Umfeldes
(SEB)
Der SEB eines Kindes hat einen signifikanten Einfluss auf seinen BMI, Kinder
mit niedrigem SEB haben einen wesentlich höheren BMI, Kinder mit hohem
SEB dagegen einen wesentlich niedrigeren (sozio-ökonomische „Kluft als
Normalzustand“),
Die beiden Lockdowns 1 und 2 haben bei den Berliner Drittklässlern
insgesamt zu einem erheblichen Anstieg des BMI geführt. Dieser Anstieg ist
bei Kindern mit niedrigem SEB besonders stark. Das weist darauf hin, dass
sich die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten in Bezug auf
Gewichtsstatus und Adipositas-Prävalenz bei Kindern als Folge der Pandemie
weiter vergrößert haben.
Nach dem 2. Lockdown war die (negative) Wirkung des SEB auf den BMI
noch deutlich stärker als nach dem ersten Lockdown und auch der Anstieg
(Gradient) in den Gewichtsunterschieden zwischen Kindern mit niedrigem
und hohem SEB wurde deutlich steiler (beschleunigtes „Lückenwachstum“).
Die starke Zunahme des SEB-Effekts nach Lockdown 2 gegenüber Lockdown
1 erscheint angesichts der Dauer beider Lockdowns erklärlich: Mit einer
Spanne von fast sechs Monaten war der zweite Lockdown wesentlich länger
als der erste Lockdown (weniger als zwei Monate). Dadurch verblieben
Kinder mit einem niedrigem SEB über einen viel längeren Zeitraum einem
ihrem Körperstatus (BMI) nachteiligen Umfeld ausgesetzt. Offenbar hat die
Dauer eines Lockdowns eine entscheidende Rolle hinsichtlich ihrer
Auswirkung auf den Zusammenhang zwischen SEB und dem BMI im
Kindesalter.
Die deutliche Gewichtszunahme in den Corona-Jahren ist gleichzeitig mit
einer Verschlechterung in der motorischen Leistungsfähigkeit gekoppelt
26
.
25
Eine auf dem Body-Maß-Index mögliche Einschätzung von Übergewicht und Adipositas gilt als Bio-Marker für
die Körperkonstitution und erlaubt Hinweise auf die anthropometrische Gesundheit.
26
Die Untersuchungen untermauern die durch BERLIN HAT TALENT immer wieder belegten negativen
Auswirkungen, die durch die Verkettung der vorhandenen Risikofaktoren (nämlich überdurchschnittlich
starkes Übergewicht, Defizite in der motorischen Fitness und Vorhandensein bemerkenswert großer
soziostruktureller Unterschiede zwischen Bezirken und Regionen in Berlin) für die gesundheitliche Entwicklung
der Berliner Kinder gegeben sind.
72
Waren in dem Vor-Corona-Jahr noch fast 20% der Kinder motorisch fit, so
stürzte dieser Anteil während der Pandemie auf einen Tiefstwert von 12%,
wo hingegen der Anteil der übergewichtigen Kinder von (bereits schlechten)
19,5% vor der Pandemie auf einen Höchstwert von 21,2% stieg. Während
sich aber am Ende des Schuljahres 2021/22 die Fitnesswerte bereits wieder
verbesserten, verblieb das Übergewicht auf dem hohen Niveau. Das
unterstreicht unsere Erkenntnisse, dass (pandemiebedingte) Fitness-
Verschlechterungen schneller aufgeholt als gesundheitliche Gefahren (durch
Übergewicht und Adipositas) abgewendet werden können.
Schlussfolgerung 1:
Damit haben die in Berlin zur Eindämmung der Zahl der COVID-19-Infektionen
verhängten Lockdowns die bereits bestehende Kluft zwischen Kindern mit
niedrigem und hohem SEB im Hinblick auf die Gewichtsunterschiede weiter
vergrößert! Daraus resultieren latente Gefahren für eine künftig gute
körperliche, gesundheitliche und geistige Entwicklung dieser Kinder. Sowohl
Übergewicht als auch besonders Adipositas im Kindesalter sind anhaltend bis
ins Jugend- und Erwachsenenalter mit negativen Auswirkungen auf die
körperliche und psychosoziale Gesundheit verbunden. Kinder mit
überschüssigem Körperfett haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für Herz-
Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck und einen gestörten Fett- und
Glukosestoffwechsel, sondern leiden auch häufiger z. B. an Diabetes mellitus,
an Krebs oder am Mobbing. Daraus folgt zwingend die Notwendigkeit von
Gegenmaßnahmen, um den durch den Lockdown bedingten BMI-Anstieg bei
Kindern zu reduzieren, insbesondere in Gebieten mit niedrigem SEB! Für die
Zeit nach der Pandemie ist es deshalb geboten, alle körperlichen Aktivitäten
von Kindern zu fördern und verstärkt Angebote (wie z. B. maßgeschneiderte
Aufklärung zu körperlicher Gesundheit und Ernährung, spezifische Kenntnisse
zu „klassischen Heim- und Freizeitübungen“, wenn man seine Fitness
verbessern will oder Maßnahmen zur Gewichtskontrolle) zu schaffen, um dem
Risiko steigender Übergewichtsraten bei Kindern und den damit verbundenen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen entgegenzuwirken
27
.
Schließlich sollten unsere validen, quantifizierten Erkenntnisse (Lockdowns
verschlechtern Gewichtsstatus, Dauer von hohem Einfluss, Zunahme sozialer
27
Beim Thema SEB/BMI/Motorik müssen die Eltern verstärkt in künftige Untersuchungen und Auswertungen
einbezogen werden, da nicht nur die (fehlende) Bewegung der Kinder in der Schule, sondern das gesamte
„Sozialleben“ und damit auch das Wissen und Handeln der Eltern für die Zukunft maßgeblich sein werden
(siehe auch Schlussfolgerung 2).
73
Ungleichheiten, Kinder mit niedrigem SEB besonders gefährdet...) auch dazu
beitragen, künftige Pandemierichtlinien zu optimieren.
2. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen
Lockdowns auf die motorische Leistungsfähigkeit von Berliner
Kindern der dritten Klasse mit unterschiedlichem
sozioökonomischem Umfeld (SEB)
Verglichen mit der prognostizierten motorischen Leistung unter
Berücksichtigung des säkularen Trends war die tatsächliche motorische
Leistung der Kinder nach der Pandemie insgesamt um mehr als 4 %
verschlechtert. Das entspricht aus entwicklungspolitischer Sicht einem
Verlust in der motorischen Entwicklung unserer Berliner Kinder von ca.
einem Jahr!
Ein solcher Effekt kann schwerwiegende und anhaltende negative Folgen für
verschiedene gesundheitsbezogene Faktoren haben. Beispielsweise ist
bekannt, dass ein geringeres Maß an körperlicher Fitness und Aktivität in der
Kindheit zu einer geringeren Motivation für körperliche Aktivität im späteren
Erwachsenenalter führt. Das wiederum kann sich negativ auf die körperliche,
kognitive und psychosoziale Gesundheit auswirken. Solchen latenten
Spätfolgen der Pandemie muss zeitnah und nachhaltig entgegengewirkt
werden!
Unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Umfelds der Kinder (SEB auf
Schulebene) konnten wir ebenfalls unter Ausschluss des säkularen Trends -
einen noch stärkeren Entwicklungsverlust der Kinder in ihrer motorischen
Leistungsfähigkeit nachweisen: Kinder mit sehr hohem SEB hatten einen
Entwicklungsverlust von -8,66 %, Kinder mit hohem SEB einen von -5,80 %!
In diesem Zusammenhang war auffällig, dass Kinder mit sehr niedrigem SEB
nach Berücksichtigung des säkularen Trends einen (negativen)
“Entwicklungsverlust” von +2,51 % zeigten. Die Pandemie hat also dazu
beigetragen, die auf Grund des verschiedenartigen sozioökonomischen
Umfelds bestehende Lücke in der unterschiedlichen motorischen
Leistungsfähigkeit der Kinder zu verkleinern. Leider kommt diese Konvergenz
aber weniger dadurch zustande, dass die Kinder mit niedrigem SEB gegenüber
den Kindern mit hohem SEB aufholen, sondern dass die Kinder mit hohem SEB
überproportional an motorischer Leistungsfähigkeit verlieren (Begründung
unten).
74
In Bezug auf einzelne motorische Komponenten deuten unsere Ergebnisse auf
eine große Differenziertheit hin, die bei der Wiederherstellung der
motorischen Fähigkeiten berücksichtigt werden sollte:
Wir konnten beispielsweise beobachten, dass insgesamt die Kinder
während der Pandemie bei Liegestützen und im 20-m-Lauf
schlechtere Leistungen (-16% bzw -11%) erbrachten als vor der
Pandemie. Im Gegensatz dazu zeigten die Kinder beim 6-Minuten-
Lauf und bei den Sit-ups nach der Pandemie bessere Leistungen als
vor der Pandemie (+8 bzw +3%).
Der Unterschied in den einzelnen motorischen Leistungen bei
Kindern mit niedrigerem und höherem SEB war bei Seitensprüngen,
Liegestützen und Sit-Ups nach den Lockdowns größer, verringerte
sich aber für Weitsprung und 6-Minuten-Lauf.
Eine solche differenzierte Analyse und Berücksichtigung dieser (und
anderer siehe Forschungsbericht) unterschiedlichen positiven und
negativen Wirkungen der Pandemie auf die verschiedenen motorischen
Fähigkeiten ist auch deshalb erforderlich, weil sie durch versäumtes
Üben und Trainieren in möglicherweise kritischen kindlichen
Entwicklungsphasen der motorischen Entwicklung hervorgerufen und
deshalb ohne zielorientierte Einflussnahme nur schwer korrigierbar sind.
Ursache dafür könnten angepasste Verhaltensweisen bei körperlicher
Aktivität der Kinder während der Pandemie sein (wie etwa durch den
Wegfall des Sportunterrichts oder der Aktivitäten im Sportverein sowie
durch ein unterschiedliches Freizeitverhalten in Abhängigkeit vom SEB).
Bei den organisierten Formen der körperlichen Aktivität liegt der Fokus
stärker auf der ganzheitlichen Förderung motorischer Bereiche. Kinder
mit höherem SEB waren eher in Sportvereinen körperlich aktiv, Kinder
mit niedrigerem SEB dagegen seltener. Kinder mit höherem SEB konnten
offenbar ihr körperliches Aktivitätsniveau in den Lockdown-Zeiten
dadurch weniger aufrechterhalten, während Kinder mit niedrigerem SEB
ähnlich (in)aktiv blieben. Das hat offenbar dazu geführt, dass Kinder mit
höherem SEB eher in ihrer motorischen Entwicklung zurückfielen, da sie
von einem höheren Ausgangsniveau ausgingen. In der Folge davon hat
sich der Abstand (die Lücke) in der motorischen Leistungfähigkeit
zwischen Kindern mit hohem und niedrigem SEB verringert. Der Effekt
beispielsweise im 6-Minuten-Lauf, einer ausdauerbezogenen Fähigkeit,
könnte auf einer Verlagerung der körperlichen Freizeitaktivitäten
75
beruhen. So ist es eventuell wahrscheinlicher, dass Kinder mit höherem
SEB zu Hause bei ihren Geschwistern oder Großeltern geblieben sind,
was zu einem geringeren Maß an körperlicher Aktivität geführt haben
könnte. Hierzu sind aber künftig verstärkt Untersuchungen nötig, weil
gegenwärtig zum Einfluss von Eltern auf die Veränderungen im
Freizeitverhalten der Kinder während Lockdown-Zeiten nur wenig
Informationen vorliegen und weil der sozioökonomische Status (SEB) der
Kinder nicht auf individueller Ebene, sondern auf Schulebene gemessen
ist (siehe auch Fußnote 6).
Schlussfolgerung 2:
Unsere Forschung kann insgesamt zu einem besseren Verständnis der
negativen Folgen der Pandemie auf die motorische Entwicklung von Kindern
beitragen. Sie verdeutlicht, dass die mit der Pandemie verbundenen
Maßnahmen weitreichende und lebenslang anhaltende negative Auswirkungen
auf verschiedene gesundheitsbezogene Faktoren haben können. So ist gut
bekannt, dass ein geringeres Maß an körperlicher Fitness und Aktivität im
Kindesalter zu einer geringeren Motivation für körperliche Aktivität im späteren
Erwachsenenalter führen kann, was sich wiederum auf die körperliche,
kognitive und psychosoziale Gesundheit auswirkt.
Dringend zu empfehlen ist deshalb, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um
die latenten negativen Spätfolgen der Pandemie für die motorische
Leistungsfähigkeit von Kindern abzuwenden. Dazu sind individuell auf die
spezifischen Bedürfnisse der Kinder zugeschnittene effektive
Bewegungsprogramme zu entwerfen, umzusetzen und zu evaluieren, die die
körperliche Aktivität und motorische Leistungsfähigkeit fördern und die
Leistungsverluste in den am stärksten beeinträchtigten motorischen
Komponenten abbauen. Insbesondere in den Stadtteilen mit niedrigem SEB
sind Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu Einrichtungen für körperliche
Aktivitäten und für Sportvereine zu fördern, auch zu subventionieren (BERLIN
HAT TALENT vergibt diesbezüglich kostenfreie Gutscheine für ein Probetraining
in Sportvereinen). In diesem Zusammenhang ist besonders erschreckend, dass
der Anteil der Kinder mit einer Zugehörigkeit zu Sportvereinen in Berlin in den
beiden Lockdown-Jahren auf einem absoluten Tiefstand eingebrochen ist: Von
durchschnittlich ca. 42% in den Vorjahren auf 36,3%!
28
.
28
Da sollte nun aber auch geprüft werden, ob der Rückgang der SEB-bedingten Unterschiede in der
motorischen Leistungsfähigkeit während der Pandemie nicht möglicherweise wieder zunimmt,
sobald bzw. je mehr Sportvereine und Sporteinrichtungen wieder öffnen...
76
In diesem Sinne…
BERLIN HAT TALENT hat für den Sport und insbesondere die motorische und
gesundheitliche Entwicklung der Kinder in Berlin seit nunmehr 11 Jahren eine
herausragende Bedeutung. Mit der Durchführung von Talentiaden, von
Bewegungs- und Talentförderungsgruppen, mit dem Einfluss auf die Qualität
des Sportunterrichts in der Schule und mit vielschichtigen Maßnahmen zur
Qualifizierung kompetenten Personals für die sportliche, gesundheitliche und
soziale Begleitung von Kindern verfügt dieses Programm über wirksame, auf
spezifische Belange zugeschnittene Fördermöglichkeiten. Mit der Mitwirkung
an diesem Forschungsprojekt trägt BERLIN HAT TALENT nun dazu bei, die
komplexen Belastungen der COVID-19 Pandemie abzuschätzen, die (Langzeit-)
Folgen einzudämmen und sich präventiv auf ähnliche künftige Situationen
einstellen zu können.
Die Untersuchungen im Rahmen von BERLIN HAT TALENT im nun zu Ende
gehenden Schuljahr 2022/23 und in den kommenden Jahren bieten beste
Möglichkeiten, die bisherigen Ergebnisse zu evaluieren und auszubauen.
Ausgewählte Literatur:
1. Stojan, R., Geukes, K., Piesch, L., Jetzke, M., Zinner, J., Büsch, D. & Utesch, T.
(2023) Motor performance in children before, during and after COVID-19 pandemic and the
role of socioeconomic background: An 11-year cohort study of 68,996 third grade children.
10.31219/osf.io/6qxrm
2. Piesch, L., Stojan, R., Zinner, J., Büsch, D., Geukes. K. & Utesch, T. (2023) Effect of COVID-
19 pandemic lockdowns on body mass index of primary school children from different
socioeconomic backgrounds. 10.31219/osf.io/bc4uj
3. Zinner, J., Büsch, D., Bortel, C. & Utesch, T. (2022) Zur körperlichen Gesundheit von
Berliner Kindern: CORONA-Verluste teilweise aufgeholt – Beeinträchtigungen für die
gesundheitliche Entwicklungen bleiben haften! Forschungsbericht. DHGS Deutsche
Hochschule für Gesundheit und Sport, Institut für Leistungssport und Trainerbildung. Berlin.
4. Zinner, J., Büsch, D., Utesch, T., Krug, J., Ester, J., C., Bortel, C., Lange, D., Heinicke, W.,
Kainz, F. & C. Werner. (2022) BERLIN HAT TALENT seit 2012 – Jeder hat die Chance, seine
motorische Begabung zu zeigen und Defizite zu erkennen - IST-Stand nach Abschluss des
Schuljahres 2022. Forschungsbericht. DHGS Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport,
Institut für Leistungssport und Trainerbildung. Berlin.
5. Zinner, J., Niessner, C., Bortel, C., Utesch, T., Bös, K., Krug, J. & Büsch, D. (2022). 10 Jahre
BERLIN HAT TALENT – Eine methodologische Übersicht mit anwendungsorientierter
Ausrichtung. Leistungssport 52 (3), 5-12
77
Anhang 3:
BERLIN HAT TALENT 2011–2022
Entwicklungsschritte, Umfeldprojekte
78
79
T E I L: 2
Talentscreening im Programm BERLIN HAT TALENT
ein Plädoyer für eine verbesserte Balance bei der
Kombination quantitativer Motorik-Daten mit qualitativem
Trainerwissen
Zur Methodologie der Anwendung
multiattributiver FUZZY-Analysen
- Ist-Stand 2023 in Berlin
Prof. Dr. Jochen Zinner
Prof. Dr.-Ing. habil. Jochen Ester
Stand: 12.12.2023
80
Gliederung:
1. Ausgangspunkt, Zielstellung
2. Unbehagen, Kritik des bisherigen Vorgehens
3. Neueste Erkenntnisse der Quantenphysik als inspirierende Idee,
Anregung, Ermutigung und als ein Narrativ zur Erweiterung des
klassischen Statistikvorgehens…
3.1 Theorie-Erkenntnisse der Quantenphysik
3.2 Inspirationen aus der Quantenphysik für das Talentscreening im
Sport
3.3 Die Konsequenzen aus der Quantentheorie sprechen für eine
Erweiterung klassischer Statistikverfahren durch ein verstärktes
Einbeziehen qualitativen Expertenwissens
4. Bewährte Methoden des multiattributiven FUZZY- Vorgehens in
Berlin und ausgewählte mathematischen Grundlagen
4.1 Vorbereitende Verfahrensschritte
4.2 Methoden des multattributiven Variantenvergleichs (spezielle
MADM-Verfahren)
4.2.1 Rückwärts-Filterung
4.2.2 Unscharfe Dominanzmengen
4.2.3 Unscharfe Güte
4.2.4 PROMETHEE-Verfahren
4.2.5 Analytisches Hierarchieverfahren (AHP) mit
Rückwärtsfilterung
4.2.6 Kombination von Auswahlverfahren und Auswertung
unterschiedlicher Rangfolgen
4.2.7 Umsetzung der Multiattributiven FUZZY-Vorgehensweise mit
dem Softwaresystem MAOE
81
5. Best -Practice: Der Einsatz multiattributiver FUZZY-Vorgehensweisen am
Beispiel des Talentscreenings unter Berliner Drittklässlerinnen und
Drittklässlern des Jahrgangs 2021/22
5.1 Daten
5.2 Abbildung des Theoriewissens mit Diskursiver Validierung und
dessen Überführung in MAOE
5.3. Rangfolgeberechnung unter Verwendung der Methode
„Analytischer Hierarchieprozess mit Rückwärtsfilterung“
5.4 Darstellung und Interpretaon der Ergebnisse
6. Möglichkeiten und Beispiele zur Evaluierung der im Rahmen der
Diskursiven Analyse erreichten Abschätzungen und Bewertungen
6.1 Evaluierungsmöglichkeiten bezüglich der Gewichte
6.2 Evaluierungsmöglichkeiten bezüglich der Substitutionsraten
6.3 Evaluierungsmöglichkeiten bezüglich der Defizitanalyse
6.4 Kombinaon von mularibuven Verfahren und Berechnung
mehrerer Rangfolgen
7. FUZZY versus Statistik - Die gelingende Differenzierung in der „Gruppe
der Besten“
8. Fazit
9. Literatur
82
1. Ausgangspunkt, Zielstellung
In den vergangenen Jahrzehnten wurde Wissenschaftlern und Praktikern immer
deutlicher, dass die Identifikation von Talenten im Sport zwingend vielfältiger
und multifaktorieller auszurichten ist [36]. Dabei gilt es, mehrere Quellen, die
aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, quantitativen bzw. qualitativen Daten
sowie aus Struktur- und Anforderungswissen von Experten- und Coaches
bestehen können, zielgerichtet zu kombinieren. Ein zu starker Anspruch an
komplett standardisierte Auswertungsverfahren von Testprofilen verhindert
gelegentlich die flexible Integration von Potentialen der subjektiven Theorien
und der über Jahrzehnte erworbenen Wissensstände von Trainern und basieren
eben zumeist auf Testergebnissen oder Summenwerten. Hinzu kommt, dass die
Stichproben von besonders leistungsfähigen Talenten häufig zu klein sind, um
innerhalb „der Besten“ aus testtheoretischer Perspektive noch zuverlässig
differenzieren zu können [40]. Für Probleme solch hoher Komplexität ist es stets
schwierig, eine Balance zwischen Wissenschaft und Praxis zu finden. Hilfreich
und notwendig hierzu können Vorgehensweisen sein, die ihre Entscheidungen
nicht (nur) aus formal mathematisch-statistischen (Wahrscheinlichkeits-
)Überlegungen herleiten können, sondern (auch) auf Strategien für eine
Entscheidungsfindung unter Ungewissheit und Unschärfe zurückgreifen.
In Berlin wurden dabei über viele Jahre theoretische und praktische Erfolge bei
der Entwicklung und Anwendung von multiattributiven FUZZY-
Vorgehensweisen zur Auswertung vor allem leistungsdiagnostischer Daten im
Sport erreicht, durch die unter anderen auch eine gute Kombination von
quantitativen Motorikdaten und qualitativem Trainerwissen erreicht werden
kann. In den letzten Jahren wurden diese Methoden und Vorgehensweisen
nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern anderer
Universitäten, beispielsweise auch bei der gemeinsamen Arbeit am Programm
BERLIN HAT TALENT, weiterverbreitet und dabei unter anderem auch
überzeugende Ergebnisse für die Kombination quantitativer (Motorik-)Daten
mit qualitativem Trainerwissen auf dem Gebiet des Talentscreenings erzielt
[25], [31], [34], [39].
Mit diesen Vorgehensweisen wird der übliche Weg, eine Verbesserung des
Talentscreenings insbesondere durch immer weiter spezifizierte
mathematisch-statistische Methoden zu erreichen, erweitert, indem
Möglichkeiten entwickelt wurden, mit denen subjektive Theorien und
empirisches Wissen von relevanten Erfahrungsträgern modelliert und
83
prominent in die quantitativen (statistischen) Methoden integriert werden
können.
Trotz der erfolgreichen Anwendung ist es allerdings nicht nachhaltig gelungen,
dieses Vorgehen (diese auf einer graduellen Abstufung der Wahrheit
beruhende andere Art zu Denken…) als Ergänzung und Erweiterung
insbesondere der statistischen Vorgehensweisen und Methoden beispielsweise
auf dem Gebiet der komplexen Leistungsdiagnostik bzw. der Talentfindung im
Sport nachhaltig unter Sportwissenschaftlern bzw. in der Sportwissenschaft
insgesamt zu verankern.
Wir wollen deshalb mit diesem Beitrag
- den in Berlin über viele Jahre erreichten methodologischen
Entwicklungsstand bei der Anwendung multiattributiver FUZZY-
Vorgehensweisen auf dem Gebiet des Sports in wichtigen, innovativen
Aspekten charakterisieren und in einem Überblick zusammenfassen,
- den Nutzen dieser Vorgehensweise so kennzeichnen und erläutern, dass
er sowohl für wissenschaftlich als auch praktisch tätige Player vor allem
auf dem Gebiet der Leistungsdiagnostik im Sport erkennbar und erlebbar
wird
- und wir wollen schließlich auch, dass eine gewisse Vereinbarkeit dieser
unscharfen Vorgehensweise mit neuesten Erkenntnissen der
Quantentheorie als inspirierende Geschichte erzählt werden kann und
deshalb künftig mehr relevante Erfahrungsträger zur Nutzung des
multiattributiven FUZZY-Vorgehens eingeladen und ermutigt werden
können.
2. Unbehagen - Kritik zum bisherigen Vorgehen
Seit 2012 werden in Berlin im Rahmen des Projekts BERLIN HAT TALENT
Drittklässler
29
verschiedener Stadtbezirke mit dem Deutschen Motorik-Test
(DMT) 6-18 (Bös et al., 2016) bzgl. ihrer motorischen Leistungsfähigkeit
untersucht.
Bei der Auswertung dieses Testmanuals sind üblicherweise Vorgehen
verbreitet, die die Testergebnisse in jeder der acht Testübungen des DMT (6-
Minuten-Lauf, Liegestütze, Sit-ups, Standweitsprung, 20m Sprint, Seitliches Hin-
und Herspringen, Rückwärts balancieren und Rumpfbeugen) am individuellen
29
Zur besseren Lesbarkeit des gesamten Textes wird das generische Maskulinum gebraucht, das hier
Personen aller Geschlechter umfasst.
84
Maßstab, im direkten Vergleich mit der Gruppe oder im indirekten Vergleich
mit einer Referenzstichprobe nach einer meist fünfstufigen (Leistungsnoten),
oft auch mehrstufigen (Perzentilwerte) Klassifizierung bewertet. Zugleich
werden Vorgehensweisen begründet und angehängt, die die Bewertungen in
den Einzeltests letztlich zu einem (Summen-)Score zusammenfassen, der sich
dann semantisch als allgemeine motorische Leistungsfähigkeit belegen lässt
[27], [35].
Ein wichtiges Ziel des Berliner Programms besteht darin, Kinder zu identifizieren
und zu fördern, die entweder eine hohe allgemeine motorische
Leistungsfähigkeit (einen hohen Summenscore im Sinne einer gewissen
sportlichen Begabung oder auch eines gewissen sportlichen Talents
30
) haben
oder aber einzelne Bewegungsdefizite aufweisen. Diese beiden Gruppen
werden in sogenannten Talent- bzw. Bewegungsfördergruppen vor allem auf
Bezirksebene in Berlin gefördert
31
.
Für ein allgemeines sportmotorisches Screening scheint dieses Vorgehen
(Klassenbildung auf der Basis von Summenscores) ausreichend zu sein, für eine
gelingende Talenteinschätzung bedarf es jedoch differenzierterer Analysen.
Denn insbesondere folgende drei Unbehagen stellen sich bei dieser eher
klassischen Lösungsstrategie ein:
1. Unbehagen, weil diese Vorgehensweisen in der Regel eben auf einem
Vergleich mit einem Pool aggregierter bzw. repräsentativer und damit
notwendigerweise heterogener, oft auch länger zurückliegender
Referenzstichproben beruhen. Das kann zu einer „Entfremdung“ der
Untersucher von ihren „vertrauten“ (Roh-)Daten
32
und deshalb zu
Analyseergebnissen führen, bei denen für die Praxis nur die Wahl
bleibt, sie zu akzeptieren - oder zu vergessen…
30
In Anlehnung an Hoffmann & Pfützner [37] differenzieren wir zwischen den Bausteinen Begabung
und Talent. Begabung verstehen wir demnach als eine außergewöhnliche Fähigkeit, die angeboren
oder sozialisiert also ohne spezifische Förderung - erworben sein kann und sich schon im frühen
Alter zeigt. Diese Fähigkeit bildet das „Rohmaterial“, das erst durch spezifische Förderung in Talent
umgewandelt werden soll. Demnach begreifen wir die in unseren Analyseergebnissen ermittelten
Rangfolgen (siehe dort) nicht schon als „Rangfolge sportlichen Talents“, sondern eher als eine
„Rangfolge sportlicher Begabung“, im besten Fall als ein Talentscreening (Hohman et al., 2015).
