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DLR
Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
Studie für Agora Verkehrswende 2023
I
AutorInnen: Dr. Kerstin Stark1, Dr. Ariane Kehlbacher1und Dr. Giulio Mattioli2
Erstellt im Auftrag von Agora Verkehrswende unter Mitwirkung von Benjamin Fischer und
Janna Aljets (Agora Verkehrswende).
1Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt
Institut für Verkehrsforschung
Rudower Chaussee 7
12489 Berlin
Kontakt: kerstin.stark@dlr.de
2Tätigkeit im Rahmen eines Unterauftrags
Kontakt: giulio.mattioli@gmail.com
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Mobilitätsarmut in Deutschland 1
2 Grundlagen 4
2.1 Mobilitätsarmut: Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
2.2 Dimensionen und empirische Messbarkeit von Mobilitätsarmut . . . . . . . . 7
2.2.1 Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.2.2 Erreichbarkeit von Verkehrsangeboten, Zielorten und Gelegenheiten 8
2.2.3 Erschwinglichkeit von Verkehrsangeboten und Gelegenheiten . . . . 9
2.2.4 Mobilitätsbezogene Zeitarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3 Empirische Datenanalyse 11
3.1 Mobilitätsarmut von Haushalten: Analyse anhand ihrer Mobilitätsausgaben . 11
3.1.1 Daten ..................................... 12
3.1.2 Vorgehen ................................... 19
3.1.3 Von Mobilitätsarmut betroffene Haushaltsgruppen . . . . . . . . . . . 19
3.1.4 Ergebnisse .................................. 22
3.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretation . . . . . . . . . . 35
3.2 Vulnerabilität von Haushalten gegenüber Tankkostenerhöhungen . . . . . . . 40
3.2.1 Datengrundlage und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.2.2 Ergebnisse .................................. 43
4 Politische Handlungsoptionen 50
4.1 Grundlagen für die Bewertung von Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 50
4.1.1 Vorgehen ................................... 50
4.1.2 Handlungsfelder ............................... 52
4.1.3 Bewertungsschema für die Maßnahmenoptionen . . . . . . . . . . . . 52
4.2 Maßnahmen zur Verringerung und Vermeidung von Mobilitätsarmut . . . . . 55
4.2.1 Maßnahmen gegen Mobilitätsarmut nach Handlungsfeld . . . . . . . 55
4.3 Fokus auf ausgewählte Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
4.3.1 Klimageld................................... 66
4.3.2 Mobilitätsgeld ................................ 68
4.3.3 SozialesLeasing ............................... 70
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland II
Inhaltsverzeichnis III
4.3.4 Mobilitätsgarantie mit Ausgleichszahlung bei Nichterfüllung . . . . . 71
4.4 Abschließende Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
5 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 74
Appendix 84
A1 Modellspezifikation.................................. 84
A2 Modellschätzung ................................... 87
A3 Geschätzte Modellparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
A4
Geschätzte Differenzen zwischen den Mobilitätsausgabenanteilen von Q1,
Q2,Q3......................................... 94
A5 Deskriptive Statistiken - EVS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
Tabellenverzeichnis
2.1 Dimensionen von Mobilitätsarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
3.1 EVS Variablen in der statistischen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.2
Verwendete Indikatoren und Kennwerte zur Beschreibung des Mobilitätsver-
haltens der Haushaltsgruppen in der MiD 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.3 Indikatoren für Mobilitätsarmut in der EVS und der MiD (Teil 1) . . . . . . . . 17
3.4 Indikatoren für Mobilitätsarmut in der EVS und der MiD (Teil 2) . . . . . . . . 18
3.5 Stichproben und Bevölkerungsgrößen und -anteile anhand der EVS 2018 . . 21
3.6
Tagesstrecke am Tag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus und Mobilität
amTagderBefragung ................................ 32
3.7
Unterwegszeiten am Tag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus und
Mobilität am Tag der Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.8
Tagesstrecke am Stichtag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus und
Mobilität nach Regionsgrundtyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.9
Tagesstrecke am Stichtag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus und
Mobilität am Stichtag nach Erwerbstätigkeit und Kindern im Haushalt. . . . . 35
3.10 Indikatoren, die für den Vulnerabilitätsindex verwendet werden . . . . . . . . 42
4.1 Handlungsfelder und Mobilitätsarmutsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.2 Bewertungssystematik ................................ 53
4.3 Bewertungsschema.................................. 54
4.4 Überblick über Handlungsfelder und Maßnahmentypen . . . . . . . . . . . . 55
4.5 Überblick über Handlungsfelder und Maßnahmentypen . . . . . . . . . . . . 56
4.6
Maßnahmenbewertung im Handlungsfeld Verringerung der Autoabhängigkeit
59
4.7 Maßnahmen im Handlungsfeld Entlastung für das private Haushaltsbudget . 60
4.8
Maßnahmenbewertung im Handlungsfeld Entlastung für das Haushaltsbudget
63
4.9 Maßnahmen im Handlungsfeld Entlastung für das private Haushaltsbudget . 64
4.10
Maßnahmenbewertung im Handlungsfeld Erhöhung der räumlich-zeitlichen
Flexibilität ....................................... 65
A1 A-posteriori-Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Parameter . . . . . . . . . . 89
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland IV
Tabellenverzeichnis V
A2
A-posteriori-Wahrscheinlichkeitsverteilung der mobilitätsgruppenspezifischen
Effekte
αg
: Mittelwert, Modus, Median und 95% Bayessche Konfidenzinter-
vallgrenzen ...................................... 93
A3
A-posteriori-Wahrscheinlichkeitsverteilung der bundeslandspezifische Effekte
αb
Mittelwert, Modus, Median und 95% Bayessche Konfidenzintervallgrenzen
93
A4
Differenz zwischen den Erwartungswerten der Mobilitätsausgabenanteile
von Q1 und Q3 (in Prozentpunkten). Annahme ist, dass es sich dabei um
Zweipersonenhaushalte in Nordrhein-Westfalen handelt, deren Hauptein-
kommensperson weiblich und 40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, im
Zeitraum April-September. MW: Mittelwert, Med: Median . . . . . . . . . . . 97
A5
Differenz zwischen den Erwartungswerten der Mobilitätsausgabenanteile
von Q2 und Q3 (in Prozentpunkten). Annahme ist, dass es sich dabei um
Zweipersonenhaushalte in Nordrhein-Westfalen handelt, deren Hauptein-
kommensperson weiblich und 40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, im
Zeitraum April-September. MW: Mittelwert, Med: Median . . . . . . . . . . . 98
A6
Deskriptive Statistiken zu privaten Haushalten nach Einkommen und Autobe-
sitz in der EVS. Alle Angaben sind Mittelwerte. Ausgaben für Auto enthalten
keine Anschaffungskosten und Wertverluste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
A7
Deskriptive Statistiken zu privaten Haushalten nach Einkommen und Au-
tobesitz in der EVS. Alle Angaben sind Mittelwerte. HEK: Haupteinkom-
mensperson. Ausgaben für Auto enthalten keine Anschaffungskosten und
Wertverluste. .....................................100
A8
Ausgaben von Q1 und Q2 für Verkehrsmittel nach Einkommen, Region,
Erwerbstätigkeit/Ausbildung, Autobesitz. Ausgaben für Auto ohne Anschaf-
fungskosten und Wertverlust. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
A9
Ausgaben von Q3 und Q4 für Verkehrsmittel nach Einkommen, Region,
Erwerbstätigkeit/Ausbildung, Autobesitz. Ausgaben für Auto ohne Anschaf-
fungskosten und Wertverlust. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
A10
Ausgaben von Q5 für Verkehrsmittel nach Einkommen, Region, Erwerbstätig-
keit/Ausbildung, Autobesitz. Ausgaben für Auto ohne Anschaffungskosten
undWertverlust. ...................................103
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
Abbildungsverzeichnis
3.1
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen Anteile in den
Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in Prozentpunkten) für
Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 1. Median der Verteilung in Gelb. . 23
3.2
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen Anteile in den
Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in Prozentpunkten) für
Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 2. Median der Verteilung in Gelb. . 24
3.3
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen Anteile in den
Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in Prozentpunkten) für
Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 3. Median der Verteilung in Gelb. . 25
3.4
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen Anteile in den
Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in Prozentpunkten) für
Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 4. Median der Verteilung in Gelb. . 26
3.5
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen Anteile in den
Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in Prozentpunkten) für
Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 5. Median der Verteilung in Gelb. . 27
3.6
Wahrscheinlichkeitsverteilung der geschätzten Differenz der Erwartungs-
werte der Mobilitätsausgabenanteile von Einkommensgruppen 1 und 3.
Annahme ist, dass es sich dabei um Zweipersonenhaushalte in Nordrhein-
Westfalen handelt, deren Haupteinkommensperson weiblich und 40 Jahre
alt ist, mit geringer Bildung, im Zeitraum April bis September. . . . . . . . . . 30
3.7
Wahrscheinlichkeitsverteilung der geschätzten Differenz der Erwartungs-
werte der Mobilitätsausgabenanteile von Einkommensgruppen 2 und 3.
Annahme ist, dass es sich dabei um Zweipersonenhaushalte in Nordrhein-
Westfalen handelt, deren Haupteinkommensperson weiblich und 40 Jahre
alt ist, mit geringer Bildung, im Zeitraum April bis September. . . . . . . . . . 31
3.8
Räumliche Muster der Exposition gegenüber einer Erhöhung der Tankkosten.
Quelle: eigene Darstellung von Daten des KBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.9
Räumliche Muster der Sensibilität gegenüber einer Erhöhung der Tankkosten.
Quelle: eigene Darstellung von Daten der Statistische Ämter des Bundes und
der Länder und der Bundesagentur für Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.10 Räumliche Muster der Anpassungsfähigkeit gegenüber einer Erhöhung der
Tankkosten. Quelle: eigene Darstellung von Daten von Agora Verkehrswende 48
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland VI
Abbildungsverzeichnis VII
3.11
Räumliche Muster der Vulnerabilität gegenüber einer Erhöhung der Tank-
kosten. Quelle: eigene Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
4.1 Vorgehen Maßnahmenauswahl und -bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
A1 Darstellung des Hierarchischen Bayes-Modells mit zwei Ebenen . . . . . . . . 85
A2 Histogramm der Potential-Scale-Reduction-Faktoren (Rhat) . . . . . . . . . . . 88
A3
Wahrscheinlichkeitsverteilungen des geschätzten prozentualen Verhältnisses
der Erwartungswerte der Mobilitätsausgabenanteile von Einkommensgrup-
pen 1 und 3. Annahme ist, dass es sich dabei um Zweipersonenhaushalte in
Nordrhein-Westfalen handelt, deren Haupteinkommensperson weiblich und
40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, im Zeitraum April bis September. . . . . 95
A4
Wahrscheinlichkeitsverteilungen des geschätzten prozentualen Verhältnisses
der Erwartungswerte der Mobilitätsausgabenanteile von Einkommensgrup-
pen 2 und 3. Annahme ist, dass es sich dabei um Zweipersonenhaushalte in
Nordrhein-Westfalen handelt, deren Haupteinkommensperson weiblich und
40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, im Zeitraum April bis September. . . . . 96
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
1 Einleitung: Mobilitätsarmut in
Deutschland
Mobilität ist eine wesentliche Voraussetzung für die soziale Teilhabe. Mobilitätsarmut bedeu-
tet daher, dass es zu Einschränkungen in der sozialen Teilhabe aufgrund zu hoher Kosten
oder Zeitaufwände für Mobilität kommt. Mobilitätsarmut ist nicht einfach eine Variante
der Einkommensarmut, wenn auch das Einkommen eine wichtige Rolle spielt. Vielmehr
entsteht sie in Zusammenhang mit verschiedenen Faktoren, die sich zudem gegenseitig
verstärken können. Hier sind insbesondere die unzureichende Verfügbarkeit oder die ho-
hen Kosten von Verkehrsangeboten, weite Wege und lange Fahrtzeiten, ein schlechter
Zugang zu ÖPNV-Haltestellen und allgemein eine schlechte Erreichbarkeit von Orten des
täglichen Bedarfs zu nennen. Das heißt, Menschen mit geringem Einkommen müssen nicht
zwangsläufig mobilitätsarm sein und Menschen mit ausreichendem Einkommen können
mobilitätsarm sein. Ein Kernproblem, das Mobilitätsarmut in Deutschland befördert hat, ist
die in vielen Regionen über Jahrzehnte gewachsene Abhängigkeit vom eigenen Auto. In
vielen Regionen können Menschen ohne Auto ihre täglichen Zielorte nicht in angemessener
Zeit und mit vertretbarem Aufwand erreichen und so ihre gewünschten Aktivitäten nicht
vollständig umsetzen. Sie sehen sich oft gezwungen, ein Auto zu unterhalten, auch wenn
das bedeuten kann, dass sie an anderen Enden sparen müssen. Grundsätzlich wird das
Auto in Deutschland subventioniert, zum Beispiel durch steuerlich absetzbare Pendlerpau-
schale, Dienstwagenprivileg oder Kaufprämie für Elektroautos. Von solchen Subventionen
profitieren aber bisher besonders Personen mit hohen Einkommen.
Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern wie Großbritannien oder Frankreich gab
es in Deutschland bislang wenig politische Aufmerksamkeit für das Thema Mobilitätsarmut.
Dabei ist die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse und damit verbunden der Chan-
cengleichheit „für alle in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig vom Wohnort“ ein
auch im Grundgesetz verankertes politisches Ziel [
26
]. Dazu gehören wesentlich auch die
Verfügbarkeit von und der Zugang zu Infrastrukturen und Einrichtungen der Daseinsvorsor-
ge an allen Orten und für alle Bevölkerungsgruppen.
Angesichts steigender Energiepreise zeichnet sich allerdings eine vermehrte Aufmerksam-
keit ab. Mobilitätsarmut wird auch für Deutschland zunehmend als Problem erkannt. Die
Bepreisung von CO
2
im Straßenverkehr wird die Kraftstoffpreise weiter ansteigen lassen.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland 1
1 Einleitung: Mobilitätsarmut in Deutschland 2
Das wirft Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf beziehungsweise verstärkt sie, insbesondere
für Haushalte, die auf ein Auto angewiesen sind und dafür schon heute Einschränkungen
im Konsum hinnehmen müssen. Deshalb werden von den Gegnern und Gegnerinnen
von Klimaschutzmaßnahmen immer wieder Bedenken hinsichtlich der sozialen und ver-
teilungspolitischen Auswirkungen einer Verteuerung der Autonutzung geäußert. Dabei
kann Klimaschutz die soziale Teilhabe verbessern, entscheidend dafür ist, wie mögliche
Zielkonflikte angegangen werden. Eine Politik zur Vermeidung von Mobilitätsarmut könnte
soziale Teilhabe und zugleich Klimaschutz befördern und dazu beitragen, dass Menschen
unabhängig von Einkommen oder Wohnort ihre alltäglichen Aktivitäten mit einem möglichst
geringen CO
2
-Verbrauch realisieren können. Zur finanziellen Entlastung der privaten Haus-
halte wurden von der Bundesregierung im Jahr 2022 Maßnahmenpakete aufgelegt, von
denen besonders die unteren Einkommensgruppen profitieren sollen. Im Verkehrsbereich ist
der Tankrabatt zu nennen. An diesem Beispiel zeigt sich allerdings, dass nicht alle Maßnah-
men geeignet sind, soziale und Klimaziele gleichzeitig zu adressieren, denn es wurden über
alle Einkommensgruppen hinweg Anreize zu einer vermehrten oder zumindest gleichblei-
benden Autonutzung (im Vergleich zu einem Szenario mit gleich hohen Energiepreisen, aber
ohne Tankrabatt) gesetzt – was dem Klimaschutz entgegensteht. Die finanziellen Anreize
der Energiesteuersenkung gehen klar in Richtung höherer Kraftstoffverbrauch. Eine weitere
Entlastungsmaßnahme war das 9-Euro-Ticket, mit dem der Regionalverkehr und öffentliche
Nahverkehr deutschlandweit genutzt werden konnten. Grundsätzlich gilt der öffentliche
Nahverkehr (ÖPNV) als Rückgrat einer sozial ausgewogenen Verkehrswende. Das so deutlich
preisreduzierte Ticket hat, wie erste Studienergebnisse zeigen, einkommensarmen Men-
schen geholfen, unbeschwert einen Ausflug zu unternehmen oder für die täglichen Wege
mal die Bahn zu nehmen, beides war ihnen vorher nicht immer möglich [
1
]. Aber nicht alle
Bevölkerungsteile können in gleicher Weise von einem preisreduzierten ÖPNV profitieren,
da es in vielen Regionen kaum ein Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln gibt, der Bus
nur im Ein- oder Zweistundentakt fährt oder der nächste Bahnhof kilometerweit entfernt
ist.
Inwieweit die genannten Maßnahmen zur Verringerung der Mobilitätsarmut beitragen
konnten, lässt sich schwer beantworten, nicht zuletzt deshalb, weil eine umfassende em-
pirische Evidenz zur Mobilitätsarmut im Status quo noch fehlt. Die vorliegende Studie
zielt daher darauf, anhand der Analyse vorhandener empirischer Daten einen Beitrag zur
Feststellung des Status quo der Mobilitätsarmut in Deutschland zu leisten (Kapitel 3). Ferner
besteht der Beitrag darin, ein einheitliches Verständnis von Mobilitätsarmut zu befördern
und in die politische Debatte einzubringen, das auf dem Stand internationaler Forschung
fußt und Mobilitätsarmut gegenüber anderen Phänomenen wie der Einkommensarmut
abgrenzt (Kapitel 2). Dabei ist auf die eingeschränkte Datengrundlage zu verweisen, die der
Studie zur Verfügung stand. In Deutschland gibt es verschiedene thematisch spezialisierte
Datensätze aus bundesweiten repräsentativen Erhebungen, zum Beispiel zum Verkehrsver-
halten, zur Zeitnutzung oder zum Konsumverhalten. Die Verknüpfung dieser Datensätze ist
nur schlecht oder über Umwege möglich und es bleiben Lücken. Vor diesem Hintergrund
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
1 Einleitung: Mobilitätsarmut in Deutschland 3
konnten einige Aspekte von Mobilitätsarmut nur näherungsweise untersucht werden oder
es wurden methodische Umwege gefunden, um einzelne Lücken zu adressieren. Als Beispiel
ist die räumliche Analyse unter 3.2 zu nennen, die analysiert, wie verwundbar die verschie-
denen Regionen Deutschlands im Fall einer Erhöhung der Tankkosten sind. Aufbauend
auf den empirischen Erkenntnissen werden verschiedene politische Handlungsoptionen zur
Vermeidung von Mobilitätsarmut betrachtet und bewertet (Kapitel 4). Es handelt sich um
Instrumente oder Konzepte, die bereits erprobt wurden und derzeit erprobt werden oder
die durch Verbände, Thinktanks oder politische Akteure in die Debatte eingebracht wurden.
