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Soziale Innovationen Implizite Annahmen und analytisches Potenzial Social Innovations Implicit Assumptions and Analytical Potential

Authors:

Abstract

The article explores the increasing prominence of the term ’social innova- tion’ in contemporary social sciences. It critically examines the debates surrounding social innovation, highlighting the implicit assumptions of the concept and situating it within the progress paradigm of modern soci- eties. Building on this, the concept of social innovations is translated into a heuristic that explicates the interpretive processes that accompany social innovations. With this turn, we aim to pave the way towards a social inno- vation research that does not equate novelty with optimization, but in- stead opens up the view to social evaluation mechanisms. This allows for a distant research attitude and considers the fact that ideas of the future are currently more fiercely contested than ever and that the different perspec- tives on social innovation carry conflict potentials that are sometimes overlooked in the discussion.
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Soziale Innovationen
Implizite Annahmen und analytisches Potenzial
Social Innovations
Implicit Assumptions and Analytical Potential
Franz Erhard, Nadine Jukschat
Keywords, dt.: Soziale Innovation, Mo-
dernisierung, Fortschritt, Konikt
Keywords, engl.: Social Innovation, Mo-
dernization, Progress, Conict
Franz Erhard is sociologist at University of Siegen. His elds of interest are structural
change and social decline, social conicts, poverty, qualitative research. E-Mail: franz.er-
hard@uni-siegen.de
Nadine Jukschat is a professor of applied sociology at Hochschule Zittau/Görlitz. She is
interested in qualitative-reconstructive research methods and does research on deviance and
social problems as well as on social change and social innovations. E-Mail: Nadine.juk-
schat@hszg.de
Abstract
The article explores the increasing prominence of the term ’social innova-
tion’ in contemporary social sciences. It critically examines the debates
surrounding social innovation, highlighting the implicit assumptions of
the concept and situating it within the progress paradigm of modern soci-
eties. Building on this, the concept of social innovations is translated into
a heuristic that explicates the interpretive processes that accompany social
innovations. With this turn, we aim to pave the way towards a social inno-
vation research that does not equate novelty with optimization, but in-
stead opens up the view to social evaluation mechanisms. This allows for a
distant research attitude and considers the fact that ideas of the future are
currently more ercely contested than ever and that the dierent perspec-
tives on social innovation carry conict potentials that are sometimes
overlooked in the discussion.
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Innovationen hervorzubringen und Wandel herbeizuführen scheint zur
Signatur unserer Gegenwartsgesellschaft zu avancieren (Rammert et al.
2016). So überschreibt die seit 2021 amtierende Bundesregierung ihren Ko-
alitionsvertrag mit „Mehr Fortschritt wagen“, diverse Klimabewegungen for-
dern „system change“ und insgesamt ist „progressiv“ zur Allerweltsvokabel
geworden. Vor dem Hintergrund vielzählig diagnostizierter Krisen und an-
gehäufter Herausforderungen bricht sich ein neuer Fortschrittswille Bahn.
Dies schlägt sich, wie Maasen (2020) aufzeigt, bis hinein in das Feld der
(Sozial-)Forschung nieder. Hier zeige sich eine „immer enger werdende
Kopplung von Forschung an Innovation“ (ebd., 125). Dabei wird Fortschritt-
lichkeit nicht allein im klassischen Sinne mit neuen Technologien und/oder
einer Ausweitung des gesellschaftlichen materiellen Wohlstands in Verbin-
dung gebracht. Vielmehr sollen auch Lebensweisen, Wertvorstellungen und
Alltagspraktiken verändert bzw. aktiv umgestaltet werden. Gebündelt ndet
sich diese Wendung im Begri der Sozialen Innovation. Bereits ab den
1980er Jahren vereinzelt diskutiert, fand er in den 2010er Jahren als Schlag-
wort eine deutliche Aufwertung und hat heute Hochkonjunktur. Gerade im
politischen Diskurs wird mit Sozialen Innovationen die Honung verbun-
den, „für die Herausforderungen unserer Gesellschaft tragfähige und nach-
haltige Lösungen zu nden“ (BMBF 2021, 2). Dieses unterstellte Potenzial
als Instrument zur Krisen- und Problembewältigung mündet mittlerweile in
eine Vielzahl von Förderaktivitäten in den verschiedenen Ressorts der Bun-
desregierung, für die mit dem „Ressortkonzept zu Sozialen Innovationen“
2021 eine Klammer geschaen wurde (ebd.). Seit 2022 gibt es mit der Grün-
derin und Unternehmerin Zarah Bruhn zudem eine Beauftragte für Soziale
Innovationen im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF
2022).
Diese Beobachtungen nehmen wir zum Anlass, um uns eingehender mit
dem Konzept Soziale Innnovation zu befassen. Denn trotz oder gerade wegen
seiner gestiegenen Prominenz fällt eine Verwendung in den Gesellschafts-
wissenschaften bis heute schwer. Das ist nicht zuletzt deshalb problema-
tisch, da diese zunehmend in die Rolle gedrängt werden, konkrete Soziale
Innovationen anhand von Beispielprojekten zu erproben und tragfähige
Wege zu benennen, wie diese verstetigt und verbreitet werden können
(bspw. BMBF 2023). Fachhistorisch entstammt der Begri einem turn in-
nerhalb der Innovationsforschung, nach dem Zukunftsentwürfe, die sich bis
dato allein in technischen und wirtschaftlichen Innovationen erschöpften,
auch die sozialen Kontexte miteinbeziehen müssten, in denen diese Neue-
rungen implementiert beziehungsweise hervorgebracht werden sollen. Erst
so würde den lokalen Bedarfen und Potenzialen, aber auch sozialen Veranke-
rungen dieser Neuerungen adäquat Rechnung getragen. In der jüngeren Dis-
kussion wird darüber hinaus auch der Neukonguration sozialer Praktiken
selbst Innovationspotenzial zugeschrieben. Gleichwohl lassen sich deutliche
konzeptuelle Schwierigkeiten ausmachen. So bleibt umstritten, welche Ebe-
ne des Sozialen innoviert werden soll Werte, Normen, Praktiken? Außer-
dem klat eine Theorie-Praxis-Lücke zwischen den meist abstrakten
Beiträgen zu Sozialen Innovationen und der Konkretisierung im Anwen-
dungsfall. Sind Mitfahrbänke am Ortsausgang kleinerer Kommunen sozial
innovativ? Schließlich ist kaum zu sagen, was sich in Zukunft als sozial inno-
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vativ durchsetzen wird, womit das Problem der Steuerbarkeit sozialer Inno-
vationen angesprochen ist.