31
Die Doppelgleisigkeit des Berliner Vorgehens einerseits einzelne motorische Defizite zu
identifizieren und andererseits ganzheitliche motorische Begabungen zu entdecken macht BERLIN
HAT TALENT zu etwas Besonderem. Das erfordert offenbar auch ein unterschiedliches, dem
jeweiligen Ziel angepasstes methodologisches Vorgehen (z. B. in der „Feinheit“ der
Unterscheidungen zwischen den Testpersonen [32]).
32
Ebenso sollte auch keine „Fremdheit“ der Praktiker zu den verwendeten statistischen Analysen
und Verfahren aufkommen. Sie sollten das prinzipielle Vorgehen verstehen und bewerten können
und deshalb „am Ende des Tages“ schließlich auch eine Mitverantwortung für die Ergebnisse und
deren praktischer Umsetzung übernehmen.
85
Anmerkung: Welches verfälschende „Rauschen“ die Homogenität bei einer
Einordung und einem Vergleich erhobener Motorikdaten in „fremde“ Pools von
Referenzdaten begleiten kann, zeigt, dass beispielsweise „unsere“ 7-jährigen
Drittklässler eben keine „normalen“ 7-jährigen sind, sondern eventuell früher
eingeschult wurden, weil sie schon damals den Gleichaltrigen „irgendwie
voraus“ waren. Dieser eventuelle „Klassen-Bias“ wird erkennbar beim Vergleich
der Perzentilverläufe vor allem der 7- bzw. 10-jährigen Berliner Kinder in den
dritten Klassen unserer Untersuchungen mit denen gleichaltriger deutscher
Kinder in den bundesweit gültigen MoMo-Untersuchungen (Abbildung 1).
Abb. 1: links: Perzentile für Mädchen der dritten Klassen Berlins im Alter von 7-10 Jahren im
Zeitraum von 2011 bis 2021 am Beispiel „6-Minuten-Lauf“ (n=29.149); rechts: MoMo-
Perzentile für Mädchen im Alter von 7-10 Jahren
2. Unbehagen, weil bei der Bildung von Gesamteinschätzungen mittels
Summenscores die Spezifität der einzelnen Parameter und/oder
Kompensationen untereinander nicht berücksichtigt werden – aber kein
Trainer/Lehrer/Experte bewertet alle Testübungen als gleich wichtig
33
.
Den Erfahrungen und Expertisen der wissenschaftsorientierten Praxis,
der Trainer oder Lehrer werden deutlich zu wenig Aufmerksamkeit und
Platz eingeräumt. Es scheint ein generelles Problem zu sein, dass sie
eigentlich erst ins Spiel kommen, wenn die „fertigen“ Ergebnisse zu
interpretieren sind, also nach den Algorithmen! Eine angemessene
Balance zwischen quantitativen und qualitativen Aspekten ist bei den
klassischen Statistik-Vorgehen auch im Talentscreening wenig gegeben…
3. Unbehagen, weil bei einem solchen Vorgehen innerhalb der
(Leistungs-) Gruppen - sowohl bei einer 5-stufigen Klassifizierung als
auch bei Perzentilwerten (diese sind nicht intervallskaliert!) - nicht
33
… er bewertet in jedem Fall, dann aber vielleicht unbewusst und nur nach seinen subjektiven
Erfahrungen und Zielen - das aber könnte/sollte man besser machen…!
86
weiter differenziert werden kann. Gerade bei umfangreichen
Stichproben (bei BERLIN HAT TALENT bspw. bis zu 20.000 Kinder pro
Schuljahr) kommt es aber vor allem darauf an, in der Gruppe der
Besten genauer differenzieren zu können
34
.
Um diese und andere Unbehagen abzustellen und also insbesondere
qualifiziertes Trainerwissen mit quantifizierten sportmotorischen Daten
zusammenzubringen, sind offenbar auch prinzipiell andere Vorgehensweisen
und Algorithmen als die üblichen statistischen Verfahren zu überprüfen, wenn
man erfolgreich zwischen Talenten und anderen Schülern unterscheiden und
dabei insbesondere innerhalb der „besten“ (und bei Bedarf auch der
„schlechten“) Gruppe noch zuverlässig differenzieren will (auch das leistet z. B.
die dafür aktuell angewendete Methode über die Berechnung von
Perzentilwerten nicht - sie differenziert im Gegenteil am Stärksten „in der
Mitte…“).
In diesem Beitrag möchten wir deshalb unser Vorgehen unter dieser
Zielstellung an einem Best-Practice-Beispiel diskutieren (Untersuchung von
16.222 Schülerinnen und Schüler aus den dritten Klassen von 290 Berliner
Schulen im Schuljahr 2021/22), in dem Wissenschaftler und Praktiker die
Testdaten von Beginn der Analysen an gemeinsam „bearbeiten“ und es
erfolgreich gelingt, die Kinder zu identifizieren, auf die man zuallererst blicken
sollte, wenn man Talente sucht.
Der von uns gesuchte und schließlich auch realisierte Weg dazu besteht in der
Nutzung multiattributiver (FUZZY-)Vorgehensweisen, die auf der Basis der
Konstruktion von sogenannten Zugehörigkeitsfunktionen unter
Berücksichtigung von Expertenwissen und dem Rechnen mit solchen
Funktionen eine verbesserte Balance zwischen Wissenschaft und Praxis
erreichen können [27], [40]. Hervorzuheben ist, dass dieser Weg insbesondere
auch in der Sprache der „Praktiker“ (Trainer und Sportlehrer) „gesteuert“ und
interaktiv am Computer abgearbeitet werden kann
35
. Als Ergebnis wird ein
vollständiges individuelles Ranking der untersuchten Schülerinnen und Schüler
34
Jede Stufe bildet dabei eine Äquivalenzklasse, das heißt: Alle Elemente einer solchen Klasse
werden unter der jeweiligen Fragestellung (hier also „Grad des motorischen Talents“) als äquivalent
betrachtet.
35
Insbesondere die Praktiker (Trainer, Sportlehrer, praktisch tätige Leistungsdiagnostiker…) kommen
durch dieses Vorgehen in eine deutlich aktivere Rolle gegenüber dem traditionellen Ablauf, weil ihre
inhaltliche Kompetenz unersetzlich für die Analysen und das Analyseergebnis wird. Unsere
„Geschichte“ (siehe oben) wollen wir deshalb gerade auch zur Inspiration dieser Praktiker „erzählen“
die Anwendung einer FUZZY-Vorgehensweise liegt besonders in ihrem Interesse
87
generiert, auf deren Basis nun auch valide Entscheidungen zur
Zusammenstellung der entsprechenden Fördergruppen möglich werden.
Das Forschungsteam rund um das Projekt BERLIN HAT TALENT hat solche
Entscheidungsverfahren und Vorgehensweisen im Bereich der Talentsichtung
im Sport theoretisch eingeführt und insbesondere zur Zusammenstellung von
Talentsichtungsgruppen in Berlin seit dem Schuljahr 2015/16 durchgängig
angewendet. Die innovative Idee dieses Vorgehens besteht in der
Zusammenführung verschiedenartiger multiattributiver unscharfer
Entscheidungsmodelle bei einer benutzerfreundlichen Einbindung
unterschiedlicher Informationen von Experten und der Anpassung bzw.
Entwicklung eines Softwarepakets zur dessen interaktiven Umsetzung.
Im langfristigen Prozess der Adaptation dieser Vorgehensweisen in die
Leistungsdiagnostik und das Talentscreening im Sport waren uns die
umwälzenden Entwicklungen in der Quantenphysik der jüngeren Zeit eine
starke Inspiration. Weniger wegen ihrer Bedeutung in der Physik selbst, sondern
insbesondere und entscheidender wegen ihrer Herausforderungen und
Konsequenzen in philosophischer, weltanschaulicher Hinsicht! Der Nachweis
der Existenz objektiver Zufälle, die Feststellung, dass unsere Beobachtung nicht
nur die Welt verändert, sondern sie quasi konstituiert, die Einsicht in die
Eigenschaft verschränkter Elementarteilchen oder die - vor wenigen Wochen
erst mit dem Nobelpreis für Physik (Ferenc Krausz) gewürdigte - Entwicklung
von Möglichkeiten zur Beobachtung der Bewegung von Elektronen in Echtzeit
auf der Basis von Attosekunden-Blitzen (im Abstand von einem Milliardstel einer
Milliardstel Sekunde…) haben in den letzten Jahren zu einem
Paradigmenwechsel in der Physik geführt, der in der Welt der Physik auch
mehr und mehr „angekommen“ ist. Er gehört aber (noch) nicht zu den
tragenden Ideen in der aktuellen Philosophie, in den verschiedenen
Wissenschaftsdisziplinen, auch nicht in der Sportwissenschaft und schon gar
nicht in unserem Alltagsleben (siehe insbesondere Anton Zeilinger, Nobelpreis
2022, in vielen Vorträgen…).
Deshalb wollen wir zunächst im Abschnitt 3 mit dem Versuch einer Verbindung
von Quantentheorie und FUZZY-Vorgehen ein möglichst emotionalisierendes,
das Interesse und die wissenschaftliche Neugier förderndes Narrativ
36
ableiten,
das wie in der Wissenschaft generell bewährt auch Experten in der
Sportwissenschaft einladen, ermutigen und zur Nutzung inspirieren kann
37
.
36
Die Macht der Geschichten: Narrative bilden …auch in der Wissenschaft die Grundlage für die
Entstehung und Vermittlung von Wissen [38].
37
Das können wir selbstverständlich nur an ausgewählten quantenphysikalischen Inhalten mit
besonderer „weltanschaulicher“ Relevanz für die Entwicklung eines allgemeinen methodischen
88
3. Neueste Erkenntnisse der Quantenphysik als inspirierende Ideen,
als Anregung, Ermutigung und als ein Narrativ zur Erweiterung des
klassischen Statistikvorgehens…
3.1. Theorie-Erkenntnisse der modernen Quantenphysik
1. Alle Quanten (kleinste Teilchen wie Photonen, Elektronen, Ionen…)
existieren gleichzeitig (in Überlagerung) als Welle und als Teilchen. Wie
diese Elementarteilchen uns gegenübertreten, hängt von unserer
Beobachtung, von unserer Messung ab (siehe Doppelspaltexperiment im
Anhang). Für sie gilt das „Sowohl- als-auch“, das „Überlagert-und-
dazwischen-sein“. Das öffnet notwendigerweise die zweiwertige Logik
hin zu einer mehrwertigen Logik, der Logik der Natur!
2. Die quantenphysikalische Welt ist alles das, was der Fall ist, aber auch
alles das, was mit irgendeiner Wahrscheinlichkeit/Zugehörigkeit/
Möglichkeit auch der Fall sein könnte. Sie entspringt einer Potentialität.
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit selbst!
3. Materie ist nicht aus Materie aufgebaut. Es gibt in der Welt des Kleinsten
nichts, was man materiell greifen kann.
38
Es gibt nur den Zusammenhang,
das Verbindende, ohne materielle Grundlage
39
(nicht das Inventar einer
Struktur, die Wechselwirkungen sind das Essentielle). Damit ist die
Information der fundamentale Baustein des Universums!
4. Es gibt Dinge, die geschehen ohne (objektiven) Grund, einfach so! Die
Vorstellung, dass jede Wirkung eine Ursache hat, unser realistisches Bild
von der Kausalität, der Verkettung von Ursache und Wirkung (von dem
sich auch Einstein nicht trennen wollte…), gilt heute nur noch im
vergröberten Sinne. In unserer Realität existieren (objektive)
Vorgehens herleiten. Wir beziehen uns diesbezüglich insbesondere auf eine Spiegelung der im
Rahmen der Nobelpreisvergabe für Physik 2022 und 2023 diskutierten und für eine breitere
Öffentlichkeit verständlichen Erkenntnisse - ohne Vorgabe einer eigenen, tiefergehende
Forschungsarbeit. Wir diskutieren also Erkenntnisse der Quantentheorie ausschließlich in Bezug auf
ihre Konsequenzen für das methodische Herangehen im Allgemeinen und dem Talentscreening im
Besonderen und nur insoweit, dass diese Konsequenzen für den interessierten Leser nachvollziehbar
werden…
38
Die Welt des Kleinsten ist nicht „unsere Welt“, ebenso wenig wie ein Kind kein „kleiner Erwachsener“ ist…
39
…wäre beispielsweise das Elektron ein (negativ) geladenes Teilchen (und keine nicht lokalisierbare
Welle/Schwingung), das den (positiven) Atomkern auf einer Bahn umkreist es würde umgehend „in
den Kern gerissen“ werden und es würde NICHTS existieren…
89
Ungewissheiten. Sie beruhen nicht auf mangelndem Wissen und sie
können auch nicht mit Wahrscheinlichkeiten erklärt werden!
5. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Dinge, die wir beobachten, in
der Form, ehe wir sie beobachten und unabhängig von uns existieren.
Photonen, die es so gar nicht gibt (!), sind da, weil man „hinguckt“ und
nicht notwendig schon zuvor. Sie befinden sich gar nicht an einem
bestimmten Ort, bevor man sie beobachtet. Unser Beobachten/Messen
verändert nicht nur die Welt, sondern konstituiert sie!
40
Und weil wir
nun selbst aussuchen können, ob, wann und wie wir wohin „gucken“,
bereichert jeder kreative Beitrag von uns die Wirklichkeit der Zukunft!
6. Obwohl bereits Einstein die Theorie zur Verschränkung von Photonen
41
mathematisch exakt bewiesen hat, hat er ihr doch misstraut („…sie hat
etwas „Spukhaftes“, es wäre „verrückt“…). Aber die Welt ist „noch
verrückter“! Neueste Entwicklungen in der Theorie der Verschränkung
(Anton Zeilinger, Nobelpreis Physik 2022) zeigen nun bereits bedeutsame
praktische Fortschritte beispielsweise bei einer absolut sicheren
Datenübertragung (Kryptographie, Bild 3) und sogar bei der Entwicklung
einer völlig neuen Generation von (Quanten-) Computern (paralleles
Rechnen). Weil die Welt, so wie sie jetzt beschaffen ist, nicht eindeutig
determiniert, wie sie in wenigen Sekunden oder Stunden aussieht,
brauchen Menschen Mut in ihren Ideen, Mut bis hin zur kreativen
Verrücktheit
42
Die Welt ist offen, ebenso offen müssen all unsere
Gedanken und unsere Lösungsstrategien sein!
40
…für Einstein noch undenkbar! Für ihn war der Mensch ein neutraler, passiver Beobachter einer
von ihm völlig unabhängigen, wie ein Uhrwerk funktionierenden Welt ähnlich dem eines Besuchers
in der Loge einer Oper.
41
Verschränkung: Bei einem Paar von Photonen, die voneinander getrennt sind, kann man, wenn
man den zufälligen Zustand des einen Photons misst, kausal auf den Zustand des zweiten Photons
schließen - obwohl beide jeweils aus einer unendlichen Menge von Möglichkeiten „wählen können.
Schrödinger sagt über die Verschränkung: „Ich würde das nicht irgendein, sondern genau das
bestimmende Merkmal der Quantenmechanik nennen. Das Merkmal, das zwingt, sich von
klassischen Wegen des Denkens (über Physik) zu trennen.“
42
Diese „kreative Verrücktheit“, so fundamentale, tiefe Fragen zu stellen (Einstein was geschieht,
wenn man dem Licht hinterherläuft? Einstein/Bohr ist der Mond etwa nicht da, wenn keiner
hinschaut? Krausz: Wie schnell kann man Licht ein- und ausschalten?), könnte die Eigenschaft sein,
die den Menschen auch in aller Zukunft über die künstliche Intelligenz „erhebt“ …!
90
Welche Inspirationen aus der Quantentheorie könnten/sollten sich also
beispielsweise für das Herangehen an eine komplexe Leistungsdiagnostik im
Sport im Allgemeinen bzw. das Talentscreening im Besonderen ergeben?
3.2 Inspirationen aus der Quantenphysik für das Talentscreening im Sport
1. Ähnlich dem Zustand eines Quants entspringt der Zustand eines Talents
einer Potentialität, einer unendlichen, schwammigen Vieldeutigkeit von
Kann-Möglichkeiten. Er verhält sich in Abhängigkeit von der Zeit nicht
analog den Regeln eines Uhrwerks, sondern alles das, was ist und was in
Zukunft für das Talent sein könnte, hat irgendeine (Zugehörigkeits-)
Wahrscheinlichkeit, die man wie bei einem Quant nur mehr „erahnen“
als „begreifen“ kann. „Talent-sein“ hat eine Ungewissheit, eine
Instabilität, ist ein vages
43
, unscharfes, schwammiges Konzept ohne festen
Wahrheitswert von 1 oder 0, ist offen, gestaltbar, ist lebendig! Diese
Lebendigkeit in der Potentialität könnte bei nur zweiwertiger Logik
erstarren, sie könnte bei mittelwertbildenden Prozessen, bei Perzentilen,
Standardverteilungen, Effekten usw. verloren gehen. Die Lebendigkeit
widersetzt sich einer strikt zweiwertigen Logik und öffnet sich vielmehr zu
einer Idee der Graduation und zum Konzept der unscharfen Mengen.
Dass in der Elementarwelt nichts zum Greifen ist, sondern alles auf den
Wechselwirkungen beruht, hat eine große Ähnlichkeit mit unseren
Kenntnissen über die Struktur der sportlichen Leistung. Auch hier ist
nicht das „Inventar“ an Leistungsvoraussetzungen (Kraft, Ausdauer,
Koordination…) entscheidend, sondern deren Wechselwirkung und
Kompensation untereinander (gleich gute sportliche Leistungen lassen
sich mit sehr unterschiedlichen Fähigkeitsstrukturen realisieren).
2. Ähnlich der Existenz von Elementarteilchen in ihrer Gleichzeitigkeit von
Welle und Teilchen gilt auch beim sportlichen Talent eine Gleichzeitigkeit
von Talent und Nicht-Talent. Man gehört eben (nur) zu jeweils einem
gewissen (Zugehörigkeits-) Grad zur (unscharfen) Menge der Talente. Es
gilt auch hier das Sowohl-als-auch, das Dazwischen-sein, es gilt die
Ungewissheit und nicht der „Traum von Kausalität“.
43
Wir verstehen Vagheit/Unschärfe/Schwammigkeit als eine Qualität, die Sachen inhärent ist und
demzufolge als wichtige Information zum Beispiel in Zugehörigkeitsfunktionen zu quantifizieren statt
zu vernachlässigen ist.
91
3. Ähnlich den Vorbehalten bei der Theorie zur Verschränkung von
Photonen (selbst von Einstein, obwohl er die mathematischen
Grundlagen gelegt hat…), könnte man auch Vorbehalte gegenüber einer
Modellierung der Ungewissheit mit Hilfe der Theorie der unscharfen
Mengen (FUZZY- Logik) vermuten. Es ist tatsächlich auch eine auf einer
graduellen Abstufung der Wahrheit beruhende andere Art des Denkens
als z. B. das der klassischen Statistik. Sie ist aber ebenso mathematisch
belegt durch den Bezug auf klassische Mengen (das Intervall [0,1]) und
klassische Wahrheitsbegriffe. Und ihre Anwendungsergebnisse (bspw.
auch bei BERLIN HAT TALENT) demonstrieren einen erlebbaren Nutzen.
4. So, wie man das Verhalten eines einzelnen Quants objektiv nicht
voraussagen (berechnen) kann und dennoch die Entwicklung und
Nutzung z. B. von Lasertechnik gelingt, so kann man auch die Entwicklung
zum Sporttalent nicht voraussagen (berechnen) und sie kann dennoch
praktisch gelingen. Mit der Quantentheorie ist das Unerklärliche in der
Welt, die Illusion einer totalen Gewissheit aus der Welt. Die alleinige
Suche nur nach einer kausalen Erklärung der Dinge wäre zu eng,
manches passiert eben einfach. Das verweist darauf, dass man eine
komplexe Aufgabe auch dann beginnen kann (muss), wenn noch nicht
alle Details geklärt sind und dass nicht nur die beste Lösung befriedigen
kann, sondern auch eine den Anforderungen angemessene, vernünftige,
gute… Eine solche könnte dann zu einer „Erklärung des Unerklärlichen“
beitragen man muss nur die Demut besitzen, nicht gleichzeitig darauf
zu bestehen, als wäre sie wahr...
5. Selbst die Physik und ihre Sprache, die Mathematik, erkennen in der
modernen Quantentheorie, dass nicht einmal sie alles erklären können.
Insbesondere die Gewöhnung zum Beispiel auch im Talentscreening
daran, dass man aus einer vorwiegend quantitativen, statistischen
Perspektive auf die Daten blicken könnte und dass eine immer totalere
Fixierung auf eine immer exaktere Statistik, zu einem immer
vollständigeren Verständnis von „Talent“ führt, ohne (!) dass man
parallel das gewachsene, wertvolle, unscharfe qualitative Wissen
entsprechender Fachleute a priori in die Algorithmen bringt
44
, folgt
dieser Demut, diesen Erkenntnissen nicht. Ohne Zweifel werden auch in
Zukunft die rein quantitativen Analysen den Nebel um das „Talent-sein“
44
Ein solches Vorgehen überschätzt die rationale Betrachtung und die Steuerfähigkeit des
„Lebendigen“ und unterschätzt die „unendliche Vielfältigkeit“. Eine so angelegte „einnehmende
Statistik“ lässt gar keinen Platz für Qualitatives, Unerklärliches, Unscharfes. Ein ausschließliches
Weitergehen nur in Richtung der quantitativen Analysen scheint deshalb zu eng zu sein……
92
weiter erhellen, man darf nur nicht erwarten, dass sie ihn irgendwann
komplett ausschalten. Daran sollten wir uns gewöhnen!
3.3. Die Konsequenzen aus der Quantentheorie sprechen für eine
Erweiterung klassischer Statistikverfahren durch ein verstärktes Einbeziehen
qualitativen Expertenwissens
Weil bei der Beschäftigung mit dem Lebendigen die analytische Methode
schnell an ihre Grenzen stößt und sich das Lebendige gerade dadurch
auszeichnet, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile
45
, gehört es zu
den entscheidenden Inspirationen aus der Quantentheorie, dass sich eine von
Lebendigkeit, Potenalität und „unendlicher Vielfälgkeit“ geprägte
Ungewissheit, wie sie eben auch im Problemkreis „Talentscreening,
Talenterkennung“ zu nden ist, auf keine „einnehmende“ - die raonale
Betrachtung überschätzende - Stask beschränken sollte, sondern in den
Gedanken und den analyschen Methoden Platz lassen, Platz schaen sollte
für all das was möglich ist, für das Qualitave, Unerklärliche, Unscharfe! Und
dieser Platz sollte dann so genutzt werden, dass durch eine gelingende
Modellierung des intuitiven (gefühlten) Wissens von Erfahrungsträgern im
Sport auch unscharfe, qualitative Bewertungen „in das Spiel kommen“, und
zwar a priori und nicht erst dann, wenn die fertigen Ergebnisse vorliegen und
von der Praxis eben nur noch bestätigt oder „vergessen“ werden können.
Dadurch entstehen beispielsweise auch im Talentscreening Möglichkeiten,
klassische statistische Vorgehensweisen durch eine erweiterte Balance
zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten zu verbessern.
Es ergibt wenig Sinn, von einer „klassischen“ Wahrscheinlichkeit für Talent zu
sprechen, weil es eben prinzipiell auf diesem (lebendigen) Gebiet auch
45
In der Mikrowelt ist der objektive Zufall das Normale, je mehr wir in die „normale“ Welt
übergehen, mittelt sich dieser objektive Zufall heraus und wir können Zufallserscheinungen mit
mathematischer Statistik erklären. Je komplexer aber die Situationen werden, desto stärker wirken
die Folgen der Vernetzung (es ist Alles mit Allem verbunden…), wodurch also kleinste
Veränderungen an den Anfangsbedingungen zu riesigen Auswirkungen führen und die klassische
Statistik nicht mehr ausreichend hilft. Es könnte also ein gewisses Optimum geben, wie „lange“ man
durch „Analyse/Zerlegen“ einen Erkenntnisgewinn realisieren kann und ab wann weiterer
Erkenntnisgewinn (nur) dadurch erzielt werden kann, indem man „das System/die Sache“ wieder
(holistisch) als Ganzes betrachtet. Deshalb kann eine Kopplung von quantitativen und qualitativen
Strategien hilfreich sein: Man sichert mit klassischem (statistischen) Vorgehen bei nur eingeschränkt
berücksichtigter Komplexität volle Exaktheit und sichert mit subjektivem Wissen bei nur
eingeschränkter Exaktheit die volle Komplexität.
93
Ungewissheiten gibt, die nicht auf mangelndem Wissen beruhen und weil im
Konkreten das Problem auch keine (klassisch berechenbare) Zufälligkeit
darstellt, sondern eben eine „unendliche Vielfältigkeit“ besitzt. Demzufolge
lenken wir unseren Blick bei der Konzeption unseres Vorgehens auch auf eine
mehrwertige Logik, auf eine Graduation der „Güte“
46
und eben auf eine
Verbindung von objektiven Vorgehensweisen mit subjektiven
Bewertungsvorstellungen und damit auf ein Konzept mit unscharfen Mengen.
Im Mittelpunkt wird dabei die Konstruktion von Zugehörigkeitsfunktionen
47
stehen, die die Frage, ob eine Eigenschaft („Talent“) existiert oder nicht nun
dadurch zu beantworten versucht, indem sie ausdrückt, zu welchem
(„Befriedigungs-“) Grad diese Eigenschaft existiert. Nicht zuletzt die
Erkenntnisse der Quantentheorie inspirieren, diesen Grad der Komplexität
angemessen nicht nur über rein quantitative und ausschließlich statistische
Weise zu suchen, sondern dazu die (unscharfen) Theorien der Trainer
einzubeziehen. Damit könnte ein Ausgangspunkt für die Konstruktion solcher
Zugehörigkeitsfunktionen eine Diskursive Validierung in einem Team (!)
relevanter „Experten“ (Erfahrungsträger, Stakeholder!) sein, bei denen
Präferenzen bzw. Zufriedenheitseinschätzungen für die Parameter in
natürlichsprachiger Form „abgeholt“ und in eine Vielzahl spezifischer
Zugehörigkeitsfunktionen übersetzt werden (Computing with Words).
Zusammengefasst entsprechen wir damit einer der entscheidenden
Konsequenzen aus der modernen Quantentheorie: In unserem methodischen
Vorgehen des Talentscreenings haben wir nämlich Platz geschaffen und dafür
zugleich Möglichkeiten entwickelt, diesen Platz mit subjektiven Theorien
kompetenter Erfahrungsträger zu füllen.
46
Das, was wir „Güte“ nennen (die „Rohwerte sagen ohne ein Qualitätsmodell nichts über die Güte
aus!) wird immer vom Menschen/vom Entscheider (hier liegt der Ausgangspunkt für das
Unscharfe…) festgelegt und durch eine Vielzahl (weil Güte immer viele „Seiten“ hat …) sich meist
widersprechender Attribute ausgedrückt. Für die (statistische) Analyse dieser Attribute werden
(objektive) mathematische Modelle genutzt. Die Verbindung dieser Modelle mit den (subjektiven)
Bewertungsvorstellungen der Menschen/Entscheider kann eine Schwachstelle darstellen, wenn die
Menschen neben den Modellen stehen, unfähig sind zu begreifen, was mit ihrem Problem und ihren
Daten geschieht und nicht von Beginn an wissen, was von ihnen warum und wann gefordert wird…?
47
Durch die Konstruktion und Verwendung gradueller Zugehörigkeitsfunktionen zur
Berücksichtigung von Expertenwissen kann eine unscharfe Ausgangssituation mathematisch präzise
definiert und schließlich auch mit Hilfe multiattributiver FUZZY-Analysen (scharf) berechnet
(„beherrscht“) werden. Zugehörigkeitsfunktionen versuchen etwas zu präzisieren, was unpräzise ist.
Mit ihnen verschiebt sich das Denken von „entweder-oder“ hin zu „sowohl-als-auch“, „zu welchem
Grad“, zu „halbwegs zufrieden“, zu „ausreichend“ usw. ….