Ziel ist das Zusammentragen, die Systematisierung und Bewertung dieser Maßnahmen und
Vorschläge. Auf dieser Basis werden übergeordnete Hinweise gegeben, die zur Priorisierung
und Ausgestaltung von Maßnahmen gegen Mobilitätsarmut seitens der politischen Akteure
genutzt werden können. Allgemeine Maßnahmen zur Vermeidung von sozialer Ungleichheit
oder Armut per se werden nicht diskutiert, was nicht bedeutet, dass Maßnahmen gegen
Mobilitätsarmut nicht auch soziale Ungleichheit reduzieren können.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
2 Grundlagen
2.1 Mobilitätsarmut: Begriffsbestimmung
Ausgehend von ihren vielen Facetten wird Mobilitätsarmut in der Forschung als mehrdi-
mensionales Phänomen verstanden. In Anlehnung an wichtige Vorarbeiten [
45
,
46
,
32
]. In
dieser Studie ausgeklammert wird die in der Literatur ebenfalls vorgeschlagene Dimension
der Exposition gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen, wenn also eine Person aufgrund
ihres Wohnorts und ihres Mobilitätsverhaltens übermäßig schädlichen verkehrsbedingten
Umwelteinflüssen ausgesetzt ist. Diese Einflüsse sollen als Verstärker bestehender Mobilitäts-
armut werden, da es sich dabei aber um grundverschiedene Ursachen und Auswirkungen
handelt, wird die Dimension als eigenständiges Phänomen eingeordnet. definieren wir
Mobilitätsarmut in Bezug auf die Dimensionen (i) Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten,
(ii) Erreichbarkeit von Verkehrsangeboten und Zielorten, (iii) Erschwinglichkeit von Ver-
kehrsangeboten und (iv) mobilitätsbezogene Zeitarmut. Alle werden in Tabelle 2.1 näher
beschrieben. Dementsprechend ist vorrangig dann eine Person vulnerabel für Mobilitätsar-
mut, wenn Verkehrsangebote in ihrer Umgebung fehlen oder unzureichend sind; sie keinen
ausreichenden Zugang zu eigentlich verfügbaren Verkehrsangeboten und Verkehrsmitteln
hat; die für sie relevanten Orte, zum Beispiel der Arbeitsort, Orte des täglichen Bedarfs,
Freizeit- oder medizinische Einrichtungen, schlecht erreichbar sind; sie sich Verkehrsange-
bote und -mittel nicht leisten kann oder für deren Finanzierung einen hohen Anteil ihres
Einkommens verbraucht; sie durch lange Pendelzeiten und den Fahrten oder Wegen zur
Wahrnehmung von Verpflichtungen wenig Zeit im Alltag zulasten von Erholung und Freizeit
hat.
Um von Mobilitätsarmut gefährdet zu sein, muss eine Person nicht von jeder Dimension
gleichermaßen betroffen sein und nicht immer spielt eine Rolle, wie hoch das Einkommen
ist. Wenn beispielsweise eine Person in einer Umgebung lebt, in der sie alle relevanten
Ziele fußläufig oder mit dem Rad erreichen kann, ist sie auch bei einem geringen Einkom-
men nicht von Mobilitätsarmut betroffen. Wenn aber die wichtigen Zielorte weniger gut
erreichbar sind oder es keinen gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr gibt, kann das
durch ein ausreichendes Einkommen gegebenenfalls kompensiert werden. Insofern stehen
die Mobilitätsdimensionen in einem komplexen Verhältnis zueinander, sie können allein
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland 4
2 Grundlagen 5
Mobilitätsarmut verursachen oder aber sich gegenseitig abschwächen oder verstärken.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
2 Grundlagen 6
Tabelle 2.1: Dimensionen von Mobilitätsarmut
Dimension Ausprägung
Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten
Fehlende Verfügbarkeit von Verkehrsange-
boten (z. B. Bahnhöfe, Haltestellen, wenige
Fahrtangebote oder Radwege).
Erreichbarkeit von Verkehrsangeboten,
Zielorten und Aktivitäten
Fehlender Zugang zu (öffentlichen) Ver-
kehrsangeboten, Zielorten und Aktivitäten.
Dazu gehören Orte für Freizeit und Erho-
lung, Bildungs- und Betreuungseinrichtun-
gen, Orte der täglichen Versorgung oder
medizinische Einrichtungen. Der Zugang ist
dadurch eingeschränkt, dass die Orte und
Angebote zu weit entfernt sind und mit
den verfügbaren Mitteln nicht in akzepta-
bler Zeit und mit akzeptablem Aufwand
erreichbar sind. Dazu gehört auch fehlende
Barrierefreiheit für Menschen mit Behinde-
rungen oder Beeinträchtigungen.
Erschwinglichkeit von Verkehrsangeboten
Fehlende Erschwinglichkeit von Verkehrs-
angeboten oder hohe Belastung des Haus-
haltsbudgets durch die erforderliche Fi-
nanzierung von Verkehrsangeboten oder
-mitteln.
Mobilitätsbezogene Zeitarmut
Zeitdruck und eine geringe räumlich-
zeitliche Flexibilität als Folge weiter Wege
(zum Beispiel zur Arbeit) und Verpflichtun-
gen an unterschiedlichen Zielorten (zum
Beispiel Sorgekettenwege).
Exposition gegenüber schädlichen
Umwelteinflüssen∗
Belastung durch schädliche verkehrsindu-
zierte Umwelteinflüsse wie zum Beispiel
Lärm, Luftverschmutzung oder Verkehrsun-
fälle.
*Die vorliegende Studie klammert die in der Literatur ebenfalls vorgeschlagene Dimension der
Exposition gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen aus, wenn also eine Person aufgrund ihres
Wohnorts und ihres Mobilitätsverhaltens übermäßig schädlichen verkehrsbedingten Umweltein-
flüssen ausgesetzt ist. Diese Einflüsse sollen als Verstärker bestehender Mobilitätsarmut werden,
da es sich dabei aber um grundverschiedene Ursachen und Auswirkungen handelt, wird die
Dimension als eigenständiges Phänomen eingeordnet.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
2 Grundlagen 7
2.2 Dimensionen und empirische Messbarkeit von
Mobilitätsarmut
Für die Untersuchung von Mobilitätsarmut müssen die definierenden Dimensionen opera-
tionalisiert und geeignete Indikatoren für ihre Messung bestimmt werden. Im Folgenden
werden die Dimensionen genauer erläutert und Ansätze zu ihrer Messung betrachtet.
2.2.1 Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten
Die Chancen, mobil zu sein, sind in Deutschland sehr unterschiedlich verteilt. Oft bleibt
nur das private Auto, um von A nach B zu kommen. Besonders in Städten haben die
Bewohnerinnen und Bewohner neben dem Auto verschiedene Optionen, um unterwegs
zu sein – etwa mit der Bahn, zu Fuß, mit dem Rad – und das Angebot an öffentlichen
Verkehrsmitteln ist vielfältig und gut ausgebaut. Die sozialräumlichen Analysen, wie sie etwa
im INKAR des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung [
11
] oder im ÖV-Atlas
von Agora Verkehrswende [
3
] vorgenommen wurden, zeigen eindrücklich die regionalen
Unterschiede auf. Dabei treten nicht nur Unterschiede zwischen Stadt und Land oder Ost
und West zutage, sondern auch innerhalb der räumlichen Kategorien gibt es besser und
weniger gut angebundene Gemeinden. In der Fläche stehen Menschen in Bayern oder
Thüringen schlechter da als Menschen in Baden-Württemberg oder Sachsen. Zu räumlichen
Unterschieden in der Verteilung von Mobilitätsarmut siehe auch Abschnitt 3.2, insbesondere
Abbildung 3.10.
Die Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten beschreibt das räumliche Vorhandensein und die
räumliche Verteilung von Verkehrsinfrastrukturen und Mobilitätsdiensten. Da das Straßen-
netz in Deutschland flächendeckend und engmaschig ausgebaut ist, geht es in der Regel
um die Verfügbarkeit von Angeboten des öffentlichen Verkehrs. Darüber hinaus lässt sich
auch die Versorgung mit sicheren Rad- und Fußverkehrsanlagen, mit Sharing-Angeboten
und Taxi-Diensten darunter fassen. Wenn Alternativen zum Auto nicht verfügbar oder
zweckmäßig sind, führt der fehlende Zugang zum Auto zu eingeschränkter Mobilität. Mo-
bilitätsarmut entsteht also, wenn Verkehrsangebote nicht vorhanden sind.
Als Indikator dient die räumliche Verfügbarkeit von Verkehrsangeboten wie insbesondere
des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs. Datengrundlage sind insbesondere räumliche Daten
sowie auch Fahrplandaten oder sonstige Daten zur zeitlichen und räumlichen Verfügbarkeit
von Verkehrsangeboten.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
2 Grundlagen 8
2.2.2 Erreichbarkeit von Verkehrsangeboten, Zielorten und Gelegenheiten
Erreichbarkeit ist ein Schlüsselbegriff im Zusammenhang mit Mobilität und sozialer Teilhabe
und lässt sich im Unterschied zur Verfügbarkeitsdimension als nachfrageseitig bezeichnen.
In der Verkehrsforschung wird Erreichbarkeit teilweise mit unterschiedlichen Begriffen defi-
niert, aber im Kern geht es dabei immer um eine Kombination aus Verkehrsinfrastruktur
beziehungsweise -angeboten, der räumlichen Verteilung von Zielorten oder Gelegenheiten
für Aktivitäten, dem erforderlichen zeitlichen Aufwand und personenbezogenen Merkmalen
[
63
]. Die Erreichbarkeit hängt auch von der individuellen Ausstattung mit Verkehrsmitteln
ab, zum Beispiel, ob jemand Zugang zu einem Auto hat und fahrtüchtig ist. Es gibt aber
auch andere Gründe für mangelnde Erreichbarkeit, die nicht mit dem Vorhandensein von
Verkehrsmitteln oder Verkehrsangeboten zusammenhängen, aber trotzdem zu Schwie-
rigkeiten beim Erreichen wichtiger Aktivitäten oder Dienstleistungen führen können. So
spielt die Barrierefreiheit von Verkehrsangeboten eine Rolle: Ein Bahnhof kann verfügbar
sein, aber wenn die Person keine Treppen überwinden kann und kein Fahrstuhl vorhan-
den ist, ist dieses Verkehrsangebot für diese Person nicht nutzbar. Neben baulichen oder
physischen Barrieren stellen auch digitale Barrieren, zum Beispiel bei der Fahrplanauskunft
oder der Buchung, eine Rolle. Auch Sorgen um die persönliche Sicherheit oder mangelnde
Kenntnisse und Fähigkeiten (etwa sprachliche Kompetenzen) können die Nutzung von
öffentlichen Verkehrsangeboten behindern. Das Inklusionsbarometer Mobilität 2022 von
Aktion Mensch, dem eine repräsentative Befragung von Menschen mit und ohne Beein-
trächtigungen zugrunde liegt, zeigt auf, dass Menschen mit Beeinträchtigung noch immer
in ihrem Alltag aufgrund von Barrieren in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und dass das
aktuelle Mobilitätsangebot zu wenig auf deren Bedürfnisse ausgerichtet ist [
5
]. Der Wohnort
spielt zudem eine zentrale Rolle für den Zugang zu Mobilitätsangeboten, da es in größeren
Städten mehr Angebote als in ländlichen Regionen gibt [5].
Mit schlechter Erreichbarkeit unmittelbar verbunden ist die „Autoabhängigkeit“[
49
], denn
mit dem Auto sind die meisten Zielorte sehr wohl erreichbar. Nur können oder dürfen
nicht alle Menschen Auto fahren, zum Beispiel weil sie noch keinen Führerschein oder
ihn nicht mehr haben; viele können es sich zudem nicht oder kaum leisten. Daher gilt ein
eingeschränkter Zugang zur Autonutzung als wesentlicher Grund für Mobilitätsarmut [
23
],
und damit verbunden gelten soziale Gruppen, die statistisch weniger häufig einen Zugang
zum Auto haben, als vulnerabel: ethnische Minderheiten, Frauen, Ältere, Jugendliche und
körperlich Beeinträchtigte sowie Menschen mit geringem Einkommen [
56
,
22
,
57
]. Vulnera-
bel sind aber auch jene, die heute ein herkömmliches Auto nutzen und angesichts ihres
Haushaltseinkommens besonders sensibel für Preissteigerungen bei Treibstoffen sind und
auch als „forced car owners“bezeichnet werden [47]. Darüber hinaus ist die Verringerung
des Autoverkehrs aus Umwelt- und Klimaschutzgründen geboten, sodass die Verringerung
von Autoabhängigkeit gleichermaßen ein sozial-, klima- und umweltpolitisches Thema ist.
Für die Untersuchung relevant ist, dass die Erreichbarkeitsdimension eng verbunden ist
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
2 Grundlagen 9
mit der Verfügbarkeitsdimension, der Fokus aber auf der Nachfrageseite liegt, das heißt,
es geht um die Möglichkeit einer Person, verfügbare Verkehrsangebote wahrzunehmen.
Verschiedene Erreichbarkeitsindikatoren stehen zur Auswahl, wie zum Beispiel Entfernungen
zu Haltestellen oder relevanten Zielorten, der erforderliche Zeitaufwand zu ihrer Erreichung
mit verschiedenen Verkehrsmitteln – siehe dazu zum Beispiel im Thünen-Landatlas [
62
].
Weitere mögliche Indikatoren sind die Ausstattung mit Verkehrsmitteln oder Barrierefreiheit
von Zielorten und Haltestellen.
2.2.3 Erschwinglichkeit von Verkehrsangeboten und Gelegenheiten
Die Dimension der Erschwinglichkeit von Verkehrsangeboten hat bisher in der Forschung
zu Mobilitätsarmut die meiste Aufmerksamkeit erhalten. Die Erschwinglichkeitsdimension
bezieht sich entweder darauf, dass Haushalte aufgrund der Kosten auf Besitz und Nutzung
eines Verkehrsmittels verzichten müssen oder dass sie durch Besitz und/oder Nutzung eines
Verkehrsmittels finanziell so stark belastet werden, dass sie in anderen Bereichen verzichten
müssen. Letzteres wird in Bezug auf privat angeschaffte Pkw als forced car ownership
(„Zwangsmotorisierung“) bezeichnet [
21
,
47
]. Im Fall von steigenden Treibstoffpreisen kann
dieses Problem für bereits betroffene Haushalte verstärkt werden oder zu einer Zunahme
betroffener Haushalte führen.
Mobilitätsarmut entsteht also, wenn die wirtschaftlichen Ressourcen des Haushalts nicht
ausreichen, um sowohl ein Mindestmaß an Mobilität als auch Ausgaben für andere Grund-
bedürfnisse wie zum Beispiel Wärme oder Ernährung zu decken.
Der übergreifende Indikator für Erschwinglichkeit von Verkehrsmitteln beziehungsweise
-angeboten berücksichtigt die Ausgaben für Mobilität im Vergleich zum Haushaltseinkom-
men. Zur Bestimmung eines sehr niedrigen Einkommens kann zum Beispiel die Schwelle zur
Armutsgefährdung herangezogen werden – in Deutschland gilt ein Haushalt als armutsge-
fährdet, wenn er bezogen auf alle Haushalte in Deutschland weniger als 60 Prozent des
Medians des Nettoäquivalenzeinkommens
1
hat. Der in dieser Studie verwendete Ansatz in
Kapitel 3 unterscheidet Einkommensquintile und bestimmt die beiden untersten Quintile
als geringes Einkommen im Vergleich zu den drei anderen Quintilen. Ein weiterer Ansatz
zur Messung von Erschwinglichkeit mit räumlichem Bezug und im Zusammenhang mit
erzwungener Autonutzung ist der Vulnerabilitätsindex in Bezug auf erhöhte Tankkosten
(siehe dazu 3.2).
1
Das Nettoäquivalenzeinkommen eines Haushalts setzt das Gesamteinkommen aller Haushaltsmitglieder ins
Verhältnis zur Haushaltsgröße. Das dient dazu, den Lebensstandard von Haushalten unterschiedlicher Größe
zu vergleichen.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
2 Grundlagen 10
2.2.4 Mobilitätsbezogene Zeitarmut
Zeitarmut verweist auf die Belastungen, die durch einen zu hohen Mobilitätsaufwand
und Verpflichtungen an unterschiedlichen Orten und zu bestimmten Zeiten entstehen. Die
Folgen sind wenig Zeit für Aktivitäten, die etwa dem Wohlbefinden, der Erholung oder
der Beziehungspflege dienen: Familienzeit oder Treffen mit Freundinnen und Freunden,
Freizeit oder Schlaf. Wir betrachten mobilitätsbezogene Zeitarmut als eigene Dimension
und ordnen sie nicht der Erreichbarkeitsdimension unter
2
, da die zeitliche Komponente als
relevante Einflussgröße eine eigene Qualität aufweist und nicht auf räumliche Erreichbarkeit
reduzierbar ist. Anknüpfungspunkte in der Literatur sind Arbeiten zu time poverty als Ele-
ment von Erreichbarkeitsarmut, zeitgeografische Ansätze in der Tradition von Hägerstrand
[
34
] oder Arbeiten im Mobilities-Paradigma [
43
]. Dabei wird Mobilität im Rahmen von
den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Grenzen oder Aktionsräumen betrachtet, die
bestimmte Aktivitäten realisierbar werden lassen und andere nicht [
30
]. Die verfügbaren
Verkehrsmittel und „fixity constraints“, zeitlich und räumlich festgelegte Aufgaben, haben
einen entscheidenden Einfluss darauf, welche Aktivitäten im Laufe des Tages möglich sind.
Besonders Frauen gelten als durch „fixity constraints“eingeschränkt: Sie übernehmen häufig
neben beruflichen Verpflichtungen Betreuungs- und Haushaltsaufgaben und sind so durch
eine Vielzahl von Aktivitäten zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten festgelegt
[42]. Es gibt also genderspezifische Unterschiede in Bezug auf Zeitarmut [64].
Ein Zuviel an Mobilität und eine damit verbundene Belastung kann durch ständiges Unter-
wegssein oder tägliches Pendeln unabhängig vom sozioökonomischen Status entstehen
[
19
], durch einen hohen Termindruck an unterschiedlichen Orten sowie als Folge von Koor-
dinierungsleistungen in der Alltagsorganisation innerhalb einer Familie beziehungsweise
unter Berücksichtigung von weiteren Personen und deren Terminen [
59
]. Mobilitätsbezo-
gene Zeitarmut kann also als Folge eines hohen Mobilitätsaufwands in Verbindung mit
räumlich-zeitlich zu koordinierenden Verpflichtungen entstehen.
Für die Messung von mobilitätsbezogener Zeitarmut als eigene Dimension haben wir keine
unmittelbaren Vorbilder. Wir treffen zum einen die Annahme, dass durch weite, lange und
viele Wege zwischen verschiedenen Orten wenig Zeit für Aktivitäten bleibt, zum anderen,
dass dieser Effekt verstärkt wird, wenn die Orte aufgrund von verbindlichen Terminen
aufgesucht werden, Reisetag und Ankunftszeit also nicht flexibel sind. Dabei gehen wir
von der Annahme aus, dass dies vor allem bei Personen in Ausbildung oder Berufstätigkeit
sowie mit Kindern der Fall ist. Als Indikator für die mobilitätsbezogene Zeitarmut lässt sich
daher eine Kombination aus Berufs- und Familienstatus mit weiten oder zahlreichen Wegen
heranziehen.
