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Emotionale und Soziale Geografien in der polnischen Literatur:
Räume der Reflexion und Transformation
Emotionales und soziales Lernen durch literarische Bildung: Entwicklung und Erprobung von Materialien
für Schule, Universität, Weiterbildung and selbstverantwortliches Lernen in transformativen Projekten
Posterpräsentation beim 6. Kongress Polenforschung „Umbrüche – Aufbrüche“
Technische Universität Dresden, 14.-17. März 2024
Professor Dr. habil. Joachim Bröcher, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland
Professor Dr. Janet F. Painter, Lenoir-Rhyne University, Hickory, North Carolina, USA
Professor Dr. Piotr Toczyski, Maria Grzegorzewska Universität, Warschau, Polen
Kontext und Ziel
In Weiterentwicklung der
Lebensweltorientierten Didaktik
(Bröcher, 1997, 2022) so-
wie aufbauend auf früheren deutsch-polnischen Projekten (Bröcher und Toczyski,
2021; Toczyski und Broecher, 2021; Toczyski, Broecher und Painter, 2022) und in
Fortsetzung deutsch-amerikanischer Kooperation (Broecher et al., 2014), soll aus der
Perspektive von drei Nationen (Deutschland, Polen, USA) exemplarisch die polni-
sche Literatur in ihrer Bedeutung für die pädagogische Arbeit mit emotionalen und
sozialen Themen erschlossen werden, stellvertretend für andere und weitere Sprachen
und Literaturen, die im multikulturellen Deutschland der Gegenwart und anderen
Migrationsgesellschaften, etwa den USA, möglicherweise auch bald in Polen, eine
Rolle spielen. Kennzeichen der Lebensweltorientierten Didaktik ist traditionsbedingt
der subjektzentrierte pädagogische Zugang, durch die Fokussierung auf Lebensthe-
men und Daseinstechniken der jungen Menschen, eben in ihren diversen Lebensräu-
men, nun ergänzt durch das Konzept der
emotionalen und sozialen Geografien
sowie
um Konzepte aus dem Bereich
Social and Emotional Development through Literacy
Education
. Im nächsten Schritt geht es um das Schaffen von Übergängen in sach–
und wissenschaftsorientierte Lernprozesse, etwa in den Bereichen Sprache, Literatur,
Soziologie, Philosophie, Psychologie, Geschichte oder Politik. Natürlich müssen lite-
rarische Texte altersgemäß und je nach Zielgruppe und Situation ausgewählt und auf-
bereitet werden. Oftmals sind handlungsorientierte, fächerübergreifende oder kreativ-
schöpferische Aneignungs– und Auseinandersetzungsformen denkbar und möglich.
Die Poster dieser Serie sollen in der nächsten Zeit in Schulen, Universitäten, in der
Weiterbildung und in transformativen Projekten, wo selbstverantwortlich gelernt
wird, jenseits von Institutionen (Broecher und Painter, 2023), erprobt werden. Ein
einzelnes Poster hat nicht den Anspruch, die inhaltliche Komplexität oder die formale
Besonderheit eines Werkes in seiner Gesamtheit zu erfassen. Wir greifen stets Ein-
zelthemen heraus, die uns bedeutsam erscheinen und fördern hierzu Reflexionen.
Warum die polnische Literatur?
Erstens
war die von 1569 bis 1795 bestehende polnisch-litauische Adelsrepublik, die
Rzeczpospolita, ein pulsierender Vielvölkerstaat von enormen Ausmaßen, wodurch
sich Erkenntnisse für das heutige multikulturelle Deutschland ergeben könnten.
Zwei-
tens
verschwand Polen durch die Eroberungspolitik Preußens, Österreich-Ungarns
und Russlands im Zuge von drei Teilungen (1772, 1793, 1795) für 123 Jahre (bis
1918) vollständig von der Landkarte und überlebte als Nation vor allem auch durch
seine Literatur.
Drittens
: Die Deutschen haben 1939 beim Überfall auf Polen und
während der nachfolgenden Besatzungszeit (bis 1941 Besetzung des westlichen Teils
Polens und nach der Kriegserklärung gegen Russland auch des östlichen Teils) ver-
sucht, die polnische Intelligenz vollständig zu vernichten. Professor_innen wurden
verhaftet und interniert, Lehrer_innen erschossen und in polnischen Schulen wurde
eine radikale Germanisierungspolitik betrieben.
Viertens
: 1945 verschob die Sowjet-
union, die bis 1941 den östlichen Teil von Polen besetzt hielt, den kompletten polni-
schen Staat nach Westen, was Vertreibungen und Umsiedlungen mit sich brachte.
Auch in der nun folgenden, bis 1989 andauernden, kommunistisch-stalinistischen
Zeit war es für die polnische Intelligenz kaum möglich, sich frei zu entfalten. Die Li-
teratur lebte daher teils im Untergrund, teils im Exil fort.