94
- Welches (Erfahrungs-)Wissen wird also gebraucht, wie wird es
„abgeholt“, wo wird es eingefügt, wie wird es verwendet?
Ein Trainer, Lehrer, Experte mit entsprechender Erfahrung kann oft schnell eine
Aussage darüber machen, ob eine so komplexe, zusammengesetzte Eigenschaft
wie „Sportliches Talent“ auf eine untersuchte Testperson zutrifft oder eher
nicht. Es gilt also generell, die oft nicht bewussten, zweifellos unscharfen, aber
erfolgreichen Gedankengänge, die hinter derartigen Leistungen von
Spezialisten stehen, im Computer abzubilden. Diese Gedankengänge beruhen
meist auf der Vereinfachung, indem der Experte weniger „ein allgemeines
Talent“ im „Auge hat“, sondern insbesondere vergleicht, wer mehr oder
weniger Talent hat. Das ist eine sehr sinnvolle Vereinfachung, denn in
Anbetracht unseres außerordentlich komplexen Gegenstandes „Talent“
erscheint die Ermittlung einer optimalen Lösung weniger zielführend zu sein,
als ein Vergleich realisierbarer (geeigneter) Alternativen: Die Frage, ob ein
Apfel reif ist, ist schwierig zu beantworten. Ob Apfel A reifer ist als Apfel B
dagegen leichter...
Dieses Herangehen realisieren wir bei unseren Analysen im Wesentlichen durch
eine Einbeziehung solchen (unscharfen) Expertenwissens beispielsweise zur
Spezifität von Parametern, zu Messfehlern und biologischen
Schwankungsbreiten, zu Normierungsvereinbarungen, zu Gewichtungen und
Substitutionsraten. Und wir definieren deshalb als Ziel für unser
Talentscreening, dass jedem Schüler und jeder Schülerin ein Grad der
Zugehörigkeit zur (unscharfen) Menge der Talente zugeordnet werden kann
und dass auf diese Weise eine vollständige Rangfolge derjenigen gebildet
werden kann, auf die man zuerst blicken sollte, wenn man Talente sucht….
- Wie würde also ein Erfahrungsträger die Testergebnisse in den
Übungen des DMT interpretieren, wenn er eine Talentfähigkeit
beurteilen will?
Der Experte könnte davon ausgehen, dass sein Testprol (hier also die Tests des
DMT) Aussagen zu gewissen komplexen Leistungsfaktoren erlaubt, die ein
Talent charakterisieren, z. B. Ausdauer-/ Koordinaon/ Kra /Schnelligkeit u.a.
Er will diese Faktoren aber nicht als gleichberechgt ansehen, sondern hat eine
gut begründete subjekven Bewertung – auch wenn er diese o nur vage, nur
unscharf, nur schwammig formulieren kann. So könnte beispielsweise für ihn
die Ausdauer ein wenig wichger als die Kra und diese viel wichger als die
Beweglichkeit sein usw., beispielsweise im Verhältnis 90% zu 80% zu 50%. Er
95
würde danach diejenigen motorischen Tests, die aus seiner Erfahrung auf diese
Faktoren Einuss haben, auswählen und sie ebenfalls entsprechend ihrer
Bedeutung beurteilen. Für die Ausdauer könnten das beispielsweise der 6-
Minutenlauf, die Liegestützleistung im 15-Sekunden-Test (LS) und die Leistung
in den situps im 15-Sekunden-Test sein. Beispielsweise im Verhältnis 80% zu
60% zu 50%. Auf diese Weise könnte sein Expertenwissen sukzessive in eine
gewichtete Hierarchie umgesetzt werden.
Nun hat er gut begründete Vorstellungen, wie er die Güte der einzelnen Tests
bezüglich seiner Talenteinschätzung beurteilt. Also zum Beispiel die Güte der
Leistung im 6-Minuten-Lauf. Zunächst gilt für ihn grob: Je länger die Strecke ist,
die ein Schüler im 6-Minuten-Lauf zurücklegt, desto zufriedener ist er. Bei
näherer Betrachtung bewertet er aber die Güte der Laueistung dierenzierter,
beispielsweise in Form einer S-Kurve: Es gibt eine gewisse (untere) 6-Min.-
Leistung, ohne deren Erreichen alles gegen ein Talent-Sein spricht. Ab dieser
Leistung aber werden mit jeder weiteren Verbesserung die Gründe gegen ein
TALENT-Sein geringer. Etwa ab einer Leistung im mileren Bereich ist er
„halbwegs“ zufrieden und es mehren sich - in exponeneller Weise - die
Gründe, die für ein gewisses Talent-Sein sprechen. Bis schließlich eine (obere)
Leistung erreicht wird, ab der nun alles für ein Talent spricht (und zwar in
asymptoscher Annäherung).
Für einen anderen Parameter kann er andere Vorgehen begründen, die durch
andere Kurvenformen (beispielsweise Potenzfunktionen, Treppenverläufe)
charakterisiert sind. Auf diese Weise werden die Zugehörigkeitsfunktionen für
jeden Parameter nacheinander festgelegt.
Wir werden in Abschnitt 5.2 und 5.3 konkret zeigen, dass die auf diese Weise
gewonnenen Informationen beispielsweiser die Methode des Analytischen
Hierarchieprozesses (AHP)) verwendet werden können und praktisch in
wenigen Minuten eine auf all den subjektiven Abschätzungen beruhende
mathematisch scharfe Reihenfolge in der Zugehörigkeit jedes Probanden zur
unscharfen Menge der Talente liefern. Zeitgleich werden bei diesem Vorgehen
vielfältige Abschätzungen möglich, mit denen die eingegebenen subjektiven
Beurteilungen in iterativer, rückgekoppelter Weise reflektiert, evaluiert und
gegebenenfalls modifiziert werden können. Damit kann der Nutzer leichter
nachvollziehen, was mit „seinen“ Daten und „seinem“ Wissen im Modell
geschieht. Das führen wir in Abschnitt 6. weiter aus.
96
4. Bewährte Methoden des multiattributiven FUZZY-
Vorgehens in Berlin und ausgewählte mathematische
Grundlagen
Für die Bewertung von verschiedenen Varianten/Probanden (hier zum Beispiel
den Drittklässlerinnen), die jeweils durch eine endliche Anzahl von Merkmalen,
sogenannten Attributen
48
, charakterisiert sind, erscheint ein multikriterieller
Variantenvergleich, das heißt ein multiattributives Entscheidungsverfahren
(Multiple-Attribute Decision Making) als ein geeigneter Zugang [5, 7, 9, 28]. Ziel
ist dabei entweder das Finden der besten Variante (das ist der klassische
MADM-Fall) oder im speziellen Fall - die Ermittlung einer vollständigen
Rangfolge der Varianten hinsichtlich einer optimalen „Gesamtgüte“ (hier des
Talents für eine Sportart oder einer Sportartengruppe). Dieses Problem ist
eingebettet in das Gebiet der sogenannten „Normativen Entscheidungstheorie“
([1], [2], [3]) und geht weit über betriebswirtschaftliche Aufgabenstellungen
hinaus ([4], [5]). Dabei soll die Entscheidungsfindung nicht mittels des
Rechenverfahrens automatisiert und dem Entscheider abgenommen werden,
sondern es gilt, während der Schritte des Entscheidungsprozesse weitere
Informationen aufzubereiten und dem Entscheider zu helfen, letztlich eine
fundierte Entscheidung zu treffen. Seit den 70-iger Jahren des vorigen
Jahrhunderts beschäftigt sich die Wissenschaft mit dieser Fragestellung und es
wurden eine Vielzahl von Grundalgorithmen entwickelt, die bis heute in
zahlreichen Varianten weiterentwickelt wurden (siehe z. B. [[6], [7], [8], [9]).
Eine methodologisch hervorzuhebende bedeutende Weiterentwicklung für
multiattributive Entscheidungs- und Optimierungsprobleme ergab sich infolge
der Einführung von „Unscharfen Mengen“ (Fuzzy sets), die über subjektiven
Bewertungen festgelegt und in Zugehörigkeitsfunktionen abgebildet werden
und deren Grundlagen von Zadeh in den 60-70-iger Jahren des vorigen
Jahrhunderts entwickelt wurden [10].
Die Grundproblematik kann am folgenden einfachen Beispiel beschrieben
werden. Falls beispielsweise 5 Varianten (n = 5: V1, V2, V3, V4, V5) durch 2
Kriterien (m = 2: Q1, Q2) beschrieben werden und der Erfüllungsgrad der
Kriterien quantifiziert werden kann, z. B. mit den Werten zwischen 0
(unzureichende Ausprägung) und 1 (herausragende Ausprägung), so ist dieses
Problem mit der Graphik in Abbildung 2 vollständig beschrieben. In einem
Koordinatensystem mit beiden Kriterien kann jede der Varianten ausreichend
gut beschrieben werden. Es gibt demnach einen besten Punkt (Idealpunkt)
48
Attribute im Sinne von „bewerteten Variablen“ (normatives Vorgehen), Multi-Attribut-Modelle als
Bewertung eines Untersuchunggsobjektes aus der Wahrnehmung dessen einzelner Eigenschaften.
97
sowie einen schlechtesten Punkt (Nadirpunkt). Ein hinreichend allgemeines
Abstandsmaß A ist die sogenannte gewichtete Lp-Norm:
Abb. 2: MADM-Problem
Wenn man davon ausgeht, dass mit den verwendeten Merkmalen alle
güterelevanten Eigenschaften erfasst wurden, kann zunächst keine vollständige
Ordnung der Varianten erzeugt werden. Im Beispiel (siehe Abbildung 2) ist V1
schlechter als die Variante V2 und die Variante V3 schlechter als V4. Diese
teilweise Ordnung wird als (Vektor-)Halbordnung bezeichnet. Alle Varianten, die
in diesem Sinne nicht durch andere Varianten dominiert werden, bilden die
sogenannte Pareto-Menge oder auch effiziente Menge. Im Beispiel sind das die
Varianten V2, V4 und V5. Welche von denen wiederum die beste ist, kann ohne
zusätzliche Informationen nicht entschieden werden. Besteht nun das Problem
darin, „die beste“ Variante zu finden, so können alle nicht-effizienten Varianten
ausgesondert werden, denn die beste Variante muss paretooptimal sein. Sollen
jedoch nicht nur paretooptimale Varianten gefunden sondern unter allen
Varianten eine Rangfolge erzeugt werden, müssen zusätzliche Informationen
berücksichtigt werden. Solche Informationen können über die Diskursive
Validierung in`s Spiel gebracht werden (siehe dort)
( )( )
1,0,1,
/1
=
== iii
p
i
P
i
REF
ii
REF ggpQQgQQA
98
4.1 Vorbereitende Verfahrensschritte
Für die Methoden des multikriteriellen Variantenvergleichs sind zwei
vorbereitende Schritte Normierung und Bewertung - angezeigt:
- Normierung:
Jedes der verwendeten Attribute/Merkmale wird in seinem „Erfüllungsgrad“
bei jeder Variante mit einer Maßzahl aus einer Kardinalskala, d. h. metrischen
Skala ausgedrückt. Diese natürliche Bewertung, z. B. einer Länge kann in m,
mm, km usw. erfolgen. Um den Einfluss einer solchen willkürlich gewählten
Maßeinheit auf eine Vergleichsrechnung mit anderen Kriterien zu korrigieren,
ist es notwendig, die Bewertung jedes einzelnen Kriteriums zu
„entdimensionieren“, d. h. zu normieren. Im Idealfall wird die jeweils denkbar
beste Ausprägung (Qb) und die jeweils denkbare schlechteste Ausprägung (Qw)
mit dazwischen liegendem linearem Anstieg genutzt, um die
Variantenbewertung auf das Intervall [0,1] zu normieren (Abbildung 3). Folglich
bezeichnet im Weiteren Q das Kriterium mit einer natürlichen Skala sowie Q’
das normierte Kriterium.
Q: Kriterium mit natürlicher Skala, Q’: normiertes Kriterium
Abb. 3: Stückweise lineare Normierung bei einer Maximum-Forderung bzgl. Kriterium Q.
=
QQfür1
QQQfür
QQ
QQ QQfür0
'Q
b
bw
wb
w
w
(1)
99
Bei einer Minimum-Forderung entsteht eine entsprechend abfallende Gerade.
Es gibt aber auch den Fall, dass ein Wunschwert existiert, dessen
Unterschreitung, wie auch dessen Überschreitung zu (Qualitäts-)Verlusten
führt (Abbildung 4).
Abb. 4: Stückweise lineare Normierung bei Vorgabe eines Wunschwertes Qb
Entsprechend ändert sich die Normierungsvorschrift, die nun nicht mehr ein-
eindeutig ist.
=
QQfür0
QQQfür
QQ
QQ
QQQfür
QQ
QQ QQr0
'Q
wo
wob
wob
wo
bwu
wub
wu
wu
(2)
- Bewertung:
Im Rahmen der Nutzentheorie [1] wurde u. a. der Gedanke entwickelt, dass die
Bewertung einer Kriteriumsausprägung nicht unbedingt linear sein muss (vgl.
rote Linie in Abbildung 5). Häufig ist davon auszugehen, dass eine Verbesserung
bei kleinen Ausprägungen stärker bewertet wird. In diesem Fall wird die
Bewertung (lila Kurve) konvex von oben gekrümmt sein („optimistische
Bewertung“). Der umgekehrte Fall (blaue Kurve) wird als „pessimistische
Bewertung“ bezeichnet.
100
Abb. 5: Lineare (rot), pessimistische (lila,) und optimistische (blau)
Um Bewertungen weiter differenzieren zu können (z. B. Sprungfunktionen,
Stufenfunktionen, Schwellenfunktionen u. a.) wurden weitere Kurvenverläufe
standardisiert und softwaremäßig umgesetzt (siehe Abbildung 6). Eine
Bewertungsfunktion kann als Zugehörigkeitsfunktion zur Menge der besten
Lösungen in Bezug auf das Merkmal Q gewertet und behandelt werden.
Abb. 6: Standardisierte Funktionsverläufe für die Konzeption von Zugehörigkeitsfunktionen
(SPF) Sprungfunktion: Nur noch zwei Klassen (gut und schlecht harte zweistufige
Klassifikation)
(STF) Stufenfunktion: Diskretisierung der Ausprägung grobe mehrstufige
Klassifikation
(SWF1) Schwellenfunktion 1: Steiler linearer Verlauf bei mittleren Ausprägungen - feinfühlige
Klassifikation der mittleren Ausprägungen
(SWF2) Schwellenfunktion 2: Flacher Verlauf bei sehr niedrigen und sehr hohen
Ausprägungen - feinfühlige Klassifikation der mittleren und
oberen Ausprägungen
(SWF3) Schwellenfunktion 3: Flacher Verlauf bei mittleren Ausprägungen feinfühlige
Klassifikation der unteren und der oberen Ausprägungen
101
4.2 Methoden des multattributiven Variantenvergleichs (spezielle MADM-
Verfahren)
4.2.1 Rückwärts-Filterung [4], [5]
Die Grundidee der Rückwärts-Filterung [8, 25] lässt sich wie folgt formulieren:
Derjenige ist in der Rangfolge vorn, der am „nächsten“ am Ideal liegt, wobei
die Kompensation zwischen den Merkmalen mit dem jeweils verwendeten
Abstandsmaß gesteuert werden kann.
Die Idee klingt einfach. Alle Varianten/Probanden werden nach ihrem Abstand
zu einem Idealpunkt im Zielraum geordnet (Ordnung der Varianten nach einer
(Ersatz)Zielfunktion). Wer am nächsten zum Ideal liegt, ist der Beste, und wer
am weitesten weg liegt, ist der Schlechteste. Kann man also einen „Wunsch“-
Punkt (QREF) vorgeben oder wählt man in Ermangelung eines solchen den
Idealpunkt (QIdeal), so entsteht die Frage nach der Wahl des Abstandsmaßes zu
diesem Referenzpunkt. Das muss nämlich nicht der meist intuitiv gewählte
„normale“ euklidische Abstand sein, sondern man legt mit dieser Wahl auch
den Kompensationsgrad und die Substitutionsraten fest.
Ein hinreichend allgemeines Abstandsmaß A ist die sogenannte gewichtete Lp-
Norm:
( )( )
1g,0g,1pQQgQ,QA
iii
p/1
i
P
i
REF
ii
REF =
==
(1)
mit dem zu bewertenden Merkmalsvektor:
Q = (Q1 ,…,Qm)
und dem Referenzpunkt QREF QIdeal:
QREF = (Q1REF,…,QmREF)
In Abbildung 7 sind für m=2 und g1 = g2 = 1 die Niveaulinien der Lp-Norm für
unterschiedliche Werte von p dargestellt.
Dabei sind insbesondere die folgenden
Sonderfälle zu verzeichnen:
p=2: Euklidische Norm (grüner Graph)
p=1: City-Block Norm (roterGraph)
p=: Tschebyscheff Norm (schwarzer Graph)
Niveaulinien der Zugehörigkeitsfunktion zur Menge der
Varianten, die besser als die Referenzvariante sind (rot:
p=1, grün: - ∞˂ p ˂+∞, schwarz: p ˂ ∞)
102
Abb. 7: Wirkung des Parameters p auf die Form der Abstandsfunktion (die Niveaulinien der
Abstandsfunktion sind grau dargestellt und der Referenzpunkt befindet sich in der oberen
rechten Ecke)
Es sind fünf Varianten zusammen mit der jeweiligen Richtung des steilsten
Abfalls/Anstiegs eingetragen. In den Abbildungen ist gezeigt, wie das
sogenannte Substitutionsdreieck entsteht. Im rechten Winkel zur Richtung des
steilsten Abfalls/Anstiegs liegt die Tangente der Niveaulinie, deren Anstieg bzw.
Abfall das Substitutionsdreieck festlegt. Die jeweilige Substitutionsrate ist das
Verhältnis der -Werte. Bei p=1 ist dieses Verhältnis ortsunabhängig. Bei p=2
und darüber hinaus erkennt man eine Ortsabhängigkeit: Bei großen Werten
von Q1 und kleinen Werten von Q2 ist das Dreieck so beschaffen, dass eine
geringe Verschlechterung von Q2 nur durch eine große Verbesserung von Q1
kompensiert werden kann. Das entspricht einem „vernünftigen“
Entscheidungsverhalten. Andererseits heißt das aber auch, dass in den
„Randgebieten“ die Kompensierbarkeit immer mehr abnimmt, womit das
103
Substitutionsdreieck immer flacher wird. Als bewährtes Beispiel für dieses
Entscheidungsverhalten dient die „Hunger-Durst-Problematik“: Wer Hunger
leidet, tauscht viel Wasser für wenig Brot, wer an Durst leidet, tauscht viel Brot
gegen wenig Wasser.
Mit „p“ wird auf diese Weise also die Kompensierbarkeit zwischen den Kriterien
„gesteuert“: Erhöht man p, so verschlechtert sich diese, bei p=1 (City-Block-
Norm) ist vollständige Kompensierbarkeit gegeben, bei p=5 kann man von
merklicher Kompensierbarkeit nur noch innerhalb des gelben Kegels sprechen,
bei p= (Tschebyscheff Norm) ist nirgends mehr eine Kompensierbarkeit
vorhanden und die Bewertung richtet sich immer nach der jeweils schlechtesten
Ausprägung; unabhängig davon wie gut oder schlecht die anderen Kriterien
ausgeprägt sind
49
.
Der mathematische Zusammenhang ist über das totale Differential gegeben:
2
2
1
1
dQ
Q
A
dQ
Q
A
dA
+
=
Auf einer Niveaulinie muss gelten dA=0.
2
1
1
2
1
1
2
2
2
2
1
1Q
A
Q
A
dQ
dQ
,,dQ
Q
A
dQ
Q
A
,,dQ
Q
A
dQ
Q
A
0
=
=
+
=
(4)
( )( ) ( )( )
( )( ) ( )( )
)g(QQgpQQg
p
1
)g(QQgpQQg
p
1
Q
A
Q
A
dQ
dQ
SonsrateSubstituti
2
1p
2
REF
22
1p/1
i
P
i
REF
ii
1
1p
1
REF
11
1p/1
i
P
i
REF
ii
2
1
1
2
21
=
==
( )( )
( )( )
2
1p
2
REF
22
1
1p
1
REF
11
21 gQQg
gQQg
S
=
12
1p
2
REF
2
1
REF
1
p
2
1
21 S
1
QQ
QQ
g
g
S=
=
49
…mit anderen Worten: Je größer p wird, desto schwerer lassen sich schlechte Werte in einem
Parameter durch gute Werte in einem anderen Parameter kompensieren.
104
Für p=1 ergibt sich eine konstante Substitutionsrate als Verhältnis der beiden
Wichtungsfaktoren, wodurch in diesem Fall beide Informationen ineinander
umrechenbar sind. Außerdem erkennt man, dass an den Stellen, wo eine
Güteausprägung den Referenzwert hat (
i
REF
iQQ =
), die dazugehörigen
Substitutionsraten 0 oder ∞ sind – also eine Substitution nicht möglich ist.
Diese Berechnung gilt auch für beliebige andere Merkmale:
ji
1p
i
REF
i
j
REF
j
p
i
j
ij S
1
QQ
QQ
g
g
S=
=
(5)
Würde man eine Maximierung des Abstandes zu einem Nadirpunkt als
Grundlage dieser Strategie benutzen, ergäbe sich folgendes Bild:
Bild 8: Lp-Norm bei Wahl des Nadir-Punktes als Referenz (p=3)
Auch hier gibt es Bereiche der faktischen Inkompensierbarkeit (Gelbe Kegel). Aus
den eingezeichneten Richtungen des steilsten Anstieges ist zu erkennen, dass
dieser immer die Richtung der schon besseren Komponente bevorzugt. Das
widerspricht aber einem vernünftigen Lösungsansatz, da dadurch die Varianten
bevorzugt werden, die eine starke einseitige Ausprägung besitzen also keine
gute Kombination aller Merkmale. Das eingezeichnete Substitutionsdreieck
macht deutlich, dass man für eine geringe Verbesserung des besseren
Merkmales bereit wäre, eine große Verschlechterung des schon schlechteren
Merkmales in Kauf zu nehmen. Trotzdem ist nicht ausgeschlossen, dass es Ent-
scheidungsprobleme geben kann, wo eine starke einseitige Ausprägung gesucht
ist. (Bei uns hat es sich deshalb bewährt, immer auch die Rangfolgen in allen
105
Parametern zu berechnen und auf diese Weise auch die „Spezialisten“ zu
identifizieren).
In Bezug auf unser Sportbeispielergibt sich daraus:
Bei p=1 ist der beste Mehrkämpfer und bei p=∞ der mit der besten
schlechtesten Disziplin („Eine Kette ist so stark, wie ihr schwächstes
Glied!“) in der Rangfolge weit vorn.
Mit Hilfe des totalen bzw. vollständigen Differentials lässt sich zeigen, dass
folgender Zusammenhang für die Substitution von i-Werten durch j-Werte gilt:
ji
1p
i
REF
i
j
REF
j
p
i
j
ij S
1
QQ
QQ
g
g
S=
=
(2)
Für p=1 ergibt sich eine konstante Substitutionsrate als Verhältnis der beiden
Gewichtungsfaktoren, wodurch in diesem Fall beide Informationen ineinander
umgerechnet werden können. Außerdem erkennt man, dass an den Stellen, wo
eine Güteausprägung den Referenzwert hat (QiREF = Qi), die dazugehörigen
Substitutionsraten 0 oder ∞ sind, d. h. eine Substitution nicht möglich ist.
4.2.2 Unscharfe Dominanzmengen
Die Grundidee der unscharfen Dominanzmengen [5, 8, 26, 30] drückt sich wie
folgt aus:
„Derjenige ist in der Rangfolge vorn, der die meisten anderen dominiert
50
und
von den wenigsten dominiert wird - sozusagen der „bescheidene“ Gewinner!“
Für jede Variante bzw. jeden Probanden gibt es eine Menge im Merkmalsraum,
die in Bezug auf eine „Gesamtgüte“ besser als diese ist, d. h. die dominierende
Menge, und eine Menge im gleichen Merkmalsraum, die in Bezug auf diese
„Gesamtgüte“ von dieser Variante dominiert wird und als dominierte Menge
bezeichnet wird. Da es sich um eine Halbordnung handelt, gibt es aber auch
Bereiche, die weder zur dominierenden noch zur dominierten Menge gehören
(siehe Abbildung 8).
50
Dominanz bedeutet hier, dass ein Proband im Vergleich zu jedem anderen Probanden hinsichtlich
sämtlicher Attribute gleichwertig und in mindestens einem Attribut als besser bewertet wird.
106
Abb. 8: Dominanzmengen der Vektorhalbordnung für eine Variante QV
Interpretationsbeispiel:
Quadrant II markiert die dominierende Menge, Quadrant III die dominierte Menge der
untersuchten Varianten. In Quadrant I, II und III gibt es Varianten, die zu x% dominierend
und zu y% nicht dominiert sind; in Quadrant I, III und IV gibt es solche, die zu x% dominiert
und zu y% nicht dominierend sind. Sie werden als unscharfe Mengen auf der Basis von
Zugehörigkeitsfunktionen modelliert.
Eine Variante ist dann am besten, wenn sie r alle anderen Varianten zur
dominierenden Menge D gehört und zu den dazugehörigen nicht-dominierten
Mengen N. Man muss für jede Variante diese Mengen ermitteln (Ordnung der
Varianten nach paarweisem Vergleich). In Anbetracht der Tatsache, dass alle
Vorstellungen zu einem Gütemodell vage und unscharf sind, liegt der Gedanke
nahe, diese Mengen gleich als unscharfe Mengen (Fuzzy sets) mit
dazugehörigen Zugehörigkeitsfunktionen (membership functions) zu
modellieren, für die die Substitutionsraten Si und die geschätzten absoluten
Messfehler Fi für jede Variante i die Basis bilden.
Als Basisinformationen zur Konstruktion einer solchen Zugehörigkeitsfunktion
werden die Substitutionsraten Si und die geschätzten absoluten Messfehler Fi
für jede Variante i genutzt. Die geforderten Eigenschaften für eine
Zugehörigkeitsfunktion µDv(Q1, Q2), welche die Menge der dominierenden
Varianten (rechte obere Ecke in Abbildung 8) einer beliebigen
Vergleichsvariante im Kriterienraum beschreibt, werden in Abbildung 9
dargestellt.
107
Abb. 9: Zugehörigkeitsfunktion (membership function) der Menge dominierender Varianten
(einer Vergleichsvariante QV)
Eigenschaften:
1. Der Wert der Zugehörigkeitsfunktion muss mit zunehmender Ausprägung
gleichfalls steigen (asymptotisch von Null auf asymptotisch Eins (siehe die
Schnitte längs der Kriterien-Achsen).
2. Am Punkt der Lage der Vergleichsvariante QV muss die Zugehörigkeit 0,5
sein (eine andere Variante mit exakt den gleichen Ausprägungen kann
chancengleich besser oder schlechter sein).
3. Der im gleichen Punkt vorhandene Gradient der Zugehörigkeitsfunktion
wird in seiner Richtung durch das vorzugebende Substitutionsdreieck
bestimmt und in seinem Betrag (Steilheit) von den geschätzten „Mess“-
Fehlern.
Die angegebenen Stützfunktionen (vom Typ arctan) werden wie folgt berechnet:
108
( )
m/1
m
1i iDv
viiii
SF)Q(
m)1(1i,
2
QQCarctan
1
SF
=
=
+
=
=
(3)
Die m freien Parameter Ci werden so eingestellt, dass die drei oben genannten
Eigenschaften erfüllt sind.
4.2.3 Unscharfe Güte
Bei der Grundidee der unscharfen Güte [5, 30] gilt folgendes Prinzip:
Die Vorgehensweise ähnelt der Methode der unscharfen Dominanzmengen,
nur die verwendeten Substitutionsraten sind von der „Lage“ des Probanden
im Koordinatensystem abhängig (siehe „Hunger-Durst-Problematik“ bei der
Methode der Rückwärtsfilterung).
