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Emotionale und soziale Geografien in der polnischen Literatur:
Räume der Reflexion und der Transformation
Emotionales und soziales Lernen durch literarische Bildung: Entwicklung und Erprobung von Materialien
für Schule, Universität, Weiterbildung und selbstverantwortliches Lernen in transformativen Projekten
No. 24: Wie eine Großfamilie an einem Sonntag einen Hahn schlachtet, zubereitet und verspeist:
Gemeinsames Essen, Familienstruktur und soziale Ordnung auf dem Lande, in der Mitte des 19. Jahrhunderts,
dargestellt in Wiesławs Myśliwskis Roman „Der helle Horizont” (Widnokrąg)
Universitätsprofessor Dr. habil. Joachim Bröcher, Europa-Universität Flensburg
Der Autor
Wiesław Myśliwski wurde 1932 in Dwikozy, bei Sandomierz, geboren. Er studierte Polonistik an
der katholischen Universität Lublin und arbeitete im Verlagswesen, als Redakteur und Herausgeber
von Fachzeitschriften. Neben Romanen verfasste Myśliwski auch Drehbücher. Er erhielt zahlreiche
Literaturpreise. Seine Bücher drehen sich um das Leben auf dem Lande und zeigen die Menschen
dort im Wandel der Zeit. Myśliwski lebt in Warschau.
Der Roman
Es sind die letzten Kriegstage. Die Front rückt näher. Für Piotr und seine Eltern heißt es Abschied
zu nehmen von der Geborgenheit der Großfamilie auf dem Lande. Die polnische Originalausgabe
dieses Romans erschien 1997 unter dem Titel „Widnokrąg“. Für dieses Poster wurde die 2022 im
Verlag Wydawnictwo Znak, Kraków, erschienene Ausgabe verwendet. Die deutsche Übersetzung
wurde unter dem Namen „Der helle Horizont“ bei btb (Random House, Goldmann), München, pu-
bliziert. Für die Übersetzung ins Deutsche sorgte Roswitha Matwin-Buschmann.
Kontext und Ziel
In Weiterentwicklung der
Lebensweltorientierten Didaktik
(Bröcher, 1997, 2022) und aufbauend
auf früheren deutsch-polnischen Projekten (Bröcher und Toczyski, 2021; Toczyski und Broecher,
2021; Toczyski, Broecher und Painter, 2022), soll exemplarisch die polnische Literatur in ihrer Be-
deutung für die pädagogische Arbeit mit emotionalen und sozialen Themen erschlossen werden,
stellvertretend für andere und weitere Sprachen und Literaturen, die im multikulturellen Deutsch-
land der Gegenwart und anderen Migrationsgesellschaften, etwa den USA, eine Rolle spielen.
Kennzeichen der Lebensweltorientierten Didaktik ist traditionsbedingt der subjektzentrierte päda-
gogische Zugang, durch die Fokussierung auf Lebensthemen und Daseinstechniken der jungen
Menschen, eben in ihren diversen
Lebensräumen
, nun ergänzt durch das Konzept der
emotionalen
und sozialen Geografien
sowie um Konzepte aus dem Bereich
Social and Emotional Development
through Literacy Education
. Im nächsten Schritt geht es um das Schaffen von Übergängen in sach–
und wissenschaftsorientierte Lernprozesse, etwa in den Bereichen Sprache, Literatur, Soziologie,
Philosophie, Psychologie, Geschichte oder Politik. Natürlich müssen literarische Texte altersgemäß
und je nach Zielgruppe und Situation ausgewählt und aufbereitet werden. Oftmals sind handlungs-
orientierte, fächerübergreifende oder kreativ-schöpferische Aneignungs– und Auseinandersetzungs-
formen denkbar und möglich. Die Poster dieser Serie sollen in der nächsten Zeit in Schulen, Uni-
versitäten, in der Weiterbildung und in
transformativen Projekten
, wo selbstverantwortlich gelernt
wird, jenseits von Institutionen (Broecher und Painter, 2023), erprobt werden. Ein einzelnes Poster
hat nicht den Anspruch, die inhaltliche Komplexität oder die formale Besonderheit eines Werkes in
seiner Gesamtheit zu erfassen. Ich greife stets Einzelthemen heraus, die mir bedeutsam erscheinen.
Kooperationspartner_innen beim Projekt: Janet F. Painter, Lenoir-Rhyne University, Hickory, NC,
USA; Karolina Walkowska, Berlin und Piotr Toczyski, Maria Grzegorzewska Universität, War-
schau. Laufzeit des Projekts: 1.1.2020 - 31.12.2030.
Warum die polnische Literatur?
