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ZEITSCHRIFT FÜR DISABILITY STUDIES
ZDS JOURNAL OF DISABILITY STUDIES
November 2023 | innsbruck university press, Innsbruck
ZDS | ISSN 2791-4313 | www.zds-online.org
Nr. 2/2023| DOI 10.15203/ZDS_2023_2.01
Lizenz: CC BY 4.0 (Namensnennung)
Theresia Degener, Lisa Pfahl, David Brehme, Mai-Anh Boger, Julia Biermann, Swantje Köbsell und Rebecca
Maskos
Verantwortlich für die Ausgabe: Theresia Degener, David Brehme & Lisa Pfahl
Von der Behindertenbewegung zu den Disability Studies
Festschrift für Swantje Köbsell
1. Zu dieser Ausgabe
Der rechtebasierte Kampf gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen kennzeichnet die inter-
nationale Behindertenbewegung. Das konsequente Aufdecken und Anprangern von Diskriminierungen und
das Einlösen von Gleichstellungsrechten gehören zu den zentralen politischen Forderungen in allen Themen-
bereichen der Behindertenbewegung. In ihrer Ablehnung von Sonderwelten hat sie maßgeblich zum Kampf
gegen die Segregation behinderter Menschen in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen beigetragen.
Diese fünfte Ausgabe der Zeitschrift für Disability Studies wendet sich zentralen Entwicklungen und Themen
zu, die in der (west-)deutschen Behindertenbewegung seit den 1960er Jahren angestoßen wurden. Als eine
der zentralen sozialen Bewegungen der letzten 50 Jahre hat die Behindertenbewegung maßgeblich zur De-
Institutionalisierung, zur Entstehung von Antidiskriminierungsgesetzgebung und zur Sichtbarkeit von behin-
derten Menschen in gesellschaftlichen Debatten beigetragen.
Angefangen bei Treffen zur Selbsthilfe und zur Bildungsarbeit politischer Subjekte, die voneinander und mit-
einander lernen, hat die Behindertenbewegung seit den 1980er Jahren zunehmend an öffentlicher Aufmerk-
samkeit und politischem Einfluss gewonnen. Insbesondere durch die Erfolge bei der Gleichstellung von Men-
schen mit Behinderungen in den USA, Großbritannien und Italien beeinflusst, wurden in Deutschland Fragen
um die sozialen Ursachen von Behinderung als gesellschaftlich und wissenschaftlich relevant und bearbeitbar
erkannt. Damit einher ging eine sukzessive politische und soziale Abkehr von Fürsorgepolitiken hin zu Selbst-
bestimmung. Die Akademisierung der deutschsprachigen Disability Studies entstand in den letzten Jahrzehn-
ten durch die wissenschaftliche Beschäftigung und Begründung der durch die Behindertenbewegung aufge-
brachten Fragen und Kritiken sowie durch internationale Vernetzung. Ausgehend von der Lebenssituation
behinderter Menschen hat die Bewegung ein soziales Verständnis von Behinderung im öffentlichen Bewusst-
sein etabliert, das auch die Disability Studies auszeichnet. Die Beteiligung behinderter Wissenschaftler*innen
führte zunächst in den Bildungs-, Sozial- und Rechtswissenschaften dazu, dass eigenständige Analysen zu
Biopolitik und Eugenik, (De-)Institutionalisierung, Stigmatisierung und Segregation sowie zu den Kulturen
und Praktiken von Politik, Gesundheitswesen, Architektur und Kunst erbracht wurden. Konkret hat sich die
in der Akademisierung befindliche Behindertenbewegung zu Beginn vor allem in Debatten um die Bekämp-
fung von Ausschluss, Zwang und Gewalt, um die Integration in Bildung und Arbeit, um die Reproduktions-
rechte von Frauen und Mädchen sowie um die stetig fortschreitenden technischen Möglichkeiten der Prä-
nataldiagnostik eingemischt, später auch zunehmend in die Kritik der Legalisierung aktiver Sterbehilfe und
die Erarbeitung der UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderungen. In diesen Debatten haben
ZDS Nr.2/2023, T. Degener et al.: Editorial: Von der Behindertenbewegung zu den Disability Studies. Festschrift für Swantje
Köbsell
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behinderte und nicht behinderte Forscher*innen herausgearbeitet, dass Sonderbehandlungen und die Vor-
enthaltung oder Einschränkung von Menschenrechten fundamentale Gefahren für die Selbstbestimmung
behinderter Menschen mit sich bringen: jegliches Absprechen von Freiheit, Würde und Gleichheit ist gleich-
bedeutend mit der Entwertung behinderten Lebens.