Ziel ist die Konstruktion einer Zugehörigkeitsfunktion zum denkbar besten
Element (Ideal-Punkt) und die anschließende Ordnung der Varianten nach dem
Wert dieser Zugehörigkeit (Ordnung der Varianten nach einer (Ersatz-)
Zielfunktion). Als Basisinformationen werden hier die Substitutionsraten für alle
Varianten benötigt. Bei diesem Verfahren wird auch die Formel (1) für die Lp-
Norm verwendet, wobei die Gewichtungsfaktoren und der Exponent nicht
vorgegeben, sondern aus den angegebenen Substitutionsraten für jede
Variante berechnet werden. Dabei ist es möglich, dass auch Werte, kleiner als
Eins, evtl. Null oder kleiner als Null für den Exponenten entstehen. Über einen
nichtlinearen Regressionsansatz werden die freien Parameter in der Formel für
die Lp-Norm gesucht, die die Summe der quadrierten Winkelabweichungen der
Substitutionsdreiecke jeder Variante über alle Varianten minimieren.
Betrachtet man die Formel (1), benutzt als Referenzpunkt den Nadirpunkt und
arbeitet mit normierten Ausprägungen, so ergibt sich als Bewertungsfunktion µ:
( )
( )
1/
, 0, 1,
p
P
i i i i
ii
g Q g g p

= = −



(4)
Setzt man hier formal p=0, so ergibt sich ein in dieser Form nicht
berechenbarer Ausdruck. Man kann aber mit Hilfe einer Grenzwertbetrachtung
zeigen, dass:
( )( )
=
i
g
i
p/1
i
P
ii
0p
i
)Q(Qglim
(5)
109
Für p=1 erhält man die Formel für einen gewichteten arithmetischen Mittelwert
(Summenbewertung) und für p=0 ergibt die Formel (5) für einen gewichteten
geometrischen Mittelwert (faktorielle Bewertung). Abbildung 10 zeigt, dass mit
einem Referenzpunkt (Nadir-Punkt) p jeden reellen Wert annehmen kann.
Abb. 10: Wirkung des Exponenten p auf die Niveaulinien der Zugehörigkeit
Zwei weitere Grenzwertbetrachtungen führen zu den beiden Extremfällen,
Maximum- und Minimumnorm.
Für p=∞ erhält man die Maximumnorm
( )
max , 0, 1
i i i i
ii
g Q g g
= =
(6)
und für p=-∞ erhält man
( )
min , 0, 1
i i i i
ii
g Q g g
= =
(7)
110
In diesem Verfahren werden die Substitutionsraten für jede Variante
(individuell) verwendet. Sie hängen also von der Lage der Varianten im
Koordinatensystem ab. Mit Bezug auf die „Hunger-Durst-Problematik“ ergibt
sich die Analogie: Zwei Wanderer in der Wüste haben unterschiedliche
Rationen von Essen und Trinken. Im Extremfall gibt ein Verdurstender für einen
Schluck Wasser seine gesamte Essensration und ein Verhungernder für einen
Bissen Brot seinen gesamten Wasservorrat. Könnte man die Substitutionsraten
für jede Variante exakt vorgeben, wäre dieses Verfahren sehr vorteilhaft und
faktisch fehlerlos. Da das aber in der Regel nicht möglich ist, kann man das
beispielsweise durch die Veränderung von p simulieren, um zu prüfen, ob die
entstehenden Substitutionsraten den praktischen Gegebenheiten entsprechen.
4.2.4 PROMETHEE-Verfahren
Die Grundidee des Promethee-Verfahrens [15], [16], [28],30]
lässt sich wie folgt beschreiben:
Derjenige ist in der Rangfolge vorn, der die meisten dominiert, egal wie oft er
selbst dominiert wird. Und es wird zusätzlich auch derjenige identifiziert, der
im Turnier nicht nur die meisten Spiele gewinnt, sondern dabei noch die
höchste Trefferquote erreicht, sozusagen der „narzistische“ Gewinner.
Hier handelt es sich um ein Outranking-Verfahren, wie sie insbesondere unter
den Namen ELECTRE [ELimination Et Choix Traduisant la REalité] eingeführt und
in vielen Varianten weiterentwickelt wurden (Ordnung der Varianten nach
paarweisem Vergleich, [11], [12], [13]). Im Folgenden werden nur die Varianten
I (Kerngrad) und II (net-flow) dargestellt, für die Informationen über
Schwellenwerte und Gewichtungsfaktoren benötigt werden.
Die Indifferenzschwelle hat den Charakter einer Toleranz, innerhalb derer eine
Präferenz mit Sicherheit nicht ausgesprochen werden kann und die
Präferenzschwelle gibt die Wertedifferenz an, ab der mit Sicherheit die
Vergleichsvariante in Bezug auf das einzelne Kriterium Q‘ dominiert wird. Bei
festgehaltenem Kriteriumswert Qj einer Variante gibt die rote Kurve den
Präferenzwert Prefij dafür an, dass eine Variante mit der Ausprägung Qi bei
diesem Kriterium gegenüber j zu präferieren ist (Abbildung 11).
111
Abb. 11: Indifferenzschwelle (IndSW) und Präferenzschwelle (PrefSW) und dazugehöriger
Verlauf eines Präferenzwertes
Das entspricht der Überführung der binären „>“ Relation in eine graduelle
Relation, die auch als Zugehörigkeitsfunktion betrachtet werden kann. Der
Verlauf zwischen den Schwellen muss nicht notwendigerweise linear sein, auch
andere streng monotone Verläufe sind denkbar und werden genutzt. Die
Schwellenwerte können auch von den Ausprägungen der Vergleichsvariante
abhängig oder jeder Variante direkt zugeordnet sein. Jede Variante erhält bei
jedem Kriterium von jeder anderen Variante einen Präferenzwert: Ist dieser
Wert positiv, so wird das „Pluskonto“ mit diesem Wert, der mit dem
Gewichtungsfaktor multipliziert wird, erhöht, und die andere Variante erhöht
um den gleichen Wert ihr „Minuskonto“. Am Ende dieser Berechnung hat also
jede Variante ein Siegeskonto und ein Niederlagenkonto. Wenn beim Vergleich
zweier Varianten eine dieser Varianten ein höheres Siegeskonto und ein
niedrigeres Niederlagenkonto hat, so wird die andere als „ausgemustert“
bezeichnet. Die Berechnung der Rangfolge erfolgt für PROMETHEE I (Kerngrad)
dahingehend, dass der Beste die meisten ausmustert und der Schlechteste die
wenigsten ausmustert, wohingegen für PROMETHEE II (net-flow) bei jeder
Variante das Niederlagenkonto vom Siegeskonto abgezogen und anschließend
nach der Größe dieser Zahl geordnet wird:
PROMETHEE I (Kerngrad): Wer die meisten ausmustert ist der beste.
Wer die wenigsten ausmustert, der schlechteste.
PROMETHEE II (net-flow): Bei jeder Variante wird das Niederlagenkonto vom
Siegeskonto abgezogen und danach geordnet.
112
4.2.5 Analytisches Hierarchieverfahren (AHP) mit Rückwärtsfilterung
Bei der Grundidee der Zielstrukturen und hierarchischen Methoden [17], [18],
[21], [22], [26], [30] wird davon ausgegangen:
Derjenige ist vorn, der jeweils in den Strukturknoten am „nächsten“ an der
idealen Ausprägung ist und damit den strukturiertesten Gewinner darstellt.
Die bekannteste Methode, die Zielstrukturen verwendet, ist der sogenannte
„Analytische Hierarchie-Prozess“ [17], der seine Weiterentwicklung im
„Analytischem Netzwerk-Prozess“ [21] gefunden hat. Eine
Bewertungshierarchie der körperlichen Leistungsfähigkeit könnte bspw. wie in
Abbildung 12 aussehen.
Abb. 12: Beispiel für eine Bewertungshierarchie zur körperlichen Leistungsfähigkeit
(Dabei kann es sein, dass untergeordnete Kriterien für mehrere
übergeordnete Kriterien in Frage kommen.)
Beim analytischen Hierarchie-Prozess wird bei der Bestimmung aller
Bewertungszahlen davon ausgegangen, dass sich diese aus einem paarweisen
Vergleich aller direkt untergeordneten Elemente eines Knotens berechnen
(Ordnung der Varianten nach paarweisem Vergleich). Das ist natürlich keine
Bedingung für die Verwendung einer solchen Bewertungshierarchie. Im Fall der
oben dargestellten Hierarchie sind die Zahlen der Bewertungsebene 1 konkrete
Messergebnisse (manifeste Variablen). Bei den Übergängen zu den höheren
Ebenen (latente Variablen) kann es durchaus sein, dass ein paarweiser Vergleich
der Wichtigkeit der untergeordneten Kriterien in Bezug auf den darüber
113
liegenden Knoten notwendig wird
51
. Je nach „Perspektive“ der einbezogenen
Experten kann man so vorgehen, oder man erstellt ein Ranking der involvierten
Kriterien, oder man fasst das Ganze als neuronales Netz auf, das durch die
Vorgabe von Eingangs- und Ausgangsmustern angelernt wird [19], [20], [30].
Die Bewertung eines Knotens berechnet sich ab Bewertungsebene 2 (QO) aus
dem diesem Knoten direkt untergeordneten m Knoten (Qi O). Im Beispiel
berechnet sich der Erfüllungsgrad für „Koordination“ aus den Werten für
„Rückwärts Balancieren“ und „Rumpfbeugen“, für die üblicherweise eine
Linearkombination [26] verwendet wird.
1g,0g,QgQ OO n
1i
O
i
O
i
O
i
n
1i
O
iO == ==
(8)
Dieser Ansatz setzt vollständige Kompensierbarkeit voraus. Will man diese eher
unrealistische Voraussetzung negieren, bietet sich eine Bewertungsfunktion
entsprechend der Gleichung (1) an.
( )( )
1g,0g,1pQ1g1Q
i
O
i
O
iO
p/1
i
P
O
i
O
iOO
O
O=
==
(9)
Für pO =1 ergibt sich die Gleichung (8). Diese einfache Form der Berechnung
einer Bewertung, die den Charakter einer Zugehörigkeitsfunktion hat, setzt
voraus, dass man die normierten Ausprägungen in der Basisebene
(Bewertungsebene 1, Messebene) benutzt. Der Idealpunkt 1 kann dann als
Referenzpunkt verwendet werden. Zur Bestimmung der freien Parameter,
Gewichtungsfaktoren und Exponent, kann man in jedem Knoten so vorgehen,
wie im Modell der „Unscharfen Güte“.
Einschub:
Eine weitere Möglichkeit, diese Parameter zu bestimmen, besteht darin, durch
die Vorgabe einer Anzahl n von „Muster“-Varianten und deren Bewertung nach
dem Gesamtkriterium (Notenvergabe) diese freien Parameter mittels
Fehlerminimierung zu bestimmen (10), um sie dann auf das gesamte
51
Ein Beispiel für die Anwendung der AHP-Methode wird in 5.3 gezeigt. Dabei wird die Ähnlichkeit
jeder Schülerin zu einer „Idealschülerin“ direkt als gewichteter und bewerteter Abstand in Form einer
exakt berechneten Diagonale eines mehrdimensionalen Kubus berechnet. Die Berechnung der
Diagonale erfolgt auf exakte mathematische Weise, die Unschärfe entsteht durch die (subjektive)
Gewichtung und Bewertung (siehe dort).
114
Entscheidungsproblem anzuwenden (Auffassung der Bewertungshierarchie als
neuronales Netz)
.
=
=
n
1j
2
j
j
p,g )p,g(QBFmin

 󰇥 󰇟 󰇛󰇜󰇠
 󰇦 (10)
Dabei stellt Bj die vergebene Benotung und Qj die berechnete Bewertung für die
j-te Mustervariante dar. Der Vektor g bezeichnet alle Gewichtungen in allen
Knoten und p bezeichnet die Exponenten in allen Knoten. Algorithmisch
berechnet man Qj in der Hierarchie aufsteigend ab Bewertungsebene 2 so, dass
immer alle untergeordneten Bewertungen vorliegen. Da bei jedem Knoten die
Normierung der Gewichtsfaktoren berücksichtigt werden muss und auch für gi
keine negativen Werte zugelassen sind, stellt (10) eine Aufgabe der nicht-
linearen Optimierung mit Gleichungs- und Ungleichungsbeschränkungen dar.
Wegen der schwierigen Bestimmung der Ableitungen von F sollte man zur
Lösung von (10) ein gradientenfreies Suchverfahren verwenden.
4.2.6 Kombination von Auswahlverfahren und Auswertung
unterschiedlicher Rangfolgen
Die vorstehend dargestellten multiattributiven Verfahren, die z. B. mittels des
Exponenten p auch noch parametrisiert werden können, haben sich in den
zurückliegenden Jahren in Berlin bei verschiedenartigen Problemstellungen der
Leistungsdiagnostik im Sport bewährt. Wie bereits mehrfach betont, beruhen
sie im Wesentlichen auf analytischer Geometrie und sind in diesem Sinne
„scharfe“ Verfahren. Die „Unschärfe“ ergibt sich insbesondere durch die
Einbeziehung subjektiver Theorien der involvierten Experten, also vager,
schwammiger Abschätzungen und Informationen insbesondere zu
Gewichtungen, Substitutionsraten, Fehlerangaben, Schwellenwerte usw. Das
führt dazu, dass sich auch mehrere, jeweils einsichtige und zweckmäßige, aber
doch unterschiedliche auch auf abgebildeten Unvergleichbarkeiten
beruhende Rangfolgeergebnisse ergeben. Dabei ist allen gemein, dass
vermutlich keines der Verfahren den tatsächlichen Beitrag eines
Einzelmerkmales zur Erreichung einer Gesamtzielstellung richtig nachbilden
kann. Insofern sind alle Methoden zuvorderst gleichberechtigte
Näherungsmodelle und es lohnt sich oft nicht, zwischen diesen Methoden a
priori auszuwählen und sich auf eine einzige beschränken zu wollen. Ziel
sollte es vielmehr sein, eine Vielfältigkeit des Vorgehens zu nutzen, um das
bestehende (komplexe) Problem aus verschiedenen Perspektiven zu
115
beurteilen. Der Gedanke liegt also nahe, dass man Verfahren mit
unterschiedlichen Ausgangsinformationen und unterschiedlichen
Modellvoraussetzungen parallel benutzt und im Nachhinein die erzielten
Einzelergebnisse (Reihenfolgen) zu einem Gesamtergebnis kombiniert.
Dabei können Beurteilungen der Experten über die Eignung verschiedener
Verfahren bzw. über die unterschiedlichen Grundideen aufgegriffen und die
Rangfolgen entsprechend gewichtet und zu einem Gesamtergebnis kombiniert
werden. Für jeden Probanden kann somit final ein (gewichteter) mittlerer Platz
berechnet und darauf aufbauend eine Gesamtrangfolge dieser mittleren
Platzierungen festgehalten werden. Damit lassen sich Vor- und Nachteile der
verschiedenen Verfahren ausgleichen. Sollten sich jedoch Informationen
hinsichtlich der besseren Eignung eines bestimmten Verfahrens ergeben, so
kann man diese durch eine Ungleich- bzw. Höhergewichtung von Rangfolgen
bei der Berechnung der mittleren Platzierung der Varianten/Probanden
berücksichtigen. Da die Gewichte in Summe auf den Wert 1 bzw. 100%
normiert werden, muss bei Modifizierung eines Gewichts entschieden werden,
wie die anderen Gewichte angepasst werden sollen (beispielsweise so, dass sie
im gleichen Verhältnis wie bei der ursprünglichen Gewichtung stehen oder
prozentual gesenkt werden.
4.2.7 Umsetzung der Multiattributiven FUZZY-Vorgehensweise mit dem
Softwaresystem MAOE
Alle unter 4.2.1 bis 4.2.6 beschriebenen Verfahren wurden aus der Literatur
ausgewählt, modifiziert bzw. auch substanziell erweitert und in einem dafür
eigenständig entwickelten Softwaresystem MAOE (Modellieren, Analysieren,
Optimieren, Entscheiden [10]) zusammengefasst [30]. Dieses System wird u. a.
im Rahmen des Projekts BERLIN HAT TALENT [31] seit Jahren systematisch
eingesetzt (Abbildung 13).
116
Abb. 13: Eröffnungsbildschirm MAOE
Während in der Literatur immer wieder über bemerkenswerte
Anwendungsfälle multikriterieller, unscharfer Optimierungsverfahren auf den
unterschiedlichsten Gebieten berichtet wird (beispielweise auf dem Gebiet der
Planung robuster Flugrouten (Ide & Schöbel, 2016), der Meteorologie (D`Onfrio
& Portmann, 2015), der Lösung von Logistikproblemen (Geiger, 2017), der
integrierten Technikbewertung (Geldermann, 1999)) und sich auch vielfältige
Workshops mit diesem Gegenstand beschäftigen (zum Beispiel der „Workshop
der GOR-Arbeitsgruppe „Entscheidungstheorie und –praxis“ 2017 in Wien),
beschränken sich vergleichbare Anwendungen und Ergebnisse innerhalb des
deutschen Sports insbesondere auf Arbeiten im Umfeld von Perl/Lames (Perl &
Lames 2016) und Mester (Seifriz & Mester, 2012). Die über viele Jahre in Berlin
systematisch weiterentwickelte Software MAOE und die geschaffenen
Möglichkeiten zu deren interaktiven Nutzung sowie die inhaltliche
Zusammenarbeit innerhalb des informellen Forschungsverbunds der DHGS im
Rahmen von BERLIN HAT TALENT vor allem zur Abbildung der diskursiven
Analyse auf verschiedenartige Typen von Zugehörigkeitsfunktionen,
Hierarchien und Wichtungen zeigen jedoch die breite Nützlichkeit dieser
Herangehensweise nicht nur für das Talentscreening, sondern auch überall
dort, wo zum Beispiel bei (leistungs-)diagnostischen Untersuchungen
differenzierte, komplexe Problemstellungen in (oftmals aufgeblähte)
Datenmatrizen überführt, subjektive Bewertungen berücksichtigt und
integrative Ergebnisse (auch interaktiv) erreicht werden sollen [31, 33, 34, 39].
117
5. Best-Practice: Der Einsatz multiattributiver FUZZY-
Vorgehensweisen am Beispiel des Talentscreenings unter Berliner
Drittklässlerinnen und Drittklässlern des Jahrgangs 2021/22
Wir wollen die gesamte Methodik und die konkrete Vorgehensweise an dem
Best-Practice-Beispiel der Untersuchungen von BERLIN HAT TALENT im
Schuljahr 2021/22 darstellen [33, 34, 39].
5.1 Daten
Der Überschaubarkeit wegen beziehen wir uns zunächst nur auf die 7.876
weiblichen Drittklässler. Von ihnen (und auch von den 8.346 Jungen dieses
Jahrganges…) liegt ein kompletter Datensatz mit den DMT-Parametern (20m-
Sprint, Balancieren rückwärts, Seitliches Hin- und Herspringen, Rumpfbeugen,
Liegestütz, Sit-ups, Standweitsprung und 6-Minuten-Lauf) vor.
Das Ziel besteht (u. a.) darin, mit Hilfe eines Screenings die Kinder zu erkennen,
die eine gewisse sportliche Begabung besitzen und deshalb wirksam gefördert
werden sollen.
Wir wollen darüber hinaus zugleich einen Eindruck vermitteln, dass die von uns
(auch unter Berücksichtigung der oben behandelten sehr grundlegenden
Theoriepositionen) entwickelte Analytik sicher auch spezifisches
mathematisches Wissen benötigt, dass die Nutzung dieser Analytik aber sehr
einsichtig, stark zielorientiert, außerordentlich benutzerfreundlich ist und zu
sehr praxisrelevanten Ergebnissen führt.
5.2. Abbildung des empirischen Wissens mit Hilfe einer Diskursive Validierung
und dessen Aufbereitung und Analyse in MAOE
Die Verwendung des DMT als methodische Grundlage zur Erreichung dieser
Zielstellung hat sich über viele Jahre bewährt. Infolgedessen gibt es eine
Vielzahl von Trainern, Lehrern, Übungsleitern und Sportwissenschaftlern auch
in Berlin mit umfangreichem Wissen zum differenzierten Umgang mit den
einzelnen Parametern, also zu deren Erfassungsschwierigkeiten, zu den
Messungenauigkeiten, zur Bedeutsamkeit, zum strukturellen (hierarchischen)
Zusammenspiel, zu Wahrnehmungsschwellen, zu Berechnungsvorschriften usw.
Mit dem Ziel, dieses Erfahrungswissen in quantifizierbare Toleranzbereiche,
Wichtungen, Zufriedenheitsgrade usw. (siehe vorn) herunterzubrechen, wurde -
unter der Moderation von „Verfahrensinsidern“ - auf vielfältige Weise mit den
Experten im Feld kommuniziert. Dazu wurden Wege gefunden, um in Gruppen
oder gemeinsam zu analysieren, zu kombinieren, zu bewerten, zu vergleichen,
zu assoziieren…
118
Inhaltlich haben wir uns dabei entsprechend den allgemeinen Hinweisen in 3.3
insbesondere auf folgende Aspekte konzentriert:
- Die Abschätzung von Fehler- oder Toleranzbereichen. Das sind
beispielsweise Ungenauigkeiten in den Messungen oder Unschärfen durch
biologische Schwankungen, die aus den Ursachen der Merkmale resultieren
oder in den Kriterien/Parametern enthalten sind.
- Die Festlegung von Gewichtungsfaktoren, z. B. die Schätzung von
Prozentbereichen, die die Wichtigkeit eines Kriteriums (bzw. der Kriterien
untereinander) in Bezug auf übergeordnete Kriterien oder auch auf die
Gesamtqualität (z. B. die allgemeine motorische Leistungsfähigkeit)
anzeigen.
- Das Finden von Zufriedenheitsgraden, z. B verbalen Bewertungen für eine
Kriteriumsausprägung hinsichtlich seiner Qualität für die angestrebten
Zielerreichung.
- Die Abschätzung von Kompensationsgraden zwischen Kriterien, z. B die
Idee, in welchem Maße eine schlechte Bewertung in einem Kriterium durch
eine gute Bewertung in einem anderen Kriterium kompensiert werden
kann.
- Die Aufstellung von hierarchischen Strukturen, z. B. die Festlegung einer
Zielstruktur, in der die Basismerkmale in übergeordnete inhaltliche,
semantisch zuordenbare komplexe sportbezogene Komponenten gegliedert
werden können (Ausdauer, Schnelligkeit etc.).
Einige Aspekte sind leicht und einige schwer quantifizierbar, konkret haben wir
folgende (temporäre)
52
Bewertungen vereinbart:
Schritt 1.: Zunächst wurden mit Sportwissenschaftlern, Trainern und Lehrern
die DMT- Parameter durch weitere – für das Talentscreening wichtige -
Parameter ergänzt, nämlich durch die Körperhöhe (KH), die finale Körperhöhe
(FKH), das biologische Alter (BA)
53
, den Body-Maß-Index (BMI) sowie das Alter
in Monaten (AM). Es ist leicht nachvollziehbar, dass dadurch eine verstärkte
Ganzheitlichkeit im Prozess der Begabungsbeurteilung bzw. der Talentfindung
52
Hier liegen sicherlich die größten Reserven im bisher praktizierten Vorgehen: In kompetenten
Teams von Erfahrungsträgern diese Bewertungen sukzessive zu evaluieren und weiterzuentwickeln!
Dieser Prozess wurde zurückliegend in vereinbarten Zeitabschnitten systematisch organisiert. Die im
vorliegenden Bericht verwendeten Abschätzungen, Bewertungen und Gewichtungen u. ä.
entsprechen allerdings früheren Etappen und werden gegenwärtig grundsätzlich aktualisiert (siehe
dazu auch Fußnote 31).
53
„Manual zur Leistungssportsichtung des DHB (2017). DHB ev.
119
erreicht werden kann
54
. Die Eigenschaft, dass die zum Talentscreening
verwendeten Testprofile bei unserer Vorgehensweise leicht erweitert werden
können, ist deshalb sehr vorteilhaft, weil zweifellos weitere Faktoren für die
Talenteinschätzung Bedeutung haben und – wenn sie entsprechend aufbereitet
werden – auch berücksichtigt werden können.
Schritt 2.: Für jeden der somit 13 Parameter wurde nun ein Fehler- bzw.
Toleranzbereich abgeschätzt, innerhalb dessen Schüler im entsprechenden
Parameter als „ungefähr gleich“ eingeschätzt werden sollten (z.B. für den
Parameter „Körperhöhe“ der Fehler/Toleranzbereich von 1cm). Weiter wurde
die prinzipielle Richtung der Optimierung vereinbart (z.B. für die Körperhöhe
die generelle Bewertung: je größer, desto besser). Auf dieser Basis wird nun die
notwendige Normierung der Parameter vorgenommen (im Falle der
Körperhöhe erhält die niedrigste demzufolge den Wert „0“, die größte den Wert
„1"). Für den Test „6-Minuten-Lauf“ wurde vereinbart, dass ein Unterschied in
der Laufleistung von 15m (Toleranzbereich) nicht als tatsächlicher
Leistungsunterschied gewertet wird sowie ebenfalls auf eine lineare
Normierung der Form: Je länger die in 6 Minuten gelaufene Wegstrecke ist,
desto besser (siehe Abb. 14)
55
.
54
Einige dieser zusätzlich eingeführten Parameter sind neben einer diagnostischen Bedeutung
insbesondere für die Einschätzung des prognostischen Wertes der aktuellen Leistung wichtig, aber
teilweise gegenwärtig nur schwierig quantifizierbar und sollen erst durch weitere
Forschungsarbeiten valider ermittelt und begründet werden. Wir haben sie dennoch vor allem zum
künftigen Erkenntnisgewinn vorsorglich in unser Vorgehen einbezogen, bewerten ihre Wirkung und
ihre Einflüsse aber (noch) so, dass keine wesentlichen Ergebnisverzerrungen zu erwarten sind (siehe
auch Abschnitt 7).
55
Dieses lineare Vorgehen bei bestimmten Parametern folgt einem natürlichen Ansatz des
Trainers/Lehrers: je schneller, je weiter, je mehr desto besser! In einem solch komplexen Gebilde
wie zum Beispiel dem sportlichen Talent kommt es aber nicht auf das „Inventar“ an Eigenschaften an,
sondern auf dessen strukturellem Zusammenwirken. Eine lineare Festlegung der
Optimierungsrichtung bringt deshalb zunächst nur das Bestreben zum Maximum zum Ausdruck, das
im Folgenden z. B. auch durch Einführung von Nichtlinearitäten anforderungsbezogen weiter
spezifiziert werden kann/wird siehe Schritt 3.).
120
Abb. 14: (Lineare) Normierung des Parameters 6 Minuten-Lauf
Dieses Vorgehen (streng monoton steigender bzw. fallender linearer Verlauf)
wurde sukzessive für alle Parameter vollzogen - außer dem Parameter „BMI“.
Für diesen wurde die Normierung so gewählt, dass ein Wert von 16,65 (das ist
in Anlehnung an Kromeyer-Hauschild et al., 2001 etwa der Mittelwert für
Mädchen dieses Altersbereichs in Deutschland) angestrebt wird (die Güte 1
erhält) und Abweichungen nach oben und unten gleichermaßen als nachteilig
gewertet werden (Abbildung 15).
Für die Eingabe dieser Informationen sind in dem Softwarepaket leicht und in
wenigen Minuten schnell handhabbare Prozeduren vorbereitet (siehe
Abbildung 20).
Abb. 15: Normierung des Parameters BMI: 16,65 ist der Durchschniswert des BMI für
Mädchen des Altersbereichs der drien Klassen (Kromeyer-Hauschild, 2001).
