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Dirk Richter
Menschenrechte in der Psychiatrie
Prinzipien und Perspektiven
einer psychosozialen Unterstützung
ohne Zwang
Der Autor
Dirk Richter ist Soziologe und Pegefachmann mit lang-
jähriger Erfahrung in der psychiatrischen Versorgung. Er
ist Professor für psychiatrische Rehabilitations forschung
an der Berner Fachhochschule und Leiter Forschung und
Entwicklung Psychiatrische Rehabilitation der Universi-
tären Psychiatrischen Diensten Bern.
Dirk Richter
Menschenrechte in der Psychiatrie
Prinzipien und Perspektiven
einer psychosozialen Unterstützung
ohne Zwang
Zur Sache: Psychiatrie
Dirk Richter
Menschenrechte in der Psychiatrie
Prinzipien und Perspektiven einer psychosozialen Unterstützung ohne Zwang
Zur Sache: Psychiatrie
. Auage
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Die Open Access-Publikation wurde nanziell unterstützt durch die Fachstelle
Open Science und den Fachbereich Pege der Berner Fachhochschule.
© Dirk Richter
Lektorat: Karin Koch, Köln
Umschlagkonzeption und -gestaltung: Markus Goedderz, Düsseldorf
Typograekonzeption: Iga Bielejec
Satz: Psychiatrie Verlag
Druck und Bindung: SDL Buchdruck, Berlin
Einleitung: Menschenrechte und Zwang in der psychiatrischen
Versorgung – Konzepte, Daten und Begriichkeiten ............................................................7
Psychiatrischer Zwang: ein Denitionsversuch ....................................................... 10
Das Ausmaß der Zwangsmaßnahmen ................................................................... 11
Die Begriichkeiten ............................................................................................. 16
Der Plan des Buchs ............................................................................................... 19
Menschenrechte und psychiatrischer Zwang:
ein Legitimationsproblem für die Psychiatrie .......................................................................................20
Menschenrechte und das soziale Modell der Behinderung ...................................... 24
Die Kontroverse um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen
in der Sozialpsychiatrie ......................................................................................... 29
Die Kontroverse um die Sterbehilfe von Menschen mit psychosozialen Problemen . 32
Schlussfolgerung: das Entscheidungsdilemma der Sozialpsychiatrie ........................ 38
Die Legitimation von psychiatrischen Maßnahmen
gegen den Willen einer Person .............................................................................................................................................39
Zwang in der psychiatrischen Versorgung: die institutionszentrierte Phase ............. 39
Von der institutionszentrierten zur personenzentrierten Phase ............................... 46
Die Legitimation von Zwang in der personenzentrierten Phase .............................. 50
Schlussfolgerung: die Legitimation von Zwang in der Psychiatrie –
das klinisch-ethisch-juristische Patt ...................................................................... 54
Psychiatrischer Zwang: ethische Bedingungen und
empirische Daten ...............................................................................................................................................................................................56
Bedingung 1: Erfolgt der Zwang zum Wohle der betroenen Person? ..................... 57
Bedingung 2: Wird die am wenigsten einschränkende Maßnahme gewählt
und nur als letztes Mittel ergrien? ........................................................................ 61
Bedingung 3: Sind psychiatrische erapien wirksam? ........................................... 65
Bedingung 4: Kann die Autonomie der betroenen Personen
wiedergestellt werden? .......................................................................................... 69
Schlussfolgerung: Ethische Annahmen und empirische Daten ................................ 70
Psychische Krankheit: Was ist das eigentlich? ......................................................................................72
Gibt es überhaupt eine menschliche Psyche? .......................................................... 72
Haben psychische Störungen zugenommen? .......................................................... 77
Kann zwischen psychisch krank und gesund unterschieden werden? ...................... 84
Kann zwischen verschiedenen psychischen Störungen unterschieden werden? ........ 94
Schlussfolgerung: Menschenrechte und das reale Konstrukt
der psychischen Störung ....................................................................................... 96
Psychosoziale Probleme anders betrachten: das Spektrenmodell ...............99
Von der Neurodiversität zur neurokognitiven Diversität ........................................ 100
Von der neurokognitiven Diversität zur Soziodiversität .........................................103
Von der Krankheit zum Spektrum ........................................................................108
Vom psychischen Phänomen zum psychosozialen Problem ................................... 110
Schlussfolgerung: Betroene entscheiden ..............................................................117
Die Entwicklung einer menschenrechtsbasierten
psychiatrischen Versorgung .....................................................................................................................................................118
Umgang mit Menschenrechten in der psychiatrischen Versorgung ....................... 118