Eine zentrale Figur der deutschen politischen Behindertenbewegung sowie Mitbegründerin der deutschspra-
chigen Disability Studies ist Swantje Köbsell. Diese Sonderausgabe der ZDS ist ihr anlässlich ihrer baldigen
Pensionierung gewidmet. Nachdem sie sich kurz nach Eroberung ihrer neuen Identität als behinderte Frau
in Bremen der Krüppelgruppe anschloss, gründete sie dort eines der ersten Zentren für Selbstbestimmtes
Leben in Deutschland. Ihre feministische Haltung führte sie auch zur Mitgründung der Bremer Krüppelfrauen
Ende der 1970er Jahre. Bezüge zur Frauen- und Behindertenbewegung zeigen sich auch konsequent in ihren
wissenschaftlichen Arbeiten und Tätigkeiten: Diese zeichnen sich durch die kritische Auseinandersetzung mit
den sozialen Ursachen und Folgen von Behinderung in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften aus – und
damit einer bewussten Abkehr von medizinisch-individualisierenden Ansätzen zur Erklärung von Behinde-
rung.
Swantje Köbsell war Gründungsmitglied der 2002 an der Technischen Universität Dortmund ins Leben geru-
fenen Arbeitsgemeinschaft (AG) Disability Studies, dem ersten institutionalisierten Zusammenschluss behin-
derter Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen aus Deutschland, die Behinderung nicht
als behandlungsbedürftiges Problem verstehen, sondern als gesellschaftliche Differenzkategorie untersu-
chen (siehe: https://disabilitystudies.de/). Zusammen mit Gisela Hermes organisierte Swantje Köbsell im Jahr
2003 die Bremer Disability Studies Sommeruni (Hermes, 2003). Dies war die erste Disability-Studies-Konfer-
enz in Deutschland mit 20 Seminaren, 50 Diskussionsforen und einem Kulturfestival. Im Jahr 2010 promo-
vierte sie zum Thema Besondere Körper: Körper und Geschlecht im Diskurs der deutschen Behindertenbewe-
gung an der Universität Bremen. Von 2014 bis 2021 hatte Swantje Köbsell dann die erste exklusive Professur
für Disability Studies in Deutschland an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin inne und organisierte 2018 eine
zweite große Konferenz mit dem Titel Disability Studies im deutschsprachigen Raum mit (Brehme et al.,
2020). Nicht zuletzt ist Swantje Köbsell eine der Mütter dieser Fachzeitschrift. Mit einem Rad in der Behin-
dertenbewegung, mit dem anderen in der Wissenschaft – so lässt sich die letzte Dekade ihres Berufslebens
gut veranschaulichen.
2. Zu den Beiträgen in dieser Ausgabe
Diese Festschrift für Swantje Köbsell greift einige der angesprochenen Grundsatzdebatten auf und versam-
melt interdisziplinäre Beiträge aus den Disability Studies, die sich in ihren Analysen mit Fragen (aus) der Be-
hindertenbewegung beschäftigen. Die wissenschaftlichen, künstlerischen und persönlichen Beiträge dieser
Ausgabe geben Einblick in die Debatten und Verhandlungen zur Notwendigkeit der Realisierung einer men-
schenrechtlichen Konvention, zur Bekämpfung von Diskriminierung behinderter Menschen, zu einer kriti-
schen Beschäftigung mit Eugenik aus Sicht der Disability Studies, zum Thema Frauen mit Behinderung, sowie
zur Beschäftigung mit der Behindertenbewegung und ihrer gesellschaftspolitischen wie akademischen Be-
deutung. Die Ausgabe versammelt drei Fachbeiträge, zwei Übersetzungen, vier Debattenbeiträge, einen Dis-
ability-Arts-Beitrag und insgesamt fünf Zwischenrufe, die für diesen Kontext die Gestalt von Festschrift-Lau-
dationen an Swantje Köbsell annehmen.
Theresia Degener und Franziska Witzmann untersuchen in ihrem rechtshistorischen Fachbeitrag die Entwick-
lungen zur Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und arbeiten die Wirkung der
Menschrechte im Feld der Disability Studies heraus. Die Rolle behinderter Menschen in der internationalen
(Menschenrechts-)Politik seit Gründung der Vereinten Nationen unterteilen sie in vier Phasen. Erst mit der
UN-BRK wurden behinderte Personen normativ zu Menschenrechtssubjekten, wobei sich die zentralen Kon-
fliktthemen bei der Umsetzung der UN-BRK, wie etwa Inklusion, De-Institutionalisierung und Selbstbestim-
mung, bereits in der Entwurfsarbeit abzeichneten. Der Beitrag zeigt den paradoxen Verlauf der ersten zwei
Dekaden der internationalen und deutschen Umsetzung der UN-BRK auf.