Vor allem aber wird die normative Konnotation des Innovationsbegris
zunehmend augenfällig. Zu sehr hängt von Perspektiven und den denierten
Problemen ab, was als sozial innovativ gilt, von wem die (projektierten) Neu-
erungen als Verbesserungen wahrgenommen werden und ob überhaupt ein
zukunftszugewandter Optimierungswille vorhanden ist. Unseres Erachtens
transportiert der Begri Soziale Innovation bisher kaum hinterfragte norma-
tive Vorannahmen, die nicht zuletzt in der Forschung immer wieder zu kon-
zeptuellen Schwierigkeiten führen.
Im Artikel gehen wir zunächst auf den bisherigen Debattenstand zum
Thema Soziale Innovation ein, greifen Kritiken auf und benennen Leerstel-
len. Im Anschluss ordnen wir die Debatten um Soziale Innovationen in das
Fortschrittsparadigma moderner Gesellschaften ein. Darauf aufbauend
wird das Konzept Sozialer Innovationen in eine Heuristik überführt, die die
Deutungsprozesse, die mit Sozialen Innovationen einhergehen, expliziert.
Das heißt, dass wir auf die Möglichkeit hinweisen, dass multiple Innovati-
onssemantiken vorliegen können, Neuerungen also nicht notwendigerweise
mit progressiven Zukunftserwartungen verbunden sein müssen. Im Gegen-
teil können in bestimmten Milieus sogar Aversionen gegenüber Neuerungs-
anforderungen bestehen. Im Zuge dessen zeigen wir auf, dass es von
Vorstellungen sozialer Erwünschtheit und Legitimierungsprozessen ab-
hängt, ob forcierte soziale Neuerungen als Soziale Innovationen oder aber als
abweichendes Verhalten (Devianz) gelabelt werden. Dabei spielen insbeson-
dere politische aber auch wissenschaftliche Akteure insofern eine Rolle als
sie über diskursive Deutungsmacht verfügen, mit der sie bestimmte Verste-
hensweisen Sozialer Innovation durchsetzen und andere marginalisieren
können.
Mit dieser Wendung wollen wir den Weg weisen hin zu einer sozialwis-
senschaftlichen Beschäftigung mit Sozialen Innovationen, die den politisier-
ten Diskursbegri nicht als wissenschaftliches Konzept übernimmt,
insbesondere Neuerung nicht mit Optimierung gleichsetzt und den Blick
stattdessen für soziale Bewertungsmechanismen önet. Vor dem Hinter-
grund, dass gesellschaftliche Zukunftsentwürfe aktuell umkämpfter sind
denn je, ermöglicht dieses Vorgehen eine distanzierte Forschungshaltung.
Dieser bedarf es, um den Koniktpotenzialen Rechnung zu tragen, die bis-
weilen in der Diskussion um Soziale Innovation untergehen.
Soziale Innovationen: Steuerungsoptimismus und Optimie-
rungsimperativ
Die Debatte um Soziale Innovationen wird seit den 1980er Jahren konti-
nuierlich geführt und gewann zuletzt durch einige neuere Publikationen an
Fahrt (Neugebauer et al. 2019; Blättel-Mink et al. 2021; Howaldt et al. 2022).
Dabei wurden insbesondere durch Abgrenzungen zu anderen Konzepten ge-
sellschaftlicher Veränderung, wie sozialem Wandel, deutliche begriiche
Dierenzierungen und Schärfungen erreicht. Mittlerweile lassen sich dar-
über hinaus auch vereinzelt kritische Perspektiven beobachten, die auf Un-
gereimtheiten und Problematiken des Konzeptes aufmerksam machen.
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Besonders die Gleichsetzung von Innovation mit Verbesserung wird hinter-
fragt (Haunstein 2022).
Für den deutschsprachigen Raum lieferte Zapf (1989) den ersten syste-
matischen soziologischen Beitrag zum Thema, auf den sich bis heute bezo-
gen wird.[1] Dem Autor zufolge handelt es sich bei Sozialen Innovationen
um
neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisati-
onsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die
Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser
lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nach-
geahmt und institutionalisiert zu werden (ebd., 177, Herv. i.
O.).
Damit gri er vor allem Elemente der Klassiker der Innovationforschung
wie Ogburn (Ogburn/Nimko 1940) oder Schumpeter (1939) sowie der im
angelsächsischen Raum bereits laufenden Debatte auf. Zusätzlich grenzte
Zapf Soziale Innovationen von den Begrien des sozialen Wandels, der poli-
tischen Reform sowie der Revolution ab. Soziale Innovationen seien als
„Teilmenge“ (Zapf 1989, 177) sozialen Wandels zu verstehen. Sie funktionier-
ten nicht allein als Top-down-Reformen, sondern ebenso als Bottom-up-
Veränderungen und würden auch keine so „radikale und rapide historische
Veränderung“ (ebd.) herbeiführen wie eine Revolution. Als Leistung Zapfs
bleibt festzuhalten, dass er Sozialen Innovationen einen eigenen Stellenwert
gegenüber technischen Innovationen einräumte, womit er ein argumentati-
ves Grundmuster schuf, das fortan das basso continuo der Beiträge zum
Thema darstellen sollte (Ornetzeder/Buchegger 1998; Gillwald 2000; Ho-
mann-Riem 2008; Kesselring/Leitner 2008; Kopf et al. 2015).