Welche Unterstützungsangebote bevorzugen Menschen mit
psychosozialen Problemen? ..................................................................................128
Von der geteilten zur unterstützten Entscheidungsndung .................................... 131
Schlussfolgerungen: Bausteine einer personengesteuerten Unterstützung ............... 135
Psychosoziale Unterstützung ohne Zwang:
Konsequenzen, Dilemmata und mögliche Auswege ............................................................136
Folgen einer Selbstdeklaration als krank oder nicht krank ..................................... 137
Folgen einer präferenzorientierten psychosozialen Unterstützung..........................139
Schlussfolgerungen: Auf dem Weg zu einer psychosozialen Unterstützung
ohne Zwang .........................................................................................................145
Epilog .......................................................................................................................................................................................................................................147
Danksagung ...............................................................................................................................................................................................................151
Literatur ............................................................................................................................................................................................................................152
7
Einleitung: Menschenrechte und
Zwang in der psychiatrischen
Versorgung – Konzepte, Daten
und Begriichkeiten
In den folgenden Kapiteln werde ich zu begründen versuchen, warum Zwang
in der psychiatrischen Versorgung nicht länger gerechtfertigt werden kann
und aufzeigen, wie eine Psychiatrie ohne Zwang aussehen könnte. Ich räume
es ungern ein, aber auch ich habe als Pegefachmann in den er-Jahren auf
geschlossenen Stationen gearbeitet und an körperlichen Zwangsmaßnahmen
wie Fixierung und Zwangsmedikation teilgenommen. Die Mitwirkung an die-
sen Maßnahmen habe ich gehasst. Es war nicht nur das Risiko, selbst körper-
lich in Mitleidenscha gezogen zu werden, was es unangenehm machte, die
Zwangsmaßnahmen widersprachen zutiefst meinen persönlichen und berui-
chen Überzeugungen. Gleichwohl konnte ich es vor mir selbst rechtfertigen, da
es sich ja um Menschen mit psychischen Erkrankungen handelte, die für sich
oder für andere eine Gefahr darstellten. Fast alle Mitarbeitenden waren davon
überzeugt, dass die Zwangsmaßnahmen letztlich dem Wohle der Patientinnen
und Patienten dienten. Seinerzeit gab es kaum jemanden, der an dieser Praxis
zweifelte. Gewalt auszuüben und Gewalt zu erleben, erschienen als notwendi-
ge Übel, wenn man in psychiatrischen Kliniken arbeitete. Es gab zudem – wie
auch seinerzeit schon festgestellt wurde – bis weit in die er-Jahre so gut
wie keine empirische Forschung, auf deren Basis die Praxis des psychiatrischen
Zwangs hätte infrage gestellt werden können (Lidz ).
Einige wenige Autorinnen und Autoren, beispielsweise der einussrei-
che und zugleich umstrittene Psychiater und Psychoanalytiker omas Szasz,
bezweifelten die Legitimität eines staatlichen Eingris als solchen aus einer
eher rechtslibertären Position heraus (Szasz , ). Seine Begründung:
»Psychische Krankheiten« seien keine Krankheiten, da sie nicht – wie körper-
liche Krankheiten – organische Schäden aufweisen. Damit entfalle auch die
Legitimation für Zwangsmaßnahmen gegen Menschen, die als »psychisch
krank« diagnostiziert werden.
8
Szasz hat, wie der deutsche Philosoph omas Schramme () fest-
stellte, sicher die richtigen Fragen gestellt. Viele der von ihm gestellten Fra-
gen– Ist Zwang legitimierbar? Was ist eigentliche eine »psychische Krank-
heit«? – werden in diesem Buch wieder auauchen. Allerdings war Szasz auch
ein Kind seiner Zeit, der viele seiner esen gar nicht erst empirisch zu be-
gründen versuchte. Die von ihm beispielsweise postulierte strikte Trennung
von körperlichen und psychischen Phänomenen gilt heute als widerlegt: Psy-
chische Phänomene sind nicht ohne physische Vorgänge vorstellbar. Wir fra-
gen uns heute sogar, ob wir überhaupt noch von einer menschlichen Psyche
sprechen können – doch davon im Verlauf des Buchs mehr.
Die empirische Forschung in den Neurowissenschaen und in der Psy-
chologie hat viele Sachverhalte, die für die Frage der Legitimation von Zwang
relevant sind, in den letzten beiden Jahrzehnten untersucht. Zahlreiche Studi-
en lassen mindestens erhebliche Zweifel an der Zwangsanwendung in der Psy-
chiatrie erwachsen. Die Forschungsansätze und -ergebnisse werde ich später
noch eingehend erläutern. Aus meiner Sicht delegitimieren sie psychiatrische
Maßnahmen gegen den Willen der davon betroenen Personen. Um nur zwei
zentrale Sachverhalte zu benennen:
• Wir können psychische Krankheiten nicht valide denieren und von gesun-
den Zuständen abgrenzen, also kann eine psychische Erkrankung nicht der
Grund für eine Zwangsmaßnahme sein.
• Die Studien legen keinesfalls nahe, dass Zwangsmaßnahmen überwiegend
dem Wohle der davon betroenen Menschen dienen.
Im Kern geht es mir darum, aufzuzeigen, dass psychiatrisch Tätige die von
ihnen selbst aufgestellten ethischen und medizinischen Kriterien für die
Rechtfertigung von Zwang nicht erfüllen können. Es gibt lediglich tradierte
Vorstellungen, was bei aggressivem Verhalten zu tun ist – und eine vom Staat
übertragene Ordnungsfunktion.
