Content uploaded by Manuela Keller-Schneider
Author content
All content in this area was uploaded by Manuela Keller-Schneider on Feb 18, 2024
Content may be subject to copyright.
596 Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
Manuela Keller-Schneider
Berufseinstieg in der Schweiz: Herausforde-
rungen und institutionelle Angebote
Summary: Der Berufseinstieg stellt Anforderungen, die in ihrer Komplexität im Studium
nur begrenzt erfahren werden können. Es stellen sich berufsphasenspezifische Heraus-
forderungen, die es zu bearbeiten gilt. Institutionelle Angebote der Berufseinführung
können die Lehrpersonen in der Auseinandersetzung mit beruflichen Anforderungen
unterstützen. Befunde zeigen, dass es Berufseinsteigenden gelingt, diese zu bewältigen, dass
aber die Verfügbarkeit von sozialen Ressourcen und Professionalisierungsgelegenheiten in
dieser berufsbiografisch wichtigen Phase von Bedeutung sind. Angebote einer begleiteten
Berufseinführung sowie an einer Zusammenarbeit interessierte und niederschwellig er-
reichbare Mentoratspersonen am Schulort werden als hilfreich erachtet und geschätzt.
Einleitung
Nach Abschluss der Ausbildung und erfolgreichem Anstellungsverfahren an einer Schule
treten Lehrperson in den Schuldienst ein. Dieser Einstieg in die eigenverantwortliche
Berufstätigkeit ist von einem sprunghaften Anstieg der Komplexität der beruflichen Anfor-
derungen und der größeren Reichweite der beruflichen Verantwortung gekennzeichnet.
Diese Anforderungen gilt es in ihrem Zusammenwirken und in ihrem situativen Kontext zu
bewältigen und dabei das eigene Wissen und Können auf die spezifische Situation und die
Möglichkeiten der Adressat:innen auszurichten. Diese Komplexität kann im Vorfeld nur
begrenzt erfahrbar gemacht werden, da die angehenden Lehrpersonen als Studierende
gefordert sind, sich auf den Ausbildungskontext einzulassen, sich in asymmetrischen
Beziehungen mit den Impulsen und Beurteilungen der Ausbildungspersonen auseinander-
zusetzen. Der Berufseinstieg stellt Entwicklungsaufgaben, die es als Herausforderung anzu-
nehmen und zu bearbeiten gilt, um in der weiteren Professionalisierung voranzukommen
(Keller-Schneider 2020a).
Wie dieser Einstieg erlebt wird und welche Faktoren zur Bewältigung beitragen, wird in
unterschiedlichen Forschungszugängen untersucht (Keller-Schneider & Hericks 2022).
Aufgrund der strukturell sich ergebenden Herausforderungen des Feldes kann der Berufs-
einstieg jedoch nicht nur als individuelle Aufgabe betrachtet werden. Die an diesem Über-
gang beteiligten Institutionen Schule und Pädagogische Hochschule sind gefordert, zur
Bewältigung dieses Übergangs beizutragen und Angebote einer institutionellen Berufsein-
führung bereitzustellen. In der Schweiz bestehen kantonal geregelte Angebote der Berufs-
einführung (Vögeli-Mantovani 2011). Entsprechende Entwicklungen setzten bereits in den
1970er-Jahren ein, um den Einstieg in die eigenverantwortliche Berufstätigkeit und die
weitere Professionalisierung als Lehrperson zu unterstützen. Welche Angebote der Berufs-
einführung in der Schweiz bestehen und wie Berufseinsteigende diese erleben, wird im
folgenden Beitrag ausgeführt.
Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz 597
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
Berufseinstieg als individuelle Aufgabe
„Endlich kann ich selber bestimmen, wie ich eine Klasse unterrichten und führen möchte! –
Aber nun muss ich auch selber wissen, wie ich das tun will.“ (Barbara Binder, nach sieben
Wochen Berufstätigkeit, Keller-Schneider 2009, S. 41).