2Zeitarmut als Unterkategorie von Erreichbarkeit findet sich bei [45] oder [32]
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse
3.1 Mobilitätsarmut von Haushalten: Analyse
anhand ihrer Mobilitätsausgaben
Vor dem Hintergrund der im Kapitel 2 erläuterten Dimensionen von Mobilitätsarmut und
ihrer Messbarkeit wird im Folgenden ein Ansatz entwickelt, mit dem der Status quo der
Mobilitätsarmut in Deutschland auf Basis von verfügbaren Daten zu den Mobilitätsaus-
gaben privater Haushalte untersucht werden kann. Betrachtet werden dafür Haushalte,
nicht Einzelpersonen. Im Fokus der empirischen Analyse steht die Dimension der Erschwing-
lichkeit; soweit das mit der vorhandenen Datenbasis möglich ist, werden auch weitere
Dimensionen beleuchtet und Erkenntnisse aus früheren Analysen/Studien berücksichtigt.
Die von Mobilitätsarmut betroffenen Haushalte werden auf Basis ihrer anteiligen Mobi-
litätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen identifiziert. Dazu werden die Haushalte
nach Einkommenshöhe, Erwerbstätigkeit, Kindern, Autobesitz und Region gruppiert. Die
Annahme ist, dass Haushalte, die sich bezüglich dieser fünf Indikatoren gleichen, ein ähnlich
hohes Risiko haben, von Mobilitätsarmut betroffen zu sein. Die statistische Datenanalyse
dient dazu, für jede Haushaltsgruppe den durchschnittlichen Anteil der Mobilitätsausgaben
am Haushaltsnettoeinkommen zu ermitteln und systematische Unterschiede aufzudecken.
Ein Beispiel für Letzteres ist der Vergleich der Mobilitätsausgabenanteile von Haushalten mit
und ohne Erwerbstätigkeit bei gleichem Einkommen. Daraus lassen sich Unterschiede in
den Mobilitätsausgaben und indirekt auch im Mobilitätsverhalten ableiten, die aufgrund
der Erwerbstätigkeit entstehen. Ein anderes Beispiel ist der Vergleich von Haushalten mit
und ohne Auto bei gleichem Einkommen und gleichem Erwerbsstatus. Daraus lassen sich
Unterschiede in den Mobilitätsausgaben von Haushalten mit gleichem Einkommen und glei-
chem Erwerbsstatus ableiten, denen der Autobesitz zugrunde liegt. Auf diese Weise lassen
sich charakteristische Kombinationen identifizieren, die mit erhöhten Ausgabenanteilen
und somit einer zentralen Dimension von Mobilitätsarmut verbunden sind.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland 11
3 Empirische Datenanalyse 12
3.1.1 Daten
Es werden zwei Datensätze verwendet, weil kein einzelner Datensatz sowohl umfangreiche
Informationen zum Ausgabe- als auch zum Mobilitätsverhalten enthält. Die Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2018 [
24
] wird verwendet, um das Ausgabeverhalten von
Haushalten, die mehr als 0 Euro pro Monat für Mobilität ausgaben, zu analysieren und vul-
nerable Haushalte zu identifizieren. Daten aus der Befragung Mobilität in Deutschland 2017
(MiD 2017) [
14
] werden im Nachgang verwendet, um das Mobilitätsverhalten relevanter
Haushaltsgruppen deskriptiv zu untersuchen und somit die geschätzten Mobilitätsausga-
benanteile zu kontextualisieren.
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018
Die EVS des Statistischen Bundesamts enthält Daten über die Einnahmen und Ausgaben,
Geld- und Immobilienvermögen, Wohnverhältnisse und Ausstattung mit ausgewählten
Gebrauchsgütern von privaten Haushalten. Unter anderem werden auch die in Tabelle 3.1
dargestellten Mobilitätsausgaben erfasst. Die Variablen EF376, EF377, EF378 entsprechen
den autobezogenen, variablen Mobilitätskosten. Die EVS unterscheidet nicht zwischen
Kraftfahrzeugen und Krafträdern, weshalb die Variablen EF376, EF377, EF378, EF373 und
EF376 unter Umständen auch Ausgaben für Kraftradnutzung enthalten können. Es kann
also sein, dass einige Haushalte, die kein Auto haben, aufgrund ihrer Kraftradausgaben
in die Gruppe „mit Auto“fallen. Der Anteil dieser Haushalte dürfte aber sehr gering sein,
da laut der MiD 2017 in allen Einkommensgruppen eher die Haushalte ein Motorrad oder
Moped haben, die auch ein Auto besitzen. Auch gibt es keine systematischen Unterschiede
zwischen den Einkommensgruppen bezüglich der Anzahl von Mopeds/Motorrädern pro
Haushalt.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 13
Tabelle 3.1: EVS Variablen in der statistischen Analyse
Kenngröße Beschreibung der Variable Code
Mobilitätsausgaben Kraftstoffe, Autogas, Strom für Elektroauto, Schmier-
mittel
EF376
Wartungen, Pflege und Reparaturen von Fahrzeugen
EF377
sonstige Dienstleistungen (zum Beispiel Park- und
TÜV Gebühren, mit Arbeitsstelle verbundene Gara-
gen/Stellplatzmiete)
EF378
Kraftfahrzeugsteuer EF455
Kfz-Haftpflicht- und Kaskoversicherungen EF460
fremde Verkehrsdienstleistungen im Schienenver-
kehr
EF379
fremde Verkehrsdienstleistungen im Straßenverkehr
(zum Beispiel Bus, Taxi)
EF380
Einkommen Haushaltsnettoeinkommen EF62
Erwerbstätigkeit
und Ausbildung
selbstständige:r Landwirt:in, Selbstständige:r, Frei-
berufler:in, Beamtin/Beamter, Beamtenanwärter:in,
Richter:in, Berufssoldat:in, Zeitsoldat:in, Wehrdienst-
leistende:r, Angestellte:r, Arbeiter:in, Person im Bun-
desfreiwilligendienst bzw. freiwilligen sozialen/ öko-
logischen Jahr, Auszubildende:r, Schüler:in, Stu-
dent:in
EF8U9-
EF15U9
Autobesitz
Ausgaben für Pkw-Kauf (EF368, EF369), Leasing
von Kraftfahrzeugen/-rädern (EF373) und Kraft-
stoff/Strom/Autogas (EF376)
EF368,
EF369,
EF373,
EF376
Kinder im Haus-
halt
Geburtsjahr
EF8U3,
EF8U3-
EF15U3
Region Regionsgrundtyp EF5
Bundesland Bundesland EF2U1
Alter Geburtsjahr der Haupteinkommensperson EF8U3
Geschlecht Geschlecht der Haupteinkommensperson EF8U2
Bildung höchster allgemeinbildender Schulabschluss EF8U6
Haushaltsgröße Haushaltsgröße EF35
Winter Quartal 1 und 4 EF6
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 14
Befragung zur Mobilität in Deutschland 2017
Die deskriptive Analyse der 120 Haushaltsgruppen (3 Regionsgrundtypen
×
2 Autobesitz-
gruppen
×
5 Einkommensgruppen
×
2 Beschäftigungsstatus
×
2 Kindergruppen) in Bezug
auf ihr Mobilitätsverhalten erfolgt mit Hilfe der in Tabelle 3.2 beschriebenen Variablen.
Analysen finden zu den Wegelängen (Variable
wegkm_imp ≤
100 Kilometer) und zur We-
gedauer in Minuten (Variable wegmin) statt. Dabei wird nach den Verkehrsmitteln Auto,
Zug/Bahn und Bus (gemäß Variable Hvm_diff2) unterschieden.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 15
Tabelle 3.2:
Verwendete Indikatoren und Kennwerte zur Beschreibung des Mobili-
tätsverhaltens der Haushaltsgruppen in der MiD 2017
Kenngröße Beschreibung der Variable Code
Einkommen Äquivalenzeinkommen aq_eink
Region RegioStaR7 RegioStaR7
Erwerbstätigkeit Tätigkeit der Person HP_TAET
Kinder Kinder unter 18 alter_gr1
Autobesitz Anzahl Autos im Haushalt
H_ANZAU-
TO
Quartal Kalendermonat ST_MONAT
Wegelänge Wegelänge in Kilometer
wegkm_-
imp
Hauptverkehrsmittel
Pkw (Mitfahrer), Pkw (Fahrer), Straßenbahn, U-
Bahn/Stadtbahn (inkl. Schwebebahn, rbW-Bahn), S-
Bahn/Nahverkehrszug, Carsharing-Fahrzeug, Anruf-
sammeltaxi (AST), Rufbus, Stadtbus/Regionalbus (in-
kl. rbW-Bus)
hvm_diff2
Wegezweck Arbeit, Ausbildung, Einkauf, Erledigung, Freizeit hwzweck2
Tagesstrecke
Tagesstrecke in Kilometer = Summe der Weglängen
wegkm_-
imp
Unterwegszeit
Unterwegszeit in Minuten = Summe der Wegeminu-
ten
wegmin_-
imp2
Mobilität Mobil am Stichtag (ja, nein) mobil
Pkw Pkw (Mitfahrer), Pkw (Fahrer) hvm_diff2
Zug/Bahn
Straßenbahn, U-Bahn/Stadtbahn (inkl. Schwebe-
bahn, rbW-Bahn), S-Bahn/Nahverkehrszug
hvm_diff2
Bus/Taxi
Carsharing-Fahrzeug, Anrufsammeltaxi (AST), Ruf-
bus, Stadtbus/Regionalbus (inkl. rbW-Bus)
hvm_diff2
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 16
Zuordnung von EVS und MiD
Die in 2.2 identifizierten Mobilitätsarmutsdimensionen werden in der EVS und in der MiD
wie in Tabellen 3.3 und 3.4 dargestellt, abgebildet. Die für die Mobilitätsarmut relevan-
ten Indikatoren sind Erwerbstätigkeit der Haushaltsmitglieder, das Haushaltsnettoäqui-
valenzeinkommen, Autobesitz, der Regionsgrundtyp und ob Kinder im Haushalt leben.
Der Regionsgrundtyp der EVS wurde der in der MiD verwendeten Regionalstatistischen
Raumtypologie (Variable: RegioStarR7) zugeordnet. Es gilt zu beachten, dass sowohl die
Datengrundlage als auch die inhaltliche Logik und daraus abgeleitete Methodik der re-
gionalstatistischen Raumtypologie RegioStaR in der MiD anders ist als die der in der EVS
gebildeten Regionsgrundtypen. Die Einteilung der drei Regionsgrundtypen in der EVS ba-
siert auf die Einwohnerzahl und -dichte. Für die Herleitung der RegioStaR7-Kategorien
werden zusätzlich regionale Pendlerverflechtungen zwischen Gemeinden, zentralörtliche
Funktionen für die Region sowie der Urbanisierungsgrad gemäß der Eurostat-Typisierung
DEGURBA berücksichtigt. Außerdem wird nicht nur die Gemeindeebene, sondern auch die
regionale, lokale und kleinräumige (innerörtliche) Ebene betrachtet. Diese Unterschiede in
der Kleinteiligkeit der räumlichen Zuordnung zwischen den Datensätzen sind praktisch und
datenschutzrechtlich begründet. Sie sollten bei der Interpretation der Ergebnisse in Bezug
auf die Regionsgrundtypen berücksichtigt werden
1
. Eine kleinteilige räumliche Analyse der
Vulnerabilität gegenüber Tankkostenerhöhungen findet in 3.2 statt.
1Für Hintergrundinformationen zur regionalstatistischen Raumtypologie siehe [15]
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 17
Tabelle 3.3: Indikatoren für Mobilitätsarmut in der EVS und der MiD (Teil 1)
Indikator (Dimensi-
on)
Ausprägung EVS-Variable MiD-Variable
Region (Verfügbar-
keit, Erreichbarkeit)
Agglomeration
Regionsgrundtyp ist
Ägglomeration"
RegioStarR7 ist
Stadtregion -
Metropole oder
Stadtregion (71)
Regiopole und
Großstadt (72)
verstädtert
Regionsgrundtyp ist
"verstädtert"
RegioStarR7 ist
Stadtregion –
Mittelstadt, städti-
scher Raum (73),
ländliche Region
– zentrale Stadt
(75), ländliche Re-
gion – Mittelstadt,
städtischer Raum
(76)
ländlich
Regionsgrundtyp ist
"ländlich"
RegioStaR7 ist
Stadtregion –
kleinstädtischer,
dörflicher Raum
(74) oder ländliche
Region – kleinstäd-
tischer, dörflicher
Raum (77)
Autobesitz (Erreich-
barkeit)
ja
Ausgaben für
Kraftfahrzeug/-rad
> 0 Euro
Anzahl Pkw im
Haushalt > 0
nein
Ausgaben für
Kraftfahrzeug/-rad
= 0 Euro
Anzahl Pkw im
Haushalt = 0
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 18
Tabelle 3.4: Indikatoren für Mobilitätsarmut in der EVS und der MiD (Teil 2)
Indikator (Dimension)
Ausprägung
EVS-Variable MiD-Variable
Erwerbstätigkeit
(Erschwinglichkeit,
Zeitarmut)
ja
mind. eine Person über
17 Jahre ist erwerbstä-
tig oder in Ausbildung
mind. eine Person über
17 Jahre ist erwerbstä-
tig oder in Ausbildung
nein
keine Person über 17
Jahre ist erwerbstätig
oder in Ausbildung
keine Person über 17
Jahre ist erwerbstätig
oder in Ausbildung
monatliches Netto- Quintil 1 1-1.513 1-1.513†
äquivalenzeinkommen
Quintil 2 1.514 -2.092 1.514-2.092†
in Euro Quintil 3 2.093-2.681 2.093-2681†
(Erschwinglichkeit) Quintil 4 2.682 -3.530 2.682-3.530 †
Quintil 5 3.531 -109.631 3.531-9.000*†
Kinder (Zeitarmut) ja
mind. eine Person un-
ter 18 Jahre im Haus-
halt
mind. eine Person un-
ter 18 Jahre im Haus-
halt
nein
keine Person unter 18
Jahre im Haushalt
keine Person unter 18
Jahre im Haushalt
Anzahl Haushalte in
Stichprobe
N = 39.824 N = 155.765
∗zensiert
†basierend auf EVS 2018 Quintilen, das heißt, die Annahme ist, dass sich die Zusammen-
setzung der Einkommensquintile in Deutschland zwischen 2016/17 und 2018 nicht
wesentlich geändert hat.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 19
3.1.2 Vorgehen
Das Ziel der Analyse ist es, vulnerable Gruppen in Deutschland zu identifizieren und das Aus-
maß ihrer Mobilitätsarmut zu quantifizieren, wobei das Ausmaß von Mobilitätsarmut sowohl
von der Größe einer Gruppe in der Bevölkerung als auch dem Grad der Benachteiligung
abhängig ist. Somit bildet die Analyse die empirische Grundlage für die Entwicklung und
Wirkungsabschätzung ausgewählter Maßnahmen für diese Gruppen. Im Folgenden werden
das Schätzmodell für die EVS-Datenanalyse beschrieben und seine Ergebnisse präsentiert,
gefolgt von den Ergebnissen der deskriptiven statistischen Analyse der MiD-Daten. Leserin-
nen und Leser, die nicht an den Methoden und statistischen Ergebnissen interessiert sind,
werden auf 3.1.5 verwiesen, wo die Zusammenführung und Interpretation der Ergebnisse
stattfinden.
Um allgemeingültige Aussagen über das Ausgabeverhalten der Haushalte in Deutschland
basierend auf den in der EVS-Stichprobe enthaltenen Daten machen zu können, werden
die Mobilitätsausgaben mithilfe eines hierarchischen Bayes-Modells, wie in A1 und A2
beschrieben, geschätzt.
3.1.3 Von Mobilitätsarmut betroffene Haushaltsgruppen
Um das Ausgabeverhalten der Haushalte korrekt abbilden zu können, gilt es zu berücksich-
tigen, dass jeder Haushalt in einen spezifischen Kontext eingebettet ist, der sein Ausgabe-
verhalten beeinflusst und gleichzeitig sein mögliches Mobilitätsarmutsrisiko widerspiegelt.
Ein Haushalt befindet sich in einer bestimmten Region, gehört zu einer bestimmten Einkom-
mensgruppe, hat (keine) Kinder, ist (nicht) erwerbstätig und hat (k)ein Auto. Daraus ergeben
sich 120 mögliche Kombinationen an Merkmalen beziehungsweise zu untersuchenden
Haushaltsgruppen (3 Regionsgrundtypen
×
2 Autobesitzgruppen
×
5 Einkommensgruppen
×
2 Beschäftigungsstatus
×
2 Kindergruppen). Es ist wichtig, diese den Daten inhärente
Struktur bei der statistischen Analyse zu berücksichtigen, damit die Modellparameter stabil
und präzise geschätzt werden können.
Die Stichprobenverteilung und die entsprechenden Bevölkerungsanteile nach Einkommen,
Autobesitz und Erwerbstätigkeit sind in Tabelle 3.5 aufgelistet. Es ist zu beachten, dass
die Bevölkerungszahlen nur bedingt zuverlässig sind, weil die EVS-Stichprobe bezüglich
der verschiedenen Kombinationen von Einkommen, Erwerbstätigkeit, Kindern im Haushalt
und Pkw-Besitz nicht repräsentativ ist, diese Kombinationen aber die Grundlage für die
Datenanalyse bilden. In allen Einkommensgruppen machen Haushalte mit Auto jeweils den
größten Anteil aus. In den Einkommensgruppen 2 bis 5 machen erwerbstätige Haushalte
mit Auto mit jeweils circa 13 Prozent der Haushalte insgesamt den deutlich größten An-
teil aus. Der Anteil der erwerbstätigen Haushalte mit Auto in Einkommensgruppe 1 liegt
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 20
dagegen nur bei 9 Prozent. In Einkommensgruppe 1 ist grundsätzlich der Anteil der nicht
erwerbstätigen Haushalte höher als in allen anderen Einkommensgruppen, insbesondere in
Einkommensgruppen 4 und 5 ist der Anteil dieser Gruppe hingegen geringfügig.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 21
Tabelle 3.5:
Stichproben und Bevölkerungsgrößen und -anteile anhand der EVS 2018
Einkommen Erwerbstätigkeit Autobesitz Haushalte in Haushalte in Deutschland
Stichprobe
absolut absolut prozentual
Quintil 1 nicht erwerbstätig mit Auto 2.264 2.573.870 6,8
Quintil 1 nicht erwerbstätig ohne Auto 1.201 1.626.839 4,3
Quintil 1 erwerbstätig mit Auto 2.760 3.570.661 9,4
Quintil 1 erwerbstätig ohne Auto 796 1.086.020 2,9
Quintil 2 nicht erwerbstätig mit Auto 2.735 2.606.400 6,9
Quintil 2 nicht erwerbstätig ohne Auto 366 450.983 1,2
Quintil 2 erwerbstätig mit Auto 4.625 4.951.494 13
Quintil 2 erwerbstätig ohne Auto 372 483.377 1,3
Quintil 3 nicht erwerbstätig mit Auto 2.275 1.886.196 5
Quintil 3 nicht erwerbstätig ohne Auto 161 181.236 0,5
Quintil 3 erwerbstätig mit Auto 5.541 5.142.051 13,6
Quintil 3 erwerbstätig ohne Auto 290 320.272 0,8
Quintil 4 nicht erwerbstätig mit Auto 1.771 1.319.730 3,5
Quintil 4 nicht erwerbstätig ohne Auto 83 89.717 0,2
Quintil 4 erwerbstätig mit Auto 6.267 5.075.479 13,4
Quintil 4 erwerbstätig ohne Auto 204 196.940 0,5
Quintil 5 nicht erwerbstätig mit Auto 1.665 1.142.503 3
Quintil 5 nicht erwerbstätig ohne Auto 61 61.979 0,2
Quintil 5 erwerbstätig mit Auto 6.515 5.030.840 13,3
Quintil 5 erwerbstätig ohne Auto 137 147.613 0,4
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 22
3.1.4 Ergebnisse
Geschätzte zusätzliche Mobilitätsausgabenanteile der Haushaltsgruppen
Diese Sektion präsentiert die durchschnittlichen zusätzlichen Mobilitätsausgabenanteile in
Prozentpunkten, die mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Haushaltsgruppe verbun-
den sind. Zusätzlich bedeutet, dass diese Anteile zu den Mobilitätsausgabenanteilen, die
durch grundlegende Faktoren wie Alter, Geschlecht etc. bestimmt werden (siehe hierzu
A3), hinzugezählt werden müssen, um den Anteil der Mobilitätsausgaben am Einkommen
insgesamt zu erhalten. Ein Beispiel: Unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildung der
Haupteinkommensperson, Haushaltsgröße und Jahreszeit der Erhebung hat ein Haushalt in
Einkommensgruppe Q1 im ländlichen Raum, ohne Kinder, erwerbstätig und mit Auto einen
zusätzlichen Mobilitätsausgabenanteil von durchschnittlich 2,2 Prozentpunkten (siehe 3.1,
letzte Zeile). Derselbe Haushalt hätte, wenn er in Einkommensgruppe Q5 wäre, nur einen
durchschnittlichen zusätzlichen Ausgabenanteil von durchschnittlich 1,3 Prozentpunkten
(siehe Abbildung 3.5, zweite Zeile von unten). Das heißt, der Haushalt in der untersten
Einkommensgruppe hat einen fast mehr als doppelt so hohen zusätzlichen Mobilitäts-
ausgabenanteil zu bewältigen als ein vergleichbarer Haushalt in Einkommensgruppe 5.