Die unfreiwillige Absonderung von Menschen mit bestimmten Verhal-
tensweisen, die von ihren Mitmenschen nicht toleriert wurden, ist seit dem
Mittelalter in Europa überliefert. Es gab, wie der Soziologe und Historiker
Andrew Scull in seiner Kulturgeschichte der »Verrücktheit« berichtet, bereits
ab dem . oder . Jahrhundert einzelne Institutionen, welche solche Men-
schen internierten (Scull ). Der massive Ausbau derartiger Institutionen
9
geschah allerdings erst viele Jahrhunderte später, wie noch ausführlicher dar-
gestellt werden wird.
Zwang in der psychiatrischen Versorgung ist bis heute ein fundamen-
tales Problem. Es gibt Hinweise, etwa aus der Schweiz, dass Unterbringun-
gen gegen den Willen der Betroenen in psychiatrischen Einrichtungen in
den letzten Jahren zugenommen haben (Obsan ). Das überrascht, weil
die Anwendung von Zwang in der psychiatrischen Versorgung in den letz-
ten zwanzig Jahren einer massiven und zunehmenden Kritik ausgesetzt war.
Hintergrund ist die im Jahr verabschiedete Konvention über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, nachfolgend UN-
BRK genannt, welche die Anwendung von Maßnahmen gegen den Willen von
Menschen mit körperlichen und seelischen Behinderungen als eine Verlet-
zung von Menschenrechten einstu. Obwohl einzelne Textpassagen der von
nahezu allen Staaten der Welt ratizierten Konvention nicht ganz eindeutig
sind und in Teilen auch kontrovers diskutiert werden (Della Fina et al. ),
ist die Zielrichtung klar: Es geht letztendlich um die Abschaung von Zwang
in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen.
Die Veröentlichung der UN-BRK sowie verschiedener weiterer Do-
kumente aus dem Umkreis der Menschenrechtsbewegung in den Vereinten
Nationen haben eine massive Diskussion darüber ausgelöst, ob und wie Maß-
nahmen gegen den Willen von Menschen psychiatrisch begründet werden
können. Insbesondere aus den internationalen medizinischen Berufsverbän-
den kam erheblicher Widerstand gegen die Konvention. Dieser Widerstand
wurde noch durch den Umstand verstärkt, dass der besondere Berichterstatter
(»Rapporteur«) der Vereinten Nationen psychiatrische Zwangsmaßnahmen
als Folter einstue (UN General Assembly ). Gegen das Ziel der Abschaf-
fung von Zwang wurden sowohl klinische wie auch menschenrechtliche Ar-
gumente vorgebracht. Aus einer klinischen Sicht sind »psychische Störungen«
mit einem Risiko der verminderten Urteilsfähigkeit verbunden, was Maßnah-
men gegen den Willen der Person rechtfertigen könne. Aus menschenrechtli-
cher Perspektive wird argumentiert, dass durch Zwangsmaßnahmen das Recht
auf Gesundheit oder das Recht auf Leben geschützt werden können (Freeman
et al. ). Doch was genau ist psychiatrischer Zwang eigentlich?
10
Psychiatrischer Zwang: ein Definitionsversuch
Gemeinhin wird unter psychiatrischem Zwang jede Maßnahme gegen den
Willen einer Person verstanden, welche notwendigerweise mit dem Vorlie-
gen einer diagnostizierten psychischen Störung, eines psychischen »Schwä-
chezustands« oder einer Intelligenzminderung begründet wird. Dabei reicht
das Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose allein zur Begründung einer
Zwangsmaßnahme nicht aus. Insbesondere wenn es um formaljuristische Be-
gründungen geht, braucht es für eine hinreichende Legitimation in aller Regel
zusätzlich ein Gefahren- oder Risikopotenzial für die eigene Person oder an-
dere Personen, das bereits eingetreten ist oder das mit hoher Wahrscheinlich-
keit erwartet wird. Die Begründungen unterscheiden sich von Land zu Land
erheblich.
Das hat auch damit zu tun, dass sehr unterschiedlich auf den psychiat-
rischen Zwang geblickt wird. Bis heute fehlt eine allgemein anerkannte Taxo-
nomie von Zwangsmaßnahmen, also ein Klassikationsschema, das hil, ver-
schiedene Aspekte von Zwang auseinanderzuhalten. Üblicherweise wird im
Rahmen von psychiatrischem Zwang von formellem und informellem Zwang
ausgegangen (Gooding et al. ).