Der Berufseinstieg ist von Eigenverantwortlichkeit geprägt, wie in dieser Aussage sehr
deutlich zum Ausdruck kommt. Das Zitat führt jedoch die Ambivalenz vor Augen, die mit
dieser Eigenverantwortlichkeit einhergeht. Einerseits wird der ersehnte Freiraum geschätzt,
andererseits spiegelt sich auch der Wunsch nach Eindeutigkeit und Klarheit.
Der Berufseinstieg ist von Merkmalen gekennzeichnet, welche die Komplexität dieser
berufsbiografisch wichtigen Phase charakterisieren (Wittek & Keller-Schneider 2023).
• Der Einstieg in die eigenverantwortliche Berufstätigkeit ist von einem sprunghaften An-
stieg der Komplexität gleichzeitig zu meisternden Anforderungen geprägt.
• Die Anforderungen zeigen sich im situativen Kontext und erfordern eine Adaption der
verfügbaren Kompetenzen. Regelgeleitetes Wissen reicht nicht, um situationsange-
messen zu handeln.
• Die Reichweite des beruflichen Handelns erstreckt sich auf einen erweiterten Zeitraum.
• Berufseinsteigende sind gefordert, eine berufliche Identität aufzubauen, diese als Teil
ihrer Person anzunehmen und zu gestalten. Es ist nicht mehr möglich, sich auf Erwartun-
gen von Ausbildungspersonen auszurichten, denn dieser Halt gebende und zugleich auch
einschränkende Rahmen entfällt.
• Berufseinsteigende Lehrpersonen sind gefordert, ihre Aufmerksamkeit über ihr eigenes
Handeln hinaus auf die Schüler:innen auszurichten und in einem Perspektivenwechsel
ihre Sicht auf Schule und Unterricht in den Blick zu nehmen.
• Durch den Wegfall von Richtlinien und Erwartungen von Ausbildungskontexten sind
Berufseinsteigende gefordert, einen eigenen Qualitätsmaßstab zu finden und diesen auf
das Lernen der Schüler:innen auszurichten.
• Als vollwertig ausgebildete und zu eigenverantwortlichem Handeln berechtigte Lehr-
personen sind sie gefordert, Teil der Gemeinschaft von Professionellen des Kollegiums
zu werden, sich darin zu positionieren, ihre mitgestaltende Rolle einzunehmen und zu
gestalten.
• Die Bewältigung dieser komplexen Anforderungen erfordert einen selbstregulierten
Umgang mit eigenen Kräften und Möglichkeiten sowie die Nutzung von Gestaltungs-
spielräumen und institutionellen Ressourcen.
• Berufseinsteigende sind gefordert, sich ein neues berufliches Netzwerk aufzubauen, das
ihnen Halt und Resonanz gibt. Soziale Netzwerke sind für neu in den Beruf einsteigende
Lehrpersonen von besonderer Wichtigkeit, da die im Laufe des Studiums entwickelten
Beziehungen zu Peers durch den Abschluss des Studiums entfallen.
Berufliche Anforderungen werden individuell wahrgenommen. Ressourcen, wie Wissen und
Können, Überzeugungen, Ziele und Motive, stabile Persönlichkeitsmerkmale und Selbst-
regulationsfähigkeiten sowie Emotionen prägen die Wahrnehmung und Deutung von Anfor-
derungen und damit auch die daraus hervorgehenden Handlungen und Erkenntnisse
(Keller-Schneider 2020a).
598 Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
Berufseinführung als institutionelle Antwort
Berufseinführung als Gelenkstelle zwischen Aus- und Weiterbildung
In der Schweiz wurden erste Forderungen nach institutionellen Angeboten einer Berufs-
einführung für Lehrpersonen von der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) in Auftrag gege-
benen und im 1975 veröffentlichten LEMO-Bericht mit Hinweisen zur „Lehrerbildung von
Morgen“ formuliert (Müller 1975). Darin wurde nicht nur die Berufseinstiegsphase in den
Blick genommen, sondern die gesamte Berufslaufbahn.