Zuletzt haben Howaldt et al. die Debatte intensiv geprägt (Howaldt/Ja-
cobsen 2010; Howaldt/Schwarz 2010, 2021; Howaldt et al. 2022) und sich
um ein sozialwissenschaftlich konturiertes Konzept Sozialer Innovation be-
müht. Auch in ihren Überlegungen spielt die Abgrenzung gegenüber dem in
der Soziologie prominenten Konzept sozialen Wandels eine wichtige Rolle.
Soziale Innovationen seien „(mögliche)Voraussetzungen bzw. Bestandteile
sozialen Wandels, aber nicht mit diesem identisch“ (Howaldt/Schwarz 2010,
63). Im Anschluss an verschiedene Arbeiten (Greenhalgh et al. 2004; Gerber
2006; Kesselring/Leitner 2008; Hochgerner 2009) markieren sie den
Hauptunterschied darin, dass sozialer Wandel nicht-intendierte gesell-
schaftliche Veränderungen beschreibe, Soziale Innovationen hingegen „das
Ergebnis intendierten und zielgerichteten Handelns zur Etablierung neuer
sozialer Praktiken in bestimmten Handlungsfeldern“ seien (Howaldt/
Schwarz 2010, 64). Dem Konzept Sozialer Innovation nach Howaldt et al. ist
folglich ein deutlicher Steuerungsoptimismus inhärent.
Während sozialer Wandel meist gesellschaftliche Veränderungsphäno-
mene auf der Makroebene adressiert, prominent etwa in Form modernisie-
rungstheoretischer und strukturfunktionalistischer Perspektiven in der
Soziologie (Zapf 1994), und nur selten mikrosoziologisch gewendet wird
(Löw 2022), scheint das Konzept sozialer Innovation demgegenüber beinahe
alltagsweltlich, wenn es beispielsweise im Strategiepapier der Bundesregie-
rung (2021, 2) heißt:
[1] Erste soziologische Verwendung, so
konstatieren Braunisch und Knoblauch
(2021, 337), fand der Begri Sozialer In-
novation bereits bei Auguste Comte
(1830), der damit die Einführung einer
breiten Volksbildung durch die katholi-
sche Kirche beschrieb. Erst mit der in-
dustriellen Revolution zu Beginn des 20.
Jahrhunderts erfuhr der Begri eine
Verengung auf technologische und wis-
senschaftliche Innovationen (ebd.).
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Beispiele Sozialer Innovationen der Vergangenheit reichen
von Mikrokrediten bis hin zu Mehrgenerationenhäusern. Ak-
tuellere Beispiele zeigen sich etwa als Formen der Sharing
Economy wie Carsharing, Kleidertauschbörsen oder soziale
Initiativen wie mundraub.org (digitale Karte für Streuobst-
wiesen), soziale Dienstleistungen oder Versorgungskonzepte
in der Landwirtschaft, der Open-Source-Bewegung oder Pa-
tenschaften für Seniorinnen und Senioren.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Soziale Innovationen als Verän-
derungen begrien werden, die durch intendiertes und zielgerichtetes Han-
deln konkreter Akteure eine Verbesserung der lebensweltlichen Nahwelt
bewirken. Ein utopistischer Unterton ist dabei nicht selten. Wie wir zeigen
möchten, liegt diesem Verständnis an verschiedenen Stellen eine Verqui-
ckung analytischer und normativer Sichtweisen zugrunde, die es auseinan-
derzudividieren gilt.
Zunächst ist da der bereits von Howaldt und Schwarz kritisch diskutierte
Punkt der „Wertbezogenheit Sozialer Innovation“ (Howaldt/Schwarz 2010,
59 .). Typischerweise würde im Terminus Soziale Innovation das Attribut
„sozial“ normativ konzeptualisiert im Sinne einer Orientierung auf ein Ge-
meinwohl hin. Diese Gemeinwohlorientierung als zentrales Denitions-
merkmal stark zu machen, sei jedoch wenig zielführend, weil auch
technische und wirtschaftliche Neuerungen „sozial“ sein können. Vor diesem
Hintergrund bemühen sich Howaldt und Schwarz im Rückgri auf praxis-
theoretische Perspektiven um ein „nicht normativ angelegte[s] Konzept“, das
Soziale Innovation „deniert als eine intentionale Neukonguration sozialer
Praktiken, die sich insbesondere an den Schnittstellen unterschiedlicher Ra-
tionalitäten vollzieht“ (ebd., 10). Wesentlicher Bestandteil ihrer Konzeptua-
lisierung bleibt aber die Zielstellung der veränderten sozialen Praxis:
„Probleme oder Bedürfnisse besser zu lösen bzw. zu befriedigen, als dies auf
der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist“ (Howaldt/Schwarz 2010,
54). Dabei, so stellen Howaldt und Schwarz heraus, könne die Bewertung So-
zialer Innovationen je nach Standpunkt und sozialem Kontext durchaus un-
terschiedlich ausfallen. Gleichwohl bleibt, dass Soziale Innovationen mit
Verbesserungen assoziiert werden. Wenn in einer Neuerung keine Verbesse-
rung erkannt werden kann, liegt im Umkehrschluss also auch keine Soziale
Innovation vor.
Hier schließt Haunstein (2022) kritisch an und zeigt, dass die in der Inno-
vationsforschung übliche Gleichsetzung von „Neuerung“ und „Besserung“
nicht (immer) zulässig ist. Zunächst: „Die normative Setzung besser impli-
ziert ein besser für alle. Dass soziale Innovationen auch Verschlechterungen
mit sich bringen oder zulasten Dritter gehen können, ndet in der Konzepti-
on wenn überhaupt nur beiläug Beachtung“ (ebd., 36, Herv. i. O.). Das
ist auf die prinzipielle Zukunftsoenheit Sozialer Innovationen zurückzufüh-
ren. Neuerungen gehen eben oft mit persönlichen Wagnissen einher und
stellen einen Prozess dar, der gerade zu Beginn sehr ergebnisoen ist und
von dem außerdem nicht klar ist, welche nichtintendierten Nebenfolgen er
mit sich bringt (ebd., 37). Außerdem können „Verbesserungen“ nach sehr
unterschiedlichen Maßstäben bestimmt werden. Das meint zunächst die an
Howaldt und Kollegen anschließende Einsicht, dass in unterschiedlichen
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Kontexten, Milieus, Gruppen etc. verschiedene Bewertungsmaßstäbe für
„Verbesserungen“ kursieren. Haunstein erweitert gleichwohl das Argument
dahingehend,
dass die Hinwendung zu einer neuen sozialen Praxis bzw. Or-
ganisationsform auch darin begründet liegen kann, dass die
Handelnden bestehende Verhältnisse oder Zustände wahren
oder auf ein bekanntes Niveau zurückführen wollen, da sich
diese im Vergleich zur Vergangenheit verschlechtert haben,
gegenwärtig verschlechtern oder sich eine zukünftige Ver-
schlechterung abzeichnet (ebd., 37).