Formeller Zwang bedeutet eine juristische Entscheidung auf der Basis
einer medizinischen Einschätzung. Je nach Rechtsprechung und Sachverhalt
kann es zu einer gerichtlichen Anhörung und einer juristischen Entscheidung
kommen, omals ist jedoch auch eine ärztliche Anordnung allein schon recht-
lich bindend. Aufgrund juristischer oder ärztlicher Entscheidung kann eine
Person gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen werden. Dort kann sie
sich, unter gewissen Umständen, auch weiteren Zwangsmaßnahmen ausge-
setzt sehen, etwa einer Fixierung mit Gurten, einer Isolation in einem abge-
sonderten Raum oder einer Injektion mit sedierenden Medikamenten gegen
ihren Willen. Die rechtlichen Voraussetzungen hierfür sind in jedem Land
unterschiedlich und teilweise auch innerhalb eines Landes uneinheitlich,
beispielsweise aufgrund der föderalen Strukturen in Deutschland oder der
Schweiz.
Informeller Zwang, der im Englischen auch »So Coercion« genannt
wird (Allison & Flemming ), geht nicht mit formellen medizinischen oder
juristischen Maßnahmen einher. Hier wird in der Regel von Fachpersonen
11
oder von gesetzlichen Vertretungen kommunikativer Druck auf eine Person
ausgeübt, um ein bestimmtes Verhalten zu erreichen (Hotzy & Jaeger ).
Viele formell freiwillige Aufenthalte in Kliniken basieren auf solch informel-
lem Zwang. Das kann ein Hinweis sein, bei Gericht eine entsprechende An-
ordnung durchzusetzen, wenn die Aufnahme in die Klinik nicht freiwillig er-
folgt, aber auch Drohungen mit körperlicher Gewalt kommen vor, selbst wenn
sie formal unzulässig sind (BBC ). Der Hinweis auf möglicherweise zu
erfolgenden formellen Zwang und die Tatsache, dass Psychiatriemitarbeitende
in der Regel über die Mittel verfügen, ihren Drohungen auch Taten folgen zu
lassen, verschränken formellen und informellen Zwang – was es nicht einfa-
cher macht, psychiatrischen Zwang zu denieren.
Daneben gibt es eine weitere Form von Zwang im psychiatrischen Ver-
sorgungssystem, die bis jetzt jedoch kaum so wahrgenommen wurde und –
soweit ich recherchiert habe – auch noch nie so beschrieben wurde. Es handelt
sich um sozialen Zwang, mit dem der Bereich der psychiatrischen Rehabilita-
tion quasi täglich konfrontiert wird.
Sozialer Zwang wird dann angewendet, wenn aus administrativer Per-
spektive gewisse Entscheidungen für Personen getroen werden, die sie in
bestimmte Lebenssituationen zwingen. Dies geschieht beispielsweise dann,
wenn gesetzliche Vertretungen oder Kranken- und Rentenversicherungen
Menschen bestimmte Unterstützungsleistungen vorenthalten. Dies kann zum
Beispiel bedeuten, nicht im ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können, son-
dern in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten zu müssen.
In ähnlicher Weise kann es an Angeboten zur Unterstützung in der eigenen
Wohnung fehlen, sodass jemand in einer betreuten Wohngemeinscha leben
muss. Abbildung (S. ) fasst die Sachverhalte der verschiedenen Zwangsty-
pen zusammen.
Das Ausmaß der Zwangsmaßnahmen
Ich beschränke mich in meiner Analyse auf die Schweiz und auf Deutsch-
land, da dies die Länder sind, deren psychosoziale Versorgungsstrukturen mir
am vertrautesten sind. Es ist davon auszugehen, dass psychiatrischer Zwang
pro Jahr in der Schweiz mehrere Zehntausend und in Deutschland mehrere
12
Hunderttausend Personen betri. Die Datenlage ist insbesondere in föderal
organisierten Staaten wie der Schweiz oder Deutschland recht schwierig zu
recherchieren und omals uneinheitlich, was aus meiner Sicht ein Skandal ist.
Darüber hinaus sind internationale Vergleiche schwierig, da die rechtlichen
Instrumente unterschiedlich restriktiv und gravierend ausfallen können. Klar
ist auch, dass informeller Zwang sowie zu weiten Teilen sozialer Zwang kaum
standardisiert erfasst werden.
Hinzu kommt, dass viele Maßnahmen durch Zustimmung einer recht-
lichen Betreuung (in Deutschland) oder einer Beistandscha (in der Schweiz)
legitimiert werden und damit formaljuristisch nicht gegen den Willen einer
Person erfolgen.
Formen von Zwang in der psychiatrischen Versorgung
Zwangs-Typ Mittel Ergebnis Beispiele
Formell Medizinisch-recht-
liche Entscheidung
Verlust von Freiheit
und Autonomie
Zwangseinweisung,
Fixierung, Isolation,
Zwangsbehandlung
Informell Drohende und
druckerzeugende
Kommunikation
Verlust von
Autonomie
Formal freiwillige,
aber erzwungene
Einnahme von
Medikamenten mit
dem Hinweis, dass
ansonsten eine
formale Zwangs-
maßnahme erfolgen
könnte
Sozial Medizinisch-adminis-
trative Entscheidung
Vorenthalten von
sozialen Entwick-
lungsmöglichkeiten
und Gelegenheiten
Entscheidung einer
Behörde oder einer
gesetzlichen Ver-
tretung für eine
bestimmte Wohn-
situation gegen den
Willen der betroffe-
nen Person
13
Auch bei der Ausübung einer gesetzlichen Vertretung gibt es große Un-
terschiede. Im Rahmen der Reform des deutschen Betreuungsrechts, die zum
.. in Kra getreten ist, wurde etwa das Konstrukt des Wohls der Per-
son zugunsten der Wünsche der Person ersetzt (Braun et al. ), um dem
aus der UN-BRK erwachsenden Wunsch- und Wahlrecht Rechnung zu tragen.