Die Weiterbildung für Lehrpersonen lässt sich nach folgenden Schwerpunkten gliedern
(Abb. 1) und umfasst ein Spektrum von Formaten von kurzen Kursen bis hin zu MAS-
Studiengängen. Sie setzt nach der Ausbildung ein und umfasst vielfältige Angebote der
Vertiefung in die Kernaufgabe Unterricht, der Profilierung für ergänzende Spezialaufgaben
(z.B. Theaterpädagogik, Gesundheitsverantwortliche, IT, Mentoring für Berufseinsteigende,
Praxislehrperson für Studierende) sowie der Spezialisierung (Schulleitung, DaZ) und dauert
ein Berufsleben lang an.
Die ein bis zwei Jahre dauernde Berufseinführung stellt dabei die erste Phase der Weiter-
bildung dar. Die für Berufseinsteigende unentgeltlichen Angebote werden mehrheitlich von
den Pädagogischen Hochschulen konzipiert und bereitgestellt.
Abb. 1 Berufseinstieg zwischen Aus- und Weiterbildung (nach Keller-Schneider et al., 2020, S. 88)
Mit der zunehmenden Berufstätigkeit von Studierenden als Lehrpersonen und den alterna-
tiven Studiengängen für Quereinsteigende mit berufsintegrierten Anteilen wird die Grenze
zwischen Aus- und Weiterbildung fließend. Studierende sind mit einer Doppelrolle kon-
frontiert. Einerseits sind sie als in Ausbildung stehende Studierende einer Beurteilung durch
Ausbildungspersonen unterstellt, andererseits werden sie im Schulfeld als eigenverant-
wortlich tätige Lehrpersonen adressiert und als solche anerkannt.
Die einmalige und wichtige Berufseinstiegsphase (Nasser-Abu & Fresko 2010) kann als
Gelenkstelle zwischen Aus- und Weiterbildung bezeichnet werden, in welcher ein Bewusst-
sein für die Notwendigkeit einer weiteren Professionalisierung aufgebaut bzw. gestärkt
wird. Erfahrungen in Weiterbildungsangeboten der Berufseinstiegsphase sind für die
weitere Professionalisierung (Vögeli-Mantovani 2011) und für das spätere Weiterbildungs-
verhalten von Bedeutung (Herzog & Munz 2010).
Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz 599
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
Angebote der Berufseinführung in der Schweiz
Die institutionalisierte Berufseinführung wird von den einzelnen Kantonen verantwortet;
damit unterscheiden sich die Angebote in ihrer Ausdifferenzierung. Allen gemeinsam ist das
Bestreben, neu in den Beruf einsteigende Lehrpersonen in die Profession und in die
Organisation Schule einzusozialisieren, sie in der Auseinandersetzung mit den beruflichen
Anforderungen zu begleiten und zu unterstützen, ihnen berufsphasenspezifische Impulse
zu geben sowie sie für einen weiteren Professionalisierungsbedarf zu sensibilisieren
(Schneuwly 1996). In dieses Vorhaben sind sowohl die Pädagogischen Hochschulen als auch
die Schulorte eingebunden (Abb. 2).
Abb. 2: Angebote der Berufseinführung im Kanton Zürich (Keller-Schneider, 2019, S. 151)
Kurse, Supervision und Weiterbildungswochen (grau hinterlegt) werden von den Päda-
gogischen Hochschulen angeboten, Personal- und Arbeitsorteinführung (weiß hinterlegt)
vom Schulort. Das lokale Mentorat (schraffiert), im Kanton Zürich „Fachbegleitung am
Arbeitsort“ genannt, wird gemeinsam verantwortet. Die Schulleitung bestimmt im Kontext
ihrer Personalführungsaufgabe eine Lehrperson, die sich für die Zusammenarbeit mit
Berufseinsteigenden interessiert, und ermöglicht ihr, sich für diese Aufgabe im Rahmen der
von der PH angebotenen Weiterbildung zu qualifizieren (Spezialisierung).