Erstens
war die von 1569 bis 1795 bestehende polnisch-litauische Adelsrepublik, die
Rzeczpospoli-
ta
, ein pulsierender Vielvölkerstaat von enormen Ausmaßen, wodurch sich Erkenntnisse für das
heutige multikulturelle Deutschland ergeben könnten.
Zweitens
verschwand Polen durch die Erobe-
rungspolitik Preußens, Österreich-Ungarns und Russlands im Zuge von drei Teilungen (1772, 1793,
1795) für 123 Jahre (bis 1918) vollständig von der Landkarte und überlebte als Nation vor allem
auch durch seine Literatur.
Drittens
: Die Deutschen haben 1939 beim Überfall auf Polen und wäh-
rend der nachfolgenden Besatzungszeit (bis 1941 Besetzung des westlichen Teils Polens und nach
der Kriegserklärung gegen Russland auch des östlichen Teils) versucht, die polnische Intelligenz
vollständig zu vernichten. Professor_innen wurden verhaftet und interniert, Lehrer_innen erschos-
sen und in polnischen Schulen wurde eine radikale Germanisierungspolitik betrieben.
Viertens
:
1945 verschob die Sowjetunion, die bis 1941 den östlichen Teil von Polen besetzt hielt, den kom-
pletten polnischen Staat nach Westen, was Vertreibungen und Umsiedlungen mit sich brachte. Auch
in der nun folgenden, bis 1989 andauernden, kommunistisch-stalinistischen Zeit war es für die pol-
nische Intelligenz kaum möglich, sich frei zu entfalten. Die Literatur lebte daher teils im Unter-
grund, teils im Exil fort.
Fünftens
: Das heutige Polen erscheint zerrissen zwischen europäischer Of-
fenheit und nationaler Abschottung, ein Prozess der nun, nach Jahrzehnten nahezu grenzenloser Of-
fenheit, auch in Deutschland beginnt. Die polnische Literatur hat durch die genannten besonderen
historischen Hintergründe immer schon einen sehr stark politischen und gesellschaftlichen Charak-
ter gehabt, viel stärker als es in Deutschland der Fall war und ist. Natürlich geht es bei alldem auch
um Emotionen und die Lebensthemen der Menschen, um die Räume, in denen sie leben, um die
emotionalen und sozialen Geografien eben, denn diese sind intensiv mit den historischen, politi-
schen und gesellschaftlichen Ereignissen verflochten. Wir haben also etliche Gründe die polnische
Literatur zu lesen und aus den Werken polnischer Autor_innen zu lernen, um emotionales und so-
ziales Lernen voranzubringen und unser Verständnis alles Humanen und Gesellschaftlichen zu ver-
tiefen und zu erweitern.
Theoretischer Rahmen
Bilczewski, T., Bill, S., and Popiel, M. (Eds.) (2022).
The Routledge world companion to Polish lite-
rature.
Milton Park, Abingdon, Oxon: Routledge.
Bröcher, J. (2022).
Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit sogenannten „verhaltensauffälligen“ Ju-
gendlichen auf der Basis ihrer (alltags-)ästhetischen Produktionen
(2. korr. und ergänzte Aufl.). Hei-
delberg: Universitätsverlag Winter, Download.
Broecher, J. and Painter, J. F. (2023). Transformative community projects in East Germany's rural
spaces: Exploring more sustainable forms of learning, working, and living.
Frontiers in Sociology,
Vol. 8,
1164293, https://doi.org/10.3389/fsoc.2023.1164293, Download.
Bröcher, J. und Toczyski, P. (2021). Europäische Lernräume: Pädagogischer Austausch zwischen Po-
len und Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges. In J. Bröcher,
Anders lernen, arbeiten und leben.
Für eine Transformation von Pädagogik und Gesellschaft
(S. 223-238). Bielefeld: transcript, Down-
load.
Davidson, J., Bondi, L., and Smith, M. (2017).
Emotional geographies
(first release: Ashgate Publ.,
2005). London, New York: Routledge.
Skórczewski, D. and Polakowska, A. (2020).
Polish literature and national identity. A postcolonial
perspective.
Rochester, NY: University of Rochester Press.
Toczyski, P. i Broecher, J. (2021). Niemiecko-polskie doświadczenie, spotkanie, kontakt i dialog w
europeizacyjnej pedagogice Andrzeja Jaczewskiego i Karla-Josefa Klugego.
Kwartalnik Pedago-
giczny
, 66(1), 124-152, Download.
Toczyski, P., Broecher, J., and Painter, J. F. (2022). Pioneers of German-Polish inclusive exchange:
Jaczewski’s and Kluge’s Europeanization in education despite the Iron Curtain.