121
Schritt 3.: Im 3. Schritt wurden durch die in die Diskursiven Validierung
einbezogenen „Experten“ Präferenzen bzw. Zufriedenheitsgrade für die
Parameter in umgangssprachlicher Form (das sind Schätzungen, die mit
wahrnehmungs- basierten Worten umgehen können, Portmann (2022))
vergeben und – zumindest im Anfangsstadium des Vorgehens durch die
Prozessexperten moderiert - in geeignete Zugehörigkeitsfunktionen
56
übersetzt. Das kann zum Beispiel – wie im Parameter Liegestütze (LS) eine S-
Kurve (Sigmoid-Kurve) sein)
57
. Diese Vorstellung realisiert er mit Hilfe der
Soware, die ihm einen entsprechenden Kurvenverlauf anbietet, den er frei
gestalten kann (dehnen, stauchen, im Wendepunkt verändern- Abbildung
16)
58
.
Abb. 16 Beispiel für eine Zugehörigkeitsfunktion in sigmoider Form.
56
Bei Vorliegen von Ungewissheit löst eine Zugehörigkeitsfunktion die Frage, ob eine Eigenschaft
(„Talent“) existiert oder nicht dadurch auf, indem sie ausdrückt, zu welchem Grad diese Eigenschaft
existiert. Auf solche Weise erhält jedes Element einer gegebenen Grundmenge (also beispielsweise
des Definitionsbereichs eines Kriteriums im DMT) einen Zugehörigkeitsgrad für die FUZYY-Menge der
Talente…
57
Dazu sind im Softwarepaket bewährte Funktionsverläufe zur Auswahl vorbereitet.
58
Es sei darauf hingewiesen, dass solange solche Zugehörigkeitsfunktionen streng monoton
verlaufen dadurch zwar die Relationen zwischen den Varianten innerhalb der Punktmenge
verändert (verzerrt) werden, nicht aber beispielsweise die Ordnung zwischen ihnen…
122
Interpretationshinweise:
Auf der x-Achse ist der der Wertebereich der Liegestütze aufgeführt, die Y-Achse bemisst die
Zugehörigkeit zur unscharfen Menge der Talente. Im Bereich des Mittelwertes der Liegestütze ist ein
Kind sowohl Talent als auch Nichttalent, links davon (exponentiell abnehmend) eher weniger Talent,
rechts davon (exponentiell zunehmend) eher mehr...
Diese Bewertungsfunktion modelliert also den Experten, der meint: Je mehr ein Proband LS schafft,
desto stärker gilt für ihn der Begriff „Talent“. Aber, mit jemandem, der in etwa die mittlere Anzahl
(14) LS schafft, ist dieser Experte „halbwegs“ zufrieden (der erhält von ihm einen Zugehörigkeitswert
zu seiner Menge der „Talente“ von etwa 50%. Das soll aus seiner Sicht zugleich für alle im
Streubereich (zwischen 10 und 18 LS) Liegenden gelten. Erst für jemand mit Leistungen über diesen
Bereich hinaus vergibt dieser Experte (exponentiell) wachsende Werte für dessen Zugehörigkeit zur
Menge der (unscharfen) „Talente“. Bei einer Leistung über den dreifachen Streubereich hinaus, ist er
sicher, dass es bei diesem Probanden um ein „Talent“ geht…
Methodisch wird dieses Vorgehen in MAOE im Zweig „Bewertungsfunktionen“ wie folgt realisiert:
Zunächst wird in unserem Falle die Sigmoid-Kurve (oben links, Kasten 4, siehe dort auch alle weiteren
möglichen Kurvenverläufe)) ausgewählt. Voreingestellt ist: Wendepunkt bei Mittelwert (13,6 bzw.
0,428), Stufe bei 0,5, Abweichungen größer/kleiner 3 Sigma werden mit Güte 1 oder 0 bewertet,
Kurve „hebt ab“ nach oben oder unten am Rand Streubereich (Steilheit 100), innerhalb des
Streubereichs (dunkelgrün) ist man „halbwegs“ zufrieden. Diese Voreinstellung kann sehr einfach an
allen wichtigen Knotenpunkten (Stufe, Steilheit, Streubereich, Sigma…) interaktiv auf folgende Weise
verändert werden:
Charakterisierung der EINGRIFFSMÖGLICHKEITN:
1. Wendepunkt: Am Wendepunkt ist jeder zugleich Talent und Nichttalent der
Wendepunkt trennt somit Talent und Nichttalent. Der Experte ist hier mit der Leistung
„halbwegs zufrieden“. Das wird ausgedrückt durch die Stufeneinstellung 50%. Die
Stufeneinstellung 60% könnte man wählen, wenn der Übergang zum Talent erst bei
höherer Leistung beginnt usw., usf.
2. Mit einem Häkchen bei µ legt man den Wendepunkt genau auf den Mittelwert des
Parameters. Das heißt, mit einer über dem Mittelwert liegenden Leistung ist man mehr
Talent als kein Talent. Mit der Steilheit kann man steuern, wann die Kurve von dem
Mittelwert „abhebt“, wo also das exponentielle Wachstum eines Talents beginnt. Je
steiler der Anstieg gewählt wird, desto später hebt die Kurve ab und desto mehr fallen
auch noch kleinere Verbesserung bei schon gut talentierte Probanden in`s Gewicht. Die
Steilheit 100 ist beispielsweise gut geeignet, dieses Abheben bei Verlassen der
Standardabweichung auszulösen.
3. Mit einem Häkchen bei erreicht man, dass Leistungen, die über die dreifache
Standardabweichung hinausgehen, die Maximalbewertung erhalten (damit werden
Verzerrungen durch eventuelle Ausreißer vermieden)
Auf ähnliche Weise wird dieses Vorgehen nach Schritt 3 auch für alle weiteren
Parameter (mit jeweils spezifisch ausgewählten Kurvenverläufen – siehe
Abbildung 17) verifiziert. Die Festlegung des Typs der Zugehörigkeitsfunktion
und besonders deren konkreter Verlauf lässt sich realisieren, indem man einen
voreingestellten Funktionsverlauf am Bildschirm auswählt und ihn dann nach
123
seinen inhaltlichen Vorstellungen „verformt“. Die entsprechenden
Kurvenparameter werden dabei im Hintergrund ermittelt und für zukünftige
Analysen gespeichert. Dabei ist es natürlich von Vorteil, wenn der „Fach-
Experte“ über ein gewisses Grundverständnis des Konzepts solcher Funkonen
(exponenelles Wachstum und Exponenalfunkonen, Potenzfunkonen…)
verfügen würde.
Abb. 17: Beispiele für unterschiedliche Zugehörigkeitsfunktionen
Schritt 4.: Schließlich wurde ein Strukturdiagramm/eine Hierarchie entwickelt
und das Gewicht jedes Merkmals in Bezug auf den jeweils übergeordneten
Knoten geschätzt (Abbildung 18).
In diesem Fall hat man sich beispielsweise auf fünf Knoten/Komponenten
59
geeinigt, für die sich jeweils eine semantische belegbare sportspezifische
Bedeutung erkennen ließ: im Knoten der Ausdauer/Ausdauerkraft (A/AK)
59
Den „Knoten“ kommt eine vergleichbare Bedeutung zu wie den „Faktoren“ in einer
Faktorenanalyse. Um Irritationen zu vermeiden, bezeichnen wir sie im Weiteren auch als
„Komponenten“ der sportlichen Begabung/des sportlichen Talents.
124
führte man die Parameter Liegestütze, Situps und 6-Minuten-Lauf zusammen.
Dabei wurde dem Parameter 6-Minuten-Lauf die höchste Priorität (100%) auf
A/AK eingeräumt, den Liegestützen 80% und den Situps 60%. Die Komponente
A/AK selbst erhielt bezüglich ihrer Bedeutung für die übergeordnete
Komponente „sportliche Begabung“ die zweithöchste Wertung (90%).
Das seitliche Hin- und Herspringen beispielsweise wurde doppelt vergeben: An
die Komponente Koordination und Beweglichkeit (Koordination/Beweglichkeit)
mit höchster Priorität (100%) und gleichzeitig an die Komponente
Schnelligkeit/Schnellkraft (S/SK) mit 20% usw., usf. Der Abbildung 18 ist die
Hierarchie und sind alle Knotengewichte zu entnehmen
60
,
61
.
Abb. 18: Beispiel für eine gewichtete Hierarchie
Einschub:
Selbstverständlich gibt es im Rahmen der Diskursiven Analyse sehr
unterschiedliche Expertenurteile, insbesondere auch bei der Festlegung
der Gewichte/Substuonsraten. Es lässt sich mathemasch allerdings
gut belegen und veranschaulichen, dass die im Allgemeinen unter den
Fachleuten diskuerten Unterschiede das Ergebnis der Analysen nicht
60
für die Aktualität der verwendeten Gewichtungen gelten die generellen Bemerkungen in Fußnote
33. Für den Diskurs ist es leicht möglich, die Auswirkungen unterschiedlicher Abschätzungen zu
Überprüfungszwecken gelegentlich interaktiv zu „beobachten“ und zu bewerten.
61
Die von uns gewählte Vorgehensweise für die Festlegung der Gewichte (von 100% absteigend)
findet man in der Literatur vielfach und entspricht beispielsweise dem Vorgehen bei der Analyse
„gute Flugbuchung“ (Forschungsgruppe Wahlen Telefonfeld, 2017)).
Knotenwichtungen
für sportliche Begabung
S/SK 0,357 100%
A/KA 0,321 90%
Koo/Bew. 0,143 40%
Konst. 0,107 30%
Prognose 0,071 20%
für S/SK
a20m 0,455 100%
SHH 0,182 40%
SW 0,364 80%
für A/KA
LS 0,333 80%
SU 0,250 60%
a6min 0,417 100%
für Koord./Bewg.
Bal 0,30 60%
SHH 0,50 100%
RB 0,20 40%
für Konstitution
Alter/M 0,308 80%
KH 0,308 80%
BMI 0,385 100%
für Prognose
Alter/M 0,533 100%
maxKH 0,333 60%
BA 0,133 25%
125
in dramascher Weise verzerren (beispielsweise werden bei der
Besmmung von Paretomengen die durch die Gradienten der
Gewichtsabschätzungen denierten mehrdimensionalen Niveauebenen
„nur“ geschwenkt – siehe Abbildung 19). Die Rangfolgen sind also in
ihrer Substanz sehr stabil – was für die diskursive Analyse als
„vertrauensbildend“ zu nutzen ist.
Abb. 19: Die durch die verschiedenen Gewichte/Substitutionsraten (ΔK zu ΔA bzw.
ΔK1 zu ΔA1) definierten Niveaulinien „schwenken“ lediglich mehr oder weniger um
die Referenzvariante. Damit verändert sich die Reihenfolge - aber eben nicht
fundamental: Bei den „rot“ gekennzeichneten Gewichtsverhältnissen ist S4 vor S3 und
S1, bei den (schon deutlich veränderten) grünen Gewichten ist S1 knapp vor S4 und Sx.
Die weiter im Inneren der Menge liegenden Varianten bleiben hinter diesen
weiterhin zurück.
Mathematisch heißt das: Bisher nicht paretooptimale Varianten können durch
veränderte Gewichte/ Substitutionsraten auch paretooptimale Varianten in der
Rangfolge übertreffen (wie man an der Variante SX erkennen kann). Die
Gewichte/Substitutionsraten bestimmen die Richtung des Gradienten, die in unseren
Analysen auch berücksichtigten Fehlerbereiche definieren den Betrag des Gradienten
und damit die Steilheit der unscharfen Zugehörigkeitsfunktion (große Fehlerbreite -
flache Zugehörigkeitsfunktionen - wachsende Unschärfe).
126
Für unser Beispiel ist mit diesen Schritten die diskursive Validierung und deren
Überführung in das Programmsystem MAOE abgeschlossen. Entsprechend
unserer theoretischen Positionen haben wir dabei gewährleistet, dass keine
scharfen Grenzen gezogen werden mussten und mit wahrnehmungsbasierten
Worten unscharf gekennzeichneten Mindestqualitäten („halbwegs zufrieden“,
“deutlich verbessert“, „eher schlechter“…) ausreichend waren.
Bei den Diskussionen um die Bewertungen und Einschätzungen ist allerdings zu
bemerken, dass nicht jeder „Experte oder Prakker“ gleichermaßen bereit oder
in der Lage ist, solche Absmmungsrunden unvoreingenommen, oen und
kreav anzunehmen. Das gelingt desto besser, je mehr eventuelle
Fehleinschätzungen nicht negav konnoert werden, sondern als Quelle neuer,
zusätzlicher Informaon zur systemischen Verbesserung des Vorgehens
verstanden werden. Die Erfahrungen zeigen, dass diese Auseinandersetzung bei
allen Beteiligten im Laufe der Zeit nicht nur zu immer besseren Ergebnissen bei
der Rangfolgebestimmung, sondern sukzessive auch zu einem inhaltlich und
ganzheitlich besseren Problemverständnis führt. Dabei wird vor allem die
Bedeutung der Praktiker, ihre Erfahrung und ihr wertvolles empirisches Wissen
für das Analyseverfahren selbst und nicht erst für die abschließende
Interpretation der von oft „inhaltsfremden“ Analysten fertiggestellten
Analyseergebnisse deutlich erkennbar. Die Praxis steht bei diesem Vorgehen
nicht neben der Analyse, sondern ist inmitten der Analyse unverzichtbar! Auf
diese Weise kann eine Brücke in der Herausforderung fruchtbarer
Zusammenarbeit von Wissenscha und Praxis auch im Kontext des
Talentscreenings im Sport gefesgt und weiter ausgebaut werden.
Insbesondere könnte zumindest anfangs eine Unterstützung in der Diskursiven
Validierung und bei deren Überführung in die Analysen durch
„Verfahrensinsider“ sehr sinnvoll sein.
In MAOE befinden wir uns in Bezug auf die Übernahme der Ergebnisse der
diskursiven Analyse insbesondere in dem roten Bereich “Analyse und
Parameter“ (siehe Abbildung 20):
127
Abb. 20: Bildschirm für die Schritte der Diskursiven Validierung
Selbstverständlich erlaubt bzw. benötigt nicht jedes der von uns in diesem
Beitrag beschriebenen Verfahren die Einbeziehung all dieser o. g. Bewertungs-
und Präferenzangaben, andererseits verwenden wir für spezifische andere
Fragestellungen auch Vorgehensweisen, die noch weitergehende Möglichkeiten
des subjektiven Eingriffs erschließen [30]).
Zu den bedeutenden Vorteilen unseres Vorgehens gehört, dass solche
gewichteten Hierarchien nicht nur auf ein allgemeines sportliches Talent (eine
allgemeine sportliche Leistungsfähigkeit), sondern durch entsprechende
Bewertungsveränderungen eben auch auf verschiedene Sportartengruppen
(beispielsweise Ausdauer- oder Schnellkraftsportarten) oder auch auf eine
konkrete Sportart (Handball, Schwimmen, Radsport…) und damit auf eine sehr
spezifische Talentidentifikation „zugeschnitten“ werden kann. In diesem
Zusammenhang ist die in unserem Vorgehen immanente Möglichkeit,
problemlos weitere (spezifische) Parameter (Spielfähigkeiten im Handball,
Größe im Rudern…) zu den Analysen hinzuzunehmen, besonders vorteilhaft.
Dadurch wird eine elegante Kombination von Ergebnissen ganz verschiedener
standardisierter Testbatterien (motorisch, psychologisch, physiologisch,
biomechanisch...), von Entwicklungsdaten (z. B. biologisches Alter,
Körperfinalhöhe…) und eben den umfangreichen Potentialen der subjektiven
128
Theorien der über Jahrzehnte angeeigneten Wissensstände von Trainern,
Sportlehrern, Übungsleitern… möglich.
Einschub: Es sei hier besonders darauf hingewiesen, dass die Formierung
eines Expertenteams
62
und die Organisation der Zusammenarbeit dieser
Experten (Erfahrungsträger!) im Rahmen der Diskursiven Validierung
einen eigenständig zu planenden, zeitaufwändigen Arbeitsschritt
darstellt. Der Diskurs mit den Praktikern über die von ihnen gewünschten
Einschätzungen setzt von allen Beteiligten zwingend eine tiefgründige
Auseinandersetzung mit den Daten und damit eine fundierte Position der
"Untersucher“ zu den substanziellen Analyseinhalten voraus. Dabei kann
man durchaus auf die Situation treffen, dass nicht jeder „Experte oder
Praktiker“ gleichermaßen bereit oder in der Lage ist, solche
Abstimmungsrunden unvoreingenommen, offen und kreativ
anzunehmen. Unsere Erfahrungen zeigen aber, dass diese
Auseinandersetzung bei allen Beteiligten im Laufe der Zeit nicht nur zu
immer besserem Problembewusstsein, sondern letztlich auch zu einer
ganz offensiven Übernahme von Mitverantwortung der Praxispartner für
die Ergebnisse und die Umsetzung einer solchen Talentidentifikation
führen.
Dieser besondere Arbeitsschritt, der einen erhöhten Aufwand und die
Erhebung zusätzlicher Daten bedeutet sowie kompliziertere
Entscheidungsmodelle verursacht, ist sozusagen der „Preis“ für die
Möglichkeit, zusätzlich zu den quantitativen Analysen nun auch das
subjektive Wissen und die Theoriepositionen von profunden
Erfahrungsträgern bzw. Experten in die Analysen einzubeziehen
63
.
Das „erspart“ man sich bei dem üblichen „klassischen Vorgehen“. Man
62
…die ja auf Grund des hohen Niveaus gerade im deutschen Leistungssport und dessen
Nachwuchsförderung leicht anzutreffen sind.
63
Insbesondere auf Grund dieser Möglichkeit sprechen wir von einer „Erweiterung“ des bisherigen
klassischen statistischen Vorgehens im Talentscreening. Aufgabe der Statistik ist zunächst „nur“,
Wahrscheinlichkeiten und statistische Kennzahlen (Irrtumswahrscheinlichkeiten, Effekte…) zu
berechnen. Da ist sehr vereinfacht - nichts subjektiv! Es entsteht am Ende des Analyseprozesses
nur die Frage, ob man beispielsweise mit der ermittelten Irrtumswahrscheinlichkeit oder dem
ermittelten Effekt zufrieden ist oder nicht! Dafür „reicht“ es z. B. bei der Bildung von Summenscores
aus den Perzentilwerten, deren Mittelwert (selbstverständlich erst nach einer vorhergehenden
speziellen z-Transformation…) zu bestimmen. Vergleichsweise verwendet man aber wenig Mühe
darauf, die zugegebenermaßen schwierig abzuhebende subjektive Bewertung der Sport-Experten
über den spezifischen Anteil jedes einzelnen Parameters auf die Zielgröße (motorisches Talent) zu
eruieren und vielleicht sogar a-priori in die Rechnungen einzubringen. Was bedeutet denn nun aber
ein „exakt gemittelter Perzentilwert“ zwischen bspw. Rumpfbeugen und 6-Minuten-Lauf hinsichtlich
des Vorhandenseins von Talent, und wie würde sich die Bedeutung wohl ändern, wenn wir dann gar
noch zwischen einem Talent für Turnen oder für Laufen unterscheiden wollten…?
129
muss sich dann nur ganz klar machen, dass all diese (für die praktische
Relevanz der Ergebnisse doch offensichtlich unverzichtbaren)
Informationen völlig unberücksichtigt bleiben. Und es ist dann sicher nur
ein geringer Trost, dass man bei eventuellen Zweifeln an Ergebnissen
darauf hinweisen kann, dass aber die Algorithmen für das klassische
Vorgehen selbstverständlich vollständig objektiv sind…! Da sollten sich
die Mühen unseres Vorgehens doch lohnen…! (Besonders detailliert
werden die Schrittfolgen bei der Diskursive Validierung und die dabei
implementierten Möglichkeiten zu iterativen Sensitivitätsanalysen für das
verwendete Erfahrungswissens im Forschungsbericht [39] dargestellt und
diskutiert).
Mithilfe der diskursiven Validierung haben wir somit die ohnehin große
Unsicherheit der Talententscheidung adressiert und Möglichkeiten geschaen,
sie gemeinsam in einer guten Balance von Wissenscha und Praxis zu
evaluieren und weiterzuentwickeln. Dafür wurden eine Vielzahl von
Plausibilitätsbetrachtungen implementiert, mit denen die subjektiven
Bewertungen aus verschiedenen „Blickwinkeln“ iterativ überprüft und deshalb
zu immer begründeteren Anschauungen und Einsichten verdichtet werden
können (siehe 5.2.). Dieses Vorgehen einer systematischen Evaluierung wurde
in der Vergangenheit in geeigneten Zeitabschnitten (von etwa 4 Jahren)
schrittweise fortgeführt, für eine gewisse Zeit dann beibehalten
(„eingefroren“) und danach jeweils auf höherem Niveau erneut aufgenommen
und weitergeführt
64
. Richtig zu Ende ist dieser Prozess sicherlich nie - man
kann das begrüßen oder bedauern, aber der wissenschaftlich orientierte
Praktiker ist es gewohnt, zu handeln, auch wenn noch nicht alle Details klar
sind
65
und erreicht damit immer wieder erstaunlich gute Ergebnisse – auch bei
der Talentidentifikation. Sie wird dadurch nicht vorhersehbar, aber
beherrschbarer…
Eine Veranschaulichung ausgewählter Prinzipien der Diskursiven Validierung
und seine Überführung in die Soware soll Abbildung 21 zusammenfassen.
64
Eine solche systematische Evaluierung (für die Bewertungen der Diskursiven Analyse oder die
verwendeten Referenzkategorien) ist auch aktuell erforderlich, weil viele der hier dargestellten
Validierungsergebnisse noch dem Stand von vor 2020 entsprechen. Eine insbesondere auf der
Ganzheit der in den Jahren seit 2011 geschaffenen qualitativ und quantitativ hochwertigen Daten-
und Erfahrungsbasis in Berlin beruhende - grundsätzliche Überarbeitung dieser subjektiven
Bewertungen und Einschätzungen ist deshalb in Vorbereitung (siehe DHGS-Jahresberichte seit 2012,
sowie IST-Stands-Analyse 2023).
65
…weil er nicht so vermessen ist anzunehmen, dass nichts existiert, was nicht bewiesen ist!
130
Abb. 21: Prinzip des multiattributiven FUZZY-Vorgehens im 2-dimensionalen Parameterraum
131
5.3. Rangfolgeberechnung unter Verwendung der MADM-Methode
„Analytischer Hierarchieprozess mit Rückwärtsfilterung“
Mit der oben beschriebenen Art der Diskursiven Validierung haben wir alle
Voraussetzungen geschaffen, um für eine Rangfolgebestimmung beispielsweise
die Methode des Alternativen Hierarchieprozess (AHP) mit Rückwärtsfilterung
auszuwählen und anzuwenden. Die besondere Stärke dieser Methode liegt in
der Bewertung des Talentgrads der Schülerinnen insgesamt sowie durch die
Möglichkeit zur Ableitung spezifischer Interventionshinweisen für deren
künftiges Training auf Basis von rückgerechneten Leistungswerten in den
verschiedenen Komponenten der sportlichen Begabung – wie z. B. eben in der
Schnelligkeit/ Schnellkraft oder Ausdauer/Kraftausdauer.
Unter Verwendung der in der Diskursiven Validierung gewählten
Zugehörigkeitsfunktionen sowie der Hierarchiebildung und der Gewichtung in
den Knoten definieren wir dafür eine Idealschülerin (z. B. eine, die den
erreichten Bestwert aller Schülerinnen in jedem einzelnen Test auf sich
vereinigen würde)
66
und wir messen die Ähnlichkeit jeder anderen Schülerin zu
dieser mit einer Zahl zwischen 0 und 1. Diese Zahl berechnen wir direkt aus
einer mehrdimensionalen Abstandsfunktion als gewichteten und (mit den
Zugehörigkeitsgraden) bewerteten Abstand zum Ideal in Form einer exakt
berechneten Diagonale eines mehrdimensionalen Kubus. Die Berechnung der
Diagonale erfolgt auf exakte mathematische Weise, die Unschärfe entsteht
durch die (subjektive) Gewichtung und Bewertung. In der Folge lösen sich
scharfe Grenzen auf und es lassen sich Kompensationsmöglichkeiten einführen,
wenn beispielsweise Verschlechterungen eines Kriteriums mit Verbesserungen
eines anderen Kriteriums einher gehen. Auf diese Weise (AHP) mit
Rückwärtsfilterung) ergibt sich eine vollständige Rangfolge unter den
Schülerinnen in deren Grad der Zugehörigkeit zur unscharfen Menge der
Talente. Mit dem Verfahren des Analytischen Hierarchie Prozess kann dieses
Vorgehen dann automatisch auf jeden Knoten der Hierarchie umgerechnet werden.
In MAOE wählen wir uns das multiattributive Verfahren insbesondere in dem
roten Bereich „Auswahl und Bewertung“ aus, den Analyseprozess für das AHP-
Verfahren selbst starten wir durch das Anklicken des Buttons im Feld
„Gütehierarchie“ (Abbildung 22).
66
Das ist natürlich eine extreme, etwas unrealistische Anforderung - diese Ideal-Schülerin wäre in
jedem einzelnen Test die Beste - und hat zur Folge, dass bei der Bildung eines Gesamtwertes starke
Unterschiede in den Einzelparametern auftreten und deutliche Kompromisse notwendig werden.
Statt sich an den Bestwerten zu orientieren, kann man sich deshalb selbstverständlich auch auf (aus
der Erfahrung abgeleitete) Wunschwerte verständigen (siehe 3.3, Fußnote 15).
132
Abb. 22: Bildschirm zur Auswahl der gewünschten MADM-Methode
5.4 Darstellung und Interpretaon der Ergebnisse
Im Ergebnis der Analysen auf Basis des Alternativen Hierarchie-Prozesses und
der Rückwärtsfilterung erhalten wir für das Jahr 2022 eine vollständige
Rangfolge aller 7.876 untersuchten Schülerinnen, in der die auf dem ersten
Platz liegende Schülerin bezüglich der in der diskursiven Validierung
getroffenen Bewertungen dem Ideal jedenfalls am ähnlichsten ist (d. h. am
nächsten liegt) und diese Ähnlichkeit dann mit steigender Platznummer der
Mädchen abnimmt. Diese Rangfolge wird – wie vorstehend ausgeführt -
mathematisch exakt („scharf“) berechnet, die Unschärfe ist lediglich durch die
subjektiven Bewertungen der Experten verursacht.
Wie am Anfang von Abschnitts 4 bereits erläutert, soll dieses automatisierte
Analyseergebnis aber nicht die Entscheidung diktieren, sondern dem
Entscheidungsteam helfen, letztlich eine kompetente Entscheidung zu treffen.
Folglich ist es nun auch nicht angemessen, innerhalb dieser Rangfolge eine
feste Platznummer vorzugeben, die ein Talent von einem Nichttalent trennt,
sondern sie als eine fundierte, begründete Grundlage zu nutzen, um die
Mädchen für eine besondere Förderung vorzuschlagen, auf die man zuallererst
blicken sollte, wenn man Talente sucht,
67
. Für das Team der Entscheider sollte
67
…siehe vorn: In Anbetracht der außerordentlich hohen Komplexität bei unserem
Analysegegenstand „Talent“ ist offensichtlich auch hier die Ermittlung einer optimalen Lösung
weniger zielführend als ein Vergleich realisierbarer (geeigneter) Alternativen.
133
also nicht das Mädchen auf Platz x ein Talent und das auf Platz x+1 kein Talent
sein, sondern es sollten - wenn man beispielsweise aus Kapazitätsgründen nur n
Mädchen als Talente fördern kann - die in der Rangfolge auf den Plätzen 1 bis n
liegenden Mädchen bezüglich der Identifikation als Talent favorisiert werden.
Mit einem solchen Vorgehen wird zwar der Anspruch auf Präzision
(Bestimmung des „Talents“) etwas „zurückgefahren“, aber die Suche nach einer
Lösung, die eine solch unscharf beschriebene Mindestqualität wie „...wir wollen
mit unserem Vorgehen die Talenteinschätzung deutlich verbessern, die Gefahr
des Übersehens von talentierten Mädchen verringern “ angesichts der
herrschenden Wahrscheinlichkeiten und Ungewissheiten in der uns
konfrontierenden Realität der Talentauswahl angemessener zu sein als die
Suche nach einem absoluten Optimum einer (doch nur schein-) genauen
Entscheidung. Wir erkennen mit solch einer Zielstellung vielmehr die
„…unendliche Vielfalt von Möglichkeiten“ der Entwicklung vom Talent zum
erfolgreichen Sportler an und versuchen deshalb weniger, TALENT in einem
allgemeinen Sinne zu identifizieren, sondern realisieren das in einem
operationalen Sinne: Es soll erreicht werden, dass wir möglichst kein Talent
übersehen (wenig falsch negative Entscheidungen treffen)
68
.