Kurse
Im Fokus der berufsphasenspezifisch ausgerichteten Kurse stehen Anforderungen, die für
Berufseinsteigende insofern neu sind, als dass sie diese erstmals in eigener Regie gestalten
und verantworten. Im Rahmen des Studiums haben sie sich zwar darauf vorbereitet und,
wenn immer möglich, sich in Praktika über Beobachtungen und Mitarbeit damit auseinan-
dergesetzt. Diese komplexen Anforderungen nun eigenständig zu gestalten, stellt Heraus-
forderungen, die in diesen Kursen aufgegriffen werden. Themen wie eine lernförderliche
Klassenkultur aufbauen und pflegen, Kontakte mit Eltern aufbauen, Elternabende durch-
führen, Zeugnisse erstellen, kommunizieren und lernförderlich nutzen sowie sich in der
Bewältigung der Fülle von Aufgaben organisieren, die eigenen Möglichkeiten nutzen sowie
Prioritäten setzen werden berufsphasenspezifisch bearbeitet.
Weiterbildung
Berufsphasenspezifische Weiterbildungen sind den Berufseinsteigenden vorbehalten. Allen
Lehrpersonen zugängliche Weiterbildungsangebote können parallel dazu genutzt werden.
600 Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
Sommerkurs: Vor Schuljahresbeginn finden sich Berufseinsteigende zur Vorbereitung der
Übernahme einer Klasse sowie zur längerfristigen Planung des Unterrichts zusammen. Sie
werden von Hochschullehrenden der Fachdidaktiken und der Erziehungswissenschaften
sowie von Lehrpersonen begleitet und in ihren Vorbereitungsarbeiten unterstützt.
Kompaktweiterbildung: Am Ende der Berufseinstiegsphase wird im Kanton Zürich den
Berufseinsteigenden eine dreiwöchige Weiterbildung an der PH angeboten. In dieser Zeit
werden sie von Studierenden im letzten Semester vertreten. Dieses gegenseitig bereichern-
de Setting ermöglicht den Studierenden, vor Studienabschluss während drei Wochen das
Pensum einer Lehrperson zu übernehmen und eigenverantwortlich an einer Schule zu
unterrichten. In diesem Tausch wird die berufseinsteigende Lehrperson für drei Wochen
vom Schuldienst freigestellt, um in Distanz zur alltäglichen Berufsarbeit sich in unter-
schiedlichen Formaten mit den Berufsanforderungen auseinanderzusetzen. In eintägigen
Workshops erhalten Berufseinsteigende, an ihre Erfahrungen anknüpfend, thematisch
gebündelte Impulse. In der über die drei Wochen dauernden Projektarbeit vertiefen sie sich
in ein Thema, das sie in Gruppen bearbeiten, begleitet von Lehrenden der Hochschule und
des Schulfeldes. In einem dritten Format wird ein Selbstmanagementtraining angeboten,
um den eigenen Umgang mit beruflichen Anforderungen in den Blick zu nehmen und sich
mit Impulsen zu einem ressourcenerhaltenden Umgang mit Anforderungen auseinander-
zusetzen. Exkursionen sowie Vorträge runden das Angebot ab.