Rechtliche Betreuende sind seither verpichtet, die Wünsche der Betreuten zu
berücksichtigen. Dazu wurde das Konstrukt der unterstützten Entscheidungs-
ndung entwickelt, zu dessen Umsetzung erste Vorschläge entwickelt wurden
(Tolle & Stoy ).
Die in der Schweiz von der Konferenz für Kinder- und Erwachsenen-
schutz zuletzt publizierten Daten legen nahe, dass im Jahr von
in der Schweiz lebende erwachsene Personen unter einer Beistandscha stan-
den, in welcher Ausprägung auch immer (KOKES ). Für Deutschland ste-
hen keine bundesweiten Daten zur Verfügung. Im an die Schweiz grenzenden
Bundesland Baden-Württemberg lag die berichtete Rate der gesetzlichen Be-
treuungen im gleichen Jahr in ähnlicher Höhe, bei von erwachsenen
Personen (KVJS ).
Viele dieser Menschen leben in einer »besonderen Wohnform«, wie sta-
tionäre Einrichtungen (Heime, ambulante Wohngruppen etc.) heute genannt
werden. In Deutschland waren es im Jahr insgesamt . Menschen,
davon . Menschen mit einer »seelischen Behinderung« (BAGÜS ;
eig. Berechnungen). Gemäß den Ergebnissen einer Vergleichsstudie von
Wohnbedingungen in Deutschland konnten etwas weniger als Prozent der
an dieser Studie teilnehmenden Befragten in der »besonderen Wohnform«
nicht vollständig allein entscheiden, in welcher Wohnform sie leben wollten.
Aber auch im ambulanten Setting hatten nicht alle Befragten den Eindruck,
sie könnten über ihre Wohnform selbst entscheiden. Hier betrug der Anteil
immerhin noch Prozent (Wienberg & Steinhart ).
In der Schweiz gab es im Jahr nach Angaben des Branchenverban-
des INSOS knapp . Wohnheimplätze (INSOS ). Unklar ist jedoch,
wie viele von Menschen mit psychosozialen Problemen genutzt wurden und
ob sie dort gegen ihren Willen wohnten.
In der Schweiz können Zwangsmaßnahmen gegen Menschen mit »psy-
chischen Störungen« gemäß den Richtlinien der Schweizerischen Akademie
der Medizinischen Wissenschaen und im Einklang mit gesetzlichen Re-
14
gelungen in Notfallsituationen angewendet werden, »wenn eine erhebliche
Selbst- oder Fremdgefährdung als Folge der bestehenden Krankheit vorliegt
(Art. ZGB)« (SAMW ). Zudem »können im Rahmen einer FU [Für-
sorgerischen Unterbringung, DR] außerhalb der Notfallsituation, gestützt
auf Art. ZGB, länger dauernde Zwangsmaßnahmen, in der Regel medi-
kamentöse Behandlungen, ärztlich angeordnet werden«. Diese Regelungen
gelten ausschließlich für den medizinischen Bereich. Darüber hinaus können
behördliche Unterbringungen durch die kantonalen Kinder- und Erwachse-
nenschutzbehörden (KESB) angeordnet werden. Dies betri vornehmlich
Unterbringungen in besonderen Wohnformen und in Pegeheimen.
Im Jahr wurde in der Schweiz eine fürsorgerische Unterbringung
.-mal registriert. Knapp Prozent dieser Unterbringungen gegen den
Willen betrafen Menschen mit einer Diagnose »Schizophrenie«, Prozent
Menschen mit einer aektiven Störung und Prozent Menschen mit einer de-
menziellen Störung. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium OBSAN,
das diese Daten veröentlichte, berichtet über einen Anstieg der Unterbrin-
gungen in den letzten Jahren (Obsan ). Dieser Anstieg ist nach meinen
Berechnungen nicht allein demograsch bedingt.
Für Deutschland insgesamt wurden Daten zuletzt für vorgelegt.
Demnach waren . Maßnahmen nach Betreuungsrecht und .
Maßnahmen nach den Unterbringungsgesetzen der Länder registriert wor-
den (Deutscher Bundestag ). Bezogen auf die Bevölkerung war die Zahl
der Maßnahmen damit in Deutschland höher als in der Schweiz. Dieser Un-
terschied wurde auch in einer internationalen Vergleichsstudie gefunden, wo
Deutschland mit Österreich und Australien zu den Ländern mit den meisten
Zwangseinweisungen gehörte (Sheridan Rains et al. ).