Soziale Neuerungen können also auch aus einer bewahrenden, aufholen-
den oder wiederherstellenden Haltung heraus hervorgebracht oder adaptiert
werden. Die progressive Semantik, die dem Terminus anhaftet, wird auf die-
se Weise konterkariert. Dazu kommt schließlich, dass die utopistische Aua-
dung bestimmter Neuerungen als Soziale Innovation oftmals von außen
passiert teils durch politische Akteure oder eben durch die Innovationsfor-
schung selbst. Diesbezüglich weist Haunstein (2022, 185) darauf hin, dass
die tragenden Personen bei der Gründung bzw. Wiederbelebung von Dorä-
den oftmals „nicht als Raumpioniere in die Orte“ (ebd., 185) ziehen. Das
heißt, sie haben in ihrem Handeln weder gesamtwirtschaftliche Zusammen-
hänge vor Augen, noch sind sie eingebunden in gesellschaftspolitische För-
derprogramme. Stattdessen agieren sie pragmatisch und bezogen auf lokal
auftretende Bedarfslagen und Nöte.
Daran zeigt sich, dass Soziale Innovationen sowie die Ziele und Konnota-
tionen, die damit assoziiert werden, nicht selbsterklärend sind. Vielmehr
hängen sie von Bewertungsmaßstäben und Haltungen gegenüber Wandel
und Veränderung ab. Dass diese Unterschiede in den Einstellungen gegen-
über der Zukunft sowie Fragen nach deren Zustandekommen in der Diskus-
sion kaum eine Rolle spielen, liegt unseres Erachtens an tiefer liegenden
Vorannahmen, die einer Reektion bedürfen. So werden in der bisherigen
Forschung Verbesserungsdrang und Innovationsoenheit meist als gesell-
schaftlich gegeben vorausgesetzt. Wie wir argumentieren möchten, ist darin
allerdings eine perspektivische Engführung zu sehen, die sich aus der Ein-
bettung der Innovationsforschung im Allgemeinen und Arbeiten zu Sozialen
Innovationen im Speziellen in das Fortschrittparadigma der Moderne er-
klärt. Dadurch kommt es zum bereits angemerkten Kurzschluss von Innova-
tion und Optimierung, der nicht zuletzt den Blick auf Auseinandersetzungen
um disparate Perspektiven auf Zukunft und ihre Gestaltbarkeit einge-
schränkt.
Soziale Innovation und das Fortschrittsparadigma der Mo-
derne
Gegenwärtig vorgebrachte Innovationsabsichten und die positiven Be-
wertungen, die ihnen zugrunde liegen, sind soziologisch nicht adäquat zu be-
greifen, ohne deren Einbettung in den grundlegenden Fortschrittsimperativ
moderner westlicher Gesellschaften mitzudenken. In diesem Sinne las-
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sen sich der Gestaltungsoptimismus sowie die Gleichsetzung von Neuerung
und Verbesserung gesellschaftstheoretisch an die Entwicklungsgeschichte
moderner Gesellschaften zurückbinden. So wird zum einen deutlich, dass In-
novationen einerseits Strukturmerkmal der Neuzeit sind. Zum anderen wird
erkennbar, dass sie auf in der Gesellschaft hervorgebrachten Zukunftsvor-
stellungen beruhen, die mit (teils utopischen) Verbesserungs- und Erlö-
sungsidealen verknüpft sind.
Um diesen Zusammenhang verdeutlichen zu können, lohnt es, sich zeit-
soziologische und -historische Grundeinsichten vor Augen zu führen. So
zeichnet sich Modernität (im ‚westlichen‘ Sinn) dadurch aus, dass es zu einer
Veränderung der bestimmenden Zeitstrukturen kam (Koselleck 1979; Rosa
2005). Als Abgrenzungsfolie für diesen Punkt dient die Vormoderne, die im
Wesentlichen von Zeitzyklen bestimmt war, das heißt, Wiederholungen und
eine fatalistische Gewissheit über den Lauf und das Ende der Dinge prägten
das Erleben der Menschen. Mit dem Übergang zur Neuzeit verschwand die-
ses Zeiterleben zwar nicht gänzlich, wurde aber doch nachhaltig von anhal-
tenden Veränderungserfahrungen überlagert. Daraus erwuchs die kollektive
Überzeugung, dass die Zukunft nicht mehr (allein) die Wiederkehr des Alt-
bekannten, beispielsweise in Form von Jahreszeit-, Lebens- aber auch Ernte-
zyklen, mit sich bringt. Vielmehr wurde sie zu einem Ort, der die Möglichkeit
und den Zwang der Neuerung und Gestaltung beheimatete.
