Content uploaded by Lukas R.A. Wilde
Author content
All content in this area was uploaded by Lukas R.A. Wilde on Oct 17, 2023
Content may be subject to copyright.
Lukas R.A. Wilde (Tübingen):
Die ›Cartoon‹-Bildlichkeit von Comic, Manga und Animation:
Referential meaning, dritter Zeichenraum, heuristischer Zweifel
Ist der Zweifel daran, was Bildmedien darstellen, der Zweifeln daran, was wir in
Bildmedien sehen? In diesem scheinbar harmlosen Zusammenhang lässt sich eine
konfliktreiche Zone der Begegnung zwischen drei umkämpften Begrifflichkeiten
ausmachen: Bildlichkeit, Repräsentation und – wie ich zeigen möchte – Medialität. Je
nachdem, aus welcher disziplinären Provenienz man sich dieser Trias annähert, wird
man zu unterschiedlichen Beschreibungssprachen gelangen. Im Folgenden möchte ich
eine davon genauer konturieren, die sich aus der medienwissenschaftlichen Praxis
heraus ergibt. Insbesondere um zwei begriffliche Festlegungen wird dabei keine
Beschäftigung herumführen: Eine wechselseitige Bestimmung der ›Repräsentation‹
bzw. der ›Darstellung‹ zu den konkurrierenden Polen von ›Medialität‹ und ›Bildlichkeit‹.
Ich möchte diese beiden Beziehungen daher im Folgenden zunächst auf zwei
theoretische Konkurrenzverhältnisse hin zuspitzen, um genauer zu verdeutlichen, was
auf dem Spiel steht, wenn wir ›Repräsentation/Darstellung‹ (jeweils) gegenüber
›Medialität‹ und ›Bildlichkeit‹ konturieren. Sinn der Übung ist, zu zeigen, wie sich viele
der Spannungen, die auf theoretischer Ebene beinahe unüberwindbar scheinen, auf
interessante Weise fügen, wenn wir den spezifischen Bereich populärer, narrativ
eingesetzter Bildmedien heranziehen. Es geht mir also allenfalls am Rande um Bilder,
die man zwangsläufig als ›künstlerisch‹ bezeichnen muss. Zu denken wäre vielmehr an
Realfilme, Animationsfilme, TV-Serien, häufig auch Videospiele sowie insbesondere
Comics und Manga, die das gemeinsame Merkmal teilen, komplexe Storyworlds bzw.
Diegesen zu repräsentieren.
1
Viele Storyworlds und deren Figurenpersonal, die uns in transmedia storytelling-
Medienangeboten tagtäglich begegnen, sind insofern transmedial konzipiert, als dass sie
in vielen unterschiedlichen Medientypen zugleich anzutreffen sind, wo sie in
unterschiedlichen Zeichenmodalitäten repräsentiert werden. Mittlerweile kanonische
Beispiele stellen das Superhelden-Universum von Marvel, George R.R. Martins bzw.
HBOs Franchise A Song of Ice and Fire/A Game of Thrones, George A. Lucas' bzw.
Disneys Star Wars oder Robert Kirkmans bzw. AMCs The Walking Dead dar. Im
Umgang mit Produkten solcher Franchises setzen wir stets transmediale Entitäten
›hinter‹ ihren je medienspezifischen Darstellungen (und deren Erscheinungsweisen)
voraus, gleichgültig, ob uns diese in schriftsprachlicher Form, vermittels gefilmter
Schauspieler vor einer Kamera, in Gestalt gezeichneter Linien auf Papier oder durch
computergenerierte Formen der Bildlichkeit begegnen. Das Verhältnis von Bildlichkeit,
Repräsentation und Medialität kann so – wie zu zeigen sein wird – entlang alltäglicher,
1
Ich verwende die Bezeichnungen ›Diegese‹ und ›Storyworld‹ im Folgenden austauschbar, vgl. Lukas R.A.
Wilde: Im Reich der Figuren. Meta-narrative Kommunikationsfiguren und die ‚Mangaisierung‘ des japanischen
Alltags., Köln 2018, Kap. 5 sowie umfassender Marie-Laure Ryan u. Jan-Noël Thon (Hrsg.): Storyworlds across
Media. Toward a Media-Conscious Narratology, Lincoln 2014; Jan-Noël Thon (Hrsg.): Transmedial Worlds in
Convergent Media Culture. Special Issue of Storyworlds. A Journal of Narrative Studies 7.2/2015
narrativ eingesetzter Bildmedien wie ein gordischer Knoten gelöst werden, wodurch
sich aber neue ›Pandorabüchsen‹ öffnen und heikle ›theoretische Gretchenfragen‹
ergeben werden. Insbesondere möchte ich mit Rückgriff auf den Medienwissenschaftler
Stephan Packard einen ›heuristischen Zweifel‹ vertreten, der in narrativ eingesetzten
Bildmedien grundsätzlich geltend gemacht werden muss.
2
In den (zumeist
hand)gezeichneten ›cartoonisierten‹ Bildern von Comic, Manga und Animation macht
dieser sich gewissermaßen am frappantesten bemerkbar. Zur Verdeutlichung dieses
Umstands greife ich Vorschläge aus der transmedialen Narratologie auf, insbesondere
aus dem umfassenden Entwurf von Jan-Noël Thon.
3
Durch Rückgriff auf die (gleich zu
erläuternden) Begrifflichkeiten referential meaning vs. ›dritter Zeichenraum‹ lässt sich
nicht nur der angesprochene Zweifel, sondern auch die noch grundlegenderen
Spannungen zwischen Bildlichkeit, Repräsentation und Medialität produktiv und
analytisch fruchtbar machen. Dafür möchte ich zum Ende des Beitrags ein integratives
Modell narrativer Bildlichkeit präsentieren. Zuvor jedoch einige unverzichtbare
Vorbemerkungen zu den genannten begrifflichen Reibungen.
Vorbemerkungen: Bildlichkeit, Repräsentation, Medialität
Zunächst zum Zusammenhang von Medialität vs. Repräsentation: Auf der einen
Seite lässt sich mit einiger Berechtigung für eine inhärent darstellungstheoretische oder
semiotische Dimension eines jeden Medienbegriffs votieren. Hartmut Winkler hat dies
etwa immer wieder getan: »Medien sind gesellschaftliche Maschinen, die ein Biotop für
die Semiose, für die Artikulation und für die Herausbildung von Zeichen bereitstellen«.
4
Aus einer semiotisch geprägten Perspektive erscheint die Medienwissenschaft Winfried
Nöth sogar als »eines der Teilgebiete der angewandten Semiotik«, insofern Medien »als
Bereich des öffentlichen Zeichengebrauchs« angesehen werden.
5
Argumentiert man
von dieser epistemologischen Basis aus, so ist es nur folgerichtig, Medialität und
Materialität als »two sides of the same coin« zu erachten, da von ›Medialität‹ (einer
Materialität) erst da zu sprechen wäre, wo wir es mit der kommunikativen Herstellung
von Intersubjektivität zu tun haben.
6
Auf der anderen Seite wurde in den vergangenen
Jahrzehnten insbesondere auf zahlreiche non- oder prä-repräsentationale Aspekte von
Medialität hingewiesen, die eher darauf abzielen, beschreibbar zu machen, »how the
process, action, or event of mediation generates or provides the conditions for the
2
Vgl. Stephan Packard: Erzählen Comics?, in: Erzählen im Comic. Beiträge zur Comicforschung (hrsg. v. Otto
Brunken u. Felix Giesa), Essen 2013, S. 17-32.
3
Vgl. Jan-Noël Thon: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. Lincoln 2016.
4
Hartmut Winkler: Mediendefinition, in: Medienwissenschaft – Rezensionen, Reviews 1.4/2004, S. 9-27, S. 213;
vgl. auch Hartmut Winkler: Zeichenmaschinen. Oder warum die semiotische Dimension für eine Definition der
Medien unerlässlich ist, in: Was ist ein Medium? (hrsg. v. Stefan Münker u. Alexander Roesler), Frankfurt am
Main 2008, S. 211-221.
5
Winfried Nöth: Semiotik als Medienwissenschaft, in: Medientheorie und die digitalen Medien (hrsg. v. Winfried
Nöth u. Karin Wenz), Kassel 1998, S. 47-60.
6
Christian J. Emden u. Gabriele Rippl: Introduction. Image, Text and Simulation, in: ImageScapes. Studies in
intermediality (hrsg. v. Christian J. Emden u. Gabriele Rippl), Oxford 2010, S. 1-18, S. 8.
individuation of entities within the world«.
7
›Medialität‹ wäre damit für Richard Grusin
eher durch Konnektivität, Interrelationalität, Operativität oder Affektivität bestimmt und
könnte in engen Zusammenhang mit Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie gebracht
werden.
8
Diese Ansätze wurden auch unter dem Schirmbegriff einer »non-
representational theory« diskutiert, vor dessen Hintergrund Grusin zu dem bewusst
polemisch formulierten Schluss kommen kann:
9
»I would oppose mediality to
representationality«.
10
Dem haben sich seither viele Forscher_innen angeschlossen
(etwa, was den Bereich global zirkulierender japanischer Populärkultur angeht).
11
Mit
Jochen Venus ließe sich dieser Kontrast noch einmal wie folgt zuspitzen:
»Die Semiotik setzt aus medienwissenschaftlicher Perspektive systematisch ›zu
spät‹ an, nämlich bei den erlernten Interpretationsregeln, die bestimmen, welche
denkbaren Bedeutungen bewusst festgestellte Wahrnehmungstatsachen haben
können«.
12
Nun muss man die Einschätzung keineswegs teilen, die Semiotik sei erst für soziale
Kommunikation, nicht bereits für medial vermittelte Kognition zuständig. Dies wäre die
Frage danach, ob man die Semiotik eher als Sozialwissenschaft oder als
Erkenntniswissenschaft konzipiert – das muss hier nicht zur Debatte stehen. In jedem
Fall lässt sich vertreten, dass kaum eine ›mediale Situation‹ ganz ohne einen
semiotischen ›Gehalt‹ auskommt.