ZDS Nr.2/2023, T. Degener et al.: Editorial: Von der Behindertenbewegung zu den Disability Studies. Festschrift für Swantje
Köbsell
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Aus historischer Perspektive beleuchtet der Fachbeitrag von Petra Fuchs Ursprünge der Grundsatzdebatten
zur gemeinsamen Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder und Jugendlicher, die heute unter
dem Begriff Inklusive Pädagogik verhandelt werden. Am Beispiel zweier Aktivistinnen des Selbsthilfebundes
Körperbehinderter, Marie Gruhl und Hilde Wulff, zeigt der Beitrag, wie bildungspolitische Aktivitäten, Positi-
onen und Konzepte der ersten deutschen Behindertenbewegung in der Weimarer Zeit maßgeblichen Einfluss
auf die Bildungspolitik ausübten.
Aus intersektionaler Perspektive werden im Zusammentreffen von Rassismus, Klassismus, und Ableismus
Dominanzverhältnisse rekonstruiert, die Unterdrückung und Diskriminierung bedeuten. Iman Attias Fachbei-
trag wendet sich diesem Thema zu und untersucht, wie sich Rassismus und Ableismus in den Ideologien der
„Rassenhygiene“ und Eugenik immer wieder überkreuzen und so Gewalt, Verbrechen gegen die Menschlich-
keit und andere Menschenrechtsverletzungen legitimieren. Der Beitrag zeigt, wie sich in aktuellen Bedro-
hungsszenarien eine Allianz dieser Ideologien ausmachen lässt.
Die Debattenbeiträge dieser Ausgabe eröffnen Kenny Fries und Rebecca Maskos. Sie widmen sich in ihrem
Beitrag der Rolle, die Swantje Köbsell als Brückenbauerin zwischen Behindertenbewegung und Wissenschaft
insbesondere zu Fragen der Bioethik frühzeitig eingenommen hat. Als radikale Feministin und Krüppelgrup-
penaktivistin war sie eine der ersten kritischen Stimmen im Feld und ist es auch in ihrer gesamten akademi-
schen Karriere geblieben. In einem Schreibgespräch erzählen die beiden Autor*innen von dem nachhaltigen
Einfluss, den Swantje Köbsell in der Verkörperung der Essenz der Disability Studies (Aktivismus als Ausgangs-
punkt), ihrer Rolle als Netzwerkerin, als akademisches Rollenmodell und als kritische Forscherin und Leh-
rende im Feld der Bioethik seit ihrem Kennenlernen auf die beiden hatte.
Auch die nächsten beiden Beiträge würdigen den Einfluss von Swantje Köbsells Arbeiten auf zentrale Debat-
ten in den Disability Studies. Ulrike Schildmann und Gisela Hermes unternehmen in ihrem Debattenbeitrag
einen Rück- und Ausblick auf die laufenden Debatten zur Situation behinderter Frauen – in und jenseits der
Behindertenbewegung –, wie sie wissenschaftlich fundiert und politisch fortgesetzt wurden. Als maßgebliche
Autor*innen im Feld, die eine als nicht behindert, die andere als behindert gelesen, reflektieren sie erstmalig
nach 40 Jahren gemeinsam ihre persönlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem
Thema.
Fragen der Disability Studies in Education aufgreifend, beschäftigt sich Volker Schönwiese mit der Bedeutung
des Faches für die Inklusive Pädagogik. Er erinnert an die zur Reform der Schulgesetzgebung in Italien ge-
führten Debatten um die Bedeutung der Beschäftigung mit Angstabwehr für Lehrkräfte, die mit behinderten
Kindern arbeiten und stellt die Frage, wie die Kritik der Disability Studies an pädagogischer Normierung, Sub-
jektivierung und institutionellen Grenzziehungen auf gegenwärtige pädagogische Alltagsverhältnisse einwir-
ken kann.