Prospects: Compara-
tive Journal of Curriculum, Learning, and Assessment,
52(3-4), 567-583, Download.
Trojanowska, T., Niżyńska, J., Czapłiński, P., and Polakowska, A. (Eds.) (2019).
Being Poland: A
new history of Polish literature and culture since 1918.
Toronto: University of Toronto Press.
Tussey, J. and Haas, L. (Eds.) (2021).
Handbook of research on supporting social and emotional de-
velopment through literacy education.
Hershey, PA: IGI Global u.a.m.
Gemeinsames Essen, Familienstruktur und soziale Ordnung auf dem Lande, in
der Mitte des 19. Jahrhunderts, in Myśliwskis Roman „Der helle Horizont”
Wenn aber Sonntag ist, dann gibt es zu Mittag einen Hahn. Den stolzen, karmesinroten, mit dem
Purpurkamm. Eben ist er über den Hof spaziert, ich seh ihn noch, wie er sich aus der Hühnerschar
die gesprenkelte Glucke aussucht, zu ihr flattert, die anderen Hennen beiseitefegend, und sie, die
Gefügige – hopp! – zu Boden drückt, worauf er sich schüttelt und weiterstolziert. Das Blut tropft
noch aus seinem Hals und zeichnet eine Spur vom Hackklotz in die Stube (17).
A skoro niedziela, to na obiad jest kogut. Dumny, karmazynowy, z purpurowym grzebieniem. Chodził co
dopiero po obejściu, jeszcze widzę go, jak ze stada kur wybiera sobie tę kropiatą kokoszkę, podlatuje do
niej, roztrącając, na boki pozostałe kury, i hop! przygniata ją, potulną, do ziemi, po czym otzrepuje się i
dalej chodzi dumny. Jeszcze krew kapie z jego odrąbanej szyi, znacząc ślad od pniaka do izby (9).
Oh, ein großer Hahn…. Großvater beugt sich über den Zuber, und als hörte der Hahn, dass Groß-
vater ihn lobt, beginnt er sich erneut zu spreizen. Erst als ihm Tante Jadwinia kochendes Wasser
aus dem Teekessel übergießt, sackt er zusammen, erschlafft (17 f.).
O, wielki kogut… dziadek pochyla się nad cebrzykiem, a kogut jakby słysząc, że go dziadek chwali, znów
się pręży, trokuje. Dopiero gdy wujenka Jadwinia polewa go wrzątkiem z czajnika, kurczy się, flaczeje
(9).
Die Tante dreht den Hahn auf den Rücken, auf den Bauch, rupft ihn, dass die Federn knirschen
(18).
Wujenka obraca koguta na plecy, na brzuch, rwie, aż pióra chrzęszczą (10).
Der Duft der Brühe erfüllt schon die Stube, als der Großvater und Onkel Władek als letzte vom
Hochamt heimkommen (21).
Zapach rosołu napełnia już izbę, kiedy ostatni po sumie wracają dziadek z wujkiem Władkiem (12)
Leg vor, drängelt der Großvater, weil die Großmutter noch diesen Rosenkranz in den Händen hält.
Und nun übernimmt die Großmutter ihre Rolle, die ihr gewissermaßen seit Jahrhunderten auf den
Leib geschrieben ist. Mit einem tiefen Seufzer erhebt sich die Großmutter, geht zur Kredenz und
holt die Blechteller raus (23).
Szykuj, przynagla dziadek, bo jeszcze ten różaniec babka trzyma w rękach. I oto zaczyna się rola babki,
jakby jej od wieków przypisana. Z głębokim westchnieniem babka wstaje, idzie do kredensu i wydostaje
blaszane talerze (14).
Die Großmutter hat die Teller aufgestellt und macht sich ans Teilen des Hahns, mit Ernst und
Überlegung, die der Gerechtigkeit geziemen. Dem einen Schenkel, dem den zweiten, dem die hal-
be Brust, dem anderen die andere halbe, dort der Bürzel, hier ein Flügel, der zweite Flügel, der
Hals, es sind zu wenig Flügel, zu wenig Schenkel, so nimmt sie hier was weg, tut dort noch was
drauf, bettet um, zwackt ab, tauscht aus, fügt hinzu, halbiert, und sie meditiert, so groß ist der
Hahn ihr vorgekommen, so groß, wie er auf dem Hof herumstolziert ist, und nichts da zum Teilen
(24).