Fünftens
: Das heutige Polen
erscheint zerrissen zwischen europäischer Offenheit und nationaler Abschottung, ein
Prozess der nun, nach Jahrzehnten nahezu grenzenloser Offenheit, auch in Deutsch-
land beginnt. Die polnische Literatur hat durch die genannten besonderen histori-
schen Hintergründe immer schon einen sehr stark politischen und gesellschaftlichen
Charakter gehabt, viel stärker als es in Deutschland der Fall war und ist. Natürlich
geht es bei alldem auch um Emotionen und die Lebensthemen der Menschen, um die
Räume, in denen sie leben, um die emotionalen und sozialen Geografien eben, denn
diese sind intensiv mit den historischen, politischen und gesellschaftlichen Ereignis-
sen verflochten. Wir haben also etliche Gründe die polnische Literatur zu lesen und
aus den Werken polnischer Autor_innen zu lernen, um emotionales und soziales Ler-
nen voranzubringen und unser Verständnis alles Humanen und Gesellschaftlichen zu
vertiefen und zu erweitern.
Theoretischer Rahmen
Bilczewski, T., Bill, S., and Popiel, M. (Eds.) (2022).
The Routledge world companion to Polish literature.
Milton Park, Abingdon, Oxon: Routledge.
Bröcher, J. (2022).
Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit sogenannten „verhaltensauffälligen“ Jugendli-
chen auf der Basis ihrer (alltags-)ästhetischen Produktionen
(2. korr. und ergänzte Aufl.). Heidelberg: Univer-
sitätsverlag Winter, Download.
Broecher, J., Davis, J. H., Matthews, K., Painter, J. F., and Pasour, K. (2014). How transatlantic workshops
and field trips can make German-American university-partnerships an active learning space.
Internationalisa-
tion of Higher Education, Vol. 2
, 18-42, https://doi.org/10.1177/0261429414526655, Download.
Broecher, J. and Painter, J. F. (2023). Transformative community projects in East Germany's rural spaces:
Exploring more sustainable forms of learning, working, and living.
Frontiers in Sociology, Vol. 8,
11642
93, https://doi.org/10.3389/fsoc.2023.1164293, Download.
Bröcher, J. und Toczyski, P. (2021). Europäische Lernräume: Pädagogischer Austausch zwischen Polen und
Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges. In J. Bröcher,
Anders lernen, arbeiten und leben. Für eine Transfor-
mation von Pädagogik und Gesellschaft
(S. 223-238). Bielefeld: transcript, https://doi.org/10.14361/978383
9456514, Download.
Davidson, J., Bondi, L., and Smith, M. (2017).
Emotional geographies
(first release: Ashgate Publ., 2005).
London, New York: Routledge.
Skrczewski, D. and Polakowska, A. (2020).
Polish literature and national identity. A postcolonial perspecti-
ve.
Rochester, NY: University of Rochester Press.
Toczyski, P. i Broecher, J. (2021). Niemiecko-polskie doświadczenie, spotkanie, kontakt i dialog w europei-
zacyjnej pedagogice Andrzeja Jaczewskiego i Karla-Josefa Klugego.
Kwartalnik Pedagogiczny, 66
(1), 124-
152, https://doi.org/10.31338/2657-6007.kp.2021-1.7, Download.
Theoretischer Rahmen, Fortsetzung
Toczyski, P., Broecher, J., and Painter, J. F. (2022). Pioneers of German-Polish inclusive exchange:
Jaczewski’s and Kluge’s Europeanization in education despite the Iron Curtain.
Prospects: Comparative
Journal of Curriculum, Learning, and Assessment, 52
(3-4), 567-583, https://doi.org/10.1007/s11125-021-
09545-x, Download.
Trojanowska, T., Niżyńska, J., Czapłiński, P., and Polakowska, A. (Eds.) (2019).
Being Poland: A new histo-
ry of Polish literature and culture since 1918
. Toronto: University of Toronto Press.
Tussey, J. and Haas, L. (Eds.) (2021).
Handbook of research on supporting social and emotional deve-
lopment through literacy education
. Hershey, PA: IGI Global u.a.m.
Eine Auswahl an emotionalen und sozialen Themen
in den Werken polnischer Schriftsteller_innen
Wie das grenzüberschreitende Verhalten eines Jungen einen sozial engagierten Arzt
herausfordert: Szenen aus Stefan Żeromskis Roman
Ludzie bezdomni
(dt.
Die Heimat-
losen)
Die kritische Auseinandersetzung mit atavistischen Männlichkeitskonzepten und das
Coming-out einer intersexuellen Identität in Olga Tokarczuks Zauberberg-Variation
Empuzjon
(dt.
Empusion)
Jugendliche Sozialisation unter desintegrierten Bedingungen in Dorota Masłowskas
Rap-Song
Inni ludzie
(dt.
Andere Leute)
Xenophobie, Homophobie und Verschwörungstheorien in einem fiktiven Internetforum
in Joanna Bators Roman
Ciemno, prawie noc
(dt.