Diese Ablösung zirkulärer durch lineare Zeitvorstellungen wurde paralle-
lisiert durch die Verweltlichung von Zukunftserwartungen. Da durch die Sä-
kularisierung der zukünftige Lauf und vor allem das Ende der Dinge nicht
mehr eschatologisch abgesichert gewesen waren, önete sich mit dem Über-
gang zur Neuzeit die Zukunft als innerweltlicher Gestaltungsraum. Vorstel-
lungen der Optimierbarkeit sowie der Wille zur Optimierung wurden zur
grundlegenden wie unhinterfragten Richtschnur für das Handeln der Akteu-
re. Ein Imperativ zur Vervollkommnung der gesellschaftlichen wie persön-
lich-biographischen Umstände verfestigte sich in den entstehenden
modernen Gesellschaften. Niederschlag fand diese Entwicklung im Begri
des „Fortschritts“ (Koselleck 1979, 362f.). Erst Ende des 18. Jahrhundert vor
dem Hintergrund einer sich zunehmend schnell wandelnden Welt geprägt,
wurde er zum semantischen Ankerpunkt, an dem sich Entscheidungshan-
deln und gesellschaftliche Debatten bis heute orientieren. „Die Zukunft wird
anders sein als die Vergangenheit, und zwar besser“ (ebd., 364) so lautet
die auf Zeit bezogene Letztüberzeugung moderner Gesellschaften, auch und
gerade, weil sie sehr unterschiedlich vereinnahmt werden kann.
Fortschritt kann folglich auf zweierlei Weise als Strukturmerkmal moder-
ner Gesellschaften gelten. Zum einen hat man es mit fortschreitenden, das
heißt strukturell in Unruhe versetzen Gesellschaften zu tun. Diese sind zum
anderen dauerhaft von Ideen und Semantiken der aktiven Gestaltbarkeit,
des Umstürzens und des Aufbrechens eingenommenen. Historisch manifes-
tierte sich diese Verschiebung zunächst besonders im Politischen, wo gerade
zu Beginn der Neuzeit beginnend mit der Französischen Revolution das
aus der Erfahrung der Veränderbarkeit gewonnene „utopische Überschuß-
potenzial“ die „politisch-soziale Erfahrungswelt“ (ebd., 367) veränderte. Ver-
schiedene Generationen, Klassen und Stände entwickelten nun ein
Bewusstsein für die eigene Lage und sahen sich in einer Übergangszeit hin zu
einer besseren Zukunft. Aber auch wirtschaftliches Handeln und Entschei-
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den wird bis heute in Fortschrittssemantiken gekleidet. Waren damit im In-
dustriekapitalismus der klassischen Moderne vor allem Automatisierung
und Akkordarbeit sowie die Steigerung von Produktivität und Konsummög-
lichkeiten gemeint, gelten heute die im Silicon Valley angesiedelten Digital-
und Tech-Unternehmen als schillernde Beispiele für ein „Leben und Denken
in Zukunftsmodus“ (Gumbrecht 2018). Sie haben Ideen und Praktiken des
Andersmachens, der ‚Disruption‘, geradezu kultiviert, etwa im Bereich der
Arbeitsorganisation und Unternehmenskultur, aber auch im Produktdesign.
Damit sind die Unternehmen so erfolgreich, dass die im Silicon Valley er-
dachten und realisierten sozio-technischen Visionen zur bestimmenden
Größe global zirkulierender Zukunftsdiskurse geworden sind (Haupt 2021).
Somit wird deutlich, dass auch das Wertschätzen und Hochhalten von So-
zialen Innovationen wesentlich in das Steuerbarkeits- und Optimierungs-
denken moderner Gesellschaften eingebettet ist. Der Optimismus, sozialen
Wandel punktuell und gezielt herbeiführen zu können, ist die Grundlage für
Innovationsdiskurse aller Art, auch die um Soziale Innovationen. Wie wir ar-
gumentieren möchten, muss sich eine Sozialwissenschaft, die einen umfas-
senden Blick auf aktuelle Phänomene der Erneuerung und die damit
einhergehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werfen will, aus
einer Übernahme dieses fortschrittsideologischen Denkens lösen. Insbeson-
dere die darin verankerte unterkomplexe, lineare Vorstellung von Sozialem
Wandel steht einer Analyse aktueller Erneuerungsprozesse im Weg. Degele
und Dries (2005) haben bereits herausgestellt, dass Modernisierung zwar
durch einen ausgeprägten Fortschrittsglauben charakterisiert ist, zugleich
aber praktisch einen überaus „ambivaloxen“ (ebd., 39) Prozess darstellt.
Fundamentale Kritiken am Konzept des Fortschritts und den damit eng ver-
bunden klassischen Modernisierungstheorien wurden zudem in postkoloni-
alen Theorien (zum Einstieg vgl. Lehmkuhl 2012), aber auch in Forschungen
zur Postwachstumsgesellschaft oder degrowth (zum Einstieg vgl. Schmelzer
2018) formuliert. Aus einer empirisch-kultursoziologischen Richtung möch-
ten wir dafür werben, etwa zugrunde liegende Deutungsmusterambiguitäten
und strukturelle Machtungleichheiten beim Entwurf und der Implementie-
rung von Sozialen Innovationen zu reektieren und selbst mit zum Gegen-
stand der Forschung zu machen, da diese wesentlichen Einuss darauf
haben, wie Innovationen verhandelt werden und zu welchen Reibungen sie
mitunter führen. Geschieht das nicht, läuft man in der Sozialforschung Ge-
fahr, wesentliche Prämissen des herrschenden Fortschrittsimperativs in die
Forschung einzutragen und sich ins Fahrwasser politischer Erwünschtheit
zu begeben. Neben dem forschungsethischen Einwand, dass hierdurch die
Neutralität gegenüber dem Gegenstand aufgegeben wird, ist auch die damit
einhergehende Perspektivverengung zu bedenken. Klammert man einerseits
doch so wie oben schon angeführt zurückhaltende, skeptische, pragmati-
sche Sichtweisen auf Soziale Innovationen systematisch aus und verkennt,
dass Veränderungen sozialer Praxen mitunter auch das Ergebnis viel subti-
ler, ambivalenter und dialektischer verlaufender Prozesse sind, als der Steu-
erungsoptimismus des Konzepts Sozialer Innovation suggeriert. Das
gewinnt nicht zuletzt vor dem Hintergrund an Brisanz, dass der klassisch
modernistische Fortschrittsgedanke an Überzeugungskraft verliert und Zu-
kunftspfade zunehmend umkämpft sind (Sabrow 2004; Horx/Friebe 2015).