Supervision
In Gruppen- oder Einzelsettings arbeiten Berufseinsteigende an Anliegen aus der eigenen
Berufsarbeit. Der supervisorische Zugang ermöglicht, aus einer distanzierteren Perspektive
auf die Anforderungen zu blicken, in einem geschützten Rahmen mitwirkende Faktoren zu
betrachten und Impulse für Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. In Gruppensupervisionen
werden auch intervisorische Vorgehensweisen vermittelt (Ehinger & Hennig 1994; Keller-
Schneider 2018; Lippmann 2013), um die Lehrpersonen darin zu stärken, in kollegialen
Settings und über eingespielte Austauschformen hinaus in eine vertiefte Auseinander-
setzung mit Anforderungen einzusteigen und auf ein Anliegen fokussiert sowie methodisch
gestützt Lösungen zu entwickeln. Die Einzelsupervision ermöglicht der Lehrperson eine
vertiefte Auseinandersetzung mit ihrer Wahrnehmung und ihrem Umgang mit Anfor-
derungen. Dabei werden im geschützten Raum der Schweigepflicht auch individuelle
Sichtweisen und auf Handlungen einwirkende Überzeugungen herausgearbeitet und
weiterentwickelt. Supervisionsangebote werden von Hochschullehrenden mit einer super-
visorischen oder therapeutischen Zusatzausbildung angeboten.
Lokales Mentorat an der Schule (im Kanton Zürich „Fachbegleitung am Arbeitsort“ genannt)
Das lokale Mentorat ist an der Schule verankert. Lokale Mentorinnen und Mentoren sind
niederschwellig erreichbare Ansprechpersonen für Berufseinsteigende. An einer kollegialen
Begleitung interessierte, an derselben Stufe und in derselben Schule unterrichtende
Lehrpersonen werden von der Schulleitung für die Aufgabe ausgewählt und im Rahmen
einer Weiterbildung an der PH (rund fünf Halbtage) mittels Impulse zu Gesprächsführung,
zur Rollenklärung als kollegiale Mentoratsperson, zur Unterrichtsbeobachtung sowie zum
Vorgehen bei gegenseitigen Hospitationen auf diese Aufgabe vorbereitet.
In dieser kollegialen Begleitung ist zentral, dass Mentoratspersonen die Berufseinstei-
genden als vollwertig ausgebildete Lehrpersonen anerkennen, an einer Zusammenarbeit
Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz 601
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
und an ihren Sichtweisen und Impulsen interessiert sind und keine Ausbildungs- und
Beurteilungsfunktion übernehmen. Die Aufgaben einer kollegial begleitenden Mentorats-
person im Berufseinstieg unterscheiden sich somit von denjenigen einer in Ausbildungs-
und Beurteilungsaufgaben eingebundenen Praktikumslehrperson.
Befunde zum Berufseinstieg und zu Angeboten der Berufseinführung
Herausforderungen für Berufseinsteigende
• Berufseinsteigende erleben sich grundsätzlich kompetent, die Berufsanforderungen zu
bewältigen. Der Einstieg in die eigenverantwortliche Berufstätigkeit und die damit
einhergehende sprunghaft ansteigenden Komplexität der Anforderungen führt jedoch
zu einer Verunsicherung. So gelingt es Berufseinsteigenden signifikant weniger gut,
berufliche Anforderungen zu bewältigen als angehenden und erfahrenen Lehrpersonen.
In der Einschätzung der Wichtigkeit der beruflichen Anforderungen und in der Intensität
der Beanspruchung, die mit der Bewältigung einhergeht, zeigen sich keine Unterschiede.
Die Werte des Beanspruchungserlebens streuen in allen Berufsphasen breit, was auf
interindividuelle Unterschiede und damit auf ein individuelles Erleben der beruflichen
Anforderungen verweist (Keller-Schneider 2020a).
• Überzeugungen und individuelle Sichtweisen prägen die Wahrnehmung und Deutung
von Anforderungen und damit auch die Schwerpunktsetzung ihrer Bearbeitung (Keller-
Schneider, 2017, 2020b).