Dunkel, fast Nacht)
Soziale Marginalisierung des Sohnes einer alleinerziehenden Hebamme im Gymnasium
von Thorn, im preußisch besetzten Polen, im 19. Jahrhundert, in Stanisław
Przybyszewskis
Moi wspłcześni – Wśrd obcych
(dt.
Meine Zeitgenossen—Unter
Fremden)
Wie eine Schiffsreise von Gdynia nach Buenos Aires kurz vor dem Ausbruch des Zwei-
ten Weltkriegs zum Beginn eines langjährigen Exils wird: Witold Gombrowiczs auto-
biografischer Roman
Trans-Atlantyk
(dt.
Trans-Atlantik)
Die negative Darstellung der Juden als einer gesellschaftlich lediglich geduldeten
Gruppe in Władysław Reymonts nobelpreisgekröntem Epochenroman
Chłopi
(dt.
Die
Bauern)
Das Leben des Vaters und das eigene Leben als Sohn: Erkundungen und Betrachtungen
zur Vater-Sohn-Beziehung in Wiesław Myśliwskis Roman
Nagi sad
(dt.
Der nackte
Garten)
Über die Reproduktion von sadomasochistischen Erlebnismustern im Raum der Klein-
familie: Körperliche Züchtigung eines Jungen durch seinen Vater in Wojciech Kuczoks
Roman
Gnj: Antybiografia
(dt.
Dreckskerl: Eine Antibiographie)
Aberglaube, geistige Dumpfheit, mangelnde Bildung und Dämonisierung des Weibli-
chen als Themen in Eliza Orzeszkowas Roman
Dziurdziowie
(dt.
Die Hexe)
Im preußisch geprägten Gymnasium von Thorn, im 19. Jahrhundert, als polnischer Jun-
ge auf sich selbst zurückgeworfen sein: Rückblicke von Stanisław Przybyszewski in
Moi wspłcześni – Wśrd obcych
(dt.
Meine Zeitgenossen—Unter Fremden)
Vom Kind zum Knaben, über den „Rotzbengel“, zum Mann: Erkundungen zur Ent-
wicklung des eigenen Ichs in Witold Gombrowiczs Roman
Ferdydurke
(dt.
Ferdydur-
ke)
Liebe und Sexualität, Experiment und Selbsterkundung in Szczepan Twardochs Roman
Pokora
(dt.
Demut)
Betrachtungen über das Gefängnis in uns, über gesellschaftliche Institutionen, Medien
und eigenständiges Denken, über die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit
und das Dunkel in der Welt, in Olga Tokarczuks Roman
Prowadź swj pług przez kości
umarłych
(dt.
Gesang der Fledermäuse)
Urbaner Raum, Imagination und innere Vorstellungswelt eines Jungen in Bruno Schulz´
Erzählung
Sklepy cynamonowe
(dt.
Die Zimtläden)
Männlichkeit, Einsamkeit und Vulnerabilität: Exzessives Body-building und Gewicht-
heben als Thema in Jakub Małeckis Roman
Saturnin
(dt.
Saturnin)
Soziale Abgrenzung, Aggression in männlichen Peer-Welten und die Rolle eines charis-
matischen Außenseiters: Die Schilderung eines ungewöhnlichen Fußballspiels in Paweł
Huelles Roman
Weiser Dawidek
(dt.
Weiser Dawidek)
Wie eine Großfamilie an einem Sonntag einen Hahn schlachtet, zubereitet und ver-
speist: Gemeinsames Essen, Familienstruktur und soziale Ordnung auf dem Lande, in
der Mitte des 19. Jahrhunderts, dargestellt in Wiesławs Myśliwskis Roman
Widnokrąg
(dt.
Der helle Horizont)
Wie ein junger Arzt sich in einen delinquenten jungen Mann verliebt. Facetten des Sa-
domasochismus und der gesellschaftlichen Grenzüberschreitung in Wojciech Kuczoks
Roman
Senność
(dt.
Lethargie)
Wissen wie man mit den Besonderheiten der Freier umgehen muss: Professionelle Stra-
tegien und Überlebenstechniken von jugendlichen Strichern in Michał Witkowskis Ro-
man
Fynf und Cfancyś
(engl.
Eleven-Inch)
Der frühe Verlust der Eltern als Thema in Jakub Małeckis Roman
Rdza
(dt.
Rost)
Weitere literarische Werke werden derzeit erschlossen und aufbereitet. Diese und viele an-
dere Themen werden dann in Form von Plakaten in pädagogischen Kontexten mit Impuls-
fragen erprobt. Hier ist eine erste Liste: Link.
Der erste Autor dieser Posterpräsentation bedankt sich bei Karolina Walkowska (Adam-Mickiewicz-Universität
Posen, jetzt Freie Universität Berlin und Polka Dot Sprachschule, Berlin), für ihre motivierende Einführung in
die Welt der polnischen Sprache.