13
In den seltensten Fällen zirkulieren etwa rein
abstrakte Bilder durch mediale Netzwerke. Das medientheoretisch so bedeutsame
Wechselspiel aus Transparenz und Opazität (oder im Angelsächsischen: zwischen
immediacy und hypermediacy) ist insbesondere mit Hinblick auf ein Dargestelltes
symptomatisch, auf welches der Blick mehr oder weniger unvermittelt freigegeben
werden kann (oder, konstruktivistisch gewendet, wo dies zumindest als Teil der Logik
des Medialen suggeriert wird).
14
7
Richard Grusin: Donald Trump’s Evil Mediation, in: Theory & Event 20 (1)/2017, S. 86-99, S. 89.
8
Vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford u. New York
2005 sowie Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz u. Peter Gendolla (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld
2013; Sebastian Bartosch: Understanding Comics’ Mediality as an Actor-Network. Some Elements of Translation
in the Works of Brian Fies and Dylan Horrocks, in: Journal of Graphic Novels and Comics 7.3/2016, S. 242-253.
9
Vgl. Nigel Thrift: Non-Representational Theory. Space, Politics, Affect, London 2007.
10
Richard Grusin: Premediation. Affect and Mediality after 9/11, Basingstoke 2010, S. 79; Herv. L.W.
11
Vgl. Jaqueline Berndt: Introduction. Shōjo Mediations, in: Shōjo Across Media: Exploring »Girl« Practices in
Contemporary Japan (hrsg. v. Jaqeline Berndt, Kazumi Nagaike u. Fusami Ogi), Basingstoke u. New York 2018,
in Vorbereitung.
12
Till A. Heilmann u. Jochen Venus: Semiotik/Dekonstruktion, in: Handbuch Medienwissenschaft (hrsg. v. Jens
Schröter), Stuttgart 2014, S. 51-60, S. 53.
13
Ich beziehe mich hier auf Matthias Vogel und spreche bewusst von ›Gehalten‹ anstelle von ›Inhalten‹. Vogel
hat herausgearbeitet, inwiefern Medien durchaus auch vorprädikative und nicht-propositionale – also gerade nicht
sprachlich stabilisierte – Unterscheidungs- und Identifizierungsgewohnheiten kommunizierbar und intersubjektiv
zugänglich machen können. Venus‘ Kritik träfe auf einen solchen Medien-Begriff gar nicht erst zu; vgl. Matthias
Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der
Medien, Frankfurt am Main 2001. Für Bildmedien ist diese vor-prädikative Ebene der Kommunikation besonders
zentral, vgl. dazu ausführlich Wilde 2018 (Im Reich der Figuren), Kap. 4.
14
Vgl. Sybille Krämer: Medien zwischen Transparenz und Opazität. Reflexionen über eine medienkritische
Epistemologie im Ausgang von der Karte, in: Hide and seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität (hrsg. v.
Bildmedien verkomplizieren dieses Verhältnis von Medialität und Repräsentation
nun aber noch in vielfacher Weise.
15
Das Erkennen von piktorial dargestellten Objekten,
Figuren und ganzen Szenen ist doch in vielen Fällen nicht nur ohne explizite Kenntnisse
eines erlernten ›Kodes‹ möglich, sondern auch ohne Rückschlüsse auf kommunikative
Intentionen und situationsabhängige Verwendungspraxen. Darauf hat insbesondere die
phänomenologische Tradition immer wieder hingewiesen, und auch der Kunsthistoriker
James Elkins stellt seinem Buch On Pictures and the Words that Fail them (1998) die
programmatischen Worte voran:
16
»This book might well have been titled The
Antisemiotic, since much of what I have to say here runs against the tendency to interpret
pictures as systems of signs«.
17
In dieser Tradition muss ein jedes ›Bildobjekt‹ – noch
vor seiner kontingenten kommunikativen Instrumentalisierung – als eine spezifische
Form der ›artifiziellen Präsenz‹ verstanden werden; eine sinnlich wahrnehmbare
Anwesenheit des Dargestellten, die sich so auch von der Fremdreferenzialität der
Sprache grundlegend unterscheidet.
18
Häufig wird hierbei auf Richard Wollheims
Begriff des ›Sehens-in‹ verwiesen, welcher einer begrifflich-prädikativ Repräsentation
scharf gegenübergestellt wird.
19
Das, was wir ›in‹ Bildern sehen, bezeichnete Erwin
Panofsky als »prä-ikonographische Ebene«, Roland Barthes schlicht als die
»Denotation« eines Bildes.
20
Klaus Sachs-Hombach spricht von der Ebene des
»Bildinhalts«.
21
Den Begriff des »Bildobjektes« übernimmt Lambert Wiesing aus der
phänomenologischen Tradition Edmund Husserls und Jean-Paul Sartres.
22
Das Zustandekommen von Bildobjekten lässt sich aber auch vermittels der kognitiven
Semiotik genauestens erklären: Für den zwischen Bildträger und Bildobjekt
vermittelnden perzeptuellen Typ wurde die Bezeichnung des »perzeptiven Prototyps«
Markus Rautzenberg u. Andreas Wolfsteiner), München 2010, S. 216-225; Jay D. Bolter u. Richard Grusin:
Remediation. Understanding New Media, Cambridge, 5. Auflage 2002.
15
Vgl. Viola Nordsieck: Semiotik. Bilder als Zeichen, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (hrsg. v. Stephan
Günzel u. Dieter Mersch), Stuttgart u. Weimar 2014, S. 41-46 sowie Sabine Wirth: Medientheorie. Bilder als
Techniken, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (hrsg. v. Stephan Günzel u. Dieter Mersch), Stuttgart u.
Weimar 2014, S. 118-125.
16
Vgl. etwa Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005
sowie zur Übersicht Taina Morscheck: Phänomenologie. Bilder als Erscheinung, in: Bild. Ein interdisziplinäres
Handbuch (hrsg. v. Stephan Günzel u. Dieter Mersch), Stuttgart u. Weimar 2014, S. 47-53.
17
James Elkins: On Pictures and the Words that Fail them, Cambridge 1998, S. xi; Herv. im Orig.
18
Die kommunikative Nutzung von Bildobjekten lässt sich auch phänomenologisch konsistent beschreiben, vgl.
Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin, 2. Auflage 2013.
19
Vgl. Richard Wollheim: On Pictorial Representation, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 56.3/1998, S.
217-226; Richard Wollheim: Sehen-als, sehen-in und bildliche Darstellung, übersetzt von Max Looser, in:
Bildwissenschaft und Visual Culture (hrsg. v. Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach u. Bernd Stiegler),
Bielefeld 2014, S. 131-146.
20
Erwin Panofsky: Meaning in the Visual Arts. Papers in and on Art History, Garden City 1955, S. 26; Roland
Barthes: Rhetoric of the Image, in: Image, Music, Text, übersetzt von Stephen Heath, London 1977, S. 32-51, S.
42.
21
Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft,
Köln 2003, S. 77-99, S. 173-177.
22
Vgl. Edmund Husserl: Phantasie und Bildbewußtsein. Text nach Husserliana, Bd. XXIII (hrsg. v. Eduard
Marbach), Hamburg 2006 [1904/1905]; Jean-Paul Sartre: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 3: Was ist
Literatur?, übersetzt von Traugott König (hrsg. v. Traugott König), Reinbek bei Hamburg 1981 [1946] sowie zur
Übersicht Wolfram Pichler u. Ralph Ubl: Bildtheorie zur Einführung, Reinbek bei Hamburg (2014) S. 18-42.
vorgeschlagen.
23
Börries Blanke spricht vom »sensorischen Typ als Gesamtheit der eine
Objektklasse definierenden sensorischen Merkmale«.
24
Wenn eine bestimmte
›ikonische Schwelle‹ überschritten wird, kann mit dem späten Umberto Eco von
»Ersatzreizen der Wahrnehmung« gesprochen werden kann, durch die sich der Eindruck
dreidimensionaler Gestalten in zweidimensionalen Mustern einstellt.
25
An eben dieser
Schwelle ist ein bestimmter Typ an Bildzweifeln viel diskutiert. Deutlich unterhalb der
Kategorisierungsschwelle verbleiben etwa Rätselbilder und Drudel.
26
Hier ließe sich
von repräsentationsabhängiger Ähnlichkeit sprechen: wir müssen (anhand kontextueller
Faktoren) wissen, auf welche ikonischen Typen wir die materiellen Zeichen beziehen
sollen, um die ›Ähnlichkeit‹ zu einem dargestellten Gegenstand überhaupt sehen (d.h.
ein Bildobjekt konstituieren) zu können.
27
In den häufig auf ein Minimum reduzierten
Bildern von Comic und Manga begegnen wir vielen Darstellungen in diesem
Grenzbereich. Der Manga-Theoretiker Fusanosuke Natsume zieht beispielsweise die
Arbeiten des Künstlers Yasuji Tanioka aus den 1970er Jahren heran (vgl. Abb. 1), um
seine Faszination an den Linien-Bildern des Manga zu belegen: »Eine Linie besitzt eine
basale Attraktion, sich gleichermaßen in eine Schlange wie in ein Seil verwandeln zu
können, noch bevor sie etwas Bestimmtes darstellt. Die selbe Attraktion lässt sich im
Manga finden«.
28
23
Sachs-Hombach 2003, S. 292-302; vgl. Göran Sonesson: Pictorial Concepts. Inquiries into the Semiotic
Heritage and its Relevance to the Interpretation of the Visual World, Lund 1989; Umberto Eco: Kant und das
Schnabeltier, übersetzt von Frank Herrmann, München, 2. Auflage 2000; Börries Blanke: Vom Bild zum Sinn. Das
ikonische Zeichen zwischen Semiotik und analytischer Philosophie, Wiesbaden 2003.
24
Blanke 2003, S.36; Herv. im Orig.. Hier muss insbesondere eine Verwechslung mit der linguistischen
Prototypensemantik vermieden werden. Sensorische Typen sind nicht begrifflich konzipiert.
