Der Begriff Care Leaver:in adressiert und kollektiviert junge Menschen, die zumindest zeitweise und auf der Grundlage eines Hilfeplanverfahrens, außerhalb der Herkunftsfamilie in stationären Wohnformen (u.a. Wohngruppen, Wohngemeinschaften, betreutes Wohnen) oder in der Vollzeitpflege (u.a. Fremdpflege, Pflegefamilien, Verwandtschaftspflege, Netzwerkpflege) aufgewachsen sind und von dort den Weg ins Erwachsenenleben beginnen. Für die Gruppe der in der Regel soziokulturell, bildungsbezogen und politökonomisch benachteiligten Heranwachsenden hat sich nicht nur im Fachdiskurs, sondern ebenso vonseiten der Selbstvertretungsvereine die Bezeichnung Care Leaver:in durchgesetzt (u.a. Careleaver e.V. Deutschland, Care Leaver Verein Österreich, International Care Leavers network). Neben der Erfahrung im Kinder- und Jugendhilfekontext hat in den letzten Jahrzehnten insbesondere der strukturelle und lebensweltliche Übergang von der Jugendhilfe ins eigenverantwortliche Erwachsenenleben an sozialpädagogischer Aufmerksamkeit, sozialwissenschaftlicher Forschungstätigkeit und vermehrter Projektaktivität gewonnen, um die überwiegend riskanten und deprivierenden Übergangsbedingungen in einen sozial- und bildungswissenschaftlichen sowie jugendpolitischen Diskurs zu bringen. Im deutschsprachigen Raum gibt es wenig empirisches Grundlagenwissen darüber, wie sich Lebenslagen, Lebensverläufe und Lebenskonzepte Heranwachsender mit Erfahrung im Kinder- und Jugendhilfekontext während der heterogenen Leaving Care Prozesse gestalten. Vornehmlich die (Aus-) Bildungs- und Berufswege, die soziokulturellen Lebenslagen sowie die soziostrukturellen und personalen Teilhabemöglichkeiten und -barrieren sind nur partiell erforscht und unzureichend beachtet.
Inwieweit Kinder- und Jugendhilfekontexte das Wohlbefinden und den Bildungs- und Berufserfolg während der Leaving Care Prozesse und im Zuge des sich entwickelnden Erwachsenenalters beeinflussen, wurde daher mithilfe eines offenen, qualitativen und rekonstruktiven Ansatzes empirisch und explorativ untersucht Im Fokus stehen die Teilhabedimensionen Bildung und Gesundheit, da sich die Wechselwirkung dieser Dimensionen im partizipativen Forschungsprozess als primäre und sekundäre Zweckmäßigkeit zur kohärenten Lebensgestaltung im jungen Erwachsenenalter dokumentiert haben. Auf Grundlage der partizipativen Forschungspraxis wurde der Frage nachgegangen, weshalb die jungen Menschen die Erfahrungen in den Kinder- und Jugendhilfekontexten als Belastung in ihrer gegenwärtigen Lebenslage wahrnehmen. Damit wird die Kinder- und Jugendhilfeerfahrung im gesellschaftlichen Kontext verortet und es erfolgt eine soziogenetische Annäherung an das diskursiv hergestellte kollektive Heimtrauma.
Mit dem Begriff des kollektiven Heimtrauma können im Kinder- und Jugendhilfekontext sequentielle Traumaprozesse in den Blick genommen und erforscht werden, die als öko-bio-psycho-soziale Antwort auf selbstbezogene, interpersonale und kollektive Gewalt- und Entfremdungserfahrungen Schmerz herstellen und Heranwachsende nachhaltig verwunden. Die Traumafolgen sind dann wiederum die Lösung zum Überleben und bilden Strukturen und Verhaltensstrategien aus, die nicht nur konstruktiv und lösungsorientiert sind. Insgesamt hat der partizipative Forschungsprozess mit der Fokus- und/oder Referenzgruppe zur kollektiven Katharsis beigetragen, kann allerdings nicht den Anspruch erheben, die beschädigten Beziehungen und Familienkonstellationen, die biografischen Kränkungen und krisenhaften Übergänge, die körperlichen Symptomatik, die gesellschaftlichen Verletzungen sowie die existenziellen Verunsicherungen und Verletzungen der axiologischen Dimension zu schützen, befreien, ermächtigen, heilen oder ganz zu machen. Wenn das kollektive Heimtrauma das Problem ist, dann sind partizipative Forschungsprozesse zwar nicht die Lösung, aber eine Möglichkeit um Räume zu öffnen, in denen Anbindung und Realisation angeregt werden kann. Im Sinne einer demokratischen und menschenrechtsorientierten Staatsordnung und Verwaltung sind die Stimmen der jungen Erwachsenen zudem unerlässlich, wenn es um die Erarbeitung von Gerechtigkeit geht.
Keywords: Rekonstruktive Sozial- und Bildungsforschung, Partizipative Forschung, Netzwerkforschung, Leaving Care, Traumaprozesse und -folgen, Wohlbefinden