• Je nach der Sichtweise auf Unterricht kann ein hohes Beanspruchungserleben in der
Bewältigung von Anforderungen mit hoher Zufriedenheit einhergehen (Keller-Schneider
2020b). Ein mit Engagement verbundenes Beanspruchtsein und Sich beanspruchen
Lassen kann zu Freude und Zufriedenheit beitragen (Keller-Schneider 2023a).
• Als zentrale Herausforderungen des Berufseinstiegs erweisen sich die Anforderungen der
individuellen Passung des Unterrichts, die individuelle Begleitung und Förderung der
Schüler:innen, der Aufbau einer lernförderliche Klassenkultur (indirekte, auf länger-
fristige Zeiträume ausgerichtete Klassenführung), der auf einzelne Schüler:innen ausge-
richtete Unterricht, der Umgang mit Eltern sowie das Regulieren eigener Ansprüche und
Erwartungen. Als Ressourcen werden die eigenen Fähigkeiten der direkten Klassen-
führung, das Gewinnen an Rollenklarheit sowie die Positionierung im Kollegium als Mit-
glied der Gemeinschaft von Professionellen wahrgenommen (Keller-Schneider 2020a).
Berufszufriedenheit und Mobilität
Die Berufszufriedenheit von Berufseinsteigenden ist insgesamt hoch. Faktoren der sozialen
Einbindung am Schulort (Baker-Doyle 2012; Struyve et al. 2016), des Gelingens von Führung
und Rollenklarheit sowie ein selbststärkender und soziale Ressourcen nutzender Umgang
mit Berufsanforderungen sind von Bedeutung, bei hohem Engagement, hoher Distanzie-
rungsfähigkeit und einer aufgabenorientierten, offensiven Anforderungsbewältigung;
emotionsorientiertes Coping schwächt die Berufszufriedenheit (Keller-Schneider 2023a).
Über reflexionsorientierte Zugänge (Keller-Schneider 2018) eigene Fähigkeiten und Wirkun-
gen in den Blick zu nehmen, stärkt die Berufszufriedenheit.
Die Fluktuationsrate von Lehrpersonen liegt bei 10 % und ist damit mit anderen Berufen
vergleichbar (BFS 2022). Die Stelle kündigende berufseinsteigende und erfahrene Lehr-
personen unterscheiden sich weder im Kompetenz- noch im Beanspruchungserleben. Sie
602 Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
unterscheiden sich auch nicht von nicht-kündigenden Lehrpersonen. Kündigende Lehrper-
sonen wechseln mehrheitlich den Schulort oder unterbrechen die Berufsarbeit (Reise;
Familienpause) (Keller-Schneider 2019).
Angebote der Berufseinführung
Angebote der Berufseinführung werden von den Berufseinsteigenden sehr geschätzt. Das
lokale Mentorat wird insbesondere zu Beginn des Berufseinstiegs genutzt (Keller-Schneider
2023b) und bei einer guten Passung der Sichtweisen auf Schule und Unterricht auch sehr
geschätzt. In der thematischen Ausrichtung zeigt sich, dass in Supervisionen Anforderungen
der Klassenführung und der Rollengestaltung in einer vertieften Auseinandersetzung be-
arbeitet werden, im lokalen Mentorat vermehrt Fragen zum Unterricht, zur Unterrichts-
führung und zur Bewältigung von alltäglichen Aufgaben (Keller-Schneider 2009).
Rollenverständnis von Mentorinnen und Mentoren
Aus einer Befragung von Mentorinnen und Mentoren zu ihrem Rollenverständnis und zur
Art und Weise, wie sie die Aufgabe erleben und bewältigen, geht ein vielfältiges
Rollenverständnis hervor, das sich in fünf Typen bündeln lässt (Keller-Schneider 2023b).