Damit lässt sich unser Ergebnis für das Talentscreening des Jahrgangs 2022 bei
BERLIN HAT TALENT mit zwei Szenarien beschreiben:
1. Dem Szenario Talent-Identifikation („Diagnose“):
Wie in Abbildung 23 zusammengefasst, konzentriert sich die
Talentidentifikation auf die 10% (also auf 1.622…) der bewegungs-
begabtesten Drittklässlerinnen und Drittklässler in diesem Jahr
69
und
zeigt deren Verteilung auf die 290 teilgenommenen Berliner Schulen -
ganz nach dem Motto: „…alle haben die Chance, ihr motorisches Talent
zu zeigen
70
,.
68
Mit dieser Strategie gibt man eine „Illusion der Gewissheit“ auf und erkennt an, dass es in unserer
Realität Ungewissheiten gibt, die nicht auf mangelndem Wissen beruhen. Damit wird die zweiwertige
Logik für die Eigenschaft „Talent“ aufgelöst: Auch wenn man nicht berechnen kann, dass A dann und
nur dann ein Talent ist für die Festlegung von Förderentscheidungen beispielsweise scheint es
„genau genug“ zu sein, dass A mehr (oder eben weniger) Talent ist als B. Die Entscheidung „Talent
oder Nicht-Talent“ belassen wir damit als nicht berechenbares Risiko sie wird aber beherrschbar!
69
(falls nur so viele Fördermöglichkeiten eben etwa 1.600 Förderplätze bereitgestellt werden
können…)
70
Die nach Rangplatz, Bezirk, Schule und Geschlecht sortierte Liste mit der Aufstellung aller 16.222
untersuchten Schülerinnen und Schüler liegt vor. Damit sind sowohl die 10% besten
Schülerinnen und Schüler als auch die 10% mit den größten einzelnen motorischen Defiziten
auswählbar (wobei eben die Zahl „10“ nur als Platzhalter für andere sinnvolle Vorgaben steht…).
134
Wir haben dabei – wie vorn verabredet - exakte mathematische Prinzipien
eingehalten, für subjektive Theorien „Platz gelassen“ sowie nutzerfreundliche
Technologien entwickelt, um quantitative Motorikdaten mit qualitativem
Trainerwissen computergestützt zu verbinden. Und wir haben die Entscheidung
Talent – Ja/Nein“, durch eine Kennzeichnung „Talent – Mehr oder Weniger“
fuzzyfiziert!
Abb. 23: Talentscreening unter den Berliner Drittklässlerinnen und Drittklässlern im Jahr
2022 am Beispiel zweier Schulen
Interpretationsbeispiel: Die 16.222 in dem Schuljahr 2021/22 untersuchten DrittklässlerInnen Berlins wurden
in eine RANGFOLGE entsprechend ihres sportmotorischen Talents gebracht. Unter den beispielsweise n=10%
Besten (n ist variabel, aber fix, im Falle von n=10 sind das also 1.622 SchülerInnen) sind 8 adipös und 474
vereinslos (obere Info-Spalte). Von der Schule 1112 nahmen 102 DrittklässlerInnen am Test teil, von diesen
gehören 16 zu den 10% besten Berlins, 4 davon sind noch vereinslos und keiner von ihnen ist adipös (untere
Info-Spalte) usw., usf.
135
2. Dem Szenario Talent-Förderung („Therapie“)
71
Die ebenfalls in der Abbildung 23 am Beispiel zweier Schulen
veranschaulichte Zusammenschau für alle der im Schuljahr 2021/22
untersuchten 290 Berliner Schulen mit insgesamt 16.222
Drittklässlerinnen und Drittklässler gibt einen außerordentlich
detaillierten Überblick über die nach Bezirk und Schule aufgefächerte
konkrete Situation bezüglich der zu organisierenden
Fördermaßnahmen auf dem Gebiet der Talent- und
Nachwuchsentwicklung in Berlin. Sie gibt Hinweise, wo
Talentschwerpunkte liegen, Talentsichtungsgruppen gebildet,
Teilnehmer angesprochen und mit Vereinen punktgenau kooperiert
werden sollten, wo und wieviel Coaches/Übungsleiter zur Betreuung
benötigt bzw. auch ausgebildet werden müssten, welche sportlichen
Leistungsfaktoren auffällig sind usw. usf. Eine solche Übersicht könnte
selbstverständlich bei Wahrung aller Verpflichtungen zur
Datensicherheit - die Handlungsgrundlage für die zu organisierenden
Maßnahmen der Talentförderung in Berlin zur Umsetzung von
Schlussfolgerungen des bei BERLIN HAT TALENT durchgeführten
Talentscreenings in jedem Schuljahr sein.
Ob die mit diesem Ansatz identifizierten Kinder nun aber ihr Potential
langfristig tatsächlich ausreizen können und im Sport erfolgreich werden
72
,
hängt von vielen weiteren Einflussgrößen und Bedingungen ab. Der Vorgang,
wie man vom Talent zu einem erfolgreichen Sieger wird ist nichtlinear, deshalb
kaum berechenbar und dennoch wie die erfolgreichen Beispiele im
Leistungssport zeigen beherrschbar! Auch wenn der (prognostische) Wert der
ermittelten Rangfolge und der daraus abgeleiteten Entscheidungen sich erst in
der Zukunft zeigen wird - für die heutigen Nachwuchsverantwortlichen in Berlin
konnten eine Menge von Plausibilitätsbetrachtungen sowohl zur
Zweckmäßigkeit der in den Diskursiven Validierungen gefundenen Bewertungen
als auch zur Validität der Rangfolgebestimmungen entwickelt werden, die sie
als intuitiv einsichtig verstanden und deshalb ermutigt haben, die
71
Der Vollständigkeit wegen wird darauf hingewiesen, dass ein analoges Ergebnis mit diesen beiden
Szenarien „Identifikation“ und „Förderung“ auch im Falle der Schülerinnen und Schüler mit einzelnen
motorischen Defiziten bei BERLIN HAT TALENT ermittelt und bereitgestellt wird.
72
.wie weit man vom Ziel entfernt ist, weiß man erst, wenn man am Ziel war.
136
Förderentscheidungen tatsächlich auch auf dieser Grundlage zu treffen. Dieses
Vorgehen hat sich im Laufe der Jahre immer wieder bestätigt und begründet
eine konsensuale Validität: Auch wenn nicht alle so ausgewählten Schüler ihre
(eigenen) Erwartungen erfüllen können, dürfen gerade sie keinesfalls
übersehen werden!
6. Möglichkeiten und Beispiele zur Evaluierung der im Rahmen der
Diskursiven Analyse erreichten subjektiven Abschätzungen und
Bewertungen
6.1 Evaluierungsmöglichkeiten bezüglich der Gewichtung:
Die in unserem Vorgehen für die übergeordneten Komponenten durch die
Experten geschätzten Gewichte (Schritt 4 in 3.) lassen sich auch auf die
Gewichte der Basismerkmale in Bezug auf das Gesamturteil „sportliche
Begabung“ umrechnen und aus dieser Sicht evaluieren. Tab. 1 zeigt die auf die
Basiswichtungen umgerechneten Komponentenwichtungen.
Tab. 1: Von den subjektiv geschätzten Komponentenwichtungen rückgerechnete Wichtungen
für die Basisparameter
Dementsprechend führen also die in der Diskursiven Validierung gefundenen
Abschätzungen für die Knotengewichte bei den Basismerkmalen dazu, dass
beispielsweise der Sprint mit einem Gewicht von 0,198 als wichtigste
Basismerkmal eingeht (also unter allen Basismerkmalen das höchste Gewicht –
100% - in Bezug auf das Gesamtmerkmal „Talent“ hat), es folgen der 6-Minuten-
Lauf mit 0,134 (68%) und der Standweitsprung mit 0,119 (60%) usw. Diese
Informationen können genutzt werden, um einen eventuellen Änderungsbedarf
Basiswichtungen:
Alter/M 0,072 36%
KH 0,033 17%
BMI 0,041 21%
a20m 0,198 100%
Bal 0,050 25%
SHH 0,098 49%
RB 0,035 18%
LS 0,107 54%
SU 0,080 40%
SW 0,119 60%
a6min 0,134 68%
maxKH 0,023 12%
BA 0,010 5%
137
der Gewichte für die Komponenten - und in der Folge dann auch modifizierte
Basisgewichte - zu erkennen.
6.2 Evaluierungsmöglichkeiten bezüglich der Substitutionsraten:
Eine weitere sinnvolle Plausibilitätsbetrachtung lässt sich realisieren, weil sich
aus den geschätzten Wichtungen auch sogenannte Substitutionsraten
berechnen lassen. Die 3. Zahlenspalte von links in der Abbildung 24 zeigt
beispielsweise, dass unsere für die Hierarchie vergebenen Gewichte folgende
Substitutionsraten für die Basismerkmale ergeben: Wenn man z.B. 0,1 Sekunde
langsamer läuft, kann man das kompensieren durch eine um 5,91cm bessere
Leistung im Standweitsprung, oder durch 2,05 Sprünge mehr im Seitlichen Hin-
und Herspringen, oder durch 37,17 mehr gelaufene Meter im 6-Minuten-Lauf
usw.
Auch das ist eine Möglichkeit zur Evaluierung und iterativen Verfestigung der in
den diskursiven Validierungen vereinbarten Abschätzungen innerhalb der
Hierarchie.
Abb. 24. Aus den Hierarchiewichtungen berechnete Basiswichtungen und die dazugehörigen
Substitutionsraten
6.3 Evaluierungsmöglichkeiten bezüglich der Defizitanalyse:
Eine Defizitanalyse (Abbildung 25) verdeutlicht, wie komplex und kompliziert
die Testergebnisse der Schüler strukturiert sind: Definiert man das Talent so,
dass es praktisch in jedem Parameter den Bestwert aller Schülerinnen erreicht
(Ideal), dann zeigt die Defizitanalyse, dass ein solches Anspruchsniveau
(natürlich) wenig realistisch ist. Das beste Mädchen in unserer Fuzzy-Rangfolge
“im Messraum“
im normierten Raum
138
aller Mädchen weicht in den einzelnen Parametern erheblich von dem
jeweiligen Bestwert (also von den jeweils besten der 7.876 Mädchen…) ab
73
!
Ihr gutes Gesamtergebnis beruht offenbar auf ihrer Fähigkeit, eine optimale
Kompromisssituation zwischen den Leistungen in den Einzelmerkmalen
herbeiführen zu können (vergleiche mit vorn: das Ganze ist mehr als die
Summe seiner Teile…)
Abb. 25: Defizitanalyse für das Mädchen mit der ID 1016-22-002-2, das in der Analyse die
höchste Zugehörigkeit zur unscharfen Menge der Talente erreicht: Es ist 29 Monate älter als
das Jüngste aller Mädchen, läuft 343 m weniger als die Schnellste aller Mädchen, schafft 11
Liegestütze weniger als das beste aller Mädchen usw. Die doch deutlichen Differenzen liegen
an der Definition des gewählten Ideals (siehe Fußnote 34).
6.4. Kombinaon von mularibuven Verfahren und Berechnung
mehrerer Rangfolgen
Wir haben einige Gründe angeführt, warum wir uns bei der Auswahl des
multiattributiven Vergehens für die Methode des Analytischen
Hierarchieprozess mit Rückwärtsfilterung entschieden haben (siehe unter 5.3).
Es gibt aber auch gute Gründe, eines der anderen Verfahren zu wählen, denn
73
…daran zeigt sich deutlich, dass man ganz generell vor allem bei hoher Dimensionalität von
Testprofilen - beim Vergleich der Leistungen von Probanden mit dem „gesunden Menschenverstand“
sehr schnell „am Ende ist…“
139
jedes davon ist vernünftig und mit guten Erfahrungen auch bei unseren
Anwendungen hinterlegt.
Einschub:
Bei der für unser Beispiel benutzten Methode des Alternativen Hierarchie-
Prozess wird jede Variante (Schülerin) zu einerVergleichsvariante“ in
Relation gesetzt (nämlich nach der LP-Norm). Es kann aber beispielsweise
auch von Vorteil sein, jede Schülerin mit jeder anderen Schülerin paarweise
zu vergleichen. Dabei werden zum Beispiel (siehe die bereits vorn gegebenen
Hinweise zur Methode der „Unscharfen Dominanzmengen“)
Zugehörigkeitsfunktionen im arctan-Format gebildet und es wird durch
Rechnen mit diesen Funktionen paarweise der Zugehörigkeitsgrad dafür
ermittelt, dass eine Schülerin in einem Parameter besser ist als eine andere,
dass sie sogar in allen Parametern besser ist als diese andere und dass sie
schließlich in allen Parametern besser ist als alle anderen Schülerinnen.
Numerisch fassen sst sich dieses Vorgehen durch die Konstruktion
einer Zugehörigkeitsfunktion
dj (Sj / Sj0) = (1/
)(arctan (cj (Sj-Sj0)) +
/2)
dar, dass eine Sportlerin mit der Ausprägung Sj bezüglich des
Kriteriums j besser ist als eine andere Sportlerin, die die entsprechende
Ausprägung Sjo realisiert,
einer Zugehörigkeitsfunktion
d (S / S0) =
(dj (Sj / Sj0)
j
dar, dass eine Sportlerin S beglich aller Kriterien besser ist als eine
andere Sportlerin S0 (unter Verwendung eines Produktoperators für die
konjunktive Verknüpfung aller Parameter j), und schließlich
einer Zugehörigkeitsfunktion
dge s(S / {Si }) = min d (S / Si)
i
140
dar, dass eine Sportlerin S beglich aller Kriterien besser ist als die
Menge aller anderen Sportlerinnen {Si} (unter Verwendung eines
Minimumoperators über alle Sportler i).
Auf diese Weise wird über der Menge aller Sportlerinnen eine
unscharfe (FUZZY-) Menge (S, dges) erzeugt, in der jede Sportlerin S
einen Zugehörigkeitswert dges dafür erlt, dass sie besser ist als alle
anderen. Die Sportlein mit der gßten Zugehörigkeit kann dann also
im Sinne eines Gesamturteils über alle Parameter als die "Beste" (als
diejenige, die die größten Stärken hat und ihre Schwächen am besten
kompensieren kann) gelten, die mit der zweitchsten Zugerigkeit
als die "Zweitbeste"...
Die Wirkung der cj in den Zugehörigkeitsfunktionen wird verständlich,
wenn man die entsprechenden Grenzwerte analysiert: für c j
geht
die Zugehörigkeitsfunktion in eine Sprungfunktion (also den "scharfen"
Fall) über, r cj
0 ist die Zugerigkeitsfunktion eine Parallele im
Abstand von 0,5 zur X-Achse (die "Argumente" nnen also beliebig
weit auseinanderliegen, die Entscheidung über eine Pferenz kann
nicht getroffen werden).
Auf diese Weise (paarweiser Vergleich) wird also ebenfalls eine Rangfolge über
alle Mädchen definiert, die man mit der Rangfolge nach der Methode AHP
abgleichen kann.
Es hat sich bei unseren Untersuchungen deshalb bewährt [30, 31, 39], die
Rangfolgen folgender Methoden zu berechnen und sie anschließend zu
kombinieren:
Rückwärtsfilterung unter Verwendung des Ideal-Punktes:
Wahl von p:
P=1: Volle Kompensierbarkeit (gewichtetes arithmetisches Mittel, City-
Block Norm)
P=2: Eingeschränkte Kompensierbarkeit (gewichteter euklidischer
Abstand)
P=∞: Ohne Kompensierbarkeit (gewichtete Tschebyscheff-Norm)
Ausgangsinformationen: Wichtungsfaktoren,
141
Unscharfe Dominanzmengen:
Eingeschränkte Kompensierbarkeit
Ausgangsinformationen: Substitutionsraten und absolute
Fehler
Unscharfe Güte:
P=0: Eingeschränkte Kompensierbarkeit
Ausgangsinformationen: Substitutionsraten
PROMETHEE I + II:
Eingeschränkte Kompensierbarkeit
Ausgangsinformationen: Wichtungsfaktoren und
Wahrnehmungsschwellen
AHP-Gütehierarchie:
P=2: Eingeschränkte Kompensierbarkeit
Ausgangsinformationen: Zielstruktur und Wichtungsfaktoren
Für jeden Probanden kann dann ein (auch gewichteter) mittlerer Rangfolge-
Platz berechnet werden, auf diese Weise ergibt sich eine Gesamtreihenfolge.
Das ist auch ein kompensatorisches Modell, was in diesem Fall insofern
gerechtfertigt ist, weil so Vor- und Nachteile der Verfahren ausgeglichen
werden können. Sollten beispielsweise Informationen vorliegen hinsichtlich der
Kompensierbarkeit unterschiedlicher Rangfolgen, so kann man diese durch eine
Ungleichgewichtung bei der Berechnung der mittleren Platzierung der
Varianten/Probanden berücksichtigen.
Eine solche Kombination mehrerer Verfahren (Blick aus unterschiedlichen, aber
jeweils vernünftigen Richtungen…) ist auch deshalb sinnvoll, weil dadurch den
außerordentlich hohen Anforderungen an die Sensitivität und Spezifität eines
Vorgehens zur Talentauswahl angemessen entsprochen werden kann. Ein
Beispiel soll die Komplexität und die Schwierigkeiten bei der Identifizierung von
Talent“ auf der Basis einer solch umfangreichen Datenbasis (13 Parameter,
7.876 Probandinnen) verdeutlichen:
So zeigt sich bei der Besmmung der Paretoopmalität in der Menge der
untersuchten Schülerinnen, dass - bei Beachtung der gewählten
Toleranzbereiche für die einzelnen Testparameter - 7.869 der insgesamt 7.876
Mädchen paretoopmal sind (also die „Randmenge“ in einer 13-dimensionalen
Raumkugel bilden, Abbildung 26). Ohne Beachtung der Toleranz sind es immer
noch 2.154 Schülerinnen (Abbildung 27). Das heißt, für diese Schülerinnen gibt
es unter den restlichen 5.715 Schülerinnen keine, die in jedem Parameter nicht
142
schlechter und in mindestens einem Parameter (echt) besser ist
74
. Mit anderen
Worten: Nur auf der Basis der erreichte Leistungswerte, ohne also noch
„irgendwelche“ zusätzlichen Informaonen hinzuzufügen, ist eine weitere
Dierenzierung unter diesen 2.154 paretoopmalen Schülerinnen nicht
möglich! Jede hat sehr eigene Stärken und Schwächen! Die Qualität dieser
„Paretooptimalen“ beruht offenbar auf deren Fähigkeit, die Leistungen in den
Einzelmerkmalen auf eine - den Erfahrungen unserer Experten nach -
„günstige“ Weise verknüpfen und zusammenführen zu können (… es kommt
nicht zu sehr auf das Inventar von Fähigkeiten an, sondern auf deren
Strukturierung das gilt übrigens bis in den Bereich von motorischen/
sportlichen Weltspitzenleistungen).
Auch diese Situaon weist auf die Bedeutung der Diskursiven Validierung hin…
Abb. 26: Paretooptimalität mit Beachtung der Toleranzbereiche (Ausriss)
74
so wie bei der Defizitanalyse (siehe dort) bereits festgetellt: In mehrdimensionalen Testprofilen
kann der „gesunden Menschenverstand“ bei Leistungsvergleichen zwischen Probanden nicht sehr
helfen…
143
Abb. 27: Paretooptimalität ohne Beachtung der Toleranzbereiche (Ausriss)
Die auf dem Gebiet der Leistungsdiagnostik im Sport in Berlin besonders
bewährten multiattributiven Methoden (siehe oben) sind im Softwarepaket
MAOE vereinigt, können kombiniert angewendet und interaktiv am Computer
umgesetzt werden [30]. Dies erfolgt über ein Ankreuzen auf dem
Computerbildschirm entsprechend Abbildung 28.
Abb. 28: Computerbildschirm für die Kombination der in Berlin bewährten und deshalb bei
BERLIN HAT TALENT empfohlenen Rangfolgen
144
Auf diese Weise ergibt sich eine gewisse Zusammenschau aller berechneten
Rangfolgen bezüglich der Platzierung jedes Mädchen in jedem MADM-
Verfahren (Abbildung 29). Bei sorgfälg durchgeführter diskursiver Validierung
ergibt sich insgesamt eine relav gute Korrelaon der Rangfolgen (vgl.
Bemerkung zur Stabilität der Rangfolge entsprechend Abbildung 19). Dennoch
können die individuellen Unterschiede natürlich erheblich sein und deshalb
breit streuen. Unsere Verfahren sind darum prinzipiell so ausgewählt, dass auch
bei der Anwendung unterschiedlicher Rangfolgeberechnungen gerade bei den
Rangfolge-Besten (und analog auch den Rangfolge-Schlechtesten) die
geringsten Streuungen aureten. Sollten diese dennoch über den Erwartungen
liegen, könnte das ein (wertvoller) Hinweis darauf sein, noch kreaver und noch
oener danach zu suchen, woran das liegen könnte, was wir in unseren
subjekven Anschauungen, Überlegungen und Abschätzungen oenbar
überprüfen sollten. Das kann dann nur zu besserem Wissen und Verständnis
der zugrunde liegenden Realität führen!
<<<Beste Probanden Schlechteste Probanden>>>
145
Abb. 29: Streudiagramm der mileren Platzierungen der Mädchen in den acht ermielten
Rangfolgen, deren Korrelaonen und die Rangplätze jedes Mädchens in jedem MADM-
Verfahren sowie im Miel aller Rangfolgen (beachte: Alle Rangfolgen ordnen die „Besten“
(bzw. die „Schlechtesten“) auch als solche ein, bei den Mädchen in den mileren
Leistungsbereichen ist die Einordnung deutlich unsicherer – das entspricht aber unserem
Ziel, nämlich gerade in der Gruppe der Besten (bzw. der Schlechten) gut dierenzieren zu
können…
7. FUZZY und Statistik - Die Differenzierung in der „Gruppe der
Besten“
Hier wollen wir - über die in früheren Veröffentlichungen von uns bereits
diskutierten prinzipiellen Vorteile des multiattributiven FUZZY-Vorgehens und
der Plausibilitätsbetrachtungen zu den Rangfolgen hinaus
75
- zeigen, wie
überzeugend selbst in der Gruppe der Besten, in der unter Nutzung der
Normkategorien alle „gleich gut“ sind, doch registrierbare Unterschiede im
motorischen Leistungsstand
der Schülerinnen offengelegt und damit auch Orientierungen für
individualisierte Trainingsinterventionen gefunden werden können.
Von den 7.876 im Jahr 2022 untersuchten Mädchen erwiesen sich nach dem
Vorgehen über die Normkategorien 943 (12%) als überdurchschnittlich fit (NK
4) und 214 (2,9%) als weit überdurchschnittlich motorisch fit (NK 5).
Üblicherweise würde man also (mindestens) diese 214 Mädchen mit den weit
überdurchschnittlichen Testergebnissen als „motorisch begabt“ deklarieren und
für Fördermaßnahmen im Rahmen von Talentsichtungsgruppen vorsehen.
Die motorischen Leistungen dieser 214 Mädchen sind tatsächlich auch
überzeugend (Tabelle 2): Die 214 Mädchen sind alle in der höchsten
Leistungsklasse NK 5. Rund 90% der Berliner Mädchen und rund 87 % der
deutschen Mädchen in den letzten Jahren konnten solche guten motorische
Leistungswerte nicht erreichen. Ein einziges Mädchen ist adipös (BMI-Typ 5),
75
Die prinzipiellen Vorzüge des multiattributiven Vorgehens gegenüber einer beispielsweise 5-
stufigen Klassifizierung über Normkategorien liegen auf der Hand: Was hätte Meister Rembrandt
gesagt, wenn er sich bei seinen Werken auf fünf Farben hätte beschränken müssen…?
146
nur 6 Mädchen sind übergewichtig (BMI-Typ 4). 46 dieser Mädchen sind noch
nicht in einem Sportverein.
Tabelle 2: Mittelwerte der Gruppe der 214 besten Mädchen entsprechend der Einordnung
in die Berliner Normkategorien
Eine weitere Differenzierung unter den Mädchen in dieser Gruppe bezüglich
der „Güte“ ihres „motorischen Talents“ ist mit dem Vorgehen auf der Basis der
(5-stufigen) Normkategorien nun aber nicht mehr möglich (sie bilden eine
Äquivalenzklasse). Wenn man also mehr oder weniger Mädchen als Begabte
fördern will, könnte man mit Hilfe der stärker differenzierenden (100-stufigen)
Perzentilwerte einige Mädchen herausnehmen oder aus der Gruppe der 943
Mädchen mit der Normkategorie 4 noch einige hinzunehmen - was den hohen
Anforderungen eines Talentscreenings sicher nicht unbedingt genügen würde.
Bei einem Vergleich der mit Hilfe der multiattributiven (FUZZY-)
Vorgehensweise auf den Plätzen 1 bis 214 liegenden Mädchen mit jenen 214,
die die höchste Normkategorien (NK 5) erreicht haben (Tabelle 3), zeigt sich
dagegen folgende prinzipielle Situation: Von den über die Fuzzy-
Vorgehensweise gefundenen 214 Mädchen sind 124 in der NK 5, 80 in NK 4 und
10 in NK 3. Es werden also 90 Mädchen der nach Normkategorien höchsten
Klasse durch Mädchen niedrigerer Klassen ersetzt, weil diese trotz niedrigere
Klassenzuordnung – offenbar aber in Folge der in den
Zugehörigkeitsfunktionen modellierten Erfahrungen der „Experten - einen
höheren Grad der Zugehörigkeit zu Gruppe der Talente „verdienen“. Und auch
erst durch Berücksichtigung des empirischen Trainerwissens wird erkennbar,
dass das Mädchen mit der ID 1016-22-002-2 offenbar die motorisch
„Begabteste“ unter den Mädchen ist, weil sie ihre Testleistungen am besten zu
dem Gesamtwert „begabt, talentiert“ kombiniert
76
.
76
Das gilt, obwohl ID 1016-22-002-2 beispielsweise 343m weniger läuft im 6-Minuten-Lauf als die
Beste in diesem Test, 19cm weniger im Standweitsprung erreicht als die Beste in diesem Test. Dass
diese Defizite so extrem sind, liegt an der Konstruktion unseres Ideals (siehe vorn).
Statistiken NK5
NK
Fit BLN.
Fit MoMo
20-m
Bal
SHH
RB
LS
SU
SW
6-Min
N
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
Mittelwert
5,000
89,748
87,084
4,0146
40,67
38,1822
7,5225
18,65
25,04
153,813
985,18
147
Rund 88% aller Berliner Mädchen und rund 86 % aller deutschen Mädchen
hatten in den letzten Jahren schlechtere motorische Leistungswerte (Tabelle 5).
Kein Mädchen ist adipös, nur 3 sind übergewichtig, 43 Mädchen sind noch in
keinem Sportverein.
Tabelle 3: Mittelwerte in den DMT-Tests der Mädchen von Rangplatz 1 bis 214
Diese Mädchen auf dem FUZZY-Rangplatz 1 bis 214 sind – wie eben alle
anderen auch - nun aber nicht mehr bezüglich des Grads ihrer Begabung/ihres
Talents „äquivalent“, sondern durch messbare Leistungsunterschiede geordnet.
Das lässt sich beispielsweise bei einem Vergleich der besten Mädchen (erste
Gruppe), mit den mittleren Mädchen (mittlere Gruppe) sowie den am Schluss
der 214 liegenden Mädchen (letzte Gruppe) anhand der Parameter-Mittelwerte
erkennen (Tabelle 4).