25
Vgl. Eco 2000, S. 437 sowie Wilde 2018 (Im Reich der Figuren), Kap. 3.
26
Vgl. für Beispiele Rudolf Arnheim: Visual Thinking, Berkeley 1969, S. 92; Sonesson 1989, S. 220-223; Eco
2000, S. 446-452; Blanke 2003, S. 90-100.
27
vgl. Dominic Lopes: Understanding Pictures, Oxford 1996, S. 17; Sachs-Hombach; 2003, S. 145.
28
Fusanosuke Natsume 夏目房之介: Manga wa naze omoshiroi no ka. Sono hyōgen to bunpō マンガはなぜ面
白いのか―その表現と文法, Tokyo 1997, S. 76; Übersetzung L.W.
Abb. 1.: »Der Moment, in dem Linien und Punkte plötzlich zum Bild werden«.
29
Mindestens im ersten Panel von Abbildung 1 wäre ohne Kontext – wie im Drudel – ein
bewusstes Schließen, eine inferenzielle Hypothesenbildung erforderlich, um überhaupt
angeben zu können, welche dreidimensionalen Gegenstände wir in den
zweidimensionalen Linien auf Papier ›sehen‹ (sollten). Der spätere Eco unterscheidet
beide Fälle (in starker Revision und entschiedener Selbstkritik zu seinen Frühwerken)
durch zwei verschiedene ›Modi‹ der Bildrezeption, alpha und beta. Während ›Modus
alpha‹ der Wahrnehmung »Ersatzreize« bzw. »Surrogate von repräsentierten
Wahrnehmungsreizen« böte, welche ohne bewusstes Schlussfolgern erkannt werden
können, müsste man schwächere ›beta-Reize‹ gezielt interpretieren.
30
Wenn die ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird (also
innerhalb von alpha fällt), erlauben die entsprechenden Artefakte eine
»Zweifachkategorisierung«.
31
Das Bildobjekt ist damit ein mentales oder intentionales
Objekt, insofern es lediglich für ein wahrnehmendes Bewusstsein ›existiert‹ (tatsächlich
haben wir es ja lediglich mit Materialitäten aus Formen, Farben und Flächen zu tun).
Entscheidend ist, dass Bildobjekte damit häufig (innerhalb gewisser Grenzen)
kulturunabhängig, prä-attentiv und ohne Rückschlüsse auf mutmaßliche
Verwendungsabsichten ›in‹ Bildträgern gesehen werden können. Ein Bildobjekt wäre
unter all diesen Perspektiven niemals transmedial zu denken und nie in andere
Zeichenmodalitäten und Mediensysteme ›übersetzbar‹, am wenigsten in Sprache.
32
Darauf hat etwa Dieter Mersch mit wünschenswerter Deutlichkeit hingewiesen: »Bilder
sind singuläre visuelle Objekte […]. Sie verweigern sich jeder Übertragung in ein
anderes Bild«.
33
Bilder leisten demnach zunächst notwendig eine Präsentation, keine
Repräsentation. Wenn sie letzteres doch tun, wenn sie ein ›Sujet‹ besitzen, auf das auch
mit anderen Zeichenmodalitäten verwiesen werden könnte, so handele es sich um eine
semiotische (Weiter-)Verwendung nicht nur des Bildträgers, sondern auch des darin
sichtbaren Bildobjekts. Der Semiotiker Göran Sonesson bringt diese unüberbrückbare
Differenz wie folgt auf den Punkt: »[T]he picture object is here, where the picture thing
is, but the picture subject [das Bild-Sujet – L.W.] is somewhere else«.
34
›Bildlichkeit‹
wird demnach ein weiteres Mal von ›Repräsentation‹ unterschieden. Eine offenbar
29
Yasuji Tanioka 谷岡ヤスジ: Yasuji no Ninkyōdō, Vol. 3 ヤスジの任侠道・三巻, Tokyo 1976 (zit. nach
Natsume 1997, S. 70, S. 275; Übersetzung L.W.).
30
Eco 2000, S. 437.
31
Wollheim 2014, S. 137; vgl. Lopes 1996, S. 42.
32
Zu einer gründlicheren Abgrenzung der Begrifflichkeiten ›Medialität‹ und ›(Multi-)Modalität‹ vgl. Wilde 2018
(Im Reich der Figuren), Kap. 2 sowie Lukas R.A. Wilde: Distinguishing Mediality. The Problem of Identifying
Forms and Features of Digital Comics, in: Digital Comics. Special-Themed Issue of Networking Knowledge
8.4/2015, S. 1-14, http://ojs.meccsa.org.uk/index.php/netknow/article/view/386 (zit. 31. Januar 2018); Lukas R.A.
Wilde: Medium, Form, Genre? Medialität(en) des Comics, in: Comics in der Schule (hrsg. v. Markus Engelns,
Ulrike Preußer u. Felix Giesa), Berlin 2018, in Vorbereitung.
33
Dieter Mersch: Plastizität. Zur Frage der Übersetzung im Visuellen, in: Übersetzen und Rahmen. Praktiken
medialer Transformationen (hrsg. v. Claudia Benthien u. Gabriele Klein), Paderborn 2017, S. 39-58, S. 43.
34
Sonesson 1989, S. 277.
unhintergehbare ›Medialität‹ des Bildes dient nur der Festschreibung dieser Differenz –
sie kürzt sich aus dem vorausgesetzten ›Bild‹-Begriff letztlich heraus.
Gordische Knoten der transmedialen Narratologie
Nähert man sich dem explizierten Zusammenhang aber mit Hinblick auf transmediale
Erzählpraktiken, wie wir ihnen tagtäglich in populären Medienangeboten begegnen
können, so ergeben sich unmittelbar überraschende Beobachtungen. In den genannten
transmedialen Franchises kann die gleiche Figur ebenso gut von rein schriftlichen
medialen Artefakten wie einem Roman, von Schauspieler_innenkörpern, aber auch von
gezeichneten oder computer-generierten Wesen dargestellt werden, deren
Phänomenalität sich jeweils drastisch unterscheidet. Diese schlichte Feststellung fährt
durch die akkumulierten Spannungsverhältnisse von Bild, Medium und Repräsentation
wie durch einen gordischen Knoten. Carlos A. Scolari, Paolo Bertetti und Matthew
Freeman fassen den Konsens der postklassischen und kognitionswissenschaftlich
geschulten Narratologie etwa so zusammen: »In narratologic terms it could be said that
the level of the story (events and worlds) are independent from the medium/semiotic
system of manifestation«.
35
Werden wir konkreter: Mit Kendall L. Walton gesprochen
wäre es eine »silly question«, danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis
in der HBO-Serie A Game of Thrones plötzlich auf mysteriöse Weise ›ihr Aussehen
verändert‹.
36
In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein (vgl. Abb. 2), ab
Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 3), ohne dass
dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde (Skrein lehnte der Presse zufolge eine
Fortführung der Zusammenarbeit zugunsten der Hauptrolle im Film Transporter 4 ab).
Gültige Rückschlüsse – fictional truths – in der Weise, dass Daario Naharis über
›magische Fähigkeiten‹ verfügen und wie die diegetisch etablierten faceless men sein
Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich ›falsch‹ (oder
vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig).
37
Der Darstellungsunterschied wird
also nicht auf Seite des Dargestellten, sondern auf den medialen
Ermöglichungshintergrund ›verrechnet‹. Dieser wird hier als institutioneller
Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte
35
Carlos A. Scolari, Paolo Bertetti u. Matthew Freeman: Introduction. Towards an Archaeology of Transmedia
Storytelling, in: Transmedia Archaeology. Storytelling in the Borderlines of Science Fiction, Comics and Pulp
Magazines (hrsg. v. Carlos Scolari, Paolo Bertetti u. Matthew Freeman), New York 2014, S. 1-14, S. 4.
36
Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge,
Ma 1993, S. 174-183.
37
»Allthough fictional truths are generated in very different ways, the result is the same in every case: propositions
that are to be imagined«, Walton 1993, S. 185. Zu narrativen bzw. fiktiven Tatsachen und den Möglichkeiten und
Grenzen, dazu propositionale (wahrheitsfähige) Aussagen treffen zu können vgl. allgemeiner J. Alexander Bareis:
Fictional Truths, Principles of Generation, and Interpetation, in: How to Make Believe. The Fictional Truths of
the Representational Arts (hrsg. v. J. Alexander Bareis u. Lene Nordrum), Berlin 2015, S. 165-183.
semiotische Form des doppelten Darstellerkörpers und dem Schauspieler_innen-
Starsystem verbunden ist.
38
Abb. 2/3: Zwei mal Daario Naharis: Magische Transformation oder bloßer
Darstellungsunterschied?
39
Dies mag man als Sonderfall abtun, schließlich fordert der Darstellerwechsel der
Zuschauer_innenschaft interpretative Nachsichtigkeit und Kooperationsbereitschaft ab
(ein principle of charity muss in Kraft sein).
40
Ich möchte aber vertreten, dass eine
fundamentale Differenz zwischen den sichtbaren Bildobjekten und den dadurch
repräsentierten, diegetischen Entitäten keinesfalls selten ist. Die Symptomatik, dass
Bildobjekte sich von den dargestellten Entitäten offenbar deutlich unterscheiden, lässt
sich auch innerhalb nur eines Bildmediums beobachten. In Kinofilmen ist es (noch)
einigermaßen ungewöhnlich, wenn Lola rennt (1998) oder Kill Bill: Vol. I (2003) eine
je identische Figur mal realfilmisch, mal in hoch stilisierten Animationssequenzen
repräsentieren (ohne dass sich dies in der jeweiligen Diegese niederschlüge).
41
In
38
Johannes Riis: Actor/Character Dualism. The Case of Luis Bunuel’s Paradoxical Characters, in: Acting and
Performance in Moving Image Culture. Bodies, Screens, Renderings (hrsg. v. Jörg Sternagel, Lesley Stern u.
Dieter Mersch), Bielefeld 2012, S. 131-144.