Die Streuung der Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen Mobilitäts-
ausgabenanteile sind ein Maß für die Unsicherheit, die über die Höhe der geschätzten
durchschnittlichen Mobilitätsausgabenanteile einer Gruppe besteht. Geringere Streuungen
sind ein Zeichen für geringe Unsicherheit und weitere Streuungen sind ein Zeichen für höhe-
re Unsicherheit über den geschätzten Wert. Gründe für Letzteres sind, dass die Stichprobe
für eine Haushaltsgruppe nur wenige und/oder sehr unterschiedliche Werte enthält. Mit
Ausnahme von Einkommensgruppe 1 sind die Unsicherheiten bei den durchschnittlichen
geschätzten zusätzlichen Mobilitätsausgabenanteilen von nicht erwerbstätigen Haushalts-
gruppen größer. Das kann damit erklärt werden, dass Haushalte, in denen alle Personen
über 17 Jahre nicht erwerbstätig sind, in höheren Einkommensgruppen selten vorkommen.
In den Einkommensgruppen 2 und 3 kann die größere Unsicherheit auch damit begründet
sein, dass als „nicht erwerbstätig“klassifizierte Haushalte sehr verschiedenartig sind, sie
können zum Beispiel sowohl Arbeitslose als auch Rentner enthalten. Die Sortierung nach
der Höhe des Mobilitätsausgabenanteils in den Abbildungen vereinfacht das Auffinden
benachteiligter Gruppen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Unsicherheiten über die
Höhe der geschätzten zusätzlichen Mobilitätsausgabenanteils.
Es ist zu beachten, dass die im Folgenden diskutierten Unterschiede zwischen den Haushalts-
gruppen sich nicht durch eine unterschiedliche Zusammensetzung der jeweiligen Gruppen
in Bezug auf Alter, Geschlecht der Haupteinkommensperson, Haushaltsgröße usw. erklären
lassen, da diese Unterschiede bereits berücksichtigt sind (siehe A1). Stattdessen beruhen
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 23
Abbildung 3.1:
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen An-
teile in den Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in
Prozentpunkten) für Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 1. Me-
dian der Verteilung in Gelb.
die Unterschiede auf den fünf in Tabellen 3.3 und 3.3 aufgelisteten und als für die Mobili-
tätsarmut relevant identifizierten Indikatoren.
Grundsätzlich haben Haushalte in den unteren Einkommensgruppen höhere durchschnittli-
che Mobilitätausgabenanteile als Haushalte in den höheren Einkommensgruppen. So liegen
die zusätzlichen Ausgabenanteile von Haushalten in Einkommensgruppe 1 je nach Merk-
malskombination geschätzt zwischen circa 0,3 und 2,3 Prozentpunkten (siehe Abbildung3.1),
während sie für Einkommensgruppe 5 zwischen 0,2 und 1,3 Prozentpunkten liegen (siehe
Abbildung 3.5). Die Sortierung nach Höhe der geschätzten durchschnittlichen Mobilitäts-
ausgabenanteile lässt Muster erkennen. Die Tatsache, dass Haushalte mit Auto in allen
Einkommensgruppen höhere Mobilitätsausgabenanteile haben, zeigt, dass Autobesitz ein
wichtiger Faktor dafür ist, ob ein Haushalt einen höheren Anteil seines Einkommens für
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 24
Abbildung 3.2:
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen An-
teile in den Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in
Prozentpunkten) für Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 2. Me-
dian der Verteilung in Gelb.
Mobilität ausgibt, unabhängig vom Einkommen. Die Stärke dieser Belastung sinkt aber mit
dem Einkommen. Je höher das Einkommen, desto geringer ist die Höhe des geschätzten
zusätzlichen Mobilitätsausgabenanteils von Haushalten mit Auto. Zum Beispiel zeigt Abbil-
dung 3.1 für Einkommensgruppe 1, dass Haushalte mit Auto zusätzliche Anteile in Höhe
von circa 1,9 bis 2,2 Prozentpunkten haben, je nach Situation der Haushalte in Bezug auf
Erwerbstätigkeit, Kinder und Regionsgrundtyp. Abbildung 3.2 zeigt, dass Haushalte mit
Auto in Einkommensgruppe 2 zusätzliche Anteile in Höhe von circa 1,5 bis 2,1 Prozent-
punkten haben, je nach Situation der Haushalte in Bezug auf Erwerbstätigkeit, Kinder und
Regionsgrundtyp. Hingegen liegen die geschätzten zusätzlichen Anteile für Haushaltsgrup-
pen mit Auto in Einkommensgruppe 5 zwischen circa 0,8 bis 1,2 Prozentpunkten (siehe
Abbildung 3.5).
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 25
Abbildung 3.3:
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen An-
teile in den Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in
Prozentpunkten) für Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 3. Me-
dian der Verteilung in Gelb.
Eine andere Beobachtung ist, dass der Unterschied zwischen den geschätzten zusätzlichen
Mobilitätsausgabenanteilen von Haushalten mit und ohne Auto größer wird, je geringer das
Einkommen ist. Das zeigt, dass Autobesitz die unteren Einkommensgruppen relativ stärker
belastet als die oberen Einkommensgruppen. Zu beachten ist dabei, dass die Kosten für
die Pkw-Nutzung nur die variablen Kosten und nicht die Kosten für die Pkw-Anschaffung
oder den entstehende Wertverlust über die Haltedauer enthalten. Der kostenerhöhende
Effekt des Autobesitzes würde unter Berücksichtigung der Anschaffungskosten deutlich
höher liegen. Für das Ermitteln von Mobilitätsarmut sind aber vor allem Unterschiede bei
den tagtäglichen Mobilitätsausgaben relevant.
Der nächstwichtige Faktor, der sich aus der Sortierung der zusätzlichen Mobilitätsausgaben
ergibt, ist Erwerbstätigkeit. Über alle Einkommensgruppen hinweg geben Haushalte, in
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 26
Abbildung 3.4:
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen An-
teile in den Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in
Prozentpunkten) für Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 4. Me-
dian der Verteilung in Gelb.
denen mindestens eine Person über 17 Jahre in Erwerbstätigkeit oder Ausbildung ist, tenden-
ziell einen größeren Anteil ihres Einkommens für Mobilität aus als die nicht erwerbstätigen
Haushalte. Innerhalb der erwerbstätigen Haushaltsgruppen sind es Haushaltsgruppen ohne
Kinder, die meist die höheren Mobilitätsausgabenanteile im Vergleich zu den Haushalten
mit Kindern haben. Die Unterschiede in den Mobilitätsausgabenanteilen aufgrund des
Regionsgrundtyps sind weniger ausgeprägt, weil die vorgenannten Faktoren wichtiger sind.
Ein großer Teil der Variation in den Mobilitätsausgaben, der mit regionalen Unterschieden
einhergeht, ist bereits durch den Autobesitz erklärt, da Regionsgrundtyp und Motorisie-
rungsrate positiv korrelieren (siehe dazu auch 3.2). Außerdem ist, wie in Abschnitt 3.1.1
besprochen, der Regionsgrundtyp der EVS nicht so gut geeignet, um räumliche Unterschie-
de im Mobilitätsausgabeverhalten abzubilden. Nichtsdestotrotz finden sich Unterschiede:
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 27
Abbildung 3.5:
Wahrscheinlichkeitsverteilungen der geschätzten zusätzlichen An-
teile in den Mobilitätsausgaben am Haushaltsnettoeinkommen (in
Prozentpunkten) für Haushaltsgruppen in Einkommensgruppe 5. Me-
dian der Verteilung in Gelb.
In den Einkommensgruppen 2 und 3 bei den erwerbstätigen Haushalten mit Auto und
ohne Kinder weisen jeweils die Haushalte in ländlichen Regionen höhere zusätzliche Mobi-
litätsausgabenanteile auf. Außerdem haben in allen Einkommensgruppen erwerbstätige
Haushalte ohne Kind mit Auto in ländlichen Räumen die höchsten zusätzlichen Mobilitäts-
ausgabenanteile.
Unterschiede im Verkehrsverhalten werden häufiger zur Ermittlung von sozialer Exklu-
sion genutzt. In der Literatur wird so aus negativen Abweichungen von Mittelwerten,
zum Beispiel von Wegehäufigkeiten oder zurückgelegten Distanzen, auf nicht realisierte
Wege (suppressed journeys) geschlossen [
29
]. Diese Vergleiche zeigen, welche Personen
nur eine geringe Mobilität aufweisen und insofern möglicherweise von weiterer sozia-
ler Teilhabe ausgeschlossen sind, weil es ungedeckte Mobilitätsbedarfe gibt [
17
]. Analog
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 28
werden im Folgenden die zusätzlichen Mobilitätsausgabenanteile der beiden unteren Ein-
kommensgruppen mit denen von Einkommensgruppe 3 verglichen. Die Unterschiede im
Mobilitätsausgabeverhalten von Einkommensgruppen 1 und 2 im Vergleich zu Gruppe 3
dienen der Quantifizierung der Benachteiligung der Ersteren in Bezug auf die finanzielle
Belastung durch Mobilitätsausgaben. Einkommensgruppe 3 wurde gewählt, weil bei ihr
anzunehmen ist, dass im Jahr der Datenerhebung, 2018, ihr Einkommen hoch genug war,
um ihre Mobilitätspräferenzen verwirklichen zu können, ohne dabei exzessiv zu sein. Die Ver-
gleiche zeigen, welche Gruppen, beziehungsweise welche Kombinationen von Merkmalen,
überdurchschnittlich hohe Ausgabenanteile haben. Diese Gruppen sind stärker gefährdet,
entweder ihre Mobilitätsbedürfnisse nicht befriedigen zu können (was zu sozialer Exklusion
führen kann, siehe oben) und/oder sie müssen andere Ausgaben, zum Beispiel für Wohnen
oder Nahrung, einschränken, um ihre Mobilitätsbedürfnisse realisieren zu können.
Abbildung 3.6 und Abbildung 3.7 vergleichen Haushaltsgruppen in den Einkommensgrup-
pen 1 und 2 mit ihren jeweiligen Referenzhaushalten in Einkommensgruppe 3. Sie zeigen
die Differenz in den Erwartungswerten der Mobilitätsausgabenanteilen von Einkommens-
gruppe 1 und 3 und von Einkommensgruppe 2 und 3. Dabei ist das angenommene Szenario,
dass es sich jeweils um einen Zweipersonenhaushalt in Nordrhein-Westfalen handelt, deren
Haupteinkommensperson weiblich und 40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, deren Mobili-
tät im Zeitraum April bis September stattfand. Die Festlegung eines solchen exemplarischen
Szenarios erlaubt es, direkte Unterschiede in den geschätzten Erwartungswerten der gesam-
ten Mobilitätsausgabenanteilen darzustellen, statt – wie oben – die zusätzlichen Anteile,
die mit einer Merkmalskombination assoziiert sind.
Die jeweilige geschätzte Differenz der Erwartungswerte zeigt an, wie viel der Mobilitätsaus-
gabenanteil der Haushaltsgruppe in Einkommensgruppen 1 und 2 im Durchschnitt höher ist
als der einer Haushaltgruppe in Einkommensgruppe 3 mit den gleichen Merkmalen bezüg-
lich Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Kinder, Regionstyp. Die Berechnung der Differenzen ist
in Appendix A4 erklärt. Die Mittelwerte und Mediane der Wahrscheinlichkeitsverteilungen
der geschätzten Differenzen in Abbildung 3.6 und in Abbildung 3.7 sind in Tabelle A4 und
Tabelle A5 angegeben. Zusätzlich ist das prozentuale Verhältnis der Mobilitätsausgabenan-
teile von Einkommensgruppe 1 zu 3 und von Einkommensgruppe 2 zu 3 in Appendix A1 in
Abbildung A3 und Abbildung A4 dargestellt.
Der Datengrundlage ist geschuldet, dass die Schätzungen der Differenzen für die Haus-
haltsgruppen mit Auto mehrheitlich präziser sind. Die Unsicherheiten bei der geschätzten
Benachteiligung von Haushalten ohne Auto für einige Merkmalskombinationen aufgrund
der geringeren Zahlen an Beobachtungen in einer oder beiden Einkommensgruppen ist
groß, sodass konkrete Werte nicht zu bestimmen sind. Die folgende Diskussion fokussiert
sich auf die mit hoher Präzision (mit enger Streuung) geschätzten Differenzen.
Der Vergleich von Einkommensgruppe 1 mit 3 zeigt, dass grundsätzlich die Differenzen
bei den Haushalten mit Auto größer sind. Je nach Situation haben Haushalte mit Auto in
Einkommensgruppe 1 um bis zu zwei Prozentpunkte höhere Mobilitätsausgabenanteile
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 29
als die jeweiligen Haushalte in Einkommensgruppe 3. Angenommen, Einkommensgrup-
pe 3 hätte genügend Geld, um ihre Mobilitätspräferenzen voll ausdrücken zu können,
könnte das ein Hinweis dafür sein, dass Haushalte in Einkommensgruppe 1 bei sonst
gleichen Voraussetzungen bezüglich Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Kindern im Haushalt
und Regionsgrundtyp nur schwer in der Lage sind, ihre Mobilitätsausgabenanteile auf das
Niveau von Einkommensgruppe 3 abzusenken, zum Beispiel durch die Reduzierung von
Freizeitwegen, selbst wenn sie es wollten. Es ist also anzunehmen, dass bereits jetzt diese
Haushalte bei Mobilitätsausgaben sparen müssen. Dafür spricht insbesondere, dass sich die
durchschnittlichen absoluten Ausgaben von Haushalten in Einkommensgruppe 1 für Pkw
(ohne Berücksichtigung von Anschaffungskosten und Wertverlust) auf 74 Euro bis 92 Euro
pro Person im Monat belaufen, während sie für Haushalte in Einkommensgruppe 3 120
Euro bis 136 Euro pro Person im Monat betragen (siehe Tabellen A8 und A9).
Nicht erwerbstätige Haushalte mit Auto ohne Kinder in ländlichen Räumen (Zeile 3 von
unten in Abbildung 3.6, Zeile 4 von unten in Abbildung 3.7) und in Agglomerationen, das
heißt Ballungsräumen, (Zeile 5 von unten in Abbildung 3.6, Zeile 7 von unten in Abbil-
dung 3.7) sind stärker benachteiligt. Bei ihnen könnte es sich um Einpersonenhaushalte,
zum Bespiel Rentner oder Arbeitslose, handeln. Der Autobesitz könnte der Grund sein, dass
diese Haushaltsgruppen (ohne Kinder, nicht erwerbstätig) überproportional benachteiligt
sind, wenn sie ein geringes Einkommen haben. Genauso stark benachteiligt sind aber auch
erwerbstätige Haushalte mit Auto und Kindern in ländlichen/verstädterten Regionen (Zeilen
4/6 von unten in Abbildung 3.6, Zeile 2 von unten in Abbildung 3.7). Die Verschiedenheit
der Merkmale der benachteiligten Gruppen unterstreicht, wie situationsspezifisch Benach-
teiligung ist.
Im Folgenden werden die Ergebnisse aus den Auswertungen zum Mobilitätsverhalten der
Haushalte gemäß der MiD-Daten präsentiert. Ein Zusammenführen und Diskussion der
Ergebnisse mit denen aus der Analyse der EVS-Daten findet in 3.1.5 statt.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 30
Abbildung 3.6: Wahrscheinlichkeitsverteilung der geschätzten Differenz der Erwar-
tungswerte der Mobilitätsausgabenanteile von Einkommensgrup-
pen 1 und 3. Annahme ist, dass es sich dabei um Zweipersonenhaus-
halte in Nordrhein-Westfalen handelt, deren Haupteinkommensper-
son weiblich und 40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, im Zeitraum
April bis September.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 31
Abbildung 3.7: Wahrscheinlichkeitsverteilung der geschätzten Differenz der Erwar-
tungswerte der Mobilitätsausgabenanteile von Einkommensgrup-
pen 2 und 3. Annahme ist, dass es sich dabei um Zweipersonenhaus-
halte in Nordrhein-Westfalen handelt, deren Haupteinkommensper-
son weiblich und 40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, im Zeitraum
April bis September.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 32
Deskriptive Analyse des Mobilitätsverhaltens
Dieses Kapitel beschreibt die Unterschiede zwischen den Haushaltsgruppen in Bezug auf ihr
Mobilitätsverhalten mithilfe von deskriptiven Statistiken. Die Auswertung berücksichtigt nur
Wege unter 100 Kilometern, da der Fokus dieser Studie auf der Nahmobilität liegt, die für
Fragen der sozialen Teilhabe besonders relevant ist. Außerdem wird vermieden, dass extreme
Werte den Durchschnitt verzerren könnten. Beim Vergleichen der Ergebnisse mit denen aus
der EVS 2018 ist zu beachten, dass eine äquivalente Einschränkung der Ausgabendaten
nicht möglich ist, weil bezüglich der Wegelängen in der EVS keine Unterscheidung gemacht
wird. Das Mobilitätsverhalten wird gemessen durch die Tagesstrecke, Unterwegszeit und
Mobilität am Stichtag von Personen mit den Verkehrsmitteln Auto, Zug/Bahn und Bus. Für
die Berechnung der Statistiken werden die einzelnen Beobachtungen gewichtet, um die
Stichprobe strukturell an die Grundgesamtheit anzugleichen.