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Wir plädieren im Folgenden dafür, sich in der Sozialforschung von Sozia-
len Innovationen als politischem Planungsbegri zu emanzipieren und ana-
lytisch darauf abzustellen, wie die Einschätzung von forcierter Veränderung
als Soziale Innovation zustande kommt und welche konkreten (auch negati-
ven) Erwartungen damit verbunden werden. Dafür ist besonders die konzep-
tuelle Dierenz von Erneuerung und Optimierung zu betonen. Außerdem
erscheint es uns erforderlich, sich dem Thema insgesamt mit Blick auf die
jeweils eingebunden Akteure und ihre subjektiven wie kollektiven Orientie-
rungsmuster und Bewertungsmaßstäbe zu nähern. Die Debatte soll damit
weggeführt werden von der Frage, was Soziale Innovationen sind und wie sie
im Sinne des Gemeinwohls erreicht werden können. Stattdessen interessiert
uns, wie Soziale Innovationen in ihrer Bewertung changieren und als soziale
Tatbestände auch gegenüber Widerständen etabliert werden.
Vom politischen Planungsbegri zur sinn- und soziogeneti-
schen Analyse Sozialer Innovation
In diesem Abschnitt schlagen wir eine wissenssoziologische Perspektive
vor, die das Konzept Soziale Innovation einerseits lebensweltlich verankert
und aus einem „sinn- und soziogenetischen“ (Bohnsack 2018) Blickwinkel
adressiert und andererseits dessen semantische Auadung durch Innovati-
onsdiskurse miteinbezieht. Wir verschieben damit den Fokus auf individuel-
le und kollektive Orientierungen und wie diese die Deutungen von und
Haltungen zu Sozialen Innovationen prägen (Sinngenese) sowie die diesen
Orientierungen zugrundeliegenden biograschen wie kollektiven Erfah-
rungshintergründe (Soziogenese). Dazu kommen diskursiv etablierte Inno-
vationsimperative und institutionalisierte Akteure, die diese durchsetzen.
Damit ndet analytische Berücksichtigung, dass unterschiedliche Grup-
pen in der Gesellschaft unterschiedliche „Zeitorientierungen“ (Braunisch/
Knoblauch 2021, 337) aufweisen: Während die einen idealtypisch gespro-
chen innovationsoen sind und Veränderungen aktiv einfordern, sind die
anderen geradezu veränderungsavers. Eine marxistische Lesart erklärt die
Unterschiede mit Klassenlagen und damit verbundenen Reform- oder Be-
wahrungsinteressen (ebd., 338). Man kann allerdings auch den Blick weiten
und den Zusammenhang von kollektiven wie biographischen Prägungen, Zu-
kunftsperspektiven und den daraus abgeleiteten Haltungen gegenüber Ver-
änderungen oder Veränderungsankündigungen im Alltag berücksichtigen.
Brose et al. (1993) konnten so zeigen, dass es abhängig von biographischen
Erfahrungen wesentliche Unterschiede darin gibt, wie Menschen ihren eige-
nen Lebensweg konzeptualisieren (u.a. als Werk, Kampf, Schicksal, Entfal-
tung, Fremdheit; ebd., 224.), was wiederum einen starken Einuss darauf
hat, wie sie den Dingen im Alltag begegnen. Diese Erkenntnisse aufgreifend
möchten wir dafür sensibilisieren, dass Fortschrittsideen, Transformations-
adressierungen und ganz konkrete Veränderungen vor Ort immer vor dem
Hintergrund individueller wie kollektiver Prägungen erlebt und bewertet
werden. Dabei ist die These, dass Erfahrungen von Handlungsmacht ent-
scheidend dafür sind, ob aktuellen und angekündigten Neuerungen in der
Lebenswelt mit Skepsis begegnet wird, oder ob sie mitgetragen und angesto-
ßen werden. Menschen etwa, die die Erfahrung gemacht haben, dass Verän-
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derungen fremdbestimmt geschehen und nicht Gutes bedeuten die Trans-
formationsprozesse der Nachwendejahre sind hierfür beispielgebend oder
mit einer staatlich verordneten, zu großen Teilen hohlen Fortschrittsideolo-
gie wie in der DDR konfrontiert waren (Sabrow 2004), verbinden mit Neue-
rung nicht gleich Optimierung. Im Gegenteil begegnen sie Veränderungen
und Veränderungsankündigungen mitunter sogar abwehrend. Das gilt ins-
besondere, wenn die unmittelbare Lebenswelt davon betroen ist oder sein
könnte. Ein sozialwissenschaftlich ergebnisoener Blick muss mithin immer
auch damit rechnen, dass Soziale Innovationen von bestimmten Personen
als Bürde wahrgenommen werden und sogar zu Widerständigkeiten führen
können.
Das führt zu der Frage, unter welchen Umständen Neuerungen überhaupt
als Innovationen begrien werden und welche legitimatorischen oder delegi-
timatorischen Kräfte dafür notwendig sind. Bereits Merton (2016
[1957/1968]) wies darauf hin, dass die Bewertung von Neuerungen in der
Handlungspraxis wesentlich davon abhängt, ob anerkannte Ziele verfolgt
werden. Ist das nicht der Fall, gilt eine Handlung als deviant. Braunisch und
Knoblauch (2021, 338) folgern daher mit Bezug auf Merton: „Innovation be-
steht in der Verfolgung kulturell anerkannter Ziele mit Mitteln, die nicht
institutionalisiert und damit abweichend sind.“ Politische wie wissenschaft-
liche Akteure müssen in diesem Kontext besonders als legitimatorische Grö-
ßen herangezogen werden. Sie verfügen über Deutungsmacht, das heißt, sie
geben legitime Ziele vor und setzen Neuerungen durch, mit denen diese ver-
meintlich besser erreicht werden. Außerdem greifen sie bestimmte Innovati-
onsdiskurse auf und verstärken diese, moderieren sie gegebenenfalls aber
auch ab. Mit dieser Perspektive wird deutlich, dass das Aufkommen, Herbei-
führen und Verbreiten Sozialer Innovationen stets eingebettet ist in verallge-
meinerte, latente Erwünschtheitserwartungen, Innovationsimperative und
Machtstrukturen.