Die neuesten Daten spezisch für die psychiatrische Versorgung sind
im Rahmen einer Untersuchung der Auswirkungen der Coronapandemie für
das Bundesland Baden-Württemberg publiziert worden (Flammer et al. ).
Demnach stieg die absolute Anzahl der Zwangseinweisungen im Südwesten
Deutschlands von ca. . auf .. Während die Aufnahmezahlen insge-
samt während des ersten Pandemiejahres zurückgingen, erhöhte sich die Rate
der Menschen mit einer unfreiwilligen Unterbringung von auf Prozent.
Natürlich erleben nicht alle Personen, die gegen ihren Willen untergebracht
werden, auch weitergehende Zwangsmaßnahmen wie eine Fixierung, eine
15
Isolation oder ein körperliches Festhalten. Den veröentlichten Daten zufolge
stieg aber der Anteil von , auf Prozent aller stationären Fälle in den in die
Studie eingeschlossenen psychiatrischen Einrichtungen.
Damit ist der Anteil allerdings niedriger als in der Schweiz. In einer Ver-
gleichsstudie in fünf Kantonen mit Daten aus den Jahren bis erfuhren
knapp Prozent aller Aufnahmen eine Zwangsmaßnahme (Spiess et al. ).
Bemerkenswert ist, dass dieser Anteil im Kanton Basel-Landscha ( ) mehr
als doppelt so groß war wie im Kanton Waadt (, ). Sowohl in dieser Unter-
suchung als auch in der bereits zitierten Studie aus Baden-Württemberg war
die am häugsten angewendete Zwangsmaßnahme die Isolation. Zwangsme-
dikationen erfolgten in Deutschland deutlich seltener als in der Schweiz.
Eine generelle methodische Schwierigkeit bei diesen Studien besteht in der
uneinheitlichen Erfassung von Zwangsmaßnahmen in den verschiedenen Sekto-
ren der Versorgung. So wird in der Regel die forensische Unterbringung nicht in
der Versorgungsforschung berücksichtigt. Eine entsprechende Auswertung von
Daten aus verschiedenen europäischen Staaten, wozu die Schweiz leider nicht
gehörte, hat gezeigt, dass in den Niederlanden und in Belgien vergleichsweise
viele Menschen forensisch untergebracht sind. Deutschland gehörte dabei zum
Mittelfeld (Tomlin et al. ). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass sehr
unterschiedliche Rechtstraditionen in den verschiedenen Ländern herrschen
(Beis et al. ). In den Niederlanden beispielsweise ist die Unversehrtheit des
menschlichen Körpers ein vergleichsweise hohes Rechtsgut, weshalb Zwangs-
medikationen hier traditionell eher weniger vorkommen.
In Deutschland waren im Jahr ungefähr . Menschen in ei-
ner forensisch-psychiatrischen Einrichtung untergebracht (Müller ); man
kann davon ausgehen, dass die allermeisten Personen dort gegen ihren Willen
behandelt wurden. Für die Schweiz liegen nur Daten über Plätze in der Fo-
rensik vor. Demnach gab es im Jahr etwas mehr als sechshundert Plätze
(Müller et al. ). Die mittlere Aufenthaltsdauer betrug in Deutschland un-
gefähr neun Jahre, damit gehörte man zum oberen Drittel in Europa.
16
Die Begrifflichkeiten
Im Verlauf dieses Buches versuche ich, Begriichkeiten zu verwenden, wel-
che auch Menschen berücksichtigen, die sich nicht als »krank« denieren,
selbst wenn sie möglicherweise Unterstützungsbedarf haben. Damit möchte
ich etwas vorbeugen, was in der Medizinethik und in der Erkenntnistheorie
als »epistemische Ungerechtigkeit« beschrieben wird (Fricker ). Epistemi-
sche Ungerechtigkeit kann dann entstehen, wenn Menschen erleben, dass ihre
spezischen Sichtweisen und Wissensbestände nicht angemessen gewürdigt
werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn Menschen mit psychosozialen
Problemen als »behindert« oder »krank« etikettiert werden, sich selbst aber
nicht als krank oder behindert erleben. Eine solche Terminologie steht in der
Gefahr, einem »Ableismus« Vorschub zu leisten. Der Begri »Ableismus« ist
aus dem Englischen abgeleitet, wo »ableism« eine Diskriminierung von Men-
schen benennt, welche bestimmten Fähigkeitsnormen nicht entsprechen kön-
nen (Buchner et al. ).