Tabelle 3.6 zeigt für jede Einkommensgruppe die durchschnittliche Tagesstrecke mit Auto,
Zug/Bahn und Bus/Taxi und die durchschnittliche Mobilität am Tag der Befragung. Einkom-
mensgruppe 1 hat mit den Verkehrsmittelarten Pkw und Bahn die kürzesten durchschnittli-
chen Tagesstrecken, beim Bus die längsten. Einkommensgruppe 1 hat mit durchschnittlich
86 Prozent auch den geringsten Anteil an mobilen Personen am Tag der Befragung. Mobilität
ist also bei sehr geringem Einkommen im Durchschnitt niedriger. Wie bei den Mobilitäts-
ausgaben könnte ein Grund dafür sein, dass Einkommensgruppe 1 wahrscheinlich einen
hohen Anteil an Rentnern und Arbeitslosen hat, aber auch erwerbstätige Haushalte mit
sehr geringen Einkommen.
Tabelle 3.6:
Tagesstrecke am Tag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus und
Mobilität am Tag der Befragung
Einkommens-
gruppe
Durchschnittliche Tagesstrecke (in km)
Personen am
Stichtag mobil
Pkw Zug/Bahn Bus/Taxi (in %)
Quintil 1 13,9 2,8 0,8 86,4
Quintil 2 18 2,8 0,6 88,7
Quintil 3 22 2,9 0,4 91,3
Quintil 4 24,5 3,6 0,4 91,9
Quintil 5 23 3,5 0,3 91,1
Hinweis: Bei der Berechnung der Tagesstrecken sind Wege bis 100 Kilometer berücksichtigt.
Wegezwecke sind Arbeit, Ausbildung, Einkauf, Erledigung, Freizeit. Berücksichtigt sind auch
Personen, die am Stichtag nicht mobil waren.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 33
Tabelle 3.7:
Unterwegszeiten am Tag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus
und Mobilität am Tag der Befragung
Einkommensgruppe
Durchschnittliche Unterwegszeit (in Minuten)
Pkw Zug/Bahn Bus/Taxi
Quintil 1 27,8 9 3,6
Quintil 2 33,3 8,3 2,4
Quintil 3 37,6 8 1,7
Quintil 4 40,9 9,9 1,5
Quintil 5 40,4 9,8 1,5
In Tabelle 3.7 werden die durchschnittlichen Unterwegszeiten der Einkommensgruppen dar-
gestellt. Die unteren Einkommensgruppen haben kürzere durchschnittliche Unterwegszeiten
mit dem Auto und längere mit Bus/Taxi als die mittleren und hohen Einkommensgruppen.
Bei der Nutzung von Zug/Bahn fällt auf, dass Einkommensgruppe 1 mit durchschnittlich
neun Minuten pro Tag ähnlich lange Unterwegszeiten hat wie die Einkommensgruppen 4
und 5, die im Durchschnitt jeweils knapp zehn Minuten pro Tag unterwegs sind. Gleichzeitig
legt aber Einkommensgruppe 1 im Durchschnitt 2,8 Kilometer pro Tag mit Zug oder Bahn
zurück, während es bei den Einkommensgruppen 4 und 5 jeweils 3,6 und 3,5 Kilometer
sind (siehe Tabelle 3.6). Das heißt, im Durchschnitt ist Einkommensgruppe 1 langsamer
mit Zug/Bahn unterwegs, was ein Hinweis dafür sein könnte, dass diese Haushalte im
Durchschnitt schlechtere Bedingungen in Bezug auf Erreichbarkeit und Verfügbarkeit von
Zügen haben.
Tabelle 3.8 zeigt regionale Unterschiede in den Tagesstrecken von Personen, die am Stichtag
mit dem Auto, Zug/Bahn und Bus mobil waren. Haushaltsgruppen in ländlichen Regionen
haben die deutlich längsten durchschnittlichen Pkw-Tagesstrecken. Die Tagesstrecken mit
Zug/Bahn und Bus/Taxi sind im ländlichen Raum wiederum deutlich kürzer. Tabelle 3.9
zeigt die Unterschiede im Mobilitätsverhalten der Haushaltsgruppen in Abhängigkeit davon,
ob Kinder und erwerbstätige Personen oder Personen in Ausbildung im Haushalt sind.
Grundsätzlich sind die durchschnittlichen Tagesstrecken von Personen in nicht erwerbstä-
tigen Haushalten kürzer und ihre Mobilität am Stichtag ist geringer als die von Personen
in erwerbstätigen Haushalten. Die durchschnittlichen Tagesstrecken mit dem Auto von
Personen in erwerbstätigen Haushalten sind fast doppelt so lang wie die von Personen in
nicht erwerbstätigen Haushalten, unabhängig davon, ob Kinder im Haushalt sind. Personen
in nicht erwerbstätigen Haushalten haben ähnlich lange Tagesstrecken mit dem Auto und
Bus/Taxi, unabhängig davon, ob Kinder im Haushalt sind. Die durchschnittliche Tagesstrecke
mit Zug/Bahn von Personen in nicht erwerbstätigen Haushalten sind etwas länger, wenn
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 34
Tabelle 3.8:
Tagesstrecke am Stichtag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus
und Mobilität nach Regionsgrundtyp
Regions-
grundtyp
Durchschnittliche Tagesstrecke (in km)
Personen am
Stichtag mobil
Pkw Zug/Bahn Bus/Taxi (in %)
Agglomeration 13 4,7 0,8 89,9
verstädtert 19,6 2,3 0,5 88,9
ländlich 24,9 1,5 0,5 88,3
Hinweis: Bei der Berechnung der Tagesstrecken sind Wege bis 100 Kilometer berücksichtigt.
Wegezwecke sind Arbeit, Ausbildung, Einkauf, Erledigung, Freizeit. Berücksichtigt sind auch
Personen, die am Stichtag nicht mobil waren.
Kinder im Haushalt sind (2,9 Kilometer pro Tag) als ohne Kinder (1,9 Kilometer pro Tag).
Umgekehrt ist es bei den erwerbstätigen Haushalten. Bei ihnen sind die Personen in Haus-
halten ohne Kinder etwas länger mit Zug/Bahn unterwegs (3,8 Kilometer pro Tag) als die
Personen in Haushalten mit Kindern (2,6 Kilometer). Personen in erwerbstätigen Haushalten
haben ähnlich lange durchschnittliche Tagesstrecken mit dem Auto. Sie sind etwas länger,
wenn Kinder im Haushalt sind (23,1 Kilometer pro Tag) als wenn keine Kinder im Haushalt
sind (21,8 Kilometer pro Tag). Zusammenfassend ist Erwerbstätigkeit mit mehr Mobilität
von Personen assoziiert und sie ist ein wesentlich wichtigerer Faktor für Unterschiede im
Mobilitätsverhalten als das Vorhandensein von Kindern im Haushalt.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 35
Tabelle 3.9:
Tagesstrecke am Stichtag der Befragung mit Pkw, Zug/Bahn und Bus und
Mobilität am Stichtag nach Erwerbstätigkeit und Kindern im Haushalt.
Tagesstrecke (in km)
Mobilität
am Stichtag
Pkw Zug/Bahn Bus/Taxi (in %)
nicht er-
werbstätig/
ohne Kinder 11,5 1,9 0,5 86,2
in
Ausbildung
mit Kindern 11,4 2,9 0,8 82,1
erwerbstä-
tig/in
Ausbildung
ohne Kinder 21,8 3,8 0,4 91,1
mit Kindern 23,1 2,6 0,4 89,3
Hinweis: Bei der Berechnung der Tagesstrecken sind Wege bis 100 Kilometer berücksichtigt.
Wegezwecke sind Arbeit, Ausbildung, Einkauf, Erledigung, Freizeit. Berücksichtigt sind auch
Personen, die am Stichtag nicht mobil waren.
3.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretation
Für die Datenanalyse werden Haushaltsgruppen mit Merkmalskombinationen gebildet,
die zu Unterschieden in der Vulnerabilität für Mobilitätsarmut führen können. Es werden
für jede Merkmalskombination (beziehungsweise Gruppe) die zusätzlichen durchschnittli-
chen für Mobilität aufgewendeten Anteile am Einkommen („Mobilitätsausgabenanteile“)
ermittelt, die mit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe verbunden sind. Die Höhe der zusätz-
lichen durchschnittlichen Mobilitätsausgabenanteile einer Gruppe ist also verschieden, je
nach Merkmal der Gruppe in Bezug auf Einkommen, Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Kinder
im Haushalt und Regionsgrundtyp. Andere Effekte, die zu Unterschieden zwischen den
120 Gruppen aufgrund unterschiedlicher Zusammensetzung in Bezug auf Alter, Bildung,
Geschlecht, Haushaltsgröße und Jahreszeit der Befragung führen könnten, sind heraus-
gerechnet. Das ermöglicht den Vergleich von Haushaltsgruppen in Bezug auf die fünf
mobilitätsarmutsrelevanten Indikatoren.
Wenn eine Gruppe mit entsprechender Kombination von Merkmalen in Bezug auf Einkom-
men, Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Regionsgrundtyp und Kinder deutlich höhere zusätzliche
Mobilitätsausgabenanteile als andere Gruppen hat, ist das ein Zeichen dafür, dass diese
Gruppe von Mobilitätsarmut – insbesondere fehlender Erschwinglichkeit – betroffen ist.
Die Ergebnisse zeigen, dass Haushalte in den unteren Einkommensgruppen grundsätzlich
höhere durchschnittliche Mobilitätausgabenanteile aufweisen als Haushalte in mittleren und
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 36
höheren Einkommensgruppen. Die unteren beiden Einkommensgruppen 1 und 2 geben
im Durchschnitt einen größeren Anteil ihres Nettohaushaltseinkommens für Mobilität aus
als die anderen Einkommensgruppen. Die zusätzlichen Ausgabenanteile der Haushalte in
Einkommensgruppe 1 liegen geschätzt zwischen circa 0,3 und 2,3 Prozentpunkten und für
Einkommensgruppe 2 zwischen circa 0,3 und 2,1 Prozentpunkten. Sie sind damit deutlich
höher als jene von Haushalten mit mittlerem, hohem oder sehr hohem Einkommen.
Um zu ermitteln, ob und inwieweit ärmere Haushalte gern mobiler sein würden, es sich
aber nicht leisten können, werden die gesamten (nicht nur die zusätzlichen) Mobilitäts-
ausgabenanteile von Einkommensgruppe 1 und 2 mit 3 verglichen. Die Annahme ist,
dass das Mobilitäts- beziehungsweise Ausgabeverhalten der Haushalte in der mittleren
Einkommensgruppe 3 nicht übermäßig von finanziellen Restriktionen betroffen ist. Das
heißt, es wird angenommen, dass Haushalte in Einkommensgruppe 3 im Durchschnitt ge-
nügend Geld haben, um ihre Mobilitätspräferenzen voll ausdrücken zu können. Die Analyse
behandelt den Fall eines hypothetischen Zweipersonenhaushalts in Nordrhein-Westfalen,
dessen Haupteinkommensperson weiblich und 40 Jahre alt ist, mit geringer Bildung, für
den Zeitraum April bis September.
Die Ergebnisse des Vergleichs der gesamten Mobilitätsausgabenanteile von Einkommens-
gruppe 1 und 2 mit Einkommensgruppe 3 zeigen, dass nicht erwerbstätige Haushalte mit
Auto ohne Kinder in ländlichen Räumen und in Agglomerationen stark benachteiligt sind.
Dabei könnte es sich um Einpersonenhaushalte wie zum Bespiel Rentner oder Arbeitslose
handeln. Der Autobesitz könnte der Grund sein, dass diese Haushaltsgruppen (ohne Kinder,
nicht erwerbstätig) überproportional benachteiligt sind, wenn sie ein geringes Einkommen
haben. Genauso stark benachteiligt sind aber auch zum Beispiel erwerbstätige Haushalte
mit Auto und Kindern in verstädterten Regionen. Die Unterschiedlichkeit der Merkmale der
benachteiligten Gruppen macht deutlich, dass die Höhe der ungedeckten Nachfrage nach
Mobilität stark von der Situation der Haushaltsgruppe abhängt in Bezug auf die Mobilitäts-
armutsindikatoren. Die gefundene Differenz in den Mobilitätsausgabenanteilen von circa
zwei Prozentpunkten ist ein Hinweis dafür, dass Haushalte in Einkommensgruppe 1 und
2 bei sonst gleichen Voraussetzungen bezüglich Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Kindern im
Haushalt und Regionsgrundtyp nur schwer in der Lage sind, ihre Mobilitätsausgabenanteile
auf das Niveau von Einkommensgruppe 3 abzusenken, zum Beispiel durch die Reduzierung
von Freizeitwegen, selbst wenn sie es wollten. Außerdem würden diese Haushalte überpro-
portional von steigenden Mobilitätskosten und/oder sinkendem verfügbaren Einkommen
betroffen sein. Sie würden ihre im Vergleich zu Einkommensgruppe 3 bereits beschränkte
Nachfrage nach Mobilität weiter reduzieren müssen – mit entsprechenden ökonomischen
und sozialen Konsequenzen. Es ist also anzunehmen, dass bereits jetzt diese Haushalte bei
Mobilitätsausgaben sparen müssen. Dafür spricht insbesondere, dass sich die durchschnittli-
chen absoluten Ausgaben von Haushalten in Einkommensgruppe 1 für Autonutzung (ohne
Berücksichtigung von Anschaffungskosten und Wertverlust) auf 74 Euro bis 92 Euro pro
Person im Monat belaufen, während sie für Haushalte in Einkommensgruppe 3 120 Euro
bis 136 Euro pro Person im Monat betragen.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 37
Grundsätzlich können die Unterschiede zu Einkommensgruppe 3 auch Ausdruck einer
Präferenz für weniger Mobilität von Haushalten in Einkommensgruppen 1 und 2 sein.
Vollständig lassen sich die Differenzen damit aber nicht erklären, beziehungsweise ist das
nicht als Hauptgrund anzunehmen. Anzeichen von eingeschränkten Mobilitätsausgaben
und ungedeckter Nachfrage lassen sich insbesondere bei den Haushalten mit Auto finden.
Das ist zum Teil der Datenlage geschuldet, die für Haushalte mit Autos besser ist, weil
sie einen größeren Anteil der Bevölkerung betreffen. Bei den Haushalten ohne Auto in
Einkommensgruppen 1 und 2 ist die Datengrundlage teilweise schlechter, das Ausmaß der
Benachteiligung ist somit schlechter quantifizierbar, das heißt aber nicht, dass Benachteili-
gung nicht vorhanden ist.
Die Tatsache, dass die unteren Einkommensgruppen hohe zusätzliche Mobilitätsausga-
benanteile bei gleichzeitig geringen absoluten Mobilitätsausgaben aufweisen, zeigt, dass
sie besonders vulnerabel gegenüber Mobilitätskostensteigerung und/oder Einkommens-
minderungen sind. Das zeigen auch andere Studien [
52
]. Anders als in vergleichbaren
Studien wird in dieser Studie aber ein Ansatz verwendet, bei dem nicht nur das Einkommen,
sondern gleichzeitig auch Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Kinder im Haushalt und Region
berücksichtigt werden. Letztere werden also nicht als separate, additive Faktoren behandelt.
Zusätzlich zu der oben beschriebenen vertikalen Ungleichheit zwischen den Einkommens-
gruppen ist die horizontale Ungleichheit innerhalb der Einkommensgruppen stark aus-
geprägt. Mit steigendem Einkommen sinkt die horizontale Ungleichheit und umgekehrt,
je geringer das Einkommen, desto unterschiedlicher sind die Mobilitätsausgabenanteile
aufgrund der Merkmale Erwerbstätigkeit, Autobesitz, Kinder im Haushalt und Region. Das
ist ein Zeichen dafür, dass der Grad der Vulnerabilität in großem Maße auch von anderen
Faktoren als dem Einkommen abhängt und könnte ein Argument für eine soziale Staffelung
von Maßnahmen sein.
Nach dem Faktor Einkommen ist Autobesitz ein wichtiges Merkmal für hohe Mobilitäts-
ausgabenanteile. Unabhängig vom Einkommen geben Haushalte mit Auto immer einen
höheren Anteil ihres Einkommens für Mobilität aus als Haushalte ohne Auto. Ob der Pkw-
Besitz das Resultat von Autoabhängigkeit durch ein mangelndes ÖPNV-Angebot oder einer
Präferenz ist, kann dabei nicht unterschieden werden. Die räumliche Analyse (siehe 3.2)
zeigt aber, dass es einen Zusammenhang zwischen Autobesitz und ÖPNV-Angebotsqualität
gibt: In ländlichen Regionen mit niedriger Qualität des ÖPNV ist die Autobesitzrate höher.
Unabhängig davon, ob Pkw-Besitz eine Präferenz oder eine Notwendigkeit ist, bedeuten die
Ergebnisse für die Entwicklung potenzieller Maßnahmen, dass vor allem ärmere Haushalte
stärker entlastet werden, wenn für sie bei gleichbleibender Mobilität die Ausgaben für
die Autonutzung sinken oder ganz entfallen. Umgekehrt bedeutet das, dass die unteren
Einkommensgruppen im Vergleich zu den mittleren und höheren Einkommensgruppen
früher gezwungen sind, die Autonutzung aufzugeben, sollten die Kosten für die Autonut-
zung steigen. Eine allgemeine Kostensteigerung ohne gleichzeitige Alternativangebote oder
finanzielle Ausgleiche würde also sozial unausgewogen sein.
Ein weiterer Faktor, der mit systematisch höheren Mobilitätsausgabenanteilen verbunden
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 38
ist, ist die Erwerbstätigkeit. Mit Ausnahme von Einkommensgruppe 5 geben in allen
Gruppen mit gleichem Einkommen und dem gleichen Autobesitzstatus Haushalte, in denen
mindestens eine Person in Erwerbstätigkeit oder Ausbildung ist, einen größeren Anteil ihres
Einkommens für Mobilität aus. Die Analyse des Mobilitätsverhaltens zeigt auch, dass die
erwerbstätigen Haushaltsgruppen längere Tagesstrecken zurücklegen und zwar mit allen
drei betrachteten Verkehrsmittel-Gruppen (Pkw, Bahn/Zug, Bus/Taxi). Die Implikation ist,
dass Erwerbstätigkeit mehr Mobilität erfordert und die Kosten, die damit einhergehen, wer-
den im Durchschnitt nicht in Gänze durch ein höheres Einkommen ausgeglichen. Daneben
könnten auch Unterschiede in den Präferenzen für Mobilität zwischen erwerbstätigen und
nicht erwerbstätigen Haushalten ein erklärender Faktor sein. Für die Entwicklung von poten-
ziellen Maßnahmen zur Reduktion von Mobilitätsarmut bedeutet das, dass erwerbstätige
Haushalte beziehungsweise die dadurch verursachten Pendelwege besonders in den Blick
genommen werden müssen.