Tabelle 4: Vergleich der 3 Gruppen aus den besten 214 Mädchen
Kriterien
erste Gruppe
mittlere Gruppe
letzte Gruppe
Mittelwert
Stand.abw.
Mittelwert
Stand.abw.
Mittelwert
Stand.abw.
AM
105,80
5,89
106,00
5,92
110,50
7,85
a20m
3,47
0,19
3,89
0,17
3,99
0,20
Bal
45,40
3,13
46,20
2,68
41,75
5,56
SHH
37,40
6,19
35,80
4,21
38,13
6,05
RB
7,82
3,91
7,40
4,39
4,63
9,45
LS
16,80
3,27
15,60
5,32
17,00
2,58
SU
24,80
5,07
22,40
3,36
21,50
1,00
SW
157,40
24,28
148,40
14,99
147,75
21,73
a6Min.
1128,40
137,98
959,20
97,91
846,50
146,45
Fit MoMo
91,40
3,58
83,60
9,32
80,25
4,19
Fit Berl.
92,80
2,59
88,00
5,10
83,50
5,57
ID
ID
ID
1
825-22-030-2
926-22-047-2
336-22-033-2
2
2K06-22-065-2
419-22-012-2
111-22-007-2
3
304-22-035-2
1010-22-045-2
519-22-080-2
4
409-22-032-2
624-22-014-2
621-22-054-2
5
1016-22-002-2
625-22-007-2
-
Mittelwerte Mädchen Platz 1 bis 214 nach FUZZY
NK
FitBerlin
FitMoMo
a20m
Bal
SHH
RB
LS
SU
SW
a6min
N
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
214
Mittelwert
4,53
87,93
85,50
3,85
41,92
36,50
7,39
17,39
23,12
152,72
959,16
148
In den folgenden Ausführungen wollen wir - anhand von Abbildungen – diese
Unterschiede und die dadurch möglichen Informationsgewinne weiter
verdeutlichen und visualisieren. So zeigt die Abbildung 30 je ein Mädchen aus
den drei verschiedenen Gruppen in einer Spinnengrafik (auch „Erfolgsspinne“
oder „Radarbild“) im Originalraum der (unnormierten) Parameter (ID 1016-22-
002-2 ist die Rangfolgen-Beste, ID 926-22-047-2 ist aus der mittleren Gruppe 2,
ID 111-22-007-2 aus Gruppe 3), die Abbildung 31 im Raum der normierten,
bewerteten und gewichteten Parameter. In Abbildung 32 sind die Mädchen im
Raum der (fünf) komplexen Komponenten und in Abbildung 33 schließlich im
dreidimensionalen Raum der (reinen) motorischen Fähigkeitskomplexe
abgebildet.
149
Abb. 30: Spinnengrafik von je einem Mädchen der drei Gruppen im Originalraum der
(unnormierten) Parameter (ID 1016-22-002-2 ist die Rangfolgen-Beste, ID 926-22-047-2 ist
aus der mittleren Gruppe 2, ID 111-22-007-2 aus Gruppe 3).
150
Abb. 31: Spinnengrafik von je einem Mädchen der drei Gruppen im Raum der normierten,
bewerteten und gewichteten Parameter. Der Parameter mit dem höchsten Gewicht wird auf
„1“ gesetzt, die weiteren Parameter „schrumpfen“ entsprechend ihrer Gewichtung. Die
Leistungsunterschiede zwischen den Mädchen werden mit der Gewichtung deutlicher
erkennbar: ID 1016-22-002-2 scheint insgesamt gesehen motorisch besser als ID 926-22-047-
2 und beide besser als ID 111-22-007-2 zu sein, die relativ hoch gewichteten Merkmale wie
20-m Sprint, Standweitsprung, Sit ups und Liegestütze begründen die Rangfolge.
151
Abb. 32: Spinnengrafik der auf den Raum der (komplexen, gewichteten)
Komponenten/Fähigkeiten rückgerechneten Werte von je einem Mädchen der drei Gruppen.
Bei dem in der Rangliste auf dem ersten Platz der begabten Mädchen stehende
ID 1016-22-002-2 fallen ihre außergewöhnlich guten Leistungen in den sehr
hochgewichteten Komponenten der Schnelligkeit/Schnellkraft bzw. der
Ausdauer/Ausdauerkraft auf. Sie ist dort unter den 7.876 Mädchen auf den
Plätzen 2 bzw. 23, bei der Koordination/Beweglichkeit belegt sie Platz 120
77
.
77
Bezüglich der sehr gering bewerteten Komponente „Prognose“ siehe auch Fußnote 24
152
Abb. 33: Die Darstellung der Messwerte der drei Mädchen im 3-dimensionalen Raum der
komplexen motorischen Fähigkeiten. Die (rückgerechnete) Charakterisierungen der
motorischen Fähigkeiten der Mädchen in komplexeren Ebenen, als es die einzelnen
Testparameter sind, zeigt, dass man mit einer sehr unterschiedlichen Leistungsstruktur zu
den talentiertesten Mädchen gehören kann. Eine wichtige Ursache dafür ergibt sich auf
Grund der starken Kompensationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Testverfahren des
DMT, wo beispielsweise Verschlechterung in einem Test mit einer Verbesserung in einem
anderen Test verbunden sind. Das wiederum lässt gestaltbarere Vor- und Nachteile in den
motorischen Fähigkeiten erkennen und erlaubt damit zugleich zielführende Hinweise für
künftig zielführende Trainingsinterventionen. Zu der (bloßen) Identifikation des Mädchens als
ein „zu förderndes Talent“, lässt unser Vorgehen zusätzlich noch Hinweisen der Art
„entsprechend der konkreten motorischen Fähigkeiten sollte dieses Mädchen Bestimmtes
machen und Anderes lassen…“ hinzu…
153
Zusammenfassend sollen diese Ausführungen belegen, dass sich mit der FUZZY-
Analytik also selbst noch unter den ersten 214 (2,7%) der insgesamt 7.876
untersuchten Mädchen intuitiv einsichtige, plausible Unterschiede in der
motorischen Leistung und damit konkrete Hinweise für das zukünftige Training
und die Förderung identifizieren lassen.
Dabei erreichen wir das alles, ohne auf (schwer einschätzbare)
Referenzstichproben zugreifen zu müssen und auf der Grundlage scharfer
mathematischer Verfahren – die Unschärfe besteht lediglich in der
Einbeziehung des qualitativen Expertenwissens. Dass die Möglichkeit zur
Einbeziehung solchen Wissens von Beginn der Analysen an in der Sprache der
Trainer und interaktiv auf der Basis der Software MAOE gegeben ist, erweist
sich als außerordentlicher Vorteil. Die multiattributive FUZZY-Vorgehensweise
verwirklicht auf diese Weise eine globale Wahrnehmung der Eigenschaft
„begabt“ statt einer Zerlegung in vollständig definierte Kriterien.
8. FAZIT:
Mit dem „Platz lassen in den von uns adaptierten multiattributiven Analysen
und den entwickelten Möglichkeiten zur Einbeziehung eines - durch
Modellierung der Unschärfe auf Basis umgangssprachlicher Güteabschätzungen
in Zugehörigkeitsfunktionen abgebildeten - empirischen Wissens von
kompetenten Erfahrungsträgern für eine Talentidentifikation im Sport gelingt
die Ermittlung von vollständigen und plausiblen Rangfolgen über der Menge
aller untersuchten Testpersonen bezüglich des Grades ihrer Zugehörigkeit zur
unscharfen Menge der Talente. Die verantwortlichen Akteure im
Talentscreening erhalten durch die Erweiterung des bisherigen klassischen
Vorgehens mit unscharfen Konzepten gut begründete Hinweise auf die
Testpersonen, die sie zuallererst in den Blick nehmen sollten, wenn sie Talente
suchen! Dabei kann man aufgrund der Ausprägungen zu bestimmten
allgemeinen Eigenschaften (Schnellkraft, Ausdauer, Koordination usw.) auch
eine Zuordnung der Talente zu bestimmten Sportarten vornehmen.
154
9. Ausgewählte Literatur:
Grundlagen der Entscheidungstheorie:
[1] Keeney, R. L., Raiffa, H. (1976): Decision Analysis With Multiple Conflicting Objectives,
Wiley & Sons, New York
[2] Laux, H. (2003): Entscheidungstheorie, 5. Auflage, Berlin u.a., Springer
[3] Bamberg, G. und Coenenberg, A. G. (2008): Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre,
14. Auflage, München: Verlag Vahlen
Grundlagen der Mehrkriterielle Entscheidung:
[4] Steuer, R. E. (1986): Multiple Criteria Optimization, Wiley & Sons, Chicester
[5] Ester, J. (1987): Systemanalyse und mehrkriterielle Entscheidung. Berlin: VEB Verlag
Technik
[6] Anteneh, S. (1994): Zur Lösung komplexer mehrkriterieller Entscheidungsprobleme
mittels Decision Support Systemen, Lang, Frankfurt
[7] Figueira, J., Greco, S., Ehrgott, M. (2005): Multiple Criteria Decision Analysis: State of the
Art Surveys. Springer Verlag
[8] Tzeng, G. H., Huang J. J. (2011): Multiple Attribute Decision Making, CRC Press, Boca
Raton London New York
[9] Ishizaka, A., Nemery, P. (2013): Multicriteria Decision Aid: Methods and Software. Wiley,
Chichester
Fuzzy sets:
[10] Zahdeh, L. A. (1973). Outline Of A New Approach to The Analysis Of Complex Systems
And Decision Processes, IEEE Transactions On Systems Man And Cybernetics, vol. SMC-3
Outranking-Verfahren:
[11] Roy, B. (1980): Selektieren, Sortieren und Ordnen mit Hilfe von Präferenzrelationen,
Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 32
[12] Roy, B., Bouyssou, D. (1993) : Aide multicritère à la décision, Economica, Paris
155
[13] Rangel, L. S. A. D.; Gomes, L. F. V. A. M.; Moreira, R. R. A. (2009): "Decision theory with
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PROMETHEE:
[14] Brans, J. P., Vincke, P., Marshal, B. (1986): How to select and how to rank projects: The
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[15] Brans, J. P., Marshal, B. (2005): PROMETHEE Methods. In: Figueira, J., Greco, S., Ehrgott,
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[16] Behzadian, M., Kazemzadeh, R.B., Albadvi, A., Aghdasi, M. (2010): "PROMETHEE: A
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Operational Research
[28] Geldermann, J. & Lerche, N. (2014): Leitfaden zur Anwendung von Methoden der
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[29] Bocklisch, F. (2011) Die Analyse und Bewertung vager linguistischer
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AHP und Zielstrukturierung:
[17] Saaty, T. L. (1980): The Analytic Hierarchy Process, New York
[18] Eisenführ, F., Weber, M. (1986): Zielstrukturierung: Ein kritischer Schritt im
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[19] Saaty, T.L. (1990): Multicriteria decision making - the analytic hierarchy process.
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[20] Saaty, T. L. (1991): How to make a decision. The Analytic Hierarchy Process, European
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[21] Saaty, T. L. (1996): The Analytic Network Process, RWS Publications, Pittsburgh
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[23] Barron, H., Schmidt, C. P. (1988): Sensitivity analysis of additive multiattribute value
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Sportwissenschaft
[26] Zinner, J. & Ester, J. (1996): Fuzzy in der Datenanalyse (Berichte und Materialien des
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[27] Zinner, J., Büsch, D., Ester, J. (2017): Individuelle Leistungseinschätzungen im Deutschen
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[30] Ester, J. & Zinner, J. (2019). Handbuch MAOE. Mulkriterielle und FUZZY-
Entscheidungsverfahren (nicht nur) im Leistungssport. Berlin: Deutsche Hochschule für
Gesundheit und Sport. Fachbuchreihe des ILT. (ISBN: 978-3-9816783-4-5)
[31] Ester, J., Zinner, J., Utesch, T., & Büsch, D. (2020). Nutzung multikriterieller
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Konstruktvalidität, Referenzkategorien, Physische Fitness und Deutscher Motorik-Test:
[32] Zinner, J., Niessner, C., Bortel, C., Utesch, T., Bös, K., Büsch, D. & Krug, J. (2022). 10 Jahre
BERLIN HAT TALENT: Berliner Normperzentilen zur motorischen Leistungsfähigkeit (BHT
Welle 1), Einordnung der Berliner Ergebnisse in die Normperzentile der MoMo-Studie und
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[33] Zinner, J., Niessner, C., Bortel, C., Utesch, T., Bös, K., Krug, J. & Büsch, D. (2022). 10 Jahre
BERLIN HAT TALENT Eine methodologische Übersicht mit anwendungsorientierter
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[34] Zinner, J., Büsch, D., Utesch, T., Krug, J., Ester, J., C., Bortel, C., Lange, D., Heinicke, W.,
Kainz, F. & C. Werner. (2023) BERLIN HAT TALENT Abschlussbericht zur wissenschaftlichen
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Konstruktvalidität der Referenzkategorien für den Deutschen Motorik-Test 6-18 im Projekt
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[37] Hoffmann, A. & Pfützner, A. (2013). Leipziger Positionen zum Nachwuchsleistungssport
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[38] Falk, F. & Riemensberger, S. (2021) Neues wagen. Deutschlands digitale Zukunft
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Motorikdaten und qualitavem Trainerwissen. Forschungsbericht. DHGS Deutsche
Hochschule für Gesundheit und Sport, Instut für Leistungssport und Trainerbildung. Berlin.
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[40] Utesch, T., Büsch, D. & Zinner, J. (2021) Talentscreenings als Wissenscha-Praxis
Herausforderung. In: 53. Jahrestagung der Arbeitsgemeinscha für Sportpsychologie (asp).
Talententwicklung und Coaching im Sport. Abstractband. Tübingen. 13.-15.5.2021
Wesentliche Grundlage für die Ausführungen zur Quantentheorie waren insbesondere
wissenschaftliche Publikationen, Vorträge und Dokumentationen von:
Anton Zeilinger, Werner Heisenberg, Ferenc Krausz, Hans-Peter Dürr, Erwin Schrödinger,
Niels Bohr, Max Planck, Albert Einstein und anderen.
Nähere Informationen dazu beispielsweise in:
Zinner, J. (2023) Talentauswahl im Sport: Quantentheorie und FUZZY. Skript zum
Selbstverständnis. Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport. Berlin
158
Ein Abstecher: Ausgewählte Abbildungen zur Plausibilität von
Kapitel 3
Bild 1: Anton Zeilinger, Nobelpreis für Physik 2022: Den objekven Zufall will Einstein nicht gelten
lassen: Wenn ein Lichtquant auf ein Elektron im Atom tri, stößt es dieses auf eine höhere Bahn.
Irgendwann zufällig, also ohne eine Ursache, fällt das Elektron wieder – auf eine Bahn mit dem
kleinsten Abstand - herunter und setzt dabei die kleinste messbare (elektrische) Energie frei (Prinzip
der Solarenergie/Photovoltaik). [Die „kleinstmögliche Energiemenge zufällig freisetzen“… ist etwas
anderes, als man gemeinhin in der Umgangssprache mit dem Wort „Quantensprung“ ausdrücken
will…]
Bild 2: Visualisierung für den objektiven Zufall: Spiegel, der ein Licht zu 50% reflektiert: Zu 50% geht
ein Photon durch den Spiegel hindurch, zu 50% wird es abgelenkt. Das passiert jeweils völlig ohne
Grund, es passiert einfach!!
159
Bild 3: Technische Ausnutzung des objektiven Zufalls
Insgesamt gesehen gehen 50% der Photonen durch den reflektierenden Spiegel hindurch, 50%
werden reflektiert. Jedes Einzelne landet völlig zufällig manchmal bei Detektor 1, manchmal bei
Detektor 2. Es ist nicht berechenbar, ob es reflektiert wird oder nicht! Dabei wird eine Menge von
Zufallszahlen generiert, die ohne einen mathematischen Algorithmus zustande kommt. Solche
Folgen von Zufallsdaten sind bei vielen Anwendungen wichtig, beispielsweise um bei
Navigationsproblemen (Optimierung Transportproblemen) günstige Routen zu finden…
Bild 4: Schrödinger über die Verschränkung: „Ich würde das nicht irgendein, sondern genau das
bestimmende Merkmal der Quantenmechanik nennen. Das Merkmal, das einen zwingt, sich von
klassischen Wegen des Denkens (über Physik) zu trennen.“
Bild 5: Ferenc Krausz, Nobelpreis für Physik 2023: „Attosekunden-Messtechnik wie
Weltraumteleskop und Elektronenmikroskop im Ortsraum.
Eine Attosekunde (1as = 10-18s = 0,000 000 000 000 000 001s) verhält sich zu einer Sekunde wie eine
Sekunde zum Alter des Universums…“
160
Bild 6: Doppelspaltexperiment
1. Schießt man Photonen hintereinander auf einen Detektor, so treffen diese jeweils objektiv zufällig
auf unterschiedliche Stellen des Detektors. 2. Stellt man ein Hindernis mit zwei Spalten dazwischen,
wovon nur der obere geöffnet ist, ergibt sich dasselbe Phänomen eben jetzt nur auf einem etwas
schmalerem Streifen in der oberen Hälfte des Detektors (bzw. bei Öffnung nur des unteren Spaltes in
der unteren Hälfte des Detektors). 3. Öffnet man beide Spalten gleichzeitig verhalten sich die
Teilchen wie eine Welle: Es gibt getroffene (dunkle) Streifen auf dem Detektor dort, wo sich die
Wellenberge verstärken bzw. nicht getroffene (helle) Streifen, wo sich die Wellentäler auslöschen.
Man kann weder im Voraus noch im Nachhinein wissen, ob ein Teilchen durch den oberen, den
unteren oder gleichzeitig durch beide Spalten gegangen ist, es gibt absolut keinen Grund für das eine
oder das andere. 4. Dann und nur dann, wenn man an einem Spalt misst, kann man nachweisen, dass
das Teilchen durch diesen Spalt gegangen ist. 5. Misst man an beiden Spalten, geht das
Wellenmuster verloren und es zeigt sich das Verhalten, als hätte man den Fall 2.
Bild 7: Selbst Max Planck sagt noch 1913, „…mit den Quanten ist Einstein über das Ziel
hinausgeschossen“. (Die gesamte wissenschaliche Community hat die Theorie der Lichtquanten von
Einstein 1913 als verrückt“ betrachtet – aber dafür (genau dafür!) hat Einstein ca. 10 Jahre später
den Nobelpreis erhalten (und heute sind die entsprechenden Anwendungen (fotoelektrischer Eekt,
Solartechnik) nicht mehr wegzudenken…!) [AUCH WENN ES DIR UND MIR (oder der „gesamten“
wissenschalichen Community eben…) SO SCHEINT - ES KANN GANZ ANDERS SEIN! Der Zweifel ist
der Beginn der Weisheit…]
161
T E I L: 3
Entwicklungsschritte im Programm BERLIN HAT TALENT -
Kennzeichnung der in diesem Kontext entstandenen
Anschluss- und Begleitprojekte seit 2011/12
Ergebnisbericht zum
zehnjährigen Bestehens
Dr. Daniel Lange
Prof. Dr. Jochen Zinner
Berlin, Dezember 2022
162
1. Zum Projekt BERLIN HAT TALENT
SCHRITT 1 (motorische Tests): Zur Diagnose der motorischen Fitness von
Berliner Drittklässlern mit dem Deutschen Motorik-Test wurde im Jahre 2011/12
mit zunächst 2.389 Schülerinnen und Schüler aus zwei Bezirken begonnen. Mit
Abschluss der Untersuchungen im Schuljahr 2019/20 liegen nun insgesamt
54.949 Untersuchungen aus ca. 330 Berliner Grundschulen von allen Bezirken
vor. Dabei wurden beispielsweise 1.300 Drittklässler als stark
überdurchschnittlich und 1.614 als stark unterschiedlich fit diagnostiziert.
SCHRITT 2 (soziodemographische Befragungen): Bereits im Schuljahr 2013/14
wurden Fragebögen entwickelt und - parallel zu den Motorik-Untersuchungen -
Befragungen von 2.711 Drittklässlern zu soziodemographischen Gegebenheiten
durchgeführt, um gewisse Einflussfaktoren auf die Fitness von Kindern erkennen
zu können. So freuten sich beispielsweise 90% der 2016/17 befragten
Drittklässler auf die Sportstunde in der Schule, 78% würden gerne mehr Sport
treiben, für 71% ist Sport das wichtigste Hobby und praktisch alle wollen
sportlich sein. Die Fragebögen wurden mehrfach verändert, um jeweils
unterschiedliche Einflussfaktoren beurteilen zu können. Mit Abschluss der
Untersuchungen im Schuljahr 2019/20 wurden auf diese Weise insgesamt
40.940 Befragungsergebnisse von Berliner Drittklässlern erhoben.
SCHRITT 3 (Berliner Normkategorien): Die große Menge der erhobenen Daten
und ihre hohe Validität (praktisch immer gleiches, professionelles
Untersuchungspersonal) machten es möglich, im Jahre 2015/16 eigene Berliner
Referenzwerte für 8- und 9-jährige Berliner Kinder und im Jahre 2020 für 7-, 8-,
9- und 10-jährige Kinder (auf Basis von mehr als 54.000 Untersuchungen) zu
entwickeln und anzuwenden.
SCHRITT 4 (Verkettung motorischer und soziodemographischer Parameter):
Mit den analysierten, repräsentativen Berliner Normkategorien waren
Möglichkeiten gegeben, die erhobenen Fitnessdaten mit den verschiedenartigen
soziodemographischen Daten zu verketten. So wurde zum Beispiel im Jahre
2017/18 gezeigt, dass im Verein organisierte Kinder zu 22% überdurchschnittlich
und zu 8% unterdurchschnittlich fit sind, während nicht im Verein organisierte
Kinder zu 8% überdurchschnittlich und zu 19% unterdurchschnittlich fit sind.
163
SCHRITT 5 (punktgenaue (ID-genaue) Identifikation der Förderungsbedarfe):
Mit dem jährlichen Anwachsen der Untersuchungszahlen und damit auch des
Anwachsens der Zahl der Kinder in den fünf Normkategorien entstand das
Erfordernis, vor allem in der Gruppe der überdurchschnittlich fitten Kinder (der
Gruppe der Talentierten…) und dann auch in der Gruppe der besonders
gefährdeten Kinder stärker zu differenzieren. Das gelang schließlich durch die
Entwicklung und Anwendung multivariater, unscharfer FUZZY-Analysen, durch
die eine Rangfolge der motorischen Fitness unter den Schülerinnen und Schülern
ermittelt werden konnte. Damit ist eine punktgenaue Diagnose und in deren
Folge eine zielgenaue Förderung vor allem der talentiertesten bzw. der Kinder
mit dem höchsten Förderbedarf in Berlin prinzipiell möglich (wer von diesen
Kindern besucht welche Schule und welche Besonderheiten sind bei diesem Kind
zu beachten…). In diesem Kontext wurden und werden in Zusammenarbeit von
LSB und dem Berliner Senat eine Vielzahl sogenannter Talentsichtungs- bzw.
Bewegungsfördergruppen aufgebaut und die Kinder in diesen Gruppen für eine
gewisse Zeit (sechs bzw. zwölf Monate) unentgeltlich gefördert.
SCHRITT 6 (Komplexe Interventionsprogramme): Schnell wurde klar, dass das
Ziel in diesen Gruppen nicht auf die Verbesserung einzelner motorischer
Fähigkeiten (oder gar einzelner spezifischer Fertigkeiten) ausgerichtet sein darf,
sondern dass es darauf ankommt, das komplexe, ganzheitliche Bewegungs-,
Ernährungs-, Medien- und Sozialverhalten der Kinder zu verbessern. Dafür
wurden zielorientierte, spezifische Interventionsprogramme für diese Gruppen
erstellt.
SCHRITT 7 (Entwicklung des Gewichts und der Motorik in Abhängigkeit des
„schulscharf“ gemessenen sozioökonomischen Umfelds von fast 300 Schulen
in Berlin): Der sozioökonomische Hintergrund (SEB) der Kinder beruht auf der
statistischen Kennzahl, mit der der Berliner Senat im Rahmen der
Schultypisierung (STYPS) die soziostrukturelle Situation jeder Berliner Schule
ermittelt. Je höher der SEB ist, desto geringer ist die strukturelle Belastung der
Kinder dieser Schule durch soziale Herkunft, Integration, geographische Lage
u.a. Es zeigt sich, dass der SEB eines Kindes einen signifikanten Einfluss auf
seinen BMI hat, Kinder mit niedrigem SEB haben einen wesentlich höheren
BMI, Kinder mit hohem SEB dagegen einen wesentlich niedrigeren
(Herausforderung „sozio-ökonomische Kluft“). Bei speziellen Untersuchungen
in den Corona-Jahren ließ sich darüberhinaus zeigen, dass unter den
164
Bedingungen der Pandemie die tatsächliche motorische Leistung der Berliner
Kinder der dritten Klasse verglichen mit der prognostizierten motorischen
Leistung um mehr als 4% nach der Pandemie verzögert war das entspricht aus
entwicklungsspolitischer Sicht einem Verlust in der motorischen Entwicklung
von ca. einem Jahr! Bei Kindern mit hohem SEB betrug der Entwicklungsverlust
5,80 %, bei Kindern mit sehr hohem SEB sogar 8,66 %!
2. Aus dem Projekt BERLIN HAT TALENT abgeleitete Qualifizierungsmaßnahmen
SCHRITT 1 (Entwicklung Hochschulzertifikat Bewegungscoach / Talentcoach):
Bei der Erarbeitung der Interventionsprogramme mit der Zielrichtung einer
komplexen Verbesserung im Bewegungs-, Ernährungs-, Medien- und
Sozialverhalten der Kinder wurde offensichtlich, dass das also mit dem reinen
Anbieten von Sport nicht getan ist. Für dieses ganzheitliche Vorgehen sind
Trainer, Sportlehrer, Übungsleiter u.a. so weiterzubilden, dass sie moderne
wissenschaftlichen Erkenntnisse z.B. über den Zusammenhang zwischen Motorik
und Kognition, über das emotionale Lernen, das psychisch-soziale Handeln und
die Belastbarkeit im Kontext der körperlichen Entwicklung anwenden können.
Dazu wurde im Jahr 2017/18 ein Curriculum für ein Hochschulzertifikat
„Bewegungscoach (FH)“ bzw. „Talentcoach (FH)“ erarbeitet, akkreditiert und
realisiert, bei dem in fünf Modulen die erforderlichen pädagogischen,
medizinischen und sportwissenschaftlichen Erkenntnisse zur methodischen
Gestaltung von kreativen Sport- und Gesundheitsprogrammen sowie zur
Förderung von Talenten vermittelt werden. Die Teilnehmer eignen sich zugleich
die methodischen Kompetenzen zur Anwendung und Weiterentwicklung
zielgerichteter Interventionsprogramme an. Voraussetzung für die Zulassung ist
(mindestens) ein mittlerer Schulabschluss und eine berufliche Ausbildung.
Die Ausbildung erfolgt nebenberuflich im universitären Blended Learning-
Format über 4-6 Monate. Die Teilnehmer sind 5 x 2 Studientagen an der DHGS
präsent und studieren dazwischen semivirtuell auf einer online-Informations-
und Kommunikationsplattform. Damit absolvieren sie die Inhalte eines vollen
Hochschulsemesters mit insgesamt 30 ECTS-Punkten). Die Ausbildung kann
somit auf ein künftiges Studium angerechnet werden. Mit der Sportschule des
Landessportbundes Berlin wurde darüber hinaus eine Vereinbarung
geschlossen, dass die Lerninhalte beim Erwerb einer Übungsleiter-Lizenz
165
angerechnet werden. Da die Förderung der Qualität des Sportunterrichts und
des Schulsports insgesamt (im Ganztag, in Nachmittags-AG’s, in weiteren
Senatsangeboten wie “Profivereine machen Schule” etc.) ein kontinuierliches
Ziel von BERLIN HAT TALENT ist, wurde in Kooperation mit dem Berliner Senat
organisiert, dass die Ausbildung in den regulären pädagogischen
Qualifizierungskatalog für alle Berliner Sportlehrer aufgenommen wird, damit sie
diese Hochschulzertifikation im Rahmen ihrer jährlich zu belegenden
Fortbildungsphasen absolvieren und dafür von ihren Schuldirektionen dienstlich
freigestellt werden können. Daraus ergibt sich für BERLIN HAT TALENT der
besonders komfortable Umstand, dass die so als Bewegungs-/Talentcoaches
qualifizierten Sportlehrer selbst an ihren eigenen Schulstandorten
entsprechende Fördergruppen des Projektes einrichten und durchführen
können.