Um Diskriminierungen im Zusammenhang mit (psychischen) Krank-
heiten zu beschreiben, wird im Englischen auch der Begri »sanism« gebraucht
(Perlin ). Er wurde infolge einer Analyse von Stereotypen eingeführt, die
in juristischen Verfahren und Artikeln sichtbar wurden. Dort wurden bei-
spielsweise Menschen mit psychischen Erkrankungen als »schwach«, »faul«,
»sexuell unkontrollierbar« und »gefährlich« bezeichnet, sie seien grundsätz-
lich nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
In wissenschalichen Texten oder Fachbüchern setzen wir uns perma-
nent der Gefahr aus, eine Ableism- oder Sanism-Sprache anzuwenden (Poole
et al. ). Aus der psychiatrischen Stigmaforschung ist seit Langem bekannt,
welche Folgen dies für die davon betroenen Menschen haben kann. Eine
Person, der wir ein Stigma zuschreiben, so schon der Soziologe Erving Go-
man in seinem Grundlagenwerk zum ema, werde nicht als gleich wertvoller
Mensch angesehen (Goman ). Dies hat, auch das ist von Goman schon
in den er-Jahren ausführlich beschrieben worden, massive Auswirkungen
auf das Leben und die soziale Identität. Wenn wir also von »psychisch Kran-
ken« sprechen, so reduzieren wir die Identität dieser Menschen, indem wir das
Menschsein verschwinden lassen – und kümmern uns zudem nicht um die
Frage, ob die Personen sich selbst als krank sehen. Insofern werten wir ab und
17
weisen den betroenen Personen ein bestimmtes Merkmal zu, das erniedri-
gend sein kann.
Selbstverständlich, und auch das hat Goman seinerzeit schon beschrie-
ben, benutzen wir diese stigmatisierenden Begriichkeiten in aller Regel nicht
in der Absicht, zu stigmatisieren. Gerade in medizinischen oder psychosozia-
len Professionen ist es ja eigentlich unsere Vorstellung, dass wir mit unseren
Handlungen und unserer Sprache unterstützen wollen. Gleichwohl müssen wir
uns mit Personen auseinandersetzen, welche dies anders erleben. Es gibt Akti-
vistinnen und Aktivisten, die von uns Fachpersonen erwarten, dass wir mehr
Sorgfalt in der Sprache üben. Und es ist von Vorteil, wenn von Betroenen klar
kommuniziert wird, welche Begrie eher passen und welche nicht. Erste Hand-
reichungen, wie Ableismussprache von Forschenden vermieden werden kann,
sind bereits publiziert worden (Bottema-Beutel et al. ) – und ich versuche,
mich, so gut wie möglich, daran zu orientieren, indem ich z. B. statt von »psy-
chisch Kranken« von »Menschen mit psychosozialen Pro blemen« spreche.
Bei einer solchen Sprache, die auch im Deutschen mit einer englischen
Begriichkeit als »Person-rst Language« bezeichnet wird, wird davon aus-
gegangen, dass sie weniger stigmatisierend sei, da sie die Person und nicht die
Problematik in den Vordergrund rücke (Volkow et al. ). Das muss aber
nicht zwingend so gesehen werden, wie vornehmlich aus der Autismusbewe-
gung kommuniziert wird. Dort wird im Sinne der noch verschiedentlich auch
in diesem Buch verwendeten Neurodiversitätsterminologie eine »Identity-rst
Language« präferiert (Keating et al. ). Statt »Menschen mit Autismus«
wird »Autistische Menschen« erwartet. Die Begründung: Autismus ist kein
Dezit, das weniger stigmatisiert werden soll, sondern eine positiv besetzte
Identität, etwas, auf das autistische Menschen stolz sein können. Und ebenso
wie »Identity rst« statt »Person rst«, sollten – so die Ansicht vieler Betroe-
ner – beispielsweise Begrie wie »komorbid« durch »gemeinsam auretend«
(engl. »co-occuring«), »Symptome« durch »Erfahrungen« und »Behandlung«
durch »Unterstützung« ersetzt werden (Monk et al. ).
Gegen diese oenkundige Entmedikalisierung der Sprache und gegen
die Normalisierung der Phänomene regt sich jedoch Widerstand insbesonde-
re aus Elternverbänden autistischer Menschen. Das Argument: Da die Autis-
mus-Spektrum-Störung ein deniertes Krankheitsbild in den Klassikatio nen
der Psychiatrie sei, müsse es möglich sein, »wissenschalich akkurat« über
18
diese Störungsbilder und vor allem über die massiven Einschränkungen, Be-
hinderungen und Dezite der betroenen Personen zu sprechen (Singer et al.
). So gut ich diese Forderung aus Elternsicht nachvollziehen kann, so pro-
blematisch ist dies im Zusammenhang mit »Ableism« und »Sanism«, die es –
so gut es geht – zu vermeiden gilt.
Vor diesem Hintergrund möchte ich einige grundlegende Begrie de-
nieren, die zu einer inklusiven und gleichzeitig Diversität ermöglichenden
Sprache beitragen können. Als Erstes soll der Begri »psychisches Phänomen«
deniert werden.
Ein psychisches Phänomen beschreibt das, was jeder Mensch von sich
selbst zu irgendeinem Zeitpunkt erlebt, beispielsweise schlecht gelaunt zu sein
oder aber – im Gegenteil – vollkommen glücklich. Ein solcher Zustand kann
aber auch heißen, Stimmen zu hören oder ein großes Verlangen nach Drogen
zu haben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass noch keine – wie auch
immer geartete – Wertung mit dieser Zustandsbeschreibung verbunden ist.