Das Zusammenkommen der Faktoren Autobesitz und Erwerbstätigkeit ist auch wichtig,
wenn es darum geht, das Ausmaß der Betroffenheit in der Bevölkerung abzuschätzen.
Obwohl die Stichprobe nicht repräsentativ bezüglich der behandelten Merkmalskombinatio-
nen ist (mit Ausnahme des Einkommens), kann festgestellt werden, dass insbesondere in
den Einkommensgruppen 2 bis 5 erwerbstätige Haushalte mit Auto mit jeweils 13 Prozent
den deutlich größten Anteil in der Bevölkerung ausmachen. Der Anteil der erwerbstätigen
Haushalte mit Auto in Einkommensgruppe 1 liegt dagegen nur bei knapp 9 Prozent. Wenn
also eventuelle Maßnahmen auf die Merkmale Autobesitz und Erwerbstätigkeit ausgerich-
tet sind, wird die unterste Einkommensgruppe weniger erreicht. Gleichzeitig ist es aber
wichtig, genau diese Einkommensgruppe zu adressieren, weil sie mit systematisch höheren
Ausgabenanteilen für Mobilität belastet wird.
Grundsätzlich haben Haushaltsgruppen mit und ohne Kinder unterschiedlich hohe zu-
sätzliche Mobilitätsausgabenanteile. Die Unterschiede sind aber vergleichsweise gering
und weniger systematisch, als es die oben beschriebenen Unterschiede im Zusammenhang
mit Autonutzung und Erwerbstätigkeit sind. Ähnlich ist es beim Mobilitätsverhalten, die
Unterschiede zwischen Haushalten mit und ohne Kinder sind gering. Nichtsdestotrotz: Unter
den erwerbstätigen Haushaltsgruppen in den Einkommensgruppen 1 bis 4 haben Gruppen
mit Auto und mit Kindern konsistent geringere Mobilitätsausgabenanteile als Gruppen ohne
Kinder. Die Analyse des Mobilitätsausgabeverhaltens zeigt hingegen, dass erwerbstätige
Haushalte mit Kindern im Durchschnitt sogar geringfügig mehr mit dem Auto unterwegs
sind als erwerbstätige Haushalte ohne Kinder. Obwohl erwerbstätige Haushalte mit Auto
und mit Kindern ein ähnliches Mobilitätsverhalten wie entsprechende Haushalte ohne Kin-
der haben, geben sie also einen geringeren Anteil ihres Haushaltseinkommens für Mobilität
aus. Das lässt vermuten, dass Einsparungen bei den Mobilitätsausgaben dieser Haushalte,
zum Beispiel wegen steigender Kraftstoffpreise, nur schwer ohne Einschränkungen beim
Mobilitätsverhalten zu erreichen sind. In diesem Zusammenhang spielen auch die Erreich-
barkeit von relevanten Zielorten und das vorhandene Zeitbudget eine Rolle. Maßnahmen
sollten daher nicht nur die Erschwinglichkeit von Mobilitätsangeboten, sondern auch die
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 39
Vermeidung zusätzlichen Zeitaufwands berücksichtigen, damit erwerbstätige Haushalte mit
Kindern ihre Mobilität nicht aus finanziellen oder Zeitgründen einschränken müssen.
Unterschiede in den Mobilitätsausgabenanteilen aufgrund des Regionsgrundtyps sind
weniger stark ausgeprägt und systematisch. Grundsätzlich erklären sich die kleinen regio-
nalen Unterschiede in den Mobilitätsausgabenanteilen damit, dass Pkw-Besitz als Faktor
bereits berücksichtigt ist und zusätzliche räumliche Effekte (nach Berücksichtigung des
Pkws) entsprechend gering sind. Auch andere Studien heben hervor, dass Pkw-Besitz vor-
herrschend für das Mobilitätsverhalten ist [
48
]. Einschränkend ist festzuhalten, dass die
EVS-Regionsgrundtypen zur räumlichen Unterscheidung nur begrenzt geeignet sind. Trotz-
dem lässt sich zum Beispiel beobachten, dass in den Einkommensgruppen 2 und 3 bei der
Gruppe der erwerbstätigen Haushalte ohne Kinder die Haushalte in ländlichen Regionen
die höchsten Mobilitätsausgabenanteile haben. Auch die Ergebnisse zu der prozentualen
Benachteiligung von Einkommensgruppen 1 und 2 zeigen, dass nicht erwerbstätige Haus-
halte mit Auto, ohne Kinder, die auf dem Land wohnen, überproportional benachteiligt
sind. Der Anteil der nicht erwerbstätigen Haushalte mit Auto in den Einkommensgruppen
1 und 2, unabhängig von der Art des Raumes, ist mit circa sieben Prozent höher als in
den anderen Einkommensgruppen, wo er bei drei bis Prozent liegt. Es kann sich dabei um
Einpersonenhaushalte mit Rentnern oder Arbeitslosen handeln, die ein Auto brauchen,
um im ländlichen Raum etwas erledigen zu können und deshalb besonders vulnerabel
sind. Grundsätzlich können Haushalte in ländlichen Wohnorten durch ihren durchschnittlich
häufigeren Autobesitz mit solchen Maßnahmen adressiert werden, die auf eine Reduzierung
der Autoabhängigkeit setzen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass mehrere Merkmale dazu führen, dass ein Haus-
halt vulnerabel bezüglich Mobilitätsarmut ist. Besonders vulnerable Haushalte sind in den
untersten zwei Einkommensgruppen zu finden, die erwerbstätig sind und ein Auto haben.
Relativ vulnerabel im Vergleich zu Haushalten mit mittleren Einkommen sind die nicht
erwerbstätigen Haushalte, die ein Auto haben und auf dem Land wohnen. Maßnahmen,
die möglichst mehrere dieser Merkmalskombination adressieren, sind somit zielführend
für die Reduzierung von Mobilitätsarmut. Die dargestellte Analyse befasst sich mit den
situativen Bedingungen der Haushalte in Bezug auf Einkommen, Erwerbstätigkeit, Kinder im
Haushalt, Autonutzung und Regionsgrundtyp und den damit verbundenen Unterschieden
in den Mobilitätsausgaben und im Mobilitätsverhalten. Im nachfolgenden Kapitel wird ein
Einblick in die räumliche Verteilung von Mobilitätsarmut gegeben.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 40
3.2 Vulnerabilität von Haushalten gegenüber
Tankkostenerhöhungen
Die Analyse in Kapitel 3 legte einen Schwerpunkt auf die Untersuchung von Mobilitätsarmut
anhand des Ausgabeverhaltens von Haushalten. Ergänzend dazu soll die folgende Analyse
einen Einblick in die räumliche Verteilung von Unterschieden in der Erschwinglichkeit der
Autonutzung geben. Die Untersuchung kann zeigen, inwieweit die Auswirkungen von
Kraftstoffpreiserhöhungen räumlich ungleich verteilt sind und welche räumlichen Muster
der Vulnerabilität gegenüber Erhöhung der Tankkosten von besonderem Interesse sind. Das
geschieht durch die Analyse der Vulnerabilität gegenüber einer möglichen Erhöhung der
Tankkosten mithilfe eines zusammengesetzten räumlichen Indikators, der als Vulnerabilitäts-
index bezeichnet wird. Das Vorgehen basiert auf einem etablierten methodischen Ansatz,
der die Vulnerabilität als Ergebnis der folgenden drei Faktoren betrachtet:
Exposition, verweist auf die Intensität/Häufigkeit der Autonutzung;
Sensibilität, verweist auf ein geringes Einkommen;
Anpassungsfähigkeit, verweist auf vorhandene Alternativen zum Auto, insbesondere
ÖPNV-Angebot.
Die Analyse räumlicher Daten ist besser geeignet als die Analyse von Haushaltserhebungen
in 3.1, um räumliche Muster in der Vulnerabilität ans Licht zu bringen. Räumliche Muster in
der Vulnerabilität gegenüber der Erhöhung der Tankkosten sind von besonderem Interesse,
da sich die Nutzung des Autos und die Autoabhängigkeit zwischen Stadt, Umland und
Land ebenso wie das Einkommensniveau unterscheiden. In der öffentlichen und politischen
Debatte werden die starken Auswirkungen von Kraftstoffpreiserhöhungen auf die Bevöl-
kerung in autoabhängigen (und manchmal weniger wohlhabenden) ländlichen Gebieten
oft mit denen der Stadtbevölkerung verglichen. Bislang gibt es in Deutschland jedoch nur
wenige empirische Untersuchungen dazu. In unserer Analyse werden Gebiete als besonders
vulnerabel angesehen, wenn sie 1) eine hohe Motorisierung (als Proxy für die Intensität
der Autonutzung) und somit eine hohe Exposition gegenüber Kraftstoffpreiserhöhungen
aufweisen, 2) ein niedriges Einkommensniveau und somit eine hohe Sensibilität haben,
sowie 3) ein mangelndes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln und somit eine geringe
Anpassungsfähigkeit aufweisen. In diesen Regionen kann davon ausgegangen werden,
dass die Menschen mangels Alternativen auf ihr Auto angewiesen sind, während sie für die
damit verbundenen höheren Ausgaben jedoch kaum finanziellen Spielraum haben. Der aus
diesen drei Faktoren neu entwickelte Vulnerabilitätsindex könnte in künftige Diskussionen
über die tatsächliche Betroffenheit von der Autoabhängigkeit einfließen, da sich deutliche
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 41
regionale Unterschiede ergeben und die Komplexität der Problematik ersichtlich wird.
3.2.1 Datengrundlage und Vorgehen
Für die Ermittlung des Vulnerabilitätsindex werden amtliche Daten auf Kreis- und Ge-
meindeebene vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), vom Statistischen Bundesamt, von der
Bundesagentur für Arbeit sowie Daten aus dem kürzlich entwickelten ÖPNV-Atlas von
Agora Verkehrswende verwendet. Alle Datenquellen entstammen dem Zeitraum 2020 bis
2022. Die für den Vulnerabilitätsindex verwendeten Indikatoren und Datenquellen sind in
Tabelle 3.10 im Einzelnen dargestellt. In der Praxis ist der Vulnerabilitätsindex als Summe
der vier in der Tabelle aufgeführten standardisierten Indikatoren (Z-Scores) berechnet, die
anhand der in der Spalte ganz rechts aufgeführten Faktoren gewichtet werden [18].
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 42
Tabelle 3.10: Indikatoren, die für den Vulnerabilitätsindex verwendet werden
Vulnerabilitäts
Räumliche Datenquelle
Bezugs Gewicht
dimension Einheit jahr (%)
Exposition
Motorisierungsgrad: An-
zahl Pkw privater Halter
pro Einwohner†
Gemeinde
Kraftfahrt-
Bundesamt
[41]
2022 33,3
Sensibilität
verfügbares Einkommen
der privaten Haushalte
einschließlich der priva-
ten Organisationen ohne
Erwerbszweck je Einwoh-
ner
Kreis
Statistische
Ämter des
Bundes und
der Länder
[60]
2020 16,7
Sensibilität
mittleres Bruttoarbeits-
entgelt für sozialver-
sicherungspflichtig
Vollzeitbeschäftigte der
Kerngruppe (Median in
Euro)
Gemeinde-
verband
Bundes-
agentur für
Arbeit
2021 16,7
Anpassungs-
fähigkeit
ÖV-Qualität: ÖV-
Abfahrten je Tag und je
Siedlungs- und Verkehrs-
fläche
Gemeinde
ÖV-Atlas
Deutsch-
land 2022
[3]
2022 33,3
†Die Anzahl der PKWs privater Halter wird als Differenz zwischen der Anzahl der in der
Gemeinde zugelassenen PKWs insgesamt und der Anzahl der PKWs gewerblicher Halter
berechnet. Im Rahmen unserer Analyse haben wir den Vulnerabilitätsindex einer Sensi-
bilitätsprüfung unterzogen, indem wir einen Motorisierungsindikator verwendet haben,
der alle PKWs, inklusive PKWs gewerblicher Halter einschließt. Wir erhielten Ergebnisse,
die den im Bericht dargestellten sehr ähnlich sind und in hohem Maße mit ihnen korrelieren.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 43
3.2.2 Ergebnisse
Abbildung 3.8 zeigt die räumlichen Muster der Motorisierung in Deutschland. Erwartungs-
gemäß zeigt die Karte einen niedrigeren Motorisierungsgrad in Großstädten und in intensiv
urbanisierten Gebieten (zum Beispiel Nordrhein-Westfalen) sowie einen höheren Motorisie-
rungsgrad in den ostdeutschen Bundesländern und im Süden und Westen des Landes, zum
Beispiel in Bayern und Rheinland-Pfalz. Ein höherer Motorisierungsgrad (in Rot dargestellt)
erhöht die Exposition der Gemeinden gegenüber einer Erhöhung der Tankkosten und macht
sie tendenziell vulnerabler. Da die Vulnerabilität aber von deutlich mehr Faktoren abhängt,
lässt sich über den Motorisierungsgrad nur bedingt eine Aussage zu Mobilitätsarmut treffen.
So kann eine Gemeinde mit hohem Motorisierungsgrad dennoch weniger von Kraftstoff-
preiserhöhungen getroffen werden, wenn die Einwohner es sich leisten können, mehr für
Kraftstoff zu bezahlen oder leicht auf andere Verkehrsmittel umsteigen könnten. Um den
Grad der Vulnerabilität richtig einschätzen zu können, müssen wir also auch die Faktoren
berücksichtigen, die sich auf die Sensibilität und die Anpassungsfähigkeit gegenüber einer
Erhöhung der Tankkosten auswirken.
Abbildung 3.9 zeigt einen zusammengesetzten Indikator, der die Informationen über das
verfügbare Einkommen pro Einwohner und das mittlere Bruttoarbeitsentgelt als Summe
der entsprechenden Z-Scores zusammenfasst, die in der Analyse zur Messung der Sen-
sitivität herangezogen werden. Diese Kombination von Indikatoren war notwendig, um
die eingeschränkte Aussagekraft der beiden Indikatoren im Hinblick auf die Sensibilität
zu überwinden. Die Karte zeigt ein klares Muster, wonach das Einkommen im Süden
Deutschlands, aber auch in Teilen des Westens und im Norden höher ist. Der Großteil der
ostdeutschen Bundesländer ist durch ein niedrigeres Einkommensniveau (in Rot dargestellt)
gekennzeichnet. Das erhöht die Sensibilität gegenüber einer Anhebung der Tankkosten in
diesen Gebieten tendenziell und damit auch die Vulnerabilität. Gemeinden mit niedrigem
Einkommen sind gegenüber einer Erhöhung der Tankkosten vulnerabler, wenn sie durch
eine hohe Autonutzung und eine schlechte Qualität von alternativen Verkehrsangeboten
gekennzeichnet sind.
Abbildung 3.10 zeigt, wie die ÖV-Qualität in Deutschland variiert. Erwartungsgemäß ist
die ÖV-Qualität in den wichtigsten städtischen Gebieten besser. Es wird jedoch auch deut-
lich, dass es große Unterschiede zwischen Bundesländern gibt, die sich ansonsten recht
ähnlich sind. So weist zum Beispiel Bayern im Vergleich zu Baden-Württemberg, Thüringen
im Vergleich zu Sachsen und Rheinland-Pfalz im Vergleich zum Saarland eine schlechtere
ÖV-Qualität (in Rot dargestellt) auf. Diese Unterschiede lassen sich möglicherweise durch
die unterschiedlichen politischen Ansätze der einzelnen Bundesländer in Bezug auf die Be-
reitstellung öffentlicher Verkehrsangebote erklären. Eine schlechtere ÖV-Qualität verringert
tendenziell die Anpassungsfähigkeit an eine Erhöhung der Tankkosten, was wiederum die
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 44
Vulnerabilität erhöht. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn schlechte ÖV-Qualität mit
einer hohen Autonutzung und einem niedrigen Einkommen kombiniert werden.
Der Vulnerabilitätsindex fasst die Informationen aus den vier Indikatoren und den drei
Vulnerabilitätsfaktoren in einer einzigen Kennzahl zusammen. Der Index zeigt auf, welche
Gemeinden einen höheren Anteil an Haushalten haben, die aufgrund einer Kombination aus
hoher Motorisierung, niedrigem Einkommen und schlechter ÖV-Qualität am stärksten von
Kraftstoffpreiserhöhungen betroffen sind. Der Index weist Werte zwischen -26,7 (geringste
Vulnerabilität) und +6,4 (höchste Vulnerabilität) auf. In Abbildung 3.11 ist die räumliche
Verteilung des Vulnerabilitätsindex dargestellt. Das sich daraus ergebende räumliche Muster
ist komplex, zeigt aber tendenziell ein höheres Maß an Vulnerabilität (in Rot dargestellt) in
den neuen Bundesländern sowie in weniger dicht besiedelten Gebieten im Westen Deutsch-
lands. Auch dabei gibt es starke Unterschiede zwischen benachbarten Bundesländern, die
ansonsten in vielerlei Hinsicht ähnlich sind, wie zum Beispiel zwischen Bayern (höhere
Vulnerabilität) und Baden-Württemberg (geringere Vulnerabilität) sowie zwischen Thüringen
(höhere Vulnerabilität) und Sachsen (geringere Vulnerabilität). Wie bereits erwähnt, spiegelt
das wahrscheinlich Unterschiede in der ÖV-Qualität, aber auch des Einkommens wider.
Insgesamt leben rund 1,9 Millionen Menschen in Gemeinden, welche die höchste Vulnera-
bilität gegenüber der Erhöhung der Tankkosten aufweisen, das sind rund 2,3 Prozent der
Gesamtbevölkerung (in Abbildung 3.11 rot dargestellt). Demgegenüber stehen 53 Millionen
Menschen, die in den am wenigsten gefährdeten Gemeinden leben (in Abbildung 3.11
gelb dargestellt). Diese Diskrepanz ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass Gemeinden
mit hoher Vulnerabilität tendenziell eine geringere Bevölkerungszahl aufweisen. Zur Veran-
schaulichung: Der Vulnerabilitätsindex ergibt Werte zwischen +0,6 in kleinen Gemeinden
mit weniger als 5.000 Einwohnern und Einwohnerinnen und -12,7 in Städten mit mehr als
einer Million Einwohnern und Einwohnerinnen. Eine weitere Analyse zeigt auch deutlich,
dass Gemeinden mit geringerer Bevölkerungsdichte tendenziell vulnerabler sind. Das ist
wahrscheinlich auf den höheren Motorisierungsgrad und die geringere ÖV-Qualität zurück-
zuführen, was beides die stärkere Abhängigkeit vom Auto widerspiegelt. Ein Vergleich
der Durchschnittswerte für die Bundesländer zeigt die höchste Vulnerabilität in Thüringen
(+1,5), Mecklenburg-Vorpommern (+1,2), Sachsen-Anhalt (+0,8), Brandenburg (+0,8) und
Rheinland-Pfalz (+0,7). Die niedrigste Vulnerabilität findet man in Berlin (-13,9), Hamburg
(-11,6), Bremen (-4,1), Baden-Württemberg (-1,8) und Nordrhein-Westfalen (-1,8).