Ansprechperson sein ist allen Typen gemeinsam. Typ I setzt dies sehr zurückhaltend um und
wartet auf Anfragen der Berufseinsteigenden; Typ II markiert in seiner Haltung präsent und
jederzeit ansprechbar zu sein sowie Rückhalt zu geben. Typ III zeichnet sich durch ein Geben
von Impulsen, Materialien und Zuwendung aus. Typ IV ist zudem bestrebt, die berufs-
einsteigende Lehrperson zu schützen und vor Unangenehmen zu bewahren. Typ V tendiert
dazu, sich für das Gelingen des Berufseinstiegs verantwortlich zu fühlen. In der Rollen-
gestaltung der Typen IV und V zeigt sich eine Tendenz, in gut gemeinter Absicht die
Autonomie der berufseinsteigenden Lehrperson zu begrenzen und sie damit in ihren
Entwicklungsmöglichkeiten zu beinträchtigen. In den Antworten der Berufseinsteigenden
zeigt sich, dass sie die Begleitung als Bereicherung erleben und schätzen, wenn ihre Auto-
nomie und Professionalität anerkannt wird und die Mentoratsperson die Zusammenarbeit
schätzt. Aus diesen Befunden geht zudem hervor, dass in die Aufgabe einer Mentorats-
person einsteigende Lehrpersonen gefordert sind, sich den Entwicklungsaufgaben von
Mentoratspersonen zu stellen, d.h. sich in die Rolle einer kollegial begleitenden Mento-
ratsperson einzufinden sowie sich in der Vermittlung von Impulsen und in der Gestaltung
der Beziehung in eine symmetrische Beziehung zwischen gleichgestellten, in unter-
schiedlichen Berufsphasen stehenden Lehrpersonen mit unterschiedlichen Bedürfnissen
einzulassen.
Chancen für Berufseinsteigende, Mentoratspersonen und Schulen
Angebote einer begleiteten Berufseinführung ermöglichen den fertig ausgebildeten und in
die eigenverantwortliche Berufsarbeit einsteigenden Lehrpersonen, sich in einem geschütz-
ten Rahmen mit den sich stellenden und herausfordernden Anforderungen über unter-
schiedliche Zugänge auseinanderzusetzen. Dabei erleben sie, dass auch andere Berufs-
einsteigende von Anforderungen herausgefordert werden. Dass die erste Berufstätigkeit
eine spezifische Phase in der Berufsbiografie von Lehrpersonen darstellt und als solche auch
vom Bildungssystem anerkannt ist, wird damit deutlich.
Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz 603
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
Für Mentoratspersonen und Schulleitungen besteht die Chance darin, die Berufseinsteigen-
den als aktuell Ausgebildete und damit als Innovationsträger:innen anzuerkennen und sich
für ihr aktuelles Wissen zu interessieren.
Risken zeigen sich dann, wenn die Berufseinsteigenden in ihrer Expertise und in der
Individualität des Erlebens ihrer Berufssituation nicht anerkannt werden. Ein für alle Berufs-
einsteigenden gleich gestaltetes Programm würde nicht nur an den Bedürfnissen der
Berufseinsteigenden und ihren Potentialen vorbeigehen, sondern sie in ihrem Selbstwert
und in ihrer Professionalität einschränken. Eine individuelle Passung von Begleitangeboten
ist somit erforderlich.
LITERATUR
Baker-Doyle, K. J. (2012): First-Year Teachers’ networks. The New Educator, 8(1), 65–85.
Ehinger, W. & Hennig, C. (1994): Praxis der Lehrersupervision. Weinheim: Beltz.
Herzog, S. & Munz, A. (2010). Entwicklungsprozesse von Lehrpersonen begleiten. Ein Rahmenkonzept bio-
grafischer Weiterbildung. In F. Müller, A. Eichenberger, M. Lüders & J. Mayr (Hrsg.). Lehrerinnen und
Lehrer lernen – Konzepte und Befunde zur Lehrerfortbildung (S. 73–87). Münster: Waxmann.