Die Frage danach, wie sich Soziale Innovationen gesellschaftlich durch-
setzen, wird damit anders beantwortet als in der klassischen Innovationsfor-
schung. Hier wurden in Bezug auf soziotechnische Transformationen
komplexe, meist auf einer Meso- und/oder Makroebene angesiedelte Pro-
zess- und Phasenmodelle hervorgebracht,[2] Prozesse der Diusion betont
und insbesondere modelliert, wie Innovationen sich über graduelle „Aus-
handlungs-, Adaptions- und Imitationsprozesse“ (Schrape 2021, 33) durch-
setzen. Demgegenüber soll der Blick auf die Orientierungsmuster,
Erfahrungsbestände und diskursiven Einbettungen derjenigen gerichtet
werden, die Soziale Innovationen hervorbringen, zu ihnen aufgefordert wer-
den oder diese erfahren. Soziale Innovationen werden dabei weiterhin als
forcierte und/oder intendierte Erneuerungen in der erfahrbaren Alltagswelt
begrien, die das soziale Miteinander berühren. Zugleich weiten und vertie-
fen wir die Perspektive in die Richtung, dass sich die Bewertung der jeweili-
gen Neuerungen als Innovation sowie die Konnotation, die damit
mitschwingt, angesichts der konkreten Konstellationen vor Ort und überge-
lagerter Innovationsimperative entscheidet und nicht ohne die beteiligten
Akteure zu beantworten ist. Die Frage nach der Rezeption und individuellen
Ausgestaltung forcierter sozialer Wandlungsprozesse wird so befremdet und
zu einem empirisch-soziologischen Gegenstand. Das macht für die For-
schung multiple Herangehensweisen an Soziale Innovationen denkbar: Bei-
[2] Vgl. für einen Überblick Schrape
(2021, 30.) sowie Rogers (2003 [1962])
für die breit etablierte Unterscheidung
von Anwendergruppen (Innovatoren,
früher Anwender, frühe Mehrheit, späte
Mehrheit).
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spielsweise können Menschen eine oene Haltung zu Sozialen Innovationen
haben, neuen sozialen Praktiken, die ihre konkrete Lebenspraxis betreen,
jedoch widerständig begegnen, oder genau umgekehrt, gesellschaftlichen
Fortschrittsnarrationen skeptisch begegnen, im konkreten Lebensalltag un-
ter bestimmten Bedingungen Soziale Innovationen in ihre Lebenspraxis in-
tegrieren, ohne dies überhaupt in diesem Rahmen zu deuten. Entscheidend
für den konkreten Umgang mit Innovationen ist dabei unter anderem, ob
man selbst überhaupt einen Änderungsbedarf sieht, oder ob die (angestreb-
te) Erneuerung fremd erscheint. Dem Konzept der Sozialen Innovation wird
damit für die Forschung die einseitige erneuerungsane Konnotation ge-
nommen. Außerdem wird es in eine Heuristik eingebettet, die die lebens-
weltlichen Hintergründe bestimmter Rezeptionsweisen von (politisch
forcierten) Strukturwandel- und Transformationsprozessen verstehen hilft.
Zusätzlich erönet sie eine distanziert-kritische Perspektive auf Soziale In-
novationen und Innovationsimperative, weil sie nicht auf der Ebene norma-
tiver Verbesserungsbehauptungen verharrt, sondern die komplexen
Zusammenhänge und Wechselwirkungen forcierter sozialer Veränderungs-
prozesse und ihre Bedingungen wie (nicht intendierten) Folgen für die be-
troenen Akteure zugänglich macht.
Fazit
Wie wir aufgezeigt haben, steht das Konzept Sozialer Innovationen in der
Denktradition des modernen Fortschrittsparadigmas und enthält vielfältige
(implizite) Grundannahmen, die es zu hinterfragen gilt angefangen von
der Gleichsetzung von Innovation mit Verbesserung und Optimierung, über
den Steuerungsoptimismus, bis hin zum Ausblenden von Machtpositionen,
die einer sozialwissenschaftlichen Erforschung forcierter Veränderungspro-
zesse im Sozialen im Wege stehen. Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor,
Soziale Innovationen nicht als wissenschaftliches Konzept zu übernehmen,
sondern als gesellschaftlichen Diskursbegri zu betrachten und den Fokus
so auf die sinn- und soziogenetische Analyse der Deutungen von und Haltun-
gen gegenüber sozialen Innovationen sowie die aktuellen Innovationsdiskur-
se zu legen.
Der vorgeschlagene Rahmen ermöglicht, in der Forschung analytisch
oen zu bleiben für die komplexen Veränderungen sozialer Praktiken. Mit
unserem Beitrag möchte wir die Fachdebatte anregen, darüber zu reektie-
ren, inwieweit sich das Konzept Sozialer Innovationen in diesem Sinne
sozialwissenschaftlich weiterentwickeln lässt, oder über konzeptuelle Alter-
nativen nachzudenken. So legen es unsere Ausführungen nah, das bislang
vorwiegend makrosoziologisch und strukturfunktionalistisch gefüllte Kon-
zept Sozialen Wandels stärker mikrosoziologisch zu interpretieren und aus-
zudierenzieren. Möglicherweise muss aber auch gänzlich anders über
gesellschaftliche Erneuerungen in einer Zeit forcierter Veränderungsdiskur-
se nachgedacht und neue Konzepte entwickelt werden.
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... For this article, we elaborate on our conceptual framework and reflect on how the link between our empirical research results and the implementation of social innovation formats could be designed. It is structured as follows: building on theoretical considerations and critiques discussed elsewhere (Böschen, 2023;Erhard & Jukschat, 2023;Ghys, 2023;Godin & Vinck, 2017;Rammert, 2024), we argue that even though the idea of social innovations comes with promises for transformation processes, it carries implicit assumptions that need reflection before applicating it. This reflection shows a) that implementing social innovations should not be understood as a straightforward process that offers transparent and replicable results, b) that the notion of a common good is sometimes more contested than one might think, and c) that social power relations within a researched community but between the community and the research team as well must be considered before initiating social innovation processes. ...