Insgesamt zeigen die Ergebnisse der in diesem Abschnitt vorgestellten Analyse, dass die
räumliche Verteilung der Vulnerabilität gegenüber einer Erhöhung von Tankkosten keine
einfachen Schlüsse zulässt. Erwartungsgemäß ist die Vulnerabilität außerhalb der Städte (vor
allem wegen der größeren Abhängigkeit vom Auto) und in Ostdeutschland (vor allem wegen
des geringeren Einkommensniveaus) höher. Weniger zu erwarten waren aber die teilweise
starken Unterschiede zwischen Regionen, die sich ansonsten relativ ähnlich sind. In die-
sem Zusammenhang scheint die höhere Vulnerabilität, die zum Beispiel in Rheinland-Pfalz,
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 45
Bayern und Thüringen zu beobachten ist, zumindest teilweise auf politische Entscheidun-
gen zurückzuführen zu sein, insbesondere im Hinblick auf die Bereitstellung öffentlicher
Verkehrsangebote. Ländliche Räume sind demnach nicht per se „autoabhängig“, sondern
werden von politischen Rahmenbedingungen dazu gemacht.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 46
Abbildung 3.8:
Räumliche Muster der Exposition gegenüber einer Erhöhung der
Tankkosten. Quelle: eigene Darstellung von Daten des KBA
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 47
Abbildung 3.9:
Räumliche Muster der Sensibilität gegenüber einer Erhöhung der
Tankkosten. Quelle: eigene Darstellung von Daten der Statistische
Ämter des Bundes und der Länder und der Bundesagentur für Arbeit
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 48
Abbildung 3.10:
Räumliche Muster der Anpassungsfähigkeit gegenüber einer Erhö-
hung der Tankkosten. Quelle: eigene Darstellung von Daten von
Agora Verkehrswende
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
3 Empirische Datenanalyse 49
Abbildung 3.11:
Räumliche Muster der Vulnerabilität gegenüber einer Erhöhung der
Tankkosten. Quelle: eigene Darstellung
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen
4.1
Grundlagen für die Bewertung von Maßnahmen
Gegenstand dieses Kapitels ist die Analyse und Bewertung möglicher Maßnahmen gegen
Mobilitätsarmut. Die betrachteten Maßnahmen sind bereits in der politischen Debatte
präsent oder werden von Verbänden, Thinktanks und wissenschaftlichen Organisationen
empfohlen. Angesichts der Verflechtung sowohl von sozialpolitischen als auch klimapoliti-
schen Zielen wurden Maßnahmen in den Fokus genommen, die zum einen Mobilitätsarmut
vermeiden oder verringern und in diesem Sinn zu einer Verbesserung des Status quo für
jene Gruppen führen, die von einer oder mehreren Dimensionen von Mobilitätsarmut be-
troffen sind und zum anderen die Verkehrswende voranbringen oder zumindest dieser nicht
zuwiderlaufen. Im besten Falle können die Maßnahmen zeigen, dass sie einerseits die Ver-
kehrswende voranbringen und andererseits Mobilitätsarmut verringern – denn Klimaschutz
im Verkehr kann und muss mit sozialpolitischen Zielen vereinbar sein.
Im Folgenden werden die Erkenntnisse der Datenanalyse zu relevanten Maßnahmen und
von diesen betroffenen Zielgruppen, die Ergebnisse einer breiten Recherche zu Maßnah-
men sowie die Bewertung ausgewählter Maßnahmen in Bezug auf ihre Wirkungen und
Erfolgsaussichten vorgestellt.
4.1.1 Vorgehen
Die Auswahl und Bewertung der Maßnahmen erfolgte iterativ und im Zusammenspiel mit
den Erkenntnissen der Datenanalyse sowie auf der Grundlage einer Recherche zu aktuell
diskutierten Maßnahmen in Politik, Thinktanks und Verbänden. Zusätzlich wurde der die
Studie beratende Begleitkreis – bestehend aus Akteurinnen und Akteuren aus Bundespolitik,
zivilgesellschaftlichen Organisationen und Forschung – in die Maßnahmenauswahl und
-bewertung eingebunden. Die ausgewählten Maßnahmen wurden kategorisiert, das heißt
zu übergeordneten Maßnahmentypen zusammengefasst, und nach einheitlicher Systematik
analysiert und bewertet. Die Bewertung soll Orientierung bei der Priorisierung und Kombi-
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland 50
4 Politische Handlungsoptionen 51
nation von Maßnahmen geben, um Mobilitätsarmut zu verringern oder zu vermeiden. Dazu
werden mögliche Ansätze und Arten von Maßnahmen betrachtet sowie Beispiele guter
Praxis herangezogen.
Abbildung 4.1: Vorgehen Maßnahmenauswahl und -bewertung
Die Bewertung von Maßnahmen umfasst neben der eigentlichen Bewertung die Wir-
kungsanalyse. Es gibt verschiedene Verfahren mit quantitativen oder qualitativen Ansätzen.
Unabhängig vom Verfahren sollte eine Wirkungsanalyse und Bewertung bestimmte Qua-
litätsanforderungen erfüllen, wie etwa die Definition eines Zielsystems von alternativen
Handlungsoptionen zum Erreichen der Ziele und Indikatoren [
44
]. Das gewählte Verfahren
bewertet die Maßnahmen qualitativ anhand ausgewählter Indikatoren unter Berücksichti-
gung von Erkenntnissen aus der Auswertung von Sekundärdaten und der Literatur sowie
teilweise mithilfe der quantitativen Analyse. Aufgrund der Datenverfügbarkeit und der Art
der Daten eigenen sich nicht alle ausgewählten Maßnahmen dafür.
Die Entwicklung der Bewertungssystematik (Abbildung 4.2) erfolgte in Anlehnung an
ähnliche Studien [
28
] und an die qualitative Wirkungsanalyse im Bereich gemeinnütziger
Projekte nach Phineo [
54
,
53
]. In der Wirkungsanalyse nach Phineo wird ein Stufenprozess
beschrieben, angefangen beim „Input“ über „Output“ bis hin zu „Outcome“ und „Im-
pact“. Für jede Stufe sind Indikatoren und Erfüllungsbedingungen festzulegen. Auf dieser
Grundlage unterscheidet der vorliegende Ansatz die übergeordneten Kriterien „Ressourcen-
einsatz“, „Problemorientierung“ und „Wirkung“ einer Maßnahme (siehe Abbildung 4.2).
Das Zielsystem, das mithilfe von Maßnahmen avisiert werden soll, ist die Vermeidung und
Verringerung der verschiedenen Dimensionen von Mobilitätsarmut unter gleichzeitiger
Berücksichtigung klima- und umweltpolitischer Ziele im Sinne der Verkehrswende.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 52
4.1.2 Handlungsfelder
Vor dem Hintergrund der Dimensionen von Mobilitätsarmut – Verfügbarkeit von Verkehrs-
angeboten, Erreichbarkeit von Zielorten und Aktivitäten, Erschwinglichkeit sowie mobili-
tätsbezogene Zeitarmut – sowie der Erkenntnisse der beiden Datenanalysen (3.1 und 3.2)
wurden als Schlüsselfaktoren für die Mobilitätsarmut von Haushalten Autoabhängigkeit,
finanzielle Belastung durch Mobilitätskosten sowie eine eingeschränkte zeitliche und räum-
liche Flexibilität für die Koordinierung der alltäglichen Verpflichtungen identifiziert. Daraus
wurden drei Handlungsfelder für politische Maßnahmen gebildet. Diese sind:
Verringerung der Autoabhängigkeit
Entlastung für das private Haushaltsbudget
Erhöhung räumlich-zeitlicher Flexibilität
Die Handlungsfelder können mehrere Mobilitätsarmutsdimensionen betreffen (siehe Tabel-
le 4.1).
Tabelle 4.1: Handlungsfelder und Mobilitätsarmutsdimensionen
Dimension Mobilitätsarmut
Handlungsfeld
Verfügbarkeit Erreichbarkeit
Erschwinglichkeit
Zeitarmut
Verringerung der
Autoabhängigkeit
Entlastung für das
Haushaltsbudget
Erhöhung räumlich-
zeitlicher Flexibilität
4.1.3 Bewertungsschema für die Maßnahmenoptionen
Als übergeordnete Bewertungskriterien wurden der Ressourceneinsatz, die Problemorientie-
rung und die Wirkung einer Maßnahme bestimmt (Abbildung 4.2). Zum Ressourceneinsatz
zählen die geschätzten Kosten im Zusammenhang mit Finanzierungsmöglichkeiten und
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 53
der Dauer der Maßnahme. Berücksichtigung findet auch der Vergleich mit ähnlichen be-
stehenden Maßnahmen, die durch die neue Maßnahme überflüssig werden könnten. Zur
Problemorientierung zählt, welche Dimensionen von Mobilitätsarmut und welche Zielgrup-
pen die Maßnahme adressieren soll. Die Wirkung lässt sich bestimmen über den Beitrag der
Maßnahme zur Vermeidung und Verringerung von Mobilitätsarmut bei den vulnerablen
Gruppen. Zusätzlich wird die Maßnahmenwirkung auch in Bezug auf ihren Beitrag zum
Politikziel des Klimaschutzes bemessen, um jene Maßnahmen identifizieren zu können,
die neben der Vermeidung von Mobilitätsarmut auch die Erreichung der Klimaschutzziele
erfüllen oder dem nicht zuwiderlaufen (siehe Tabelle 4.3).
Tabelle 4.2: Bewertungssystematik
Ressourceneinsatz Problemorientierung Wirkung
•
volkswirtschaftliche Kos-
ten
• Finanzierbarkeit
• Dauer der Maßnahme
•
Zielgruppen-
gerechtigkeit
•
adressiert
Mobilitätsarmuts-
Dimensionen
•
Vermeidung und Verrin-
gerung von Mobilitätsar-
mut
• Klimaeffekt
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 54
Tabelle 4.3: Bewertungsschema
Bewertungskriterien Indikatoren
Ressourceneinsatz
Höhe der erwarteten volkswirtschaftlichen Kosten der Maßnah-
me (Investitions- und Unterhaltungskosten bzw. Betriebskosten
sowie Personalkosten) sowie Verfügbarkeit fiskalischer Mittel,
zum Beispiel im Rahmen eines bestehenden Haushaltsplans oder
Förderprogramms
Problemorientierung
Die Maßnahme zahlt auf mindestens eine der Dimensionen von
Mobilitätsarmut ein und adressiert folgende Punkte:
•
fehlende Verfügbarkeit von attraktiven öffentlichen oder alter-
nativen Verkehrsangeboten: Maßnahme verbessert die Verfüg-
barkeit (zeitlich, räumlich, physisch) von Mobilitätsangeboten
und Haltestellen
•
fehlender Zugang zu Aktivitäten, weil die Orte und Angebote
nicht erreichbar oder weil sie für Menschen mit gesundheit-
lichen oder körperlichen Einschränkungen nicht zugänglich
sind: Maßnahme verbessert die Erreichbarkeit von Zielen und
Aktivitäten
•
fehlende Erschwinglichkeit von Verkehrsangeboten oder er-
zwungene Einsparung in anderen Bereichen: Maßnahme
macht Mobilitätsangebote erschwinglicher bzw. die Kosten
stellen keine Barriere dar für die Erreichbarkeit von Zie-
len/Aktivitäten
•
Maßnahme schafft mehr zeitlich-räumliche Flexibilität und
verringert Zeitarmut
Die vulnerablen Zielgruppen werden erreicht.
Wirkung •
Die Maßnahme führt zur Vermeidung oder Verringerung von
Mobilitätsarmut für die vulnerablen Zielgruppen.
•
Die Maßnahme hat keine nachteiligen oder positiven Auswir-
kungen auf den Klimaschutz.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 55
4.2
Maßnahmen zur Verringerung und Vermeidung
von Mobilitätsarmut
4.2.1 Maßnahmen gegen Mobilitätsarmut nach Handlungsfeld
Die Recherche zu Maßnahmen gegen Mobilitätsarmut, die bereits in der Diskussion sind,
ergab eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen. Diese wurde zu Maßnahmentypen zusammen-
gefasst und den Handlungsfeldern zugeordnet. Diese Zuordnung von Maßnahmentypen
zu Handlungsfeldern ist in Tabelle 4.4 abgebildet. Eine Mehrheit der Maßnahmen lässt
sich dem Handlungsfeld der Verringerung der Autoabhängigkeit zuordnen. Einen weiteren
Schwerpunkt bildet die Budgetentlastung. Weniger Aufmerksamkeit haben bisher Maßnah-
men erhalten, die in das Handlungsfeld Erhöhung räumlich-zeitlicher Flexibilität fallen. Im
Tabelle 4.4: Überblick über Handlungsfelder und Maßnahmentypen
Verringerung der Autoab-
hängigkeit
Entlastung bzgl. Haushalts-
budget
Erhöhung räumlich zeitli-
cher Flexibilität
•
Erschließungs- und An-
gebotsverbesserung im
ÖPNV
•
Förderung von Rad- und
Fußverkehr
•
Gewährleistung einer au-
tounabhängigen Erreich-
barkeit von relevanten
Zielorten (Arbeiten, Woh-
nen, Einkaufen, Freizeit
etc.)
•
Preis- bzw. Kostenredu-
zierung für Mobilitätsan-
gebote und Verkehrsmit-
tel
•
Entlastungszahlungen
und Prämien
•
Vermeidung von dienstli-
chen und Arbeitswegen
•
Vermeidung von Wegen
zu Versorgungs-zwecken
(z. B Telemedizin, mo-
bile Einkaufsangebote,
Online-Einkaufen)
Folgenden werden die Maßnahmentypen zusammen mit relevanten Beispielmaßnahmen
besprochen und dabei bewertet. Nachfolgend (4.3) wird zudem auf ausgewählte, noch
nicht eingeführte Maßnahmen vertieft eingegangen, indem konkrete Gestaltungsvarianten
vorgeschlagen und bewertet werden.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 56
Verringerung der Autoabhängigkeit
Viele Maßnahmen zielen auf eine Verringerung der Abhängigkeit vom Auto ab. In Tabelle 4.5
wird ein Überblick über diese Maßnahmen gegeben.
Tabelle 4.5: Überblick über Handlungsfelder und Maßnahmentypen
Maßnahmentyp Beispielmaßnahmen
Erschließungs- und An-
gebotsverbesserung im
ÖPNV
•
Bedienungsstandards mit ÖPNV („Mobilitätsgarantie“)
mit Infrastrukturausbau und Angebotsverbesserung in-
klusive Barrierefreiheit
•
Förderung von Linienbedarfsverkehr nach §44 PBefG
als Ergänzung zum regulären ÖV
Förderung von Radver-
kehr und Fußverkehr • Infrastrukturausbau (z. B. von Radwegen)
•
Förderung von Sharing-Angeboten im Rahmen des
kommunalen Mobilitätsmanagements (z. B. Fahrrad-
Sharing oder Mikromobilität)
•
Verkehrsberuhigung in Wohngebieten (z. B. „Kiez-
blocks“ oder Spielstraßen)
Gewährleistung einer au-
tounabhängigen Erreich-
barkeit von relevanten
Zielorten (Arbeiten, Woh-
nen, Einkaufen, Freizeit
etc.)
•
Reduzierung des motorisierten Individual-, insbesonde-
re Pkw-Verkehrs als Ziel von Raumordnung und Bau-
recht
• Stadt der kurzen Wege
Maßnahmen, die auf die Verbesserung des öffentlichen Verkehrsangebots über In-
frastrukturausbau abzielen, sind in der Regel mit hohen Kosten verbunden und langfristig
angelegt. Zur Finanzierung stehen Bundesmittel aus verschiedenen Töpfen zur Verfügung –
in Form der zuletzt erhöhten Regionalisierungsmittel, Mittel aus der Leistungs- und Finan-
zierungsvereinbarung (LuFV III) oder dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG);
weitere Mittel werden absehbar zur Verfügung gestellt, etwa im Rahmen des „Ausbau-
und Modernisierungspakets ÖPNV“. Kurzfristiger und mit geringeren Investitionskosten
umzusetzen sind Maßnahmen, die ohne (Schienen-)Infrastrukturausbau auskommen und
zum Beispiel auf Takterhöhung, zusätzliche Buslinien oder flexible Angebote als Ergänzung
des Linienverkehrs setzen. Ein solcher Linienbedarfsverkehr hat insbesondere in ländlichen
Gebieten mit Versorgungslücken und dünner sozialer Infrastruktur das Potenzial, die Er-
reichbarkeit zu verbessern [
4
]. Mit der Angebotsverbesserung einhergehen sollte auch die
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 57
Schaffung von Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr. Trotz gesetzlicher Vorgaben und
Fristen
1
ist die Umsetzung noch nicht flächendeckend erfolgt. Ein Grund dafür ist laut
„Aktion Mensch“ nicht zuletzt die mangelnde Bereitstellung von Mitteln, damit die Aufga-
benträger die Vorgaben umsetzen können [
6
]. Ein umfassendes Konzept zur Verbesserung
der Erreichbarkeit und Verringerung der Autoabhängigkeit ist die vom VCD vorgeschlagene
„Mobilitätsgarantie“, mit der zum Beispiel bundesweite Standards zur Taktung und Erschlie-
ßung im ÖPNV sowie barrierefreier Zugang zu Mobilitätsdienstleistungen festgelegt werden
sollen [
66
]. Baden-Württemberg erprobt an einigen Orten einen solchen Ansatz einer Mobi-
litätsgarantie bereits (Stand 2023) mit einem ÖPNV-Angebot zwischen 5 und 24 Uhr und
Abfahrten mindestens alle 30 Minuten zur Anbindung an die relevanten Verkehrszentren
[9].
Maßnahmen zur Erschließungs- und Angebotsverbesserung im ÖPNV können je nach Aus-
gestaltung mehr oder weniger gut alle Mobilitätsarmutsdimensionen adressieren und auch
die vulnerablen Zielgruppen erreichen, das heißt insbesondere erwerbstätige und nicht
erwerbstätige Haushalte der unteren Einkommensgruppen, die aufgrund ihrer Wohnlage
oder arbeitsbezogenen Mobilität aktuell auf das Auto angewiesen sind. Die Maßnahmen
wären also wirkungsvoll zur Vermeidung und Verringerung von Mobilitätsarmut und wür-
den helfen, die Ungleichheiten zwischen den unteren Einkommensgruppen zu reduzieren.
Eine positive Wirkung gäbe es auch in Bezug zum Klimaschutz. Der ÖPNV ist Teil des
sogenannten Umweltverbunds und gilt im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr
als klimafreundlich, da er die Verkehrsnachfrage bündelt und so Verkehr verringert.