39
HBOs A Game of Thrones, S03E08, 09:40 (2013); S06E10, 42:00 (2016).
40
Vgl. Walton 1993, S. 174-187; Thon 2016, S. 60-69.
41
Vgl. Erwin Feyersinger: Metalepsis in Animation. Paradoxical Transgressions of Ontological Levels,
Heidelberg 2017, S. 70-75 sowie Thon, 2016, S. 85-95 und Lukas R.A. Wilde: The Epistemology of the Drawn
Comics und Manga hingegen sind häufige Zeichner_innenwechsel durch serielle und
kollaborative Produktionsverfahren an der Tagesordnung. Und auch, wenn wir den
Beobachtungsrahmen auf ein einziges Werk einengen: Im Manga kann eine fast
fotorealistische Darstellung von einem Panel zum nächsten einigen schematischen
Linien weichen.
42
Protagonisten ›verwandeln‹ sich für die Dauer eines Bildes in
Emoticon-artige Versionen ihrer selbst (man nennt dieses Stilmittel chibi oder S.D.,
super deformed): »Der Wechsel ins SD-Format dauert nur für den Zeitraum eines Panels
an. In den folgenden Panels werden die Figuren wieder in ihrer normalen Gestalt
gezeichnet«.
43
Selbst die Haarfarbe kann aus Gründen der formalen Gestaltung von
Bildkomposition zu Bildkomposition wechseln.
44
Im Animationsfilm findet sich
ähnliches beispielsweise etwa in Masāki Yuasas Anime Mind Game (2004) oder in
Richard Linklaters Rotoskopie-Film Waking Life (2001).
45
Für all diese Beispiele gilt:
Die verschiedenen Bildobjekte – das was wir ›im Bild‹ sehen – haben ein deutlich
heterogenes Aussehen, das jeweils nur im Wissen über die gemeinsame
Referenzialisierung aufeinander bezogen bleibt – eben auf Ebene der transmedialisiert
gedachten Diegese bzw. Storyworld. Auch die in narrativen Bildmedien sichtbaren
Bildobjekte können daher niemals ›diegetisch‹ sein. Dieses Prädikat kommt alleine den
Situationen zu, welche mit ihnen repräsentiert werden. Nicht nur der materielle
Bildträger, sondern auch das phänomenal sichtbare Bildobjekt befindet sich noch auf
Seite der medienspezifischen Darstellungsmittel (des dicourse) – und nicht etwa auf der
Seite der (prinzipiell transmedialen) dargestellten Situationen (der histoire).
Ein erstes Modell multimodal und transmedial darstellbarer Diegesen
Von ›Bildobjekten‹ streng zu unterscheiden wäre in jedem Fall die Ebene des referential
meanings: ein Begriff, der aus der Filmwissenschaft stammt, aber von Thon auch für die
transmediale Narratologie geltend gemacht wurde.
46
Per Persson ging in der
Filmrezeption von einer basalen »Ebene 1« der Raum- und Objekterkennung aus, die
weitgehend mit der zuvor besprochenen Konstitution von Bildobjekten identisch ist:
Line. Abstract Dimensions of Narrative Comics, in: Abstraction and Comics/La BD et l’abstraction (hrsg. v.
Aarnoud Rommens, Björn-Olav Dozo, Pablo Turnes u. Erwin Dejasse), Liege 2018, S. 423-447.
42
Vgl. Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, New York 1993, S. 44; Stephan Packard:
Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen 2006, S. 121-137 sowie speziell für Manga
Bernd Dolle-Weinkauff: Grafisches Erzählen im Manga. Close Reading zweier Doppelseiten der
deutschsprachigen Ausgabe von Yu Watases Fushigi Yugi, in: Comics und Computerspiele im Deutschunterricht.
Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte (hrsg. v. Roland Jost u. Axel Krommer),
Baltmannsweiler 2011, S. 25-45.
43
Kristin Eckstein: Shojo Manga. Text-Bild-Verhältnisse und Narrationsstrategien im japanischen und deutschen
Manga für Mädchen, Heidelberg 2016, S. 137.
44
Vgl. Dolle-Weinkauff 2011, S. 35.
45
Vgl. Lukas R.A. Wilde: Der Traum von der Fokalinstanz. Figurationsprozesse und Identitätsfragen in
Richard Linklaters Waking Life, in: Feststellungen: Dokumentation des 25. Film- und Fernsehwissenschaftlichen
Kolloquiums (hrsg. v. Thomas Nachreiner u. Peter Podrez), Marburg 2014, S.159-173.
46
Vgl. Thon 2016, S. 53.
»[S]pectators start to extract meanings by processes of perception, which refers to the
means by which experiences of objects, events, sounds, tastes, and so on, are constructed
by the perceptual systems«.
47
Darunter fällt für ihn ebenfalls die Illusion von
Tiefenwahrnehmung und der dargestellten räumlichen Relationen (»There are a small
number of perceptual assumptions by which our vision system infers such spatial
relations and in the end gives us our experience of 3D space«).
48
davon deutlich
unterschieden werden muss für ihn eine Ebene 2 der Wiederkennung bereits bekannter
(individueller) Figuren und Gegenstände – sowie schließlich jene Ebene 3, mit der erst
von der Konstitution einer Storyworld bzw. Diegese gesprochen werden kann. Dieses
referential meaning umfasst raumzeitliche, kausale und ontologische Relationen, die
prinzipiell nicht ›wahrgenommen‹ sondern nur inferenziell erschlossen werden
können.
49
Das Vorhandensein eines referential meanings bedeutet aus Perspektive der
kognitiven Narratologie zunächst einmal nichts anderes, als dass eine mentale
Modellbildung einer dargestellten Situation vollzogen werden konnte, die in einer
möglichen Welt situiert ist. Das häufig aufgegriffene Basismodell der Konstruktion von
kognitiven Situationsmodellen stammt von Teun A. van Dijk und Walter Kintsch, auf
das sich auch David Herman in seinem Entwurf einer transmedialen Narratologie
beruft:
50
»[N]arratives can also be thought of as systems of verbal or visual cues
prompting their readers to spatialize storyworlds into evolving configurations of
participants, objects, and places«.
51
Eine Storyworld oder Diegese ließe sich damit
verstehen als »some kind of container for individual existents, or […] a system of
relationships between individual existents«.
52
Wir haben es bei dem referential meaning
so einerseits mit (›lokalen‹) dargestellte Situationen zu tun, welche andererseits
innerhalb (›globaler‹) dargestellter Welten verortet sind.
53
In der (räumlichen, zeitlichen,
kausalen und ontologischen) Relationierung beider Bezugsgrößen zueinander
entwickeln sich für die Rezipient_innen »mental models of who did what to and with
whom, when, where, why, and in what fashion in the world to which recipients
relocate«.
54
Über diese kann nun durchaus auch propositional (d.h. wahrheitsfähig)
gesprochen werden.
55
47
Per Persson: Understanding Cinema. A Psychological Theory of Moving Imagery, Cambridge, Ma 2003, S. 28;
Herv. im Orig.
48
Persson 2003, S. 28.
49
Vgl. Persson 2003, S. 30-32.
50
Vgl. Dijk, Teun A. van u. Walter Kintsch: Discourse and Communication. New Approaches to the Analysis of
Mass Media Discourse and Communication, New York 1983; Peter Stockwell: Cognitive Poetics. An Introduction,
London 2008 sowie für Comics insb. auch Karin Kukkonen: Contemporary Comics Storytelling, Lincoln 2013, S.
13-50.
51
David Herman: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, Lincoln 2004, S. 263; Herv. im Orig.
52
Marie-Laure Ryan: Story/Worlds/Media. Tuning the Instruments of a Media-Conscious Narratology, in:
Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology (hrsg. v. Marie-Laure Ryan u. Jan-Noël Thon),
Lincoln 2014, S. 25-49, S. 32.
53
Vgl. Thon 2016, S. 46-56.
54
Herman 2004, S. 9.
55
Vgl. neben Bareis 2015 auch Tilmann Köppe: Fiktive Tatsachen, in: Fiktionalität. Ein interdisziplinäres
Handbuch (hrsg. v. Tobias Klauk u. Tilmann Köppe), Berlin 2014, S. 190-208.
Abb. 4: Zwei Personen in einer Fensterfront oder dieselbe Person in zwei
unterschiedlichen Zeitmomenten?
56
Ein Beispiel: Nach den Konventionen von Comic und Manga stellt die obenstehende
Bildfolge eine zeitliche Sequenz dar. Sie repräsentiert dieselbe Person in zwei
verschiedenen Zeitmomenten (vgl. Abb. 4).
57
Mit dieser Konvention lässt sich gewiss
brechen und medienreflexiv spielen; doch wer im unmarkierten Fall behauptet, der
Autor (gerne auch der hypothetisch erschlossene oder implizite Autor) stelle in
Abbildung 4 eine Fensterfront mit zwei Hut-Trägern dar, der ist schlichtweg mit den
Comic-Konventionen nicht vertraut und hat daher einen ganz wesentlichen Aspekt
dieser Darstellung nicht verstanden. Beim referential meaning haben wir es also stets
mit dargestellten Sachverhalten zu tun, die prinzipiell wahrheitsfähig (oder zumindest
stimmigkeitsfähig) sind. Sie besitzen intersubjektive Gültigkeit, da es sich keineswegs
um rein private Wahrnehmungen, Interpretationsgewohnheiten oder gar individuelle
Vorstellungsspiele handelt. Auch unabhängig von unseren subjektiven (und
gegebenenfalls empirisch verifizierbaren) kognitiven Verarbeitungsprozessen besitzen
solche Annahmen den Status narrativer Tatsachen. Jens Eder präzisiert diesen Prozess
genauer als normative Abstraktionen über hypothetisch erschlossene – ideale – mentale
Repräsentationen.
