ArticlePDF Available

Marie Fröhlich, Ronja Schütz, Katharina Wolf (Hrsg) (2022) Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder.: Transcript, Bielefeld, 318 Seiten, 30 € und Open Access, ISBN 978-3-8376-5272-7

Authors:
REZENSION
https://doi.org/10.1007/s00481-024-00800-1
Ethik in der Medizin
Marie Fröhlich, Ronja Schütz, Katharina Wolf (Hrsg)
(2022) Politiken der Reproduktion. Umkämpfte
Forschungsperspektiven und Praxisfelder.
Transcript, Bielefeld, 318 Seiten, 30 C und Open Access, ISBN
978-3-8376-5272-7
Stefanie Weigold
Angenommen: 26. Januar 2024
© The Author(s) 2024
Das Politische der Reproduktion dürfte seit der Berufung der Kommission zur re-
produktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin auf Grundlage des Koali-
tionsvertrages im März 2023 ein breiter diskutiertes Thema geworden sein. Zwei
Fachkommissionen sind bis März 2024 mit der Formulierung eines Grundlagenpa-
piers beschäftigt, das sich mit drei komplexen Themen auseinandersetzt, die viele
Fragen aufwerfen, u.a.: Wie sollen in Deutschland zukünftig Schwangerschaftsab-
bruch, Eizellspende und Leihmutterschaft geregelt werden? Die Themen rund um
reproduktive Selbstbestimmung sowie der Umgang mit fortschreitender Technolo-
gisierung und Medikalisierung von Reproduktion ankieren seit Jahrzehnten die
feministische Theoriebildung und politische Bewegung. Gleichsam sind sie auch
genuin medizinethische Themen. Der 2022 erschienene Band Politiken der Repro-
duktion vereint unter anderen auch diese disziplinären Gefilde und büßt in diesem
Sinne zwei Jahre nach dem Erscheinen an Aktualität nichts ein.
Mit einer eindrücklichen Spannbreite disziplinärer Verortung und methodischer
Vielfalt zeigt der Band in den insgesamt zwanzig Texten, die thematisch auf fünf Ka-
pitel verteilt sind, verschiedene Ausprägungen politischer Felder der Reproduktion
auf. Politiken der Reproduktion begreifen die Herausgebenden als „Praktiken, Regu-
lierungen, Vorstellungen, Normen und Wissensbestände, die sich auf menschliche
Fortpflanzung beziehen“ (S. 15). Gemeint sind damit etwa staatliche Regulierungen
der Fortpflanzung beispielsweise in Recht und Arbeitsmarkt aber auch die Fest-
legung ethischer und wissenschaftlicher Rahmenbedingungen oder unter welchen
Bedingungen professionsspezifisches Handeln rund um Schwangerschaft, Geburt
und Familie stattfindet.
Stefanie Weigold, M.A.
Arbeitsbereich Medizinethik, Institut für Experimentelle Medizin, Medizinische Fakultät,
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Preusserstraße 1–9, Merkurhaus, 24105 Kiel, Deutschland
E-Mail: stefanie.weigold@iem.uni-kiel.de
K
S. Weigold
Eine besondere Leistung des Bandes ist es, die offensichtlichen Topoi der Repro-
duktion wie Schwangerschaft, Verhütung, Abbrüche, Geburt, Wochenbett etc. mit
jenen ins Gespräch zu bringen, die nicht vordergründig Aspekte der medizinischen
Versorgung betreffen, aber immer auch mit diesen verschränkt sind man denke an
das einkommensabhängige Elterngeld, die Gender Pay Gap oder die Regulierung von
Migration und Aufenthaltsstatus. Somit werden vor allem die Bedeutungszusammen-
hänge und die Tragweite des Themenspektrums der Reproduktion verdeutlicht. Der
Band hat es sich zur Aufgabe gemacht, gesellschaftliche Verhältnisse, Personengrup-
pen und thematische Lücken in der Debatte um Reproduktion sichtbar zu machen,
die in diesem weiten Feld sonst eher marginal diskutiert werden. Ein weiterer roter
Faden lässt sich durch die Einführung des Konzepts Reproduktiver Gerechtigkeit
erkennen, welches reproduktive Rechte in Bezug auf soziale Gerechtigkeitsfragen
verortet. Zum einen geschieht dies durch ein Manifest des im deutschsprachigen
Raum vertretenen Netzwerks Reproduktive Gerechtigkeit selbst, welches das US-
amerikanische Konzept Schwarzer Feminist*innen adaptiert. Zum anderen durch
die Anwendung vieler Beitragenden des Konzepts als Analyserahmen. Gerade auch
mit Blick auf die eingangs erwähnten politisch brisanten Themen der Eizellspende
und Leihmutterschaft werden dadurch insbesondere die Bedingungen reprodukti-
ver Autonomie kontextualisiert und betrachtet. Besondere Praxisrelevanz zeigt der
Band durch Einblicke in Versorgungszusammenhänge und Professionen. In der kri-
tischen Diskussion von vier Interview-Studien zur ärztlichen Beratungspraxis zum
Schwangerschaftsabbruch und zur Pränataldiagnostik sowie mit Schwangerschafts-
konfliktberatenden und Hebammen wird zudem die Anwendbarkeit intersektional-
feministischer Zugänge demonstriert. Diese sind trotz ihrer professionsethischen
Sinnhaftigkeit weiterhin nur marginal in der Medizinethik vertreten (Faissner et al.