Herzog, S., Sandmeier, A. & Terhart, E. (2022). Berufliche Biografien und berufliche Mobilität. In T. Hascher,
W. Helsper & T.S. Idel (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 1251–1269). Wiesbaden: Springer VS.
Keller-Schneider, M. (2023a). Die Bedeutung wahrgenommener Berufsanforderungen und ihre Bearbeitung
für die Zufriedenheit im Beruf. Empirische Pädagogik, 37(2), i.V.
Keller-Schneider, M. (2023b). Rollengestaltung im Mentoring der Berufseinführung. In E. Windl, J.
Dammerer & C. Wiesner (Hrsg.). Mentoring im pädagogischen Kontext (i.E.). Innsbruck: Studien Verlag.
Keller-Schneider, M. (2020a): Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg von Lehrpersonen, 2. überarbeitete
und erweiterte Auflage. Münster: Waxmann.
Keller-Schneider, M. (2020b): Das Verständnis von Unterricht und Vermittlungsanforderungen von Lehrper-
sonen im Berufseinstieg. FQS, 21(1), Art. 23.
Keller-Schneider, M. (2019): Kündigungen von Lehrpersonen – eine Frage der Berufsphase oder der indivi-
duellen Ressourcen? Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften SZBW 41(3), 682–707.
Keller-Schneider, M. (2018): Impulse zum Berufseinstieg von Lehrpersonen. Grundlagen – Erfahrungsbe-
richte – Reflexionsinstrumente. Bern: hep
Keller-Schneider, M. (2009): Sich neue Wege erschließen! Supervision im Berufseinstieg von Lehrpersonen.
Journal für Lehrerinnen und Lehrerbildung, 9(3), 40–46.
Keller-Schneider, M. & Hericks, U. (2022): Berufseinstieg. In T. Hascher, W. Helsper & T.S. Idel (Hrsg.), Hand-
buch Schulforschung (S. 1231–1250). Wiesbaden: Springer VS.
Lippmann, D.E. (2013). Intervision. Kollegiales Coaching professionell gestalten. Wiesbaden: Springer.
Müller, F. (1975). Lehrerbildung von morgen (LEMO). Grundlagen, Strukturen, Inhalte. Hitzkirch: Comenius.
Nasser-Abu, F. & Fresko, B. (2010): Socialization of new teacher. Does induction matter? Teaching and
Teacher Education, 26, 1592–1597.
Thomas, L., Tuytens, M., Devos, G., Kelchtermans, G., & Vanderlinde, R. (2019): Beginning teachers’ pro-
fessional support. Teaching and Teacher Education, 83(1), 134–147.
Schneuwly, G. (1996). Berufseinführung von Lehrerinnen und Lehrern. EDK Dossier 40 A. Bern: EDK.
Struyve C., Daly A. & Vandecandelaere M (2016): More than a mentor: The role of social connectedness in
early career. Journal of Professional Capital and Community 1(3), 198–218.
Vögeli-Mantovani, U. (2011). Induction programmes for teachers in compulsory education. In Picard, P. &
Ria, L. (Eds.), Beginning teachers: a challenge for educational systems, 169–190. Lyon: ENS.
Wittek, D. & Keller-Schneider, M. (i.V.). Als Lehrperson in den Beruf einsteigen. Herausforderungen anneh-
men, Lösungen finden. Stuttgart: Kohlhammer.
604 Keller-Schneider, Berufseinstieg in der Schweiz
Erziehung und Unterricht • September/Oktober 7–8|2023
ZUR AUTORIN
Prof.in Dr.in Manuela KELLER-SCHNEIDER ist Professorin für Professionsforschung und Lehrer:in-
nenbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Als ehemalige Lehrerin, als Psychologin und
Erziehungswissenschaftlerin ist sie in der Lehre, der Beratung und der Forschung tätig. Ihre
Forschungsschwerpunkte umfassen die Professionalisierung von angehenden, berufseinsteigenden
und erfahrenen Lehrpersonen sowie Kooperation, Team- und Schulentwicklung.