58
Die wahrnehmbaren Unterschiede zwischen den verschiedenen Daario-Naharis-
Abbildungen (Abb. 2/3) wären demnach überhaupt nicht Teil des referential meaning
der Serie A Game of Thrones: Die dargestellte, fiktive Figur dürfte allenfalls unmerklich
gealtert sein, ansonsten doch das ungefähr gleiche Aussehen haben wie zuvor (obgleich
56
Scott McCloud: Reinventing Comics. How Imagination and Technology are Revolutionizing an Art Form,
New York 2000, S. 1.
57
Vgl. Packard 2013, S. 21. Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ›gutter‹,
als ›Rinnstein‹, bezeichnet (vgl. McCloud 1993, S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt; vgl. Silke
Horstkotte: Zooming In and Out. Panels, Frames, Sequences, and the Building of Graphic Storyworlds, in: From
Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative (hrsg. v. Daniel
Stein u. Jan-Noël Thon), Berlin 2013, S. 27-48.
58
Vgl. Jens Eder: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008, S. 68; Jens Eder: Was sind
Figuren? Ein Beitrag zur interdisziplinären Fiktionstheorie, Paderborn 2008, S. 50.
sie von einem ganz anderen Schauspieler verkörpert wurde). Gewiss: in
photographischen Bildmedien können wir qua medialer Konvention in vielen Fällen von
einer recht hohen Darstellungskorrespondenz zwischen dem, was wir im Bild sehen
(Bildobjekte) und dem, was dies für die Diegese bedeutet (referential meaning),
ausgehen.
59
All dies bedeutet zusammenfassend aber, dass narrativ eingesetzte
Bildmedien stets doppelte Prädikationsmöglichkeiten aufweisen: Die
Prädikationsmöglichkeiten, die die Bildobjekte zur Verfügung stellen (begründete
Aussagen über ihr Aussehen), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene
der Diegese, auf die sie sich häufig ›mappen‹ lassen. Externe Prädikationsmöglichkeiten
der Darstellungsmittel sind skaliert als interne Prädikate des Dargestellten
verrechenbar.
60
Der relative Grad dieser Übertragbarkeit hingegen ist niemals medial
determiniert und auch nicht einfach ›zu sehen‹. Er bleibt stets abhängig von historisch,
kulturell und insbesondere generisch wandelbaren medialen Praxen, insbesondere
natürlich den jeweiligen (spezifischen) Narrationszusammenhängen selbst. Da in
bestimmten Medientypen jedoch zumeist auch bestimmte Praxen (Darstellungs- und
Vorstellungsgewohnheiten sowie Diskursivierungen beider Seiten) angenommen,
erwartet oder gar vorausgesetzt werden können, lässt sich der Grad an
Darstellungskorrespondenz zwischen Bildobjekten und referential meaning als eine
Frage der Medialität (und nicht der Bildlichkeit) rekonstruieren.
Die Cartoon-Bildlichkeit von Comic, Manga und Animation
All dies gilt nun per Definition für jedes narrativ eingesetzte Bildmedium. Für eine
bestimmte Art der Bildlichkeit, die wir nicht nur in Comic und Manga häufig antreffen,
sondern auch im Animationsfilm, ergeben sich nun aber einige folgenschwere
Komplikationen. Vorwegnehmend sollte vielleicht mit Stuart Medley auf ein
medienspezifisches Spannungsverhältnis zwischen dem Komplex ›Bildlichkeit‹ und
Comic/Manga hingewiesen werden: Deren »theory has focused on words and
59
Dies ist einem Medium nicht a priori eingeschrieben: einerseits bestehen auch in photographischen Bildmedien
stets erhebliche Einschränkungen der Darstellungskorrespondenz: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder
Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine ›monochrome Welt‹
repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film Pleasantville, USA 1998; vgl. dazu umfassender Jan-Noël Thon:
Transmedial Narratology Revisited. On the Intersubjective Construction of Storyworlds and the Problem of
Representational Correspondence in Films, Comics, and Video Games, in: Narrative 25.3/2017, S. 286-320).
Andererseits könnten performative Darstellungsformen wie das Theater eine noch größere Wahrnehmungsnähe
als der Realfilm besitzen, dennoch kommt es auf der Bühne noch viel häufiger vor, dass verschiedene Darsteller
die gleiche Figur verkörpern oder– wie etwa in der Oper – das Aussehen der Sänger in fast keinerlei
Darstellungskorrespondenz zur dargestellten Figur (referential meaning) mehr steht. Lars von Triers Dogville
macht dies durch eine intermediale Transkription sichtbar, insofern wir ›im Bild‹ lediglich eine leere Bühne mit
Kreidezeichnungen von Gebäude-Grundrissen sehen (Bildobjekte), die auf Ebene des referential meanings doch
eine ›gewöhnliche‹ (mindestens: eine dreidimensionale) US-Kleinstadt repräsentieren.
60
Vgl. Maria E. Reicher: The Ontology of Fictional Characters, in: Characters in Fictional Worlds.
Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media (hrsg. v. Jens Eder, Fotis Jannidis u. Ralf
Schneider), Berlin 2010, S. 111-133, S. 117.
storytelling. Pictures are difficult«.
61
Dies scheint dem Autor zu Recht problematisch,
da die Multimodalität (oder Intersemiotizität) der Schrift-Bild-Interaktion zwar recht
typisch für Comics und Manga sind, viele Meisterwerke der Gestaltungsform (etwa
Shaun Tans The Arrival, 2003) aber auch ganz ohne Schrift auskommen; »A more
promising route ahead then, for those interested in how images communicate, is to
suspend discussion of narrative«.
62
Gerade die zumeist vorausgesetzte Narrativität der
Gestaltungsform ist es aber, durch die viele der interessantesten Komplikationen der
Comic-Bildlichkeit maßgeblich bedingt sind – auch ganz ohne eine fakultative
›Komplikation‹ durch Schriftzusätze.
63
Als typisch für den Comic gilt besonders eine
abstrahierte Darstellung was Figurenkörper betrifft (vgl. Abb. 5). Die zeichnerische
Reduktion, die Darstellungen nah an einem ›supernormalen Stimulus‹ sensorischer
Prototypen bevorzugt, konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente,
insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant
sind.
64
Der Künstler Scott McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion
(»amplification through simplification«) in seiner Comic-Poetik den Begriff des
›Cartoons‹ neu, was insbesondere von Packard zu einem avancierten bild- bzw.
zeichentheoretischen Analyseinstrument ausgearbeitet worden ist.
65
Cartoons
»lassen eine große Anzahl von Details fort und übertreiben andere. McCloud
lokalisiert sie auf einer Skala, die von der Fotografie bis zum ultimativ
reduzierten Smiley reicht, knapp vor letzterem und damit vor dessen völliger
Auflösung von Individualität«.
66
61
Stuart Medley: Discerning Pictures. How we Look at and Understand Images in Comics, in: Studies in Comics
1 (1)/2010, S. 53-70, S. 54.
62
Medley 2010, S. 55.
63
Medley geht von einem Narrativitätsbegriff aus, der an der Entwicklung von Handlung oder Plot ansetzt.
Demgegenüber sieht er die Funktion der Bilder in der Herstellung einer »environment« bzw. im »worldbuilding«
(S. 55). Anderswo schlage ich den Begriff der Basisnarrativität vor, um diesen Konflikt aufzulösen.
›Basisnarrativität‹ wäre einer Darstellung zuzusprechen, wenn eine Rezipient_in eine Imagination über eine
raumzeitlich verortete Situation entwickeln wird, die von partikularisierten Einzelgegenständen bevölkert ist.
Diese Frage ist ganz unabhängig von der ›Verzeitlichung‹ des so Dargestellten und auch unabhängig von dessen
Fiktivität; vgl. Lukas R.A. Wilde: »Backwards and batshit-fucking-bonkers«. Das innovative
Kommunikationsgefüge non-narrativer Webcomics, in: Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung 4/2017, S.
68-104.
64
Zu piktorial dargestellten supernormalen Stimuli vgl. Jörg R.J. Schirra: Foundation of Computational
Visualistics, Wiesbaden 2005, S. 83, zu der Fokussierung auf handlungsrelevante Darstellungselemente vgl.
Packard 2006, S. 121-141 sowie Thierry Groensteen: The System of Comics, übersetzt von Bart Beaty und Nick
Nguyen, Jackson 2007, S. 159-164.
65
Vgl. McCloud 1993, S. 30f.
66
Stephan Packard: Was ist ein Cartoon? Psychosemiotische Überlegungen im Anschluss an Scott McCloud, in:
Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums (hrsg. v. Daniel Stein, Katerina Kroucheva
u. Stephan Ditschke), Bielefeld 2009, S. 29-52, S. 30; vgl. Stephan Packard: The Drawn-Out Gaze of the Cartoon.
A Psychosemiotic Look at Subjectivity in Comic Book Storytelling, in: Subjectivity across Media. Interdisciplinary
and Transmedial Perspectives (hrsg. v. Maike Sarah Reinerth u. Jan-Noël Thon), New York 2017, S. 111-124.
Abb. 5: Die abstrahierten Cartoon-Körper des Comics
67
Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata bietet der
so verstandene ›Cartoon‹ ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das
die Blickführung der Leser_in und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert.
68
Mit Hinblick auf die Kluft zwischen Bildobjekten und referential meaning hat dies
Auswirkungen, die einen grundlegenden historischen und heuristischen Zweifel an ihrer
Sichtbarkeit begründen. Zum einen ist die Bildlichkeit des Cartoons stets vage,
hinsichtlich des referential meanings unterdeterminiert: »Comics can be maddeningly
vague about what it [a picture – L.W.] shows us«.
69
Obgleich das, was wir in Comics
sehen (Bildobjekte) häufig auf geradezu naive Weise ›verständlich‹ ist, darf damit noch
keinesfalls als geklärt gelten, was dies für die dargestellte Situation und Welt bedeutet.