Wie wenige andere steht Swantje Köbsell für die Verwobenheit der Behindertenbewegung mit den deutsch-
sprachigen Disability Studies. Diese Festschrift zum Anlass ihrer Pensionierung haben wir als Herausgeber*in-
nen genutzt, zwei englischsprachige Aufsätze zur Entstehung und Entwicklung der deutschsprachigen Disa-
bility Studies aus der Behindertenbewegung heraus ins Deutsche zu übersetzen und in einem aktuellen Bei-
trag die Debatte fortzuführen. Der im Original in der amerikanischen Fachzeitschrift Disability Studies Quar-
terly (DSQ) erschienene Aufsatz von Swantje Köbsell (2006/2023) beschreibt die Charakteristika der deutsch-
sprachigen Behindertenbewegung. Der Beitrag arbeitet heraus, wie die behindertenpolitischen Themen
Mitte der 2000er Jahre Gegenstand von wissenschaftlichen Analysen in den Disability Studies wurden. Hier
setzen Lisa Pfahl und Justin Powell (2014/2023) in ihrem ebenfalls ursprünglich in der DSQ erschienenen
Debattenbeitrag an. In ihrem Literaturüberblick über die deutschsprachigen Disability Studies bis in die
2010er Jahre zeichnen sie die Themen und Schwerpunktsetzungen, die in den Disability Studies im deutsch-
sprachigen Raum zu beobachten waren, nach. Schließlich wendet sich der aktuelle Debattenbeitrag von Da-
vid Brehme und Swantje Köbsell (2023) den Entwicklungen seit den 2010er Jahren zu und skizziert neben
zeitgenössischen Themen der Disability Studies das Verhältnis zwischen Disability Studies und der entstehen-
den Teilhabeforschung.
ZDS Nr.2/2023, T. Degener et al.: Editorial: Von der Behindertenbewegung zu den Disability Studies. Festschrift für Swantje
Köbsell
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Die Rubrik Disability Arts bestreitet Monika Strahl, eine Wegbegleiterin von Swantje Köbsell. In ihrem Text
führt sie in den Entstehungszusammenhang und die gemeinsame künstlerische Arbeit der Bremer Krüppel-
frauengruppe ein, die in die Ausstellung „unbeschreiblich weiblich“ mündete. Zusammen mit Originalfotos
aus der Ausstellung gibt Monika Strahl so einen Einblick in die kulturpolitische Emanzipation, die in diesem
beeindruckend frühen Beispiel von Disability Arts in Deutschland vollzogen wurde.
Für diese Festschrift wurden zudem weitere Wegbegleiter*innen aus der Behindertenbewegung sowie aus
der beruflichen Laufbahn von Swantje Köbsell gebeten, einen biografisch-erzählerischen Gruß an Swantje
Köbsell anlässlich ihrer Pensionierung zu verfassen. Es gratulieren Horst Frehe, Dinah Radtke, Regina Munzel
und Andreas Rheinländer, Jan Stüdemann und Marianne Hirschberg.
Unser Dank für die Unterstützung der Realisierung dieser Ausgabe geht an: David Furtschegger, Alina Kühnel,
Stephanie Mayfield, Melanie Willmann, Tanja Vogler, das Vizerektorat Forschung Universität Innsbruck und
die innsbruck university press.
Wir wünschen frohes Lesevergnügen!
Theresia Degener (Gastherausgeberin), David Brehme & Lisa Pfahl
Wir danken herzlich für die zahlreichen Abstracts, die uns erreicht haben und die allesamt darauf verweisen,
dass es sich bei den Disability Studies nach wie vor um eine debattierfreudige community handelt, die sich
auch nicht davor scheut, lange tradierte und etablierte begriffliche Setzungen und Modelle immer wieder
neu zu hinterfragen, umzuschreiben und weiterzuentwickeln.
Wir hoffen, dass für jede*n auch im positiven Sinne ‚anstößige’ Texte dabei sind, die zum Widersprechen
und Weiterdenken einladen, und freuen uns dezidiert über Antwort-Texte und Repliken, um die Zeitschrift
für Disability Studies zu einem diskursiven Raum zu machen, in dem Dialoge der Bekräftigung sowie der Ge-
genrede Platz haben. Wenn Sie Interesse daran haben, eine solche Replik bzw. einen Antwort-Text zu ver-
fassen, wenden Sie sich bitte an die Redaktion: kontakt@zds-online.de
Literatur
Brehme, D., Fuchs, P., Köbsell, S. & Wesselmann, C. (2020). Disability Studies im deutschsprachigen Raum.
Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Beltz Juventa. https://www.beltz.de/fachmedien/sozial-
paedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/40270-disability-studies-im-deutschsprachigen-
raum.html
Hermes, G. (2003). Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken! bifos Schriftenreihe.
Autor_innen:
Theresia Degener, David Brehme, Lisa Pfahl