Eine weitere Säule zur Verringerung der Autoabhängigkeit ist die Förderung von Rad-
verkehr und Fußverkehr. Die Kosten sowie Umsetzungszeiträume für Rad- und Fuß-
verkehrsmaßnahmen variieren und hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab. Zunächst
zum Radverkehr: Im Vergleich zu Autoverkehrs- und ÖPNV-Ausbaumaßnahmen gilt der
Radverkehrsausbau als weniger kostenintensiv [
31
]. Fehlende Mittel sind zudem häufig
nicht das größte Hindernis, sondern fehlendes Personal und langwierige Planungsprozesse
[
61
]. Insbesondere das Fahrrad eignet sich für Strecken von bis zu 15 Kilometern und kann
daher auf kürzeren Strecken eine Alternative zum Auto sein. Die Radverkehrsförderung
zahlt auf die Dimensionen der Verfügbarkeit und Erreichbarkeit sowie der Erschwinglich-
keit ein – jedenfalls dann, wenn das Fahrrad als Alternative zum eigenen Auto für eine
Person praktikabel ist. Von einem Ausbau sicherer und direkter Radverkehrsinfrastruktur –
dazu gehören neben Radwegen beispielsweise auch sichere Abstellmöglichkeiten – würden
jene profitieren, die kürzere Wege haben, bei denen der Ausbau des ÖPNV noch nicht
angekommen ist und die eine Alternative zum Pkw für die Alltagsmobilität suchen. Dazu
würden nicht nur, aber auch die vulnerablen Zielgruppen zählen, die aktuell hohe Mo-
bilitätsausgabenanteile für das Auto aufbringen und eher Pendeldistanzen von unter 20
Kilometern pro Strecke haben, und jene, die ihre Mobilität aus Kostengründen weitgehend
1
Insbesondere zu nennen ist das Personenbeförderungsgesetz (PBefG), das vollständige Barrierefreiheit für die
Nutzung des ÖPNV bis zum 01.01.2022 vorgibt, siehe [16]
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 58
auf Fuß- und Radverkehr beschränken müssen. Als Alternative zum Besitz eines Fahrrads
oder Ähnlichem können Bikesharing oder weitere Angebote im Bereich der Mikromobilität
dienen, insbesondere für kürzere Strecken oder als Zu- und Abbringer für den ÖPNV. Diese
Angebote können im Rahmen des kommunalen Mobilitätsmanagements gefördert und ihre
Gestaltung über Qualitätsvereinbarungen geprägt werden. Solche Angebote werden eigen-
wirtschaftlich betrieben, sodass keine öffentliche Finanzierung erforderlich wird. Allerdings
eignen sie sich aufgrund der relativ hohen Kosten kaum für den täglichen Gebrauch für die
vulnerablen Gruppen. Zudem schließt die aktuelle Modellpalette viele Nutzer:innengruppen
aus, die sich auch in den vulnerablen Gruppen finden – sie sind zum Beispiel nicht ge-
eignet für Personen, die mit Kindern unterwegs sind oder viel transportieren müssen. Ein
weiterer Ansatz zur Adressierung von Mobilitätsarmut im Bereich der Nahmobilität ist die
Verkehrsberuhigung, durch die Fußwege attraktiver und sicherer werden [
7
]. Beispiele
sind Spielstraßen sowie „Kiezblocks“, eine lokal begrenzte verkehrliche Maßnahme zur
Unterbindung von Durchgangsautoverkehr nach dem Vorbild der „Superilles“ in Barce-
lona [
10
,
20
]. Von Verkehrsberuhigung können gerade auch Haushalte mit Kindern und
geringem Einkommen in dicht besiedelten Gebieten mit wenig Naherholungsgelegenheiten
profitieren, da Straßen und Plätze für Freizeitaktivitäten genutzt werden können. Radfahren
und zu Fuß gehen erzeugt keine klimaschädlichen Emissionen, ist also die klimafreundlichste
Art der Fortbewegung.
Ein dritter Typ von Maßnahmen umfasst die Gewährleistung einer vom Auto unabhängi-
gen Erreichbarkeit von Wohn- und Arbeitsstandorten sowie kommerziellen Zentren
mit Auswirkungen auf das Bau- und Raumordnungsrecht. Gewerbegebiete würden dann
beispielsweise nicht mehr auf der „grünen Wiese“ angelegt oder müssten einen adäquaten
Anschluss an Radverkehrs- und öffentliche Verkehrsnetze aufweisen. Ein Aspekt ist auch die
neue Orientierung am städtebaulichen Leitbild der Nutzungsmischung aus Gewerbe, Freizeit
und Wohnen. Die Kosten wären relativ gering, da es sich um Verwaltungshandeln und
planerische Vorgaben ohne direkte Investitionskosten handeln würde. Aus den Ergebnissen
der Datenanalyse folgt, dass von einer Maßnahme, die die Nutzung eines Autos überflüssig
macht, alle Haushalte mit Auto profitieren würden, insofern sich dadurch ihre grundsätzlich
höheren Ausgaben für Mobilität verringern würden. Mit Blick auf die Unternehmen und
Beschäftigungsverhältnisse in großen Gewerbegebieten würde insbesondere die vulnerable
Gruppe der Erwerbstätigen in den unteren Einkommensgruppen erreicht werden, insofern
an solchen Standorten vielfach Logistikunternehmen, Produktion und Einzelhandel angesie-
delt sind, die häufig geringe Löhne und wenig flexible Arbeitszeitmodelle bieten. Insofern
der Maßnahmentyp auf Autoverkehrsvermeidung zielt, ist damit ein positiver Klimaeffekt
verbunden.
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 59
Tabelle 4.6:
Maßnahmenbewertung im Handlungsfeld Verringerung der Autoabhän-
gigkeit
Ressourcen-
einsatz
Problem-
orientierung
Wirkung:
Vermei-
dung
Mobilitäts-
armut
Wirkung:
Neutraler/
positiver
Klimaef-
fekt
Erschließungs- und Ange-
botsverbesserung im ÖPNV
Mobilitätsgarantie: ÖPNV hoch
Förderung von Bedarfsverkeh-
ren als Ergänzung zum regulä-
ren ÖV
mittel
Rad- und Fußverkehrsförde-
rung
Infrastrukturausbau mittel
Förderung von Sharing-
Angeboten im Rahmen des
kommunalen Mobilitätsmana-
gements
gering – –
Verkehrsberuhigung gering
Gewährleistung einer au-
tounabhängigen Erreichbar-
keit von relevanten Zielor-
ten
Verkehrsreduzierung als Ziel
von Raumordnung und Bau-
recht
gering
Stadt der kurzen Wege gering
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 60
Entlastung für das private Haushaltsbudget
Verschiedene Maßnahmen zielen auf eine Entlastung privater Haushalte im Hinblick auf ihre
Mobilitätsausgaben ab. In Tabelle 4.7 wird ein Überblick über diese Maßnahmen gegeben.
Verschiedene Maßnahmen, die teilweise bereits eingeführt wurden oder in der Diskussion
Tabelle 4.7:
Maßnahmen im Handlungsfeld Entlastung für das private Haushalts-
budget
Preis- bzw. Kostenreduzierung für
Mobilitätsangebote und Verkehrsmit-
tel
•
Deutschlandticket und weitere Rabattierung
in den Ländern
• betriebliches und kommunales Mobilitätsma-
nagement
• soziales Leasing
Entlastungszahlungen und Prämien •
Klima-/Energiegeld (Rückverteilung aus CO
2
-
Bepreisung)
•
Mobilitätsgeld (reformierte Pendlerpauschale)
• Tankrabatt
sind, haben die Entlastung von Haushalten bezüglich der Mobilitätskosten zum Ziel. Ein
bereits eingeführtes Beispiel für eine substanzielle Kostenreduzierung ist das bundesweite
Deutschlandticket als Nachfolge für das temporär eingeführte 9-Euro-Ticket. Die Maßnahme
ist kostenintensiv. Ab 2023 sind drei Milliarden Euro pro Jahr eingeplant, die zur Hälfte
jeweils von Bund und Ländern getragen werden sollen [
27
]. Die Maßnahme kann allen
Personen zugutekommen, die grundsätzlich öffentliche Verkehrsangebote nutzen können,
wobei insbesondere jene profitieren, die den öffentlichen Nahverkehr häufig genug nutzen,
sodass sie gegenüber Einzelfahrkarten oder Ähnlichem sparen. Voraussetzung ist aber,
dass auch ein entsprechendes ÖPNV-Angebot vorhanden ist. Deshalb ist eine Kritik am
Deutschlandticket, dass die Bevölkerung in Regionen mit schlechtem ÖPNV-Angebot wenig
profitiert. Außerdem ist für besonders einkommensschwache Haushalte, insbesondere für
einkommensarme Familien, der Preis immer noch sehr hoch. In einigen Bundesländern
soll das Deutschlandticket daher zusätzlich rabattiert werden, für alle Einwohnenden oder
auch nur für bestimmte Gruppen wie zum Beispiel Personen mit geringem Einkommen
– ein Best-Practice-Beispiel ist Hamburg, wo Personen, die existenzsichernde Leistungen
beziehen, das Deutschlandticket für 19 Euro erhalten können. Auch familienfreundlichere
Regelungen soll es ab 2024 geben. Durch eine zusätzliche Rabattierung erhöht sich die
Problemorientierung der Maßnahme. Sofern einkommensarmen Haushalten in ihrer Region
nicht bereits vor dem Deutschlandticket ein vergünstigtes beziehungsweise ein Sozialticket
zur Verfügung stand und sie regelmäßig den ÖPNV genutzt haben, können die unteren
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 61
Einkommensgruppen allerdings auch ohne zusätzliche Vergünstigung in Relation zu ihrem
Einkommen mehr vom Deutschlandticket profitieren als einkommensstarke Haushalte. Auch
der Klimaeffekt kann positiv sein, wenn das Ticket, wie seitens der Politik erhofft, zu einer
Verkehrsverlagerung vom Auto auf den öffentlichen Verkehr führt. Ob das der Fall ist,
müssen künftige Untersuchungen zeigen.
Für Erwerbstätige allgemein und mit geringem Einkommen im Besonderen kann ein betrieb-
lich organisiertes Mobilitätsmanagement zur Entlastung beitragen. Über Modelle wie
zum Beispiel das Dienstradleasing können damit hochwertige Fahrräder wie etwa Pedelecs
erschwinglich werden, die auch für weitere Strecken attraktiv sind und so die Autoabhängig-
keit verringern. Die Ergebnisse der Datenanalyse zeigen, dass die unteren Einkommen kaum
Spielraum für hohe einmalige Mobilitätsausgaben haben, um ein Pedelec oder ein anderes
hochwertiges Fahrrad anzuschaffen. Auch betriebliche Carsharing-Angebote können Kauf
und Betrieb eines eigenen Autos überflüssig machen und so das Haushaltsbudget entlasten.
Eine Grundlage für das betriebliche Mobilitätsmanagement ist das kommunale Mobilitäts-
management. Dabei setzen Kommunen die Rahmenbedingungen für die unterschiedlichen
öffentlichen und privaten Mobilitätsangebote und tragen dazu bei, dass diese miteinander
verzahnt werden. Insofern Mobilitätsmanagement die Förderung von nachhaltiger Mobilität
zum Ziel hat, ist der Klimaeffekt grundsätzlich positiv zu bewerten.
Eine weitere potenzielle Maßnahme ist das sogenannte soziale Leasing. Diese Maßnahme
knüpft an ein Vorhaben in Frankreich an: Dabei sollen Elektroautos Haushalten mit geringem
Einkommen über ein staatlich subventioniertes Leasing zugänglich gemacht werden (siehe
dazu auch 4.3). Die Kosten wären abhängig vom Kreis der Empfangsberechtigten, der
Geltungsdauer sowie von der avisierten Leasingrate. Da es sich im Vergleich zur bisheri-
gen Kaufprämie um einen begrenzten Empfängerkreis handelt, dürfte das soziale Leasing
weniger hohe Kosten verursachen. Anders als bei der bereits bestehenden Kaufprämie für
Elektroautos würden davon gezielt Haushalte mit geringem Einkommen profitieren, für
die der Kauf eines E-Neu- oder Jahreswagens zu teuer ist. Das soziale Leasing könnte so
ausgestaltet werden, dass gerade die vulnerablen Gruppen erreicht werden, die auf ein
Auto angewiesen und von Kostensteigerungen im Bereich fossiler Energieträger besonders
betroffen sind, sich aber die Investitionskosten für klimafreundlichere und im Unterhalt
günstigere Alternativen nicht leisten können. Da die Mobilitätsnachfrage der unteren Ein-
kommensgruppen bereits unterdrückt ist, sind die geringeren Kosten bei der Nutzung von
Elektrofahrrädern oder -autos für diese Gruppen wichtiger, weshalb sie von der Unterstüt-
zung beim Kauf auch langfristig mehr profitieren als Haushalte mit mittleren und höheren
Einkommen.
Eine zweite Säule im Handlungsfeld bilden Entlastungszahlungen oder Prämien. Beispie-
le sind das Mobilitätsgeld als Ersatz für die Pendler- beziehungsweise Entfernungspau-
schale sowie das Klimageld als Instrument der Rückverteilung aus der CO
2
-Bepreisung von
fossilen Energieträgern im Rahmen des nationalen Emissionshandels (BEHG) beziehungswei-
se mittelfristig des neu entstehenden europäischen Emissionshandels für Straßenverkehr
und Gebäude (ETS II). Das Mobilitätsgeld wäre als Alternative zur Pendlerpauschale kos-
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 62
tenneutral beziehungsweise durch Subventionsabbau finanzierbar. Die Finanzierung des
Klimagelds könnte kurzfristig aus dem Klima- und Transformationsfonds und mittelfristig
zumindest teilweise aus dem Klima-Sozialfonds der EU erfolgen, wobei mit diesen Mit-
teln explizit die von der CO
2
-Bepreisung benachteiligten vulnerablen Gruppen unterstützt
werden sollen. Je nach Ausgestaltung könnten die genannten Maßnahmen eine zielgrup-
penspezifische Wirkung entfalten (siehe dazu auch 4.3). Da Erwerbstätige in den unteren
Einkommensgruppen besonders vulnerabel für Mobilitätsarmut sind, wäre ein von der
Einkommenshöhe unabhängiges Mobilitätsgeld wirkungsvoll, da es die der Erwerbstätigkeit
geschuldeten zusätzlichen Ausgaben für Mobilität zumindest teilweise kompensieren wür-
de. Der Klimaeffekt des Mobilitätsgelds hängt von der Ausgestaltung ab, inwieweit damit
die Anreize für die Nutzung eines Privatautos sowie für große Distanzen im Vergleich zur
Pendlerpauschale fortbestehen würden. Von der Rückverteilung aus CO
2
-Bepreisung bei
einem Klimageld würden die unteren Einkommensgruppen profitieren, da sie statistisch
betrachtet grundsätzlich einen geringeren CO
2
-Verbrauch als Einkommensstarke haben.
Die Maßnahme wäre aber im Falle einer pauschalen Pro-Kopf-Zahlung im Vergleich zum
Mobilitätsgeld weniger zielgruppengerichtet. Sie würde zum Beispiel auch jenen mit gutem
Einkommen zugutekommen, die zentral wohnen und arbeiten und daher mehr von dem Kli-
mageld zurückbehalten könnten, als sie für Energie ausgeben. Unter Klimagesichtspunkten
ist die Maßnahme im Zusammenspiel mit der CO
2
-Bepreisung positiv zu bewerten, da damit
sozial ausgewogene Anreize gesetzt werden, weniger CO
2
-intensive Fortbewegungsmittel
zu nutzen.
Parallel zum 9-Euro-Ticket wurde im Sommer 2022 der sogenannte Tankrabatt vorüber-
gehend eingeführt. Eine Neuauflage ist bisher nicht geplant, soll aber der Vollständigkeit
halber genannt werden. Durch eine (befristete) Senkung der Energiesteuer auf fossile Kraft-
stoffe sollten Autofahrende mit Verbrennern entlastet werden. Dem Staat entgingen damit
Einnahmen in Höhe von 3,15 Milliarden Euro [
38
]. Die Maßnahme erfolgte nicht sozial
gestaffelt, sondern alle Einkommensgruppen mit Auto wurden damit adressiert. Auch die
vulnerablen Gruppen, das heißt, die Haushalte in den unteren Einkommensgruppen, die
auf ein Auto angewiesen sind und damit zum Beispiel durch Erwerbstätigkeit täglich fahren,
konnten davon profitieren. Ein Tankrabatt, sofern die Preissenkung in nennenswerter Höhe
bei unteren Einkommensgruppen ankommt, würde Mobilitätsarmut verringern. Da aber
mit der Maßnahme Anreize gesetzt wurden, weiterhin ein Auto mit Verbrennungsmotor zu
nutzen, ist der Klimaeffekt negativ zu bewerten.
Eine weitere Maßnahme, die in dieser Form für Deutschland noch nicht diskutiert wird,
aber den Ansatz der Mobilitätsgarantie weiterdenkt, ist eine finanzielle Entschädigung
für Haushalte, wenn ihnen an ihrem Wohn- oder Arbeitsort kein adäquates öffentliches
Verkehrsangebot zur Verfügung steht. Anknüpfungspunkte hat die Maßnahmenidee beim
österreichischen Vorgehen bei der Bemessung der Pendlerpauschale. Sie ist unter anderem
gebunden an die (Un-)Zumutbarkeit der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, die
sich etwa aus der zu großen Entfernung einer Haltestelle oder einer langen Fahrzeit ergibt
[
50
]. Eine derartige Entschädigungszahlung würde vor allem Haushalte in den ländlichen
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 63
Regionen betreffen. Zusätzlich könnte sie sozial gestaffelt sein, sodass sie zielgerichtet
die untersten Einkommensgruppen entlasten würde. Je nach Einsatz des zusätzlichen Ein-
kommens, zum Beispiel für die Autonutzung, wäre kurzfristig ein negativer Klimaeffekt zu
erwarten. Längerfristig sollte daraus ein Anreiz für die staatlichen Akteure entstehen, das
ÖPNV-Angebot lokal auszubauen, um ihre Abgabepflichten zu senken. Dafür wäre sicher-
zustellen, dass dieser Mechanismus greift und nicht durch unterschiedliche Zuständigkeiten
zwischen den politischen Ebenen vereitelt wird – wenn etwa die eine Ebene für den Ausbau
des öffentlichen Verkehrs verantwortlich ist und eine andere für die Auszahlung.
Tabelle 4.8:
Maßnahmenbewertung im Handlungsfeld Entlastung für das Haushalts-
budget
Ressourcen-
einsatz
Problem-
orientierung
Wirkung:
Vermei-
dung
Mobilitäts-
armut
Wirkung:
Neutraler/
positiver
Klimaef-
fekt
Preis- bzw. Kostenreduzie-
rung für Mobilitätsangebo-
te und Verkehrsmittel
Deutschlandticket und weitere
Rabattierung in den Ländern
hoch
betriebliches und kommunales
Mobilitätsmanagement
gering
soziales Leasing mittel
Entlastungszahlungen und
Prämien
Klimageld mittel
Mobilitätsgeld gering ( )
Tankrabatt hoch –
Erhöhung der räumlich-zeitlichen Flexibilität
Einige Maßnahmen zielen auf eine Erhöhung der räumlich-zeitlichen Flexibilität von Mobilität
ab. In Tabelle 4.9 wird ein Überblick über diese Maßnahmen gegeben.
Das dritte Handlungsfeld setzt dabei an, wie alltägliche Wege überflüssig gemacht und so
DLR DLR – Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe
in Deutschland
4 Politische Handlungsoptionen 64
Tabelle 4.9:
Maßnahmen im Handlungsfeld Entlastung für das private Haushalts-
budget
Vermeidung von dienstlichen bzw. Ar-
beitswegen • Recht auf Telearbeit oder mobiles Arbeiten
•
verringerte Wochenarbeitszeit bzw. 4-Tage-
Woche
Erhöhung der zeitlichen und räumli-
<