Wenn dargestellte Personen in monochrome Bildmedien für gewöhnlich beispielsweise
Personen repräsentieren, die innerhalb ihrer Welt dennoch über Farbpartikel in Haut und
Haaren verfügen dürften, so ist auch die zeichnerische Abstraktion einer Person auf ein
Strichmännchen ebenfalls der Darstellung, nicht dem Dargestellten zuzurechnen. Der
Kanadier Guy Delisle dokumentierte mit seinen autobiographischen Reise-Tagebüchern
etwa Erlebnisse in fremden Ländern. Dass er dabei Aussagen über deren Kulturen macht,
die überwiegend als glaubwürdig oder authentisch erachtet werden, hängt entscheidend
damit zusammen, dass keine Rezipient_in die Wahrnehmbarkeit seiner schematischen
Linienbilder dem behaupteten Land zurechnen würde – ganz so fremdartig ist eine
67
René Goscinnys u. Albert Uderzos Asterix und Obelix, hier zit. nach Scott McCloud: Making Comics.
Storytelling Secrets of Comics, Manga and Graphic Novels. New York 2006, S. 72.
68
Vgl. Packard 2006, S. 159-180.
69
McCloud 1993, S. 86.
unbekanntes Welt wie Birma nun doch wieder nicht (vgl. Abb. 6).
70
Ein solcher Strip
stellt auf Ebene des referential meanings gewiss Menschen aus Fleisch und Blut dar,
deren sichtbares Äußeres aber fast vollkommen unbestimmt bleibt (allenfalls bestehen
diagrammatische, also relationale Referenzansprüche wie ›ist-größer-als‹ oder ›ist-
dicker-als‹).
71
Abb. 6: Sprechende Drahtfiguren oder Menschen aus Fleisch und Blut?
72
Cartoon-Bilder sind so inhärent vage. Für das Thema dieses Bandes scheint es
mir aber noch zentraler, dass die Bilder von Comic, Manga und Animationsfilm häufig
(auf Ebene der Bildobjekte) vieles zeigen, was sie gerade nicht darstellen (auf Ebene
des referential meaning). Zunächst ein bereits kanonisches Beispiel, über das in der
Forschungsliteratur Konsens herrschen dürfte. Art Spiegelmans Graphic Novel MAUS
ist die autobiographische Geschichte seines Vaters Vladek, eines Ausschwitz-
Überlebenden. Obgleich das Werk im Paratext deutlich als non-fiktional gekennzeichnet
ist und an Spiegelmans ›dokumentarischer Redlichkeit‹ wenig Zweifel bestehen,
zeichnet Spiegelman alle Juden als Mäuse, alle Deutschen als Katzen. Für jede Leser_in
dürfte dennoch klar sein, dass diese ›Verkleidungen‹ nicht ›wörtlich‹, sondern
metaphorisch zu verstehen sind. Dafür spricht weit mehr als nur die paratextuelle
Markierung der autobiographischen Referenz (in der keine anthropomorphen Tierwesen
existieren). Manche der Mäuse verkleiden sich beispielsweise auch, indem sie sich
andere Tiermasken umbinden, was von keinem der Mit-Protagonisten durchschaut
werden kann (vgl. Abb. 7). Der Grund dafür ist selbstverständlich, dass es den
dargestellten Figuren natürlich nicht angesehen werden kann, ob sie tatsächlich ›jüdisch‹
aussehen: »[W]hat is represented here are not anthropomorphic animals but rather quite
70
Vgl. Candida Rifkind: A Stranger in a Strange Land? Guy Delisle Redraws the Travelogue, in: International
Journal of Comic Art IJoCA 12 (2)/2010, S. 268-290.
71
Vgl. Wilde 2018 (The Epistemology of the Drawn Line).
72
Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Birma, übersetzt von Kai Wilksen, Berlin 2009 [2007], S. 34.
regular human beings whose affiliation with certain social groups is represented by more
or less ›visible‹ but nevertheless exclusively metaphorical ›masks‹«.
73
Abb. 7: Anthropomorphe Mäusewesen oder metaphorische Darstellung von
Menschen?
74
Wenn die ›Mäusehaftigkeit‹ der Bildobjekte weder auf Seiten des materiellen
Bildträgers (Linien auf Papier), noch auf Seiten der Dargestellten Welt (referential
meaning) zu verrechnen ist, so muss nach Packard von einem dritten Zeichenraum
ausgegangen werden. Der dritte Zeichenraum wäre der Ort, den die Bildobjekte besetzen,
wenn sie in keinerlei Darstellungskorrespondenz zu dem stehen, was sie für die erzählte
Welt bedeuten (oder allenfalls in metaphorischer Hinsicht bedeuten). Er lässt sich auch
punktuell und höchst selektiv einsetzen. Meisterlich und effektstark geht etwa Inio
Asano in der Manga-Serie Gute Nacht, Punpun (Oyasumi punpun, 2007-2013) mit
dieser Technik um. Die über 3000seitige Serie erzählt von der bedrückenden und
oftmals verstörenden Jugend eines Jungen namens Punpun, der als abstrakte
anthropomorphe Konfiguration dargestellt wird. Über das Kennzeichen eines Schnabels
erinnert er vage an einen Vogel. Sein Umfeld und seine Mitmenschen hingegen bleiben
in detailliertestem Hyperrealismus gehalten, viele Hintergründe entspringen
bearbeiteten Fotografien (vgl. Abb. 8). In Schlüsselszenen, insbesondere solchen, die
mit schwierigen sexuellen Erfahrungen verbunden sind, erhalten einzelne
Körpersegmente Punpuns stückweise menschliche Züge zurück. Wahrnehmungsnähe
und Darstellungskorrespondenz von Bildobjekten zur Diegese bleiben damit höchst
flexible Scharniere. Durch diese wird Punpun zum Zentrum einer Subjektivität, in
welche Leser_innen sich leicht hineinversetzen können – Punpuns wahrnehmbare
Identität ist völlig unbestimmt –, während die Unerbittlichkeit seiner Lebenswelt der
Imagination kaum Freiräume oder Fluchtmöglichkeiten lässt.
73
Thon 2016, S. 93.
74
Art Spiegelman: Maus: Die Geschichte eines Überlebenden, Bd. 2: Und hier begann mein Unglück, übersetzt
von Christine Brinck und Josef Joffe, Reinbek bei Hamburg 1999 [1991], S. 50.
Abb. 8: Ein maskierter Protagonist in wahrnehmungsnaher Umgebungsdarstellung
75
Pandorabüchsen und Gretchenfragen der transmedialen Narratologie
Diese Verschiebung ist tiefer mit der generellen Ästhetik des Mediums verbunden, als
man meinen sollte: »Ikonische Funktionen im dritten Zeichenraum sind […] in Comics
so häufig, daß sie bisweilen fast unmerklich werden«.
76
Nimmt man dies ernst, öffnen
sich wahre Pandorabüchsen an Anschlussfragen. Im Falle von Spiegelmans Mäusen,
Asanos Vogelwesen oder Delisles Strichmännchen lassen die Bildobjekte absichtsvoll
keine sinnvolle Aussage darüber zu, wie man sich das durch sie Dargestellte perzeptuell
›eigentlich‹ vorzustellen hätte. In vielen anderen Fällen haben wir es eher mit
Ambiguitäten zu tun: zwei (oder mehr) Urteile schließen sich gegenseitig aus. Cartoon-
Rezipient_innen scheinen sich dennoch erstaunlich häufig dazu veranlasst zu fühlen,
eines der beiden Urteile leidenschaftlich zu vertreten. An Donald und der Familie Duck
75
Inio Asano: Gute Nacht, Punpun, Bd. 1, übersetzt von Sakura Ilgert, Hamburg 2013 [2007], S. 54/55;
Montage L.W.
76
Packard 2006, S. 241.
lässt sich hitzig und kontrovers diskutieren, ob es sich bei diesen ›eigentlich‹ um
Menschen handele – die nur als Enten dargestellt werden. Immerhin wohnen die Ducks
nicht nur in Häusern, fahren Autos und führen allerlei kuriose Geschäfte, sondern essen
zum Thanksgiving-Fest auch Truthahn. Den meisten Leser_innen von Carl
Barks‘ Turkey Hunter dürfte der Kannibalismus-Verdacht dennoch eher fernliegen (vgl.
Abb. 9).
77
Packards Erklärung: »[E]ine bildliche Darstellung einer Ente im
Matrosenanzug [referiert] konventionsgemäß auf Donald Duck – und lässt damit
zunächst offen, ob Donald selbst eine Ente ist«.
78
Dabei scheint es sich durchaus um ein
transkulturelles Merkmal der Cartoon-Ästhetik, ihrer Interpretation und ihres
Verstehens zu handeln. Auch für den japanischen Manga-Theoretiker Gō Itō gilt:
»When we see Mickey Mouse, we do not think he really is a mouse. His character does
not possess the physicality of a mouse and instead represents the concept of a cute
animal«.
79
Diese Problematik ist der Cartoon-Bildlichkeit damit geradezu
eingeschrieben. Zu denken wäre auch an Maskottchen- und Merchandising-›Figuren‹
wie Hello Kitty, zu denen ähnlich hitzige Kontroversen existieren, ob sie ›eigentlich‹
Menschen repräsentieren (»[t]he design takes the motif of a cat«).
80
Abb. 9: Kannibalische Enten oder Menschen, die als Enten dargestellt werden?
81
Wenn Donald, Micky, Kitty und andere Cartoon-Protagonisten ›eigentlich‹ menschliche
Wesen sein sollen (wenn die Darstellungskorrespondenz zwischen Bildobjekt und
referential meaning also blockiert gedacht ist), so bleibt es ganz den Rezipient_innen
überlassen, wie sie sich die fiktiven Akteure (und deren Wahrnehmbarkeit für ihre
fiktiven Zeitgenossen) vorzustellen hätten – und dies durchaus in intendierter Weise.
77
Vgl. Carl Barks: Donald Duck und die Truthähne, in: Barks Comics & Stories Band 14, übersetzt von Erika
Fuchs, hrsg. von Wolfgang J. Fuchs, Köln 2003 [1951], S. 91-100.
78
Packard 2006, S. 104.
79
Gō Itō: Manga History Viewed through Proto-Characteristics, übersetzt von Tetsurō Shimauchi, in: Tezuka.