SCHRITT 2 (Entwicklung BA-Studiengang „Soziale Arbeit und Sport“): Die in
enger Zusammenarbeit mit dem Landessportbund Berlin gewonnenen
Erfahrungen im Rahmen des Projekts BERLIN HAT TALENT führten zu der
Erkenntnis, dass die weitere Öffnung des Sports für die Herausforderungen der
sozialen Arbeit von großer Bedeutung ist. Dazu sind umfassend ausgebildete
Fachkräfte mit sozial- und sportpädagogischer Kompetenz, einen
sportwissenschaftlichen Zugang, passgenauen Interventionen und einer
staatlichen Anerkennung als „Sozialpädagoge/in“ notwendig. Daraus wiederum
entstand die Idee, neben dem Hochschulzertifikat einen eigenen, bundesweit
einmaligen Studiengang „Soziale Arbeit und Sport“ zu entwickeln. Bereits im
Wintersemester 2019/20 wurden die ersten 33 Studierenden in diesem neu
akkreditierten Studiengang an der DHGS eingeschrieben. Zwischenzeitlich wird
dieser Studiengang auch in Wien von der DHGS angeboten. Im Wintersemester
2020/21 sind nun insgesamt mehr als 100 Studierende in diesem Studiengang an
der DHGS.
Das Studium „Soziale Arbeit und Sport“ wird semivirtuell organisiert und hat eine
Studiendauer von sieben Semestern (davon ein Praxissemester). Die
Absolventinnen und Absolventen erwerben einen Studienabschluss als Bachelor
of Arts (B.A.) mit 210 ECTS-Punkten und die staatliche Anerkennung als
Sozialpädagoge/in (B.A.) durch den Berliner Senat (auf Antrag).
166
3. Wissenstransfer
Zur wissenschaftlichen Absicherung des Vorgehens bei BERLIN HAT TALENT und
für das wissenschaftliche Peer Review zur eingesetzten Analytik wurden und
werden vielfältige begleitende innovativen Maßnahmen realisiert. So wurde
beispielsweise im Jahre 2015 ein bundesweit beachtetes Symposium (BERLIN
HAT TALENT - Neue Ansätze der Talent- und Bewegungsförderung) mit den
wichtigsten deutschen Playern auf diesem Gebiet durchgeführt und ein
Sammelband mit diesem Titel herausgegeben und mehrere wissenschaftliche
Artikel veröffentlicht: Beispielsweise in der Zeitschrift „Leistungssport“ (Heft
5/2015, Heft 2/2017 und Heft 4/2019 und Heft 3/2022), im „German Journal of
Exercise and Sport Research“ (Heft 3/2018) und in der Zeitschrift „Informatik
Spektrum“ (Heft 2/2020). Ergänzt wurden diese Aktivitäten durch verschiedene
Vorträge bei (internationalen) Veranstaltungen (beispielsweise innerhalb der
GOR-Arbeitsgruppe „Entscheidungstheorie und -praxis“ an der Uni Wien (2017),
bei der Fachtagung „Sport bewegt und bildet“ des Landessportbundes Berlin
(2017), innerhalb des Humanontogenetischen Kolloquiums Nr. 115 der Reihe
„Humanontogenetik im Sport“ (2017), beim Public Health-Kongress „Armut und
Gesundheit“ in Berlin (2018) und im Rahmen des dvs-Kongresses „Sport im
öffentlichen Raum“ an der Humboldt Universität zu Berlin (2019) sowie bei
verschiedenartigen weiteren dvs-Veranstaltungen (u.a. Sportpsychologie
Tübingen 2021, Biomechanik Karlsruhe 2022). Zur FUZZY-Analytik wurde ein
interaktives Software-System entwickelt und 2019 eine dazugehörige
Monographie („Handbuch MAOE Multikriterielle und FUZZY
Entscheidungsverfahren (nicht nur) im Leistungssport“) veröffentlicht. Hinzu
kamen jeweils die wissenschaftlichen Jahresberichte über die Ergebnisse in den
entsprechenden Schuljahren (von 2012/13 bis 2020/21) sowie mehrere
Forschungsberichte innerhalb der DHGS. Forschungskooperationen zum Projekt
wurden mit der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Prof. Dr. Dirk Büsch),
der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Prof. Dr. Till Utesch), der
Humboldt-Universi-tät zu Berlin (Prof. Dr. Bernd Wolfarth), der Universität
Leipzig (Prof. Dr. Jürgen Krug) und dem Institut für Angewandte
Trainingswissenschaft Leipzig (Prof. Dr. Arndt Pfützner/ Dr. Antje Hoffmann)
gepflegt. In den Jahren 2021 und 2022 war die DHGS an dem DFG Projekt
Physical Education, Sport and Corona-Virus Pandemic: Understanding
consequences of COVID-19 pandemic lockdowns on children’s and youth physical
literacy (PESCov). Projektleiter: Prof. Dr. Till Utesch (WWU Münster) beteiligt.
167
4. Praxistransfer
SCHRITT 1 (BERLIN HAT TALENT verändert die Praxis): Für das wichtige
mittlere Kindesalter, das von schnellen Fortschritten in der motorischen
Lernfähigkeit geprägt ist, bietet BERLIN HAT TALENT erstklassige
Voraussetzungen, einerseits in der Sportmetropole Berlin die Talentfindung
und -förderung sowie andererseits in der Gesundheitsstadt Berlin eine gesunde
kindliche Entwicklung besonders gefährdeter Drittklässler auf eine ganz neue,
bundesweit beispielhafte Weise zu gestalten. So kamen die bisher
untersuchten 54.949 Schülerinnen und Schüler aus ca. 330 Berliner
Grundschulen, 5248 Schülerinnen und Schüler haben in diesen Jahren bei ca.
30 Talentiaden ihre Bewegungsbegabung ausprobiert und 3139 Drittklässler
konnten in den Bewegungsfördergruppen auf vielfältige Weise Freude am
Sport erleben. In einem Jahr wurden bis zu rund 1.000 Berliner
Drittklässlerinnen und Drittklässler sechs Monate lang (bei
Talentsichtungsgruppen) bzw. 12 Monate lang (bei Bewegungsfördergruppen)
mit wissenschaftlich fundierten Interventionsprogrammen durch entsprechend
qualifizierter Lehrkräfte, Trainerinnen und Trainer bzw. Übungsleiterinnen und
Übungsleiter (kostenfrei) gefördert!
Die praktische Bedeutsamkeit des Projekts wird durch das Berliner Parlament
und den Berliner Senat stark anerkannt. Durch deren Unterstützung konnten
im Schuljahr 2020/2021 erstmals alle zwölf Berliner Bezirke getestet werden.
Und: BERLIN HAT TALENT wurde ab 2020/21 durch eine Inklusions-
Komponente für Kinder mit Behinderung erweitert!
SCHRITT 2 (BERLIN HAT TALENT verändert Klima und Atmosphäre zu Bewegung
und Sport): Hervorzuheben ist, dass die positiven Effekte nicht nur innerhalb des
Projekts BERLIN HAT TALENT erreicht werden, sondern dass dieses Programm
nun auch spürbar ausstrahlt und berlinweit „Nachahmer“ hervorbringt, deren
verschiedene Aktionsfelder sich unter der „Klammer“ BERLIN HAT TALENT
wiederum bestens zusammenfügen und auf diese Weise Klima und Atmosphäre
zu Bewegung und Sport in Berlin nachhaltig befördern.
Sichtbar wird dies u.a. …
… in den Schulen beispielsweise durch solche übergreifende Senatsprojekte wie
„Begabtes Berlin“ und „Berlin bewegt sich“ oder durch die Kooperation der
Schulen mit dem Landessportbund Berlin in Programmen wie „Schule und
168
Sportverein“, oder „Sport macht Schule“ und schließlich seit 2019/20 durch eine
„Gutscheinaktion“ zum Gewinn von Partnervereinen, die allen bei BERLIN HAT
TALENT teilnehmenden Kindern ein kostenloses 3-monatiges Vereinstraining mit
vielseitigen, sportartunspezifischen Inhalten ermöglichen.
auf lokaler Bezirksebene beispielsweise über Programme wie „Spandau
bewegt sich“, die wiederum u.a. mit Initiativen wie „Bewegte Kita“ Gesundheit
und Bewegung von Kindern fördern und sie zusammen mit Vereinen und Schulen
für die Möglichkeiten und Angebote des organisierten Sports einladen.
Bewegungsförder- und Talentsichtungsgruppen stärken diese sich rasch
entwickelnden bezirklichen Gesundheits-, Bewegungs- und Sportstrukturen
nachhaltig und bieten weitere Synergieeffekte z.B. bei der Gestaltung und
Durchführung von AG’s im Ganztag und bei der Entwicklung sportorientierter
Angebote „im Kiez“.
… im Kreis der Berliner Profivereine erleichtern beispielsweise ALBA Berlin, der
1. FC Union, die Füchse Berlin und die BR Volleys in Verbindung mit den
Senatsprogrammen „Profivereine machen Schule bzw. Kita“ oder in lokalen
Kooperationsverbünden von Kitas, Schulen, Jugendclubs und Bezirksämtern (u.a.
ALBA Berlin in Mitte-Moabit, Neukölln-Gropiusstadt, Siemensstadt, Wuhletal)
einer Vielzahl von Kindern den Zugang zu Bewegungs-, Sport- und letztlich auch
zu Vereinsangeboten.
im Bemühen nach sozial- und sportlich erstklassig ausgebildeten
Bewegungscoaches, denn immer deutlicher zeigt sich, wie wichtig die
(wissenschaftliche) Ausbildung von Bewegungs-/ Talentcoaches ist. Die Kinder
sollen nicht in erster Linie „Ziele im Sport“ erreichen, sondern ihr Bewegungs-,
Ernährungs- und Medienverhalten, ihre Interkulturalität und das Fair Play
bewusst und nachhaltig gestalten. Dazu reicht kein „reines Sportangebot“,
sondern der Sport muss als ein „Bildungsangebot inszeniert“ werden. Sport und
Bewegung muss so angeeignet werden, wie Musik und Kunst. BERLIN HAT
TALENT hat den Blick darauf gerichtet, die universitären Jobs im Sport zu
erweitern durch bestens ausgebildete „Sportentwickler“, durch „Sozialakteure
des Sports“, wie sie beispielsweise die DHGS gegenwärtig ausbildet bzw. wie sie
ALBA Berlin und der Bezirk Spandau gegenwärtig bereits einsetzen.
BERLIN HAT TALENT ist als ein einzigartiges, bundesweit wirkendes
Leuchtturmprojekt Idee und Vision für eine neue Qualität von Bewegung und
169
Sport in unserer wachsenden Stadt Berlin. Und: BERLIN HAT TALENT wirkt, bei
zigtausend teilnehmenden Drittklässlerinnen und Drittklässlern, bei vielen ihrer
Geschwister, Eltern und Großeltern, bei Freundinnen und Freunden, bei Lehrern,
Übungsleitern und vielen anderen, die mit dem Projekt in Berührung kamen…
und macht damit hunderttausende Berlinerinnen und Berlinern zu
Multiplikatoren für den Sport! BERLIN HAT TALENT bereichert die Lebenswelt
unserer Stadtgesellschaft …
Literatur bei den Verfassern
An den Projekten beteiligte Mitarbeiter aus dem Institut für Leistungssport
und Trainerbildung (ILT) der DHGS: Markus Becker, Christopher Bortel, Dr.
Winfried Heinicke, Dr. Daniel Lange, Dr. Andreas Mues & Prof. Dr. Jochen
Zinner
Anhang: BERLIN HAT TALENT Entwicklungsschritte 2011/12 2021/22
170
171
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Abstract: Idee und Ziel des 2011 gestarteten Programms BERLIN HAT TALENT sind, eine Offensive für Bewegung und Sport in der Stadt zu etablieren und entwicklungsfördernde Sport- und Bewegungsangebot zu schaffen. Zu diesem Zweck wird jährlich die physische Fitness von Drittklässlerinnen und Drittklässlern Berlins mit Hilfe des Deutschen Motorik-Tests (DMT) untersucht und der Einfluss von Risikofaktoren für eine gute gesundheitliche Entwicklung abgeschätzt. Schüler, die weit über bzw. weit unter dem (Fitness-)Durchschnitt liegen, werden in Talentsichtungs- bzw. Bewegungsfördergruppen gefördert. Im vorliegenden Bericht werden methodische Vorgehensweisen und praxiswirksame Ergebnisse der durch die DHGS in den vergangenen 11 Jahren realisierten wissenschaftlichen Begleitung dokumentiert. Der innovative Charakter der Arbeit besteht in - der Entwicklung eines statistisch validen Summenwertes für die Gesamtfitness nach erfolgter Überprüfung der Konstruktvalidität des DMT, - einer verbesserten Individualisierung durch den Übergang zu Perzentilwert-Bestimmungen und einer berlinweiten als auch bundesweiten Einordnung, - der Identifizierung von sportlich begabten bzw. körperlich gefährdeten Schülerinnen und Schülern auf der Basis multiattributiver FUZZY-RANGFOLGEN und deren schulscharfe Zuordnung, - die Analyse über besorgniserregende Verkettungseffekte von Risikofaktoren für eine gute kindliche Entwicklung bei einer schulscharf gemessenen soziostrukturellen Belastung (u. a. auch im Kontext zu den Covid-19 Lockdowns). Hervorzuheben ist eine in den Untersuchungsjahren realisierte Kopplung der diagnostischen Arbeiten mit der Ableitung von praxisorientierten Handlungsempfehlungen zu vielfältigen gesellschaftlichen Inhalten. Mit dem IST-Stand von BERLIN HAT TALENT im Jahr 2022 kann es künftig immer besser gelingen - neben einer inspirierenden Ausstrahlung auf die Qualität des Schulsports generell - sowohl die Talentfindung und -förderung in der Sportmetropole Berlin als auch eine gesunde kindliche Entwicklung besonders gefährdeter Kinder in der Gesundheitsstadt Berlin auf eine ganz neue, bundesweit beispielhafte Weise zu gestalten.
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Being physically fit in younger years prevents several diseases in the presence as well as in the life course. Therefore, monitoring physical fitness and motor competence through motor testing is essential for determining developmental status and identifying health-related risks. The main objectives of this systematic review were (1) to identify currently available health-related criterion-referenced standards and cut-off points for physical fitness and motor competence test items, (2) to frame the methodological background on setting health-related criterion-referenced standards and (3) to give implications for a health-related evaluation system for physical fitness and motor competence tests. The electronic data base search (PubMed, Web of Science and SURF) yielded 2062 records in total and identified six empirical studies reporting cut-off points of motor test items for children (7–10 years), as well as 30 methodological papers discussing determination approaches to health-related criterion-referenced standards. Data collection, selection and analyses followed the PRISMA guidelines. Health-related motor test standards need to be gender- and age-specific but should refer to an absolute cut-off point rather than to relative performance in the reference group. Due to the lack of data on health-related criterion referenced standards, receiver-operating-characteristic (ROC) curves provide a tool for the determination of cut-off points and criterion referenced standards for physical fitness and motor competence tests. A standardized approach forms the fundamental base for a globally applicable evaluation of health-related fitness tests.
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Zusammenfassung Zum Talentscreening im Sport werden Testbatterien eingesetzt, die unterschiedliche sportmotorische Fertigkeiten sowie entwicklungsrelevante Parameter erheben. Standardauswertungsverfahren führen in der Regel zur Einordnung der Getesteten in zumeist fünfstufige Leistungsklassen. Insbesondere bei großen Stichproben werden allerdings Verfahrensweisen benötigt, die auch innerhalb der „besten Gruppe“ und „schwächsten Gruppe“ noch zuverlässig differenzieren. Dies gelingt z. B. im Projekt BERLIN HAT TALENT mit Verfahren, die auf multikriteriellen und unscharfen mathematischen Theorien und Methoden beruhen. Dabei ist hervorzuheben, dass subjektive Theorien und Wissensstände von Trainer*innen, Lehrer*innen und Sportwissenschaftler*innen explizit mit einbezogen werden können. Dies geschieht auf Basis diskursiver Validierungen und der Konstruktion von Bewertungsfunktionen, die auch als sogenannte Zugehörigkeitsfunktionen für Fuzzy-Sets interpretiert werden können. Die vorgestellten multiattributiven Entscheidungsmodelle zeigen unter Einbeziehung des Expertenwissens den Mehrwert dieses Vorgehens auf und können mit Hilfe einer interaktiven Software transparent nachvollzogen werden.
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Kontinuierliches Monitoring physischer Fitness im Kindesalter ist aus gesellschaftlicher sowie individueller Perspektive bedeutsam, um eine gesunde kindliche Entwicklung zu unterstützen. Entsprechend wird von der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) in gemeinsamen Handlungsempfehlungen (2017, S. 9) der Einsatz motorischer Tests im Schulsport empfohlen, um aus verschiedenen Perspektiven bedarfsorientiert Interventionsmaßnahmen ableiten zu können. Motorische Testergebnisse werden in Leistungsklassen kategorisiert, um zu vermeiden, dass deskriptive, aber inhaltlich nicht bedeutsame Verbesserungen oder Verschlechterungen zwischen und innerhalb von Personen überinterpretiert werden. Veränderungen der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit über mehrere Jahre hinweg können die Validität dieser Referenzkategorien beeinflussen. Ziele dieser Studie sind daher, (1) mittelfristige zeitliche Leistungsveränderungen der physischen Fitness im mittleren Kindesalter aufzuzeigen, (2) Auswirkungen von Leistungsveränderungen auf Referenzwerte und die Validität des Konstrukts physische Fitness zu prüfen und (3) valide Referenzwerte für Acht- und Neunjährige zur Verfügung zu stellen. Von 2011 bis 2016 nahmen in einem quasilängsschnittlichen Design über 20.000 DrittklässlerInnen im Projekt „Berlin hat Talent“ am Deutschen Motorik-Test 6–18 teil. Die zeitliche Stabilität sportmotorischer Leistungen wird mittels Regressionsmodellen und Kreuztabellen geprüft sowie Auswirkungen auf die Konstruktvalidität der bestehenden Berliner Referenzwerte mittels ordinaler Rasch-Modelle analysiert. Sieben der acht Testaufgaben zeigen zeitlich positive sowie negative Veränderungen. Die Konstruktvalidität des Deutschen Motorik-Tests kann für DrittklässlerInnen nach Ausschluss des Items „Balancieren rückwärts“ bestätigt werden (p > 0,90). Die aufgabenspezifischen Veränderungen der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern in einem relativ kurzen Zeitraum unterstützen zum einen die Forderung eines flächendeckenden und kontinuierlichen Monitorings, um frühzeitig Interventionsmaßnahmen einleiten zu können, und bedingen zum anderen eine kontinuierliche Prüfung bzw. Testnormierung von Referenzwerten im DMT mit ausreichend großen und repräsentativen Stichproben.
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Childhood obesity is associated with various adverse health outcomes. Restrictive measures to contain the spread of the Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) pandemic, like lockdowns and school closures, affected children’s daily structure, physical activity, dietary habits, and sleep quality, possibly exacerbating risk factors for childhood obesity and higher body mass index (BMI) in children. In particular, as poor socioeconomic conditions tend to favor obesogenic environments, children from lower socioeconomic backgrounds (SEBs) may have been at relatively higher risk for elevated BMI levels following pandemic measures. In this study, the impact of measures related to the COVID-19 pandemic on the BMI of third graders was investigated with regard to children’s SEB. Data from 41,728 children (8.84 ± 0.56 years, 20,431 female) were collected in the context of the longitudinal cohort study “Berlin hat Talent” and analyzed as part of the PESCov DFG project. Children were tested either before the pandemic (preCOVID: Sept2017 - March2020, n = 26,314), or following the first (post_"LD I" : Aug2020 - Dec2020, n = 6,657) or second lockdown in Germany (post_"LD II" : Aug2021 - Jan2022, n = 8,757). Demographic variables were collected via questionnaires. SEB was based on the official school type classification of the state of Berlin. Linear mixed effect models were computed to account for the hierarchical nature of the data, i.e. children (level 1) nested in schools (level 2). Outcome measures were age- and sex-adjusted BMI standard deviation scores (SDS). Independent variables were Time (preCOVID, post_"LD I" , post_"LD II" ), SEB (continuous, -2 - 2), and the interaction thereof. Covariates were Age, Gender, and Month of Test. Significant effects of Time (p < .05) and SEB (p < .001) revealed elevated BMIs in post_"LD I" and post_"LD II" compared to preCOVID cohorts and higher BMIs for children with lower SEB. A significant Time x SEB interaction (p < .01) indicated that the effect of SEB on children’s BMI increased in response to lockdowns, especially in post_"LD II" . Results suggest that the COVID-19-related measures lead to increased BMI in children, and that children of lower SEB were at particular risk for higher BMIs following lockdowns. These findings denote an alarming trend and emphasize the necessity for countermeasures to reduce lockdown-related BMI increments in children, particularly in low SEB areas. Authorities are called into action to promote physical activity of children and establish post-pandemic offers to counteract the risk of increasing rates of childhood obesity and related adverse health outcomes.
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In response to the Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) pandemic, various measures were taken to contain its spread, including restrictions on physical education and sports clubs. These measures substantially limited children's physical activity behaviors and may have compromised their motor development. Such compromising effects may be particularly prevalent among children from lower socioeconomic background (SEB) who tend to be less physically active than higher SEB peers. In this study, the impact of COVID-19 pandemic-related restrictions on children's motor development was investigated with respect to children's SEB within the PESCov DFG project. Data from 68,996 children from a metropolitan region in Germany (Age: 8.83 years +- 0.56, range: 6.4-13 years, 35,270 female, 51.1 %) assessed between 2011/2012 and 2022/2023 were analyzed as part of the longitudinal cohort study “Berlin hat Talent”. Assessment took place before and after the onset of the pandemic using the German Motor Fitness Test. The test includes assessments of various motor skills covering endurance, strength, coordination, and flexibility. Demographic variables (e.g., age, gender) were collected via questionnaires. SEB was derived on school level, which was determined using the official school type classifications of the state of Berlin. Cross-classified linear mixed effect models were fitted to account for hierarchies in the data, with individual test values (level 1) being nested in motor domains (level 2a) and in participants (level 2b) and participants being nested in schools (level 3b). Outcome measure was motor skill performance transformed from German reference percentiles to z-scores per motor skill. The effects of Time (pre, post LD I, post LD II), Motor Domain, and SEB (continuous, -2 - 2) were estimated while controlling for Age, Gender, and Secular Trends. Main effects of Motor Domain, Time, and SEB were significant. Further, a significant Time x Motor Domain interaction revealed that motor skills differentially developed from during the pandemic. Coordination, strength, and flexibility decreased, while endurance increased. SEB had a negative effect on overall motor development of third graders. However, this effect varied between motor domains (coordination = endurance > strength > flexibility). Totally, motor skills were on average about 4 percentile points lower after lockdown I, and the effect of the pandemic was stronger after controlling for secular trend. Results suggest highly differential effects of the pandemic on children's motor development, which should be considered when recovering motor skills in the post-pandemic era. To avert these trends and the lifelong consequences of impaired motor development in childhood, comprehensive monitoring of children’s motor performance levels is needed as well as support programs for children with compromised motor performance, particularly for children from low SEBs.
Thesis
In vielen Lebenssituationen müssen Menschen auf der Grundlage von vagen Informationen Zustände analysieren, bewerten, vorhersagen und entscheiden. Vagheit ist ein zentrales Charakteristikum der menschlichen Sprache, da viele Worte keine ganz klaren Abgrenzungen haben sondern fließend ineinander übergehen. Wie alt ist z.B. ein junger Mann? Und wo liegt die Altersgrenze, die junge von alten Männern trennt? Die meisten Menschen werden auf diese Frage übereinstimmend antworten, dass man die Altersgrenze nicht präzise festlegen kann und dass jung und alt Konzepte sind, die beispielsweise vom Standpunkt oder Kontext abhängig sind und graduell ineinander übergehen. Der graduelle Übergang verhindert eine klare Unterscheidung der unscharfen Aussagen (junge versus alte Männer) und stellt Menschen vor die Aufgabe, mit dieser Ungenauigkeit umzugehen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Vagheit sprachlicher Ausdrücke (linguistische Terme) und hat zum Ziel, eine konsistente fuzzy Methodik zur Erfassung der Begriffsbedeutungen zu entwickeln, sie empirisch zu überprüfen und die Ergebnisse auf praktische Fragestellungen (z.B. die Nutzung in verbalen Fragebogenskalen) anzuwenden. Hierbei werden die linguistischen Terme als unscharfe Mengen (fuzzy sets) konzeptualisiert und mathematisch mit fuzzy Zugehörigkeitsfunktionen beschrieben. Die Formalisierung der Terme ermöglicht eine Objektivierung und bildet die Grundlage für die Nutzung in computerbasierten Systemen (z.B. Decision Support Systemen). Folgende zentrale Punkte sind Gegenstand der Arbeit: (1) Die Vorstellung eines zweistufigen Verfahrens zur Übersetzung von linguistischen Termen in formalisierte Beschreibungen (fuzzy Zugehörigkeitsfunktionen) und dessen empirische Erprobung anhand von Wahrscheinlichkeits- und Häufigkeitsausdrücken: Die in der ersten Stufe des Verfahrens erfassten numerischen Schätzwerte für die Begriffe werden in der zweiten Stufe mit fuzzy Zugehörigkeitsfunktionen des Potentialtyps modelliert. In zwei Studien konnte gezeigt werden, dass diese Funktionen ein geeignetes Mittel zur Beschreibung der Terme sind und sich durch die Nutzung der fuzzy Methodik neue Möglichkeiten zu einer systematischen Erforschung linguistischer Terme ergeben. (2) Der Transfer der durch die fuzzy Übersetzungsprozedur gewonnenen Grundlagenergebnisse in anwendungsorientierte psychologische Forschungsbereiche: Die vorgeschlagenen Methodik wird zur Auswahl und Evaluation von sprachlichen Begriffen für Fragebogenskalen mit verbalen Antwortkategorien genutzt. Anhand der verbalen Antwortskala eines Beispielfragebogens (COPSOQ) konnte in zwei Studien gezeigt werden, dass die Abstände zwischen den Antwortkategorien der originalen Skala nicht gleich sind. Die fehlende Äquidistanz führt dazu, dass die Voraussetzung für eine parametrisch-statistische Auswertung der Daten nicht gegeben ist und beispielsweise keine Mittelwerte berechnet werden dürften. Es zeigte sich ebenso, dass die erarbeitete fuzzy Methodik die Auswahl besser geeigneter äquidistanter Terme ermöglicht. (3) Die Vorstellung und Nutzung der fuzzy Methodik für die Auswertung von unscharfen Daten, die aus den Antworten verbaler Fragebogenskalen stammen: Hierbei werden die fuzzy Auswertungsergebnisse mit den Ergebnissen der herkömmlichen statistischen Auswertungsprozedur verglichen. In einer Studie, in der ein Fragebogen zur Messung von chronischem Stress (TICS) exemplarisch untersucht wurde, konnte gezeigt werden, dass die fehlende Äquidistanz der Antwortkategorien zu einer Verzerrung der statistischen Ergebnisauswertung und damit auch zur Fehlinterpretation der Stressergebnisse führt. Die vorgestellte fuzzy Methodik hingegen beweist sich als inhaltlich konsistente Alternative. Abschließend werden in der vorliegenden Arbeit die Ergebnisse der Studien zusammenfassend diskutiert, und es erfolgt ein Ausblick auf weitere Forschungs- und Anwendungsmöglichkeiten der fuzzy Methodik.