Rozłożywszy talerze, przystępuje babka do dzielenia koguta, z powagą i namysłem, jakie przystoją spra-
wiedliwości. Temu udo, temu drugie udo, temu poł piersi, temu drugie poł, tam kuper, tu skrzydełko, dru-
gie skrzdełko, szyja, za mało tych skrzydelek, za mało tych ud, więc tu coś ujmie, tam dołoży, przełoży,
uszczknie, zamieni, doda, przepołowi, medytując, że taki wielki wydawał się ten kogut, taki wielki, póki
chodził po obejściu, a nie ma czym dzielić (15).
Die Tanten verfolgen wie die Eulen, ob sie ihre Männer nicht benachteiligt, und tauschen wenig-
stens mit den Augen größere gegen kleinere Stücke, kleinere gegen größere aus, und vielleicht
geht der Großmutter deshalb das Teilen so langsam von der Hand. Zumal auch die Onkel nicht
gleichgültig sind, sondern angespannt den Teller des anderen abschätzen (24).
Wujenki jak sowy wpatrują się, czy ich mężowie nie skrzywdzeni, i choćby oczyma podmieniają sobie
większe na mniejsze kawałki, mniejsze na większe, i może to nawet dlatego tak wolno idzie babce to dzie-
lenie. Zwłaszcza że i wujkowie nie są obojętni, lecz w napięciu szacują wzajemnie swoje talerze (15).
Bloß der Großvater ist gelassen, er hat einen Schenkel sicher, nicht weil die Großmutter, sondern
weil eine gerechtere Gerechtigkeit es so will… Und so blickt er gleich wie aus der Höhe dieser
Gerechtigkeit auf die Teller herab und korrigiert von Zeit zu Zeit die Gerechtigkeit der Großmut-
ter. Leg dem Stefan noch was drauf. Warum bei Marta so knausrig? Jadwinia den Flügel, nich ihm.
Der hat schon den Hals, das langt (24).
Tylko dziadek spokojny, bo ma zapewnione udo, i nie z woli babki, lecz sprawiedliwszej sprawiedliwości,
kto wie, może Boga, który wraz z ziemią i to udo przypisał mu z każdego koguta na niedzielę. Toteż
spogląda na talerze jakby z wysokości tej sprawiedliwości i od czasu do czasu poprawia sprawiedliwość
babki. Stefanowi dołóż. Cóżeś Marcie tak skąpo dała? Jadwini dej skrzydełko, nie jemu. Ma już szyję,
starczy mu (15).
Eigentlich sind sie fertig mit essen, vom Hahn sind nur noch die Knochen übrig, doch irgendwie
wärs schade, vom Tisch aufzustehen, einen Hahn hats nicht alle Tage, nicht einmal jeden Sonntag.
Also nagen sie die Knochen ab, die restlichen Knorpel, Sehnen, zerbeißen, zermalmen sie,
zutschen sie aus. Onkel Stefan sagt, das Beste steckt in den Knochen… und wenn er zutscht, ists,
als ob er pfeift… Doch wenn er den Großvater ärgern will, zutscht er, dass mans durch die ganze
Stube hört (25 f.).
Niby skończyli jeść, zostały tylko kości po kogucie, lecz szkoda jakoś wstawać od talerzy, kogut nie co
dzień jest na obiad i nawet nie co niedziela. Więc obgryzają te kości z pozostawionych chrząstek, ścięgien,
gryzą, miażdżą, wysysają. Wujek Stefan mówi, że w kościach jest najlepsze... A kiedy ssie, to jakby pog-
wizdywał... Lecz kiedy chce dziadkowi dokuczyć, ssie na całą izbę (16 f.)
Impulse zur Reflexion
Welche soziale Ordnung spiegelt sich in diesen Szenen wider? Welche sozialen Rollen und welche
Geschlechterrollen geben sich hier zu erkennen? Was sagt das Ganze aus über familiäre Hierar-
chien, soziale Milieus und gesellschaftliche Verhältnisse?
Vergleichen Sie ein solches Sonntagsessen in einer Großfamilie auf dem Lande in der Mitte des
19. Jahrhunderts einmal mit den heutigen Lebensverhältnissen. Nehmen Sie als äußersten Gegen-
satz eine zeitgenössische Kleinfamilie, die sich Hähnchenschenkel aus der Tiefkühltruhe eines Su-
permarkts in der Mikrowelle zubereitet, dann teils in der Küche isst und teilweise beim Essen eine
Serie im TV anschaut… Was ist anders? Haben wir uns als Gesellschaft weiterentwickelt, nur weil
wir die alten Ordnungen überwunden haben? Haben wir auch etwas sehr Wertvolles verloren?
Mit welcher Art von Esskultur sind Sie selbst aufgewachsen und wie gestalten Sie die Zubereitung
von Speisen und das Essen heute? veröffentlicht am 28. Januar 2024