The Marvel of Manga (hrsg. v. Philip Brophy), Melbourne 2006, S. 107-113, S. 112.
80
Zit. nach Lukas R.A. Wilde: Kingdom of Characters. Die ›Mangaisierung‹ des japanischen Alltags aus
bildtheoretischer Perspektive, in: Visual Narratives – Cultural Identities. Special-Themed Issue of VISUAL
PAST 3.1/2016, S.615-648. http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2016_0615.pdf (zit. 31. Januar 2017); vgl.
Christine R. Yano: ›Hello Kitty is Not a Cat?!?‹. Tracking Japanese Cute Culture at Home and Abroad, in:
Introducing Japanese Popular Culture (hrsg. v. Alisa Freedman u. Toby Slade), London 2018, S. 24-34, S. 31.
81
Carl Barks 2003 [1951], S. 94.
Falls es zutrifft, dass Donald keine Ente, Micky keine Maus und Kitty keine Katze ›ist‹,
dann verbergen die cartoonisierten Bildobjekte ihr referential meaning nämlich gleich
doppelt: nicht nur, dass sie sich kaum auf ein bestimmtes Aussehen festlegen lassen. Sie
zeigen umgekehrt gerade vieles, was den so dargestellten Wesen innerhalb der
dargestellten Welt gerade nicht zukommt: alle Merkmale, die zur Ente, Maus oder Katze
gehören und damit eher im dritten Zeichenraum liegen.
82
Zu Ende gedacht, sind die
Konsequenzen aber noch wesentlich weitreichender als das Problem der fraglichen
›Tierlichkeit‹ und betreffen auch die klar ›menschlichen‹ Körperdarstellungen von
Asterix und Obelix in Abbildung 5.
»Soll man den karikaturhaften Stil von Charles M. Schultz' Peanuts einzig dem
Diskurs zurechnen und sich vorstellen, dass Charlie Brown und Lucy im
Rahmen der erzählten Welt eigentlich ganz anders aussehen? […] Weder die
Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte,
noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders
aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden«.
83
Diese beiden Sätze in Martin Schüwers umfassender Comic-Narratologie haben im
vergangenen Jahrzehnt so auch die vielleicht kontroversesten – und produktivsten –
Diskussionen der jungen Comic- und Manga-Theorie ausgelöst. Trotz heftiger
Kontroversen entlang unterschiedlicher disziplinärer Prämissen steht eine systematische
Antwort hierzu – oder auch nur ein Konsens über geeignete Kriterien der
Entscheidbarkeit – noch aus.
84
Als Narratologe wird man geneigt sein, zu urteilen: »[I]t
seems uncontroversial to assume that characters represented in contemporary comics
(usually) do not consist of lines (as their pictorial representation generally
does)«.
85
Gegenüber einer ›naturalisierenden‹ Lesung, die in phantastischen,
abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern stets die Repräsentation einer Welt
vermutet, die unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es
aber auch möglich, umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic,
Manga und Animation brechen nicht nur lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten
(etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern weisen auch auf globaler Ebene eine
besondere ›visuelle Ontologie‹ auf.
86
Schließlich können wir hinsichtlich cartoonisierter
Tierwesen nie ganz sicher wissen: »Are these humanized animals or animalized
humans?«.
87
Eine Loslösung dargestellter Cartoon-Welten von allen Ansprüchen
82
Vgl. Packard 2006, S. 242
83
Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur,
Trier 2008, S. 23 u. S. 510.
84
Vgl. zur Übersicht etwa Packard 2013; Lukas R.A. Wilde: Was unterscheiden Comic-›Medien‹?, in: Closure.
Kieler e-Journal für Comicforschung 1/2014, S. 25-50, http://www.closure.uni-kiel.de/closure1/wilde (zit. 31.
Januar 2018); Thon 2016, S. 85-104; Stephan Packard: Bilder erfinden. Fiktion als Reduktion und
Redifferenzierung in graphischen Erzählungen, in: Fiktion im Vergleich der Künste und Medien (hrsg. v. Anne
Enderwitz u. Irina Olga Rajewsky), Berlin 2016, S. 125-143.
85
Thon 2016, S. 86.
86
Vgl. Pascal Lefèvre: Incompatible Visual Ontologies. The Problematic Adaption of Drawn Images, in: Film and
Comic Books (hrsg. v. Ian Gordon, Mark Jancovich u. Matthew P. McAllister), Jackson 2007, S. 1-12.
87
Speciesism, Part I: Translating Races into Animals in Wartime Animation, in: Mechademia 3/2008, S. 75-95,
S. 82.
lebensweltlicher Realität ist besonders im japanischen Manga- und Anime-Diskurs
prominent: »Character design strives to give characters a sui generis reality, one that is
irreducible to our kind of reality«.
88
Auch dieses Urteil lässt sich durch zahlreiche
analytische Argumente untermauern: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in
Comic und Manga häufig durch leichteste Manipulationen ihres Äußeren möglich
scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten
Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann. In solchen Fällen scheint es, als
bestünde nicht nur die Darstellung ihrer Welt aus einfachsten Konturlinien, ›hinter‹ der
eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen liegt (ähnliches ist freilich auch häufig auf
Theaterbühnen zu beobachten, wo die Darstellungskorrespondenz oft ähnlich ›schwach‹
ausfällt wie im Comic).
89
Dass sich dieser Zweifel am Cartoon nicht grundsätzlich lösen
lässt, darauf hat Packard immer wieder zu Recht bestanden. Es ist ein »konstitutiver
blinder Fleck der dem Comic eigenen Zeichenform, des Cartoons«.
90
Er zwingt uns
damit ganz zwangsläufig, zu zweifeln: in der Rezeption wie auch in der akademischen
Reflexion.
88
Nozawa, Shunsuke: Characterization, in: Semiotic Review: Open Issue 3/2013, n.pag.
https://www.semioticreview.com/ojs/index.php/sr/article/view/16/15 (zit. 31. Januar 2018).
89
Vgl. Packard 2006, S. 151-154; Wilde 2014.
90
Packard 2006, S. 242.
Abb. 10/11: Erschreckende Hybridkreatur oder unbestimmtes Cartoon-Wesen?
91
Der Umstand, dass der dritte Zeichenraum eine stets vorhandene Zone der imaginativen
Aushandlung bereitstellt, bietet für Comic- und Manga-Autor_innen besondere
Möglichkeiten der ästhetischen Gestaltung. Ein viel diskutiertes Beispiel soll dies noch
einmal abschließendes verdeutlichen. Es stammt aus Tezuka Osamus Manga The
Mysterious Underground Men (Chiteikoku no kaijin) von 1948, das von japanischen
Manga-Forscher_innen als historischer Wendepunkt in der Geschichte des Mediums
beschrieben wurde.
92
Dieser Wendepunkt wurde, folgt man jener Lektüre, exakt durch
den ambivalenten Status seines tierischen Protagonisten markiert. Tezuka erzählt in
dieser Aventüre, wie ein Hase namens ›Mimio‹ (wörtlich: ein ›Ohren-Junge‹) durch
Experimente von Wissenschaftlern ein menschliches Bewusstsein verliehen bekommt
und auch der Sprache mächtig wird (vgl. Abb. 10). Die anthropomorphe Gestalt und
Handlungsfähigkeit des ›Cartoon-Tiers‹ wird damit gewissermaßen narrativ
naturalisiert. Zu Beginn der Handlung reagiert die Welt noch entsetzt auf Mimio (vgl.
Abb. 11). Man sieht wohl tatsächlich eine erschreckende, hybride Kreatur in ihr, an
welcher grauenhafte Experimente vollzogen wurden. Sehr rasch jedoch wird Mimios
Status gar nicht mehr thematisiert, neue Figuren akzeptieren ihn umstandslos als
Gefährten, als Cartoon-Figur, wie man sie aus unzähligen anderen Werken des Genres
verinnerlicht hat. In zahlreichen Verkleidungen schlüpft Mimio auch in wechselnde
menschliche Rollen (zunächst eines Straßenjungens, später eines kleinen Mädchens).
Durch einfache Masken kann er diese problemlos verkörpern, ohne dass dies für sein
Umfeld durchschaubar wäre – spätestens hier wird klar, dass die Grenze von referential
meaning zum dritten Zeichenraum unmerklich verschoben wurde. Zum Ende der
Handlung jedoch opfert sich Mimio für die Menschheit, um sie zu retten. Der Manga
endet im Krankenhaus, in dem Mimios Masken eine nach der anderen abgenommen
werden, bis der Hase wieder zum Vorschein kommt. Mimio stirbt, Berichten zufolge ein
beinahe traumatisches Ereignis für eine ganze Generation von Leser_innen. Zuvor war
es undenkbar, dass eine gezeichnete Cartoon-Figur überhaupt eine solche Körperlichkeit,
eine Verletzlichkeit und Sterblichkeit besitzen könne.
93
Tezuka hat uns den Anfang der
Geschichte ebenso vergessen lassen wie die Verschiebung des dritten Zeichenraums,
dessen Redifferenzierung die Leser_innenschaft daher mit allem Gewicht trifft. Sie
91
Osamu Tezuka: The Mysterious Underground Men, übersetzt u. hrsg. von Ryan Holmberg, New York 2013
[1948] (Ten-Cent Manga Series, Bd. 2), S. 15, S. 26.
92
Vgl. Gō Itō 伊藤剛: Tezuka isu deddo. Hirakareta manga hyōgenron he テヅカ・イズ・デッド― 開かれた
漫画表現論へ. Tokyo 2005, S. 120-142; Yoshihiro Yonezawa 米沢嘉博: Manga de yomu ›namida‹ no kōzō マ
ンガで読む「涙」の構造. Tokyo 2004, S. 221; Eiji Ōtsuka 大塚英志: Atomu no meidai. Tezuka Osamu to
sengo manga no shudai アトムの命題―手塚治虫と戦後まんがの主題. Tokyo 2009, S. 120-142 sowie zur
Übersicht Itō 2006; Jaqueline Berndt: Ghostly. ›Asian Graphic Narratives‹, Nonnonba, and Manga, in: From
Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative (hrsg. v. Daniel
Stein u. Jan- Noël Thon), Berlin, 2. Auflage 2014, S.363-384, insb. 375f.