Article
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This article focuses on understanding social innovations in Lusatia from a life-world perspective. Ethnographic case studies in two small towns explore people’s perspectives on transformation, particularly its impact. The analysis critically assesses the concept of social innovation, revealing implicit, often unreflected assumptions. Drawing on sociological perspectives, the article challenges notions of intentional change management and normative progress, instead emphasizing the complexity of social practices. It suggests that promoting social innovations requires nuanced understanding and context sensitivity for local communities, acknowledging diverse experiences shaping responses to change.
Chapter
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In science policy, current concepts like “Responsible Research and Innovation” or “Citizen Science” document a new understanding of the relationship between science and society: Beyond being innovative, science should also engender an entirely new responsive, participatory, and sustainable research culture. Simultaneously, civil society has been demanding a responsible science as well as citizen participation for some time. These expectations manifest in increasing evaluations, selective research funding and demands for relevance and usefulness, producing new research formats. By way of two instructive examples - the Human Brain Project and Citizen Science -, this contribution asks whether we are on our way to a new ‘contract’ between science and society, in which science has to be legitimated through innovations that are characterised by excellence and relevance. My conclusion is: Excellence and relevance cannot be readily reconciled, but they are related to each other through pragmatic compromises (managerialisation, public engagement).
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This article summarizes an extensive literature review addressing the question, How can we spread and sustain innovations in health service delivery and organization? It considers both content (defining and measuring the diffusion of innovation in organizations) and process (reviewing the literature in a systematic and reproducible way). This article discusses (1) a parsimonious and evidence-based model for considering the diffusion of innovations in health service organizations, (2) clear knowledge gaps where further research should be focused, and (3) a robust and transferable methodology for systematically reviewing health service policy and management. Both the model and the method should be tested more widely in a range of contexts.
Book
Das Thema »soziale Innovationen« hat in den letzten 20 Jahren in westlichen Gesellschaften zwar immer größere Aufmerksamkeit erfahren, ist dabei aber sowohl begrifflich und konzeptionell als auch inhaltlich äußerst unscharf geblieben. Angesichts der wachsenden Bedeutung sozialer Innovationen ist eine konzeptionelle Weiterentwicklung des theoretischen Ansatzes von großer Bedeutung. Dieser Band diskutiert die Frage, was eine Innovation zur sozialen Innovation macht. Die Autoren gehen theoretischen Konzepten, empirischen Forschungsfeldern und beobachtbaren Trends nach und arbeiten die zentralen Dimensionen eines sozialwissenschaftlichen Konzepts sozialer Innovation heraus.
Book
Der Autor entwickelt die These, dass die zunächst befreiende und befähigende Wirkung der modernen sozialen Beschleunigung, die mit den technischen Geschwindigkeitssteigerungen des Transports, der Kommunikation oder der Produktion zusammenhängt, in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Das Tempo des Lebens hat zugenommen und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot, so hört man allerorten klagen – obwohl wir auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können. Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Dafür, so die leitende These der Arbeit, ist es erforderlich, die Logik der Beschleunigung zu entschlüsseln.
Book
Innovation als dauerhafte kreative Anstrengung und systematische Durchsetzung des Neuen gilt als Kerninstitution moderner Wirtschaft. Gegenwärtig beobachten wir eine Ausweitung auf alle Felder, Arten und Phasen der Innovation: Innovationsprozesse – so die These – werden zunehmend reflexiv im Lichte von Informationen über Innovationen gesehen, breiter verteilt von mehr Akteuren und heterogenen Instanzen gestaltet und situativ orientiert an wechselnden und gemischten Leitreferenzen vollzogen. Reflexive Innovation in diesem Sinne wird zur treibenden Kraft der Innovationsgesellschaft. Die Beiträge wurden von Antragstellern, Gästen und Gutachtern des DFG-Graduiertenkollegs „Innovationsgesellschaft heute: Die reflexive Herstellung des Neuen“ verfasst.
Chapter
Robert King Merton (1910 – 2003) wurde unter dem Namen Meyer R. Schkolnick in Philadelphia als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in einfache Verhältnisse geboren. Die in jungen Jahren vorgenommene Namensänderung diente offenbar der Assimilation. Als einflussreichster Soziologe nach dem Zweiten Weltkrieg, der – ebenso wie Durkheim, dessen Anomie-Begriff er hier ausarbeitete – einen funktionalistischen Ansatz vertrat, hat er nie eine systematische Theorie entworfen. Seine theoretisch-empirischen Ideen bezeichnete er als Theorien mittlerer Reichweite (middle range theories), womit sich konkrete soziologische Phänomene zeitgebunden erklären lassen.
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Innovationen pragen moderne Gesellschaften. Im Zentrum auch der rechtswissenschaftlichen Diskussion stehen meist nur technologische Innovationen. Der Beitrag legt dar, dass fur gesellschaftlichen Wandel, auch unter Nutzung technologischer Innovationen, soziale Innovationen unverzichtbar sind, etwa neue und veranderte Wege und Strategien zur Bewaltigung von Problemen, neue Organisationsformen, veranderte Einstellungen oder Lebensentwurfe. Nach einem evolutionstheoretischen Blick auf Innovationen werden Fragen aufgeworfen, die eine rechtswissenschaftliche Forschung zu sozialen Innovationen bearbeiten sollte. Anschliesend werden eine Reihe von Beispielsfeldern bezeichnet, in denen soziale Innovationen durch Recht in ihrer Entstehung und Entwicklung beeinflusst werden, so im Bereich der Arbeitswelt, des Gesundheitswesens, der Teledienstleistungen und der open source- und open content-Entwicklung im Internet.
Zarah Bruhn zur Beauftragten für Soziale Innovationen ernannt
BMBF (2022) Zarah Bruhn zur Beauftragten für Soziale Innovationen ernannt. Bundesforschungsministerin will Soziale Innovationen stärken. Pressemitteilung 26/2022. Online verfügbar unter https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/ pressemitteilungen/de/2022/03/300322-Bruhn-Beauftragte.html.