2022).
In seiner disziplinären und methodischen Fülle fordert der Band die Le-
ser*innenschaft zu einer anspruchsvollen Lektüre auf, die für ein weniger geis-
tes- und sozialwissenschaftlich geschultes Publikum sicherlich ihre Hürden bietet.
Nichtsdestotrotz lohnt sich die Anstrengung für wissenschaftlich Tätige, Studierende
und praktisch Tätige, für die insbesondere veranschaulicht werden kann, inwiefern
die verschiedenen Felder in einen interdisziplinären Dialog von theoretischen und
praktischen Ansätzen treten. Es ist eine empfehlenswerte Lektüre zur umfassen-
den Orientierung innerhalb der aktuellen Debatten rund um die Bedingungen von
Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft. Der Band zeigt, dass Reproduktion
unter Berücksichtigung von Entscheidungsprozessen, Versorgungsstrukturen, der
technologischen Unterstützung und Sorgearbeit auch als komplexe soziale Praxis
begriffen werden kann, die unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen
Bedingungen stattfindet. „Politiken der Reproduktion“ ist ein passender Titel für
einen Sammelband, der überaus breit informiert und dazu auffordert, sich über das
technisch Machbare hinaus mit den ethischen und politischen Dimensionen der
Reproduktion auseinanderzusetzen.
Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Interessenkonflikt S. Weigold gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
K
Marie Fröhlich, Ronja Schütz, Katharina Wolf (Hrsg) (2022) Politiken der Reproduktion....
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Li-
zenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in
jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ord-
nungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen
vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten
Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betref-
fende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung
nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des
Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
licenses/by/4.0/deed.de.
Literatur
Faissner M, Hartmann KV, Marcinski-Michel I et al (2022) Feministische Perspektiven in der deutschspra-
chigen Medizinethik: eine Bestandsaufnahme und drei Thesen. Ethik Med 34:669–686. https://doi.o
rg/10.1007/s00481-022- 00724-8
Hinweis des Verlags Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeich-
nungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
K
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
Article
Full-text available
Im internationalen Diskurs sind feministische Perspektiven auf die Medizinethik bereits etabliert. Demgegenüber scheinen diese bislang nur vereinzelt in den deutschsprachigen medizinethischen Diskurs eingebracht zu werden. In diesem Artikel untersuchen wir, welche feministischen Perspektiven im deutschsprachigen medizinethischen Diskurs vertreten sind, und schlagen weitere Ansätze für eine feministische Medizinethik vor. Zu diesem Zweck zeichnen wir mittels einer systematisierten Literaturrecherche feministische Perspektiven im deutschsprachigen medizinethischen Diskurs seit der Etablierung der Medizinethik als eigenständiger institutionalisierter Disziplin nach. Wir analysieren, welche Themen bereits innerhalb der Medizinethik aus einer feministischen Perspektive untersucht worden sind, und identifizieren Leerstellen. Basierend auf der Literaturrecherche, unseren eigenen Vorarbeiten sowie der Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe in der Akademie für Ethik in der Medizin „Feministische Perspektiven in der Bio- und Medizinethik“ stellen wir drei Thesen vor, die aus unserer Sicht einer Weiterentwicklung des deutschsprachigen medizinethischen Diskurses dienen können. Die erste These bezieht sich auf die Ziele feministischer Medizinethiken und besagt, dass diese (epistemische) Gerechtigkeit anstreben. Die zweite These stellt zentrale Eigenschaften von feministischen Medizinethiken als kritisch und kontext-sensibel heraus. In der dritten These diskutieren wir Intersektionalität und Postkolonialismus als theoretische Ansätze, die zu einer epistemisch gerechten, kritischen und kontext-sensiblen Medizinethik beitragen können. Wir argumentieren, dass feministische Perspektiven grundständig verankert werden sollten. Der Artikel schließt mit einem Ausblick auf die Arbeit der im letzten Jahr gegründeten Arbeitsgruppe in der Akademie für Ethik in der Medizin „Feministische Perspektiven in der Bio- und Medizinethik“.