93
Vgl. mit Bezug zum US-amerikanischen Animationsfilm: Christian McCrea: Explosive, Expulsive,
Extraordinary. The Dimensional Excess of Animated Bodies, in: Animation 3/2008, S. 11-24, sowie bereits
Sergei Eisenstein: Eisenstein on Disney, hrsg. v. Jay Leyda, übersetzt v. Alan Upchurch, London 1988 [1941].
verlieht Mimios letzten Worten eine eigene Tragik, die ganz im ästhetisch-narrativen
Spiel mit der Cartoon-Bildlichkeit begründet liegt: »John, am I Human?« –»You are
greater than any Human, Mimio – I’ll never forget you«.
94
Kaum mehr als angedeutet
werden kann an dieser Stelle, welche bedeutenden politischen Dimensionen so auch in
den Cartoon eingeschrieben sind. Thomas LaMarre hat dies für die japanische Manga-
und Anime-Geschichte am deutlichsten herausgearbeitet: »Manga and manga films do
not simply represent actual peoples in animal form in order to sugarcoat the exploitation
of weak by the strong. They transform a field of social and political relations into
biopolitical theater«.
95
Weil die Bilder des Comics häufig auf konventionelle, stereotype
und (im technologischen wie im partizipatorische Sinne) leicht reproduzierbare
Bildelemente zurückgreifen, sind sie einerseits anfällig für rassistische Verfahren, um
Gruppenzugehörigkeiten zu kennzeichnen.
96
Andererseits besitzen sie gerade in der
Serialität ihrer Wiederholungen ein großes Potenzial für satirische und subversive
Aushandlungen der aufgerufenen Identitäten – mitunter auch gegen die möglichen
Intentionen ihrer jeweiligen Schöpfer_innen. Dies eben insbesondere, da sie im
unmarked case ohnehin nicht enthüllen, welche identifizierenden Erscheinungsweisen
der Cartoon gerade maskiert und verbirgt.
97
Ein vorsichtiges Zwischenfazit: Bildlichkeit, Repräsentation und Medialität
Die ambivalente Grenze zwischen referential meaning und drittem Zeichenraum öffnet,
so wollte ich zeigen, eine Zone der künstlerischen Aushandlung. Gefragt – und
gezweifelt – werden muss am Cartoon doch stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten
der sichtbaren Bildobjekte darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und
diskursiv konstruierte Diegese übertragen sind. Pierre Fresnault-Deruelle formulierte
diesen Umstand mit den Worten, Comics seien eine »art of suggestion, not mimesis«.
98
Zusammenfassend wäre auf den bemerkenswerten (und historisch reich belegten)
Vorschlag eines Pioniers der Comicforschung hinzuweisen, des Kunstdidaktikers
Dietrich Grünewald: Die Bilder des Comics stünden den Bühnenkünsten womöglich
wesentlich näher als dem Realfilm.
99
Die Panels präsentieren quasi kleine Bühnen voll
94
Nach der englische Übersetzung in Tezuka 2013 [1948], S. 147f.
95
Thomas LaMarre: Speciesism, Part III: Neoteny and the Politics of Life, in: Mechademia 6/2011, S. 110-136,
S. 118; vgl. LaMarre 2008; Thomas LaMarre: Speciesism, Part II: Tezuka Osamu and the Multispecies Ideal, in:
Mechademia 5/2010, S. 51-85.
96
Vgl. M. J. Lewis: Cartooning, Left and Right, in: Commentary, 116.3/2003, S. 67-72, S. 70.
97
Vgl. Ole Frahm: Die Sprache des Comics. Hamburg 2010 sowie Elisabeth Klar: Tentacles, Lolitas, and Pencil
Strokes. The Parodist Body in European and Japanese Erotic Comics, in: Manga’s Cultural Crossroad (hrsg. v.
Jaqueline Berndt u. Bettine Kümmerling-Meibauer), Hoboken 2013, S. 121-142.
98
Zit. nach Pascal Lefèvre: Some Medium-Specific Qualities of Graphic Sequences, in: Graphic Narratives and
Narrative Theory. Special issue of SubStance 40.1/2011, S. 14-33.
99
Vgl. Dietrich Grünewald: Theater auf Papier. Anmerkungen zum Verhältnis von Bildgeschichte und Theater,
in: Dramatische Formen. Beiträge zu Geschichte, Theorie und Praxis (hrsg. v. Kurt Franz), Baltmannsweiler 2007,
S. 74-98.
symbolträchtig gewählter Requisiten, Figuren werfen sich in zugespitzte Posen,
Hintergrundfolien deuten wie Bühnenleinwände oft lediglich den Typ des Schauplatzes
an (Ulrich Krafft sprach von »Raumzeichen«).
100
Ebenso wie ein Darsteller auf einer
dreidimensionalen Theaterbühne stets nur eine Repräsentation von (etwa) Hamlet sein
kann, der doch in einer ontologisch ganz geschiedenen raumzeitlichen Domäne
›existiert‹, genauso bewahren sich auch die perzeptuellen Ersatzreize auf den
zweidimensionalen Comic-Flächen eine unüberbrückbare Distanz zur Diegese – wie
›naturalistisch‹ sie im Einzelfall auch erscheinen mögen. Wenn die Kluft zwischen
phänomenal sichtbarem Bildobjekt und intersubjektivem referential meaning
zwangsläufig nicht zusammenfallen kann, so lässt sie sich nur auf Ebene der
Traditionsbildung, Diskursivierung und Anschlusskommunikation, auf Ebene
performativer Praxen, rekonstruieren.
Abb. 12: Ein abschließendes Modell bildsemantischer Ebenen in narrativen
Medienangeboten
101
Jede Form der narrativ eingesetzten Bildlichkeit muss sich somit stets als doppelte Form
einer Differenz verstehen lassen (vgl. Abb. 12): einerseits der ikonischen (perzeptuellen)
Kategorisierung eines Bildträgers als eines Bildobjekts, anderseits der (inferenziellen)
Konstruktion eines intersubjektiven referential meanings. Jene zweite Schwelle aber
bleibt abhängig von historisch, kulturell und insbesondere generisch flexiblen
Darstellungs- und Vorstellungskonventionen, die als habits of interpretation um
bestimmte, als prototypisch erachtete Artefakte und Medientypen ›herum wachsen‹.
Walton spricht von impliziten »rules of generation«, durch welche narrative Artefakte
100
Vgl. Ulrich Krafft: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics, Stuttgart 1978, S. 40-59, sowie
mit Bezug zum Manga Dolle-Weinkauff 2011.
101
Kilian Wilde 2017, www.wilde-grafik.com.
anhand geteilter Konventionen Imaginationen »anordnen« (mandate) oder
»vorschreiben« können (prescribe).
102
Diese lassen sich anhand exemplarischer Fälle –
und Diskursivierungen dieser Fälle – stets nur heuristisch rekonstruieren.
In den meisten Fällen werden piktoriale Artefakte aber als bestimmte mediale Formate
bestimmter Traditionen ausgewiesen, welche Produktions- und
Rezeptionsgemeinschaften als wechselseitig bekannt voraussetzen können. Die
Medialität – all jene Markierungen, die zur Unterscheidung und Identifizierung eines
solchen ›Einzelmediums‹ (im kulturellen Sinne) beitragen – fungiert damit
gewissermaßen als Rahmung, als Leseanweisung, mit der einige Zweifel an dem, was
ein Bild darstellt, beiseite geräumt werden können.
103
In einer autobiographischen
Graphic Novel werden wir Abstraktionen, Reduktionen und Überformungen etwa stets
der Seite der Darstellung, anthropomorphe Tierwesen getrost dem dritten Zeichenraum
zurechnen. Die Medialität der Bildlichkeit kann den Zweifel an dem, was wir sehen,
aber auch auslösen: dann nämlich, wenn keinesfalls mehr ausgemacht ist, wie die
Darstellungskorrespondenz an das Bildobjekt anschließt – und dies scheint in Comic
und Manga besonders häufig der Fall zu sein, wie sich an Schüwers ›Gretchenfrage‹
zeigen ließ. Ein prinzipieller Zweifel an der Sichtbarkeit narrativer Bilder stellt daher
ein unveräußerliches Analyseinstrument dar, mit dem immer wieder neu gefragt werden
muss: Als was fassen wir das auf, was wir in Bildmedien sehen? Und: Wie lässt sich
dies bestimmen – wenn nicht wieder in (anderen Artikulationen in) Medien?
104
Jede
neue Darstellung, jede Transkription, wird weitere Flanken zu einem neuen ›medialen
Als‹ eröffnen.
105
Die Sprache, in welcher diese Thematisierung häufig stattfindet, darf
dabei kaum als eine ›neutrale‹ mediale Bedingung angesehen werden. Da Konstruktion
wie Rekonstruktion unserer Bildzweifel stets nicht nur an, sondern auch in Medien
vollzogen wird, muss zu deren Beobachtung letztlich immer eine medienvergleichende,
rekursive und damit mediendiskursanalytische Perspektive eingenommen werden.
106
102
Walton 1993, S. 35-43.
103
Vgl. Wilde 2018 (Medium, Form, Genre?).
104
Vgl. hierzu umfassender Lukas R.A. Wilde: LEGO als Marke, Lego als Material: Transmedialisierbarkeit und
Wahrnehmbarkeit dargestellter Welten, in: Transmedialisierung (hrsg. v. Sabine Coelsch-Foisner), Heidelberg
2018 (Kulturelle Dynamiken/Cultural Dynamics), in Vorbereitung.
105
Vgl. Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Transkribieren.
Medien/Lektüre (hrsg. v. Ludwig Jäger u. Georg Stanitzek), München 2002, S. 19-41.
106
Für wertvolle Anmerkungen und kritische Beobachtungen zu diesem Beitrag bin ich Philip Dreher und
Stepan Packard zu großem Dank verpflichtet.