Ein Zustand ist nicht notwendigerweise ein Problem. Aus einem psychischen
Zustand kann aber ein »psychosoziales Problem« resultieren.
Das psychosoziale Problem ist der zweite Begri, den ich hier einführen
möchte. Ein psychosoziales Problem kann dann entstehen, wenn die Person ne-
gative Konsequenzen durch ihren Zustand erfährt und an diesem leidet. Es kann
aber auch – und deshalb ist nicht nur von psychisch, sondern von psychosozial
die Rede – eine soziale Folge sein, die mit dem Phänomen assoziiert ist, bei-
spielsweise eine Trennung oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Und schließlich
können im sozialen Sinne weitere Personen betroen sein, etwa durch aggressi-
ve Handlungen oder Vernachlässigung. Wenn diese Probleme irgendwo wahr-
genommen werden – sei es von den Betroenen selbst, ihren Angehörigen oder
auch Institutionen wie der Schule oder der Polizei– können und müssen manch-
mal auch psychosoziale Unterstützungssysteme eingeschaltet werden.
Mir ist klar, dass der Begri des »Problems« in gewisser Weise negative
Konnotationen auslösen kann, die im Sinne von »Ableism« oder »Sanism« in-
terpretiert werden können. Auch werden nicht immer alle Beteiligten von dem
Vorliegen eines psychosozialen Problems sprechen wollen – auf diese Weise
entstehen bekanntermaßen viele Konikte in psychiatrischen Settings. Hinzu
kommt, dass Unterstützungssysteme wie psychiatrische Dienste aktuell die De-
nitionsmacht darüber haben, was ein Problem ist und was keines. Eingedenk
19
dieser Schwierigkeiten werde ich den Begri des »psychosozialen Problems«
als Oberbegri für »psychische Störungen« oder »psychische Krankheit« ge-
brauchen. Später werde ich noch genauer auf die damit verbundenen Wechsel-
wirkungen von psychischen Zuständen und Pro blembeschreibungen eingehen
(siehe das Kapitel »Psychische Erkrankung: Was ist das eigentlich?«).
Die psychosoziale Unterstützung ist der dritte Begri, den ich einfüh-
ren möchte. Damit soll jedwede Hilfe beschrieben werden, die Menschen mit
einem psychosozialen Problem als potenzielle Lösung angeboten wird. In Er-
weiterung der »psychiatrischen Versorgung« sind damit nicht nur konventio-
nelle Behandlungs- und erapieverfahren gemeint, sondern auch nichtmedi-
zinische Systeme wie Coaching (zum Beispiel Jobcoaching) oder Peersupport
durch ebenfalls von psychosozialen Problemen betroene Personen.
Diese Begriichkeiten sollen, soweit irgend möglich, angewendet wer-
den. Die konventionellen Termini wie Krankheit, Störung oder Versorgung
werden auf bestehende Sachverhalte angewendet und, wenn sie kritisch hin-
terfragt werden, in entsprechende Anführungszeichen gesetzt.
Der Plan des Buchs
Zunächst soll deutlich werden, dass psychiatrischer Zwang nicht länger zu
rechtfertigen ist. Dabei werden die Legitimationsprobleme der Psychiatrie auf-
gezeigt. Daran schließt sich die Rekonstruktion der aktuellen Rechtfertigung
von Zwang in der Psychiatrie an. Dabei wird gezeigt, dass diese im Lichte der
Forschung keinen Bestand hat. Anschließend soll gezeigt werden, wie Zwang
in der Psychiatrie überwunden werden kann. Dies geht, so meine Annahme,
nur über eine grundlegende Neukonzeption des Krankheitskonzeptes, das zu
diesem Zweck ausführlich beschrieben wird. Darüber hinaus wird sich die Un-
terstützung von Menschen mit psychosozialen Problemen verändern müssen.
Zum Schluss werden die möglichen Folgen des Verzichts auf psychiatrische
Zwangsmaßnahmen gegen den Willen von Menschen diskutiert, die in zahl-
reiche Dilemmata führen können. Aufgezeigt wird, wie sie mindestens zum
Teil ausgeräumt werden können, damit wir uns auf den Weg zu einer psycho-
sozialen Unterstützung ohne Zwang machen können.
20
Menschenrechte und psychiatrischer
Zwang: ein Legitimationsproblem
für die Psychiatrie
Es handelt sich um Menschenrechtsverletzungen, wenn Menschen mit psy-
chosozialen Problemen mit dem Hinweis auf eine Krankheit und ihre Folgen
verwehrt wird, in einer eigenen Wohnung zu leben oder einen Arbeitsplatz auf
dem ersten Arbeitsmarkt anzustreben. Es ist auch auch eine Menschenrechts-
verletzung, wenn sie sich in akuten Krisen in einer geschlossenen psychiatri-
schen Klinik behandeln lassen müssen.
In nahezu allen Staaten gibt es darüber hinaus das juristische Instrument
der rechtlichen Vertretung, also die Möglichkeit, dass Personen (z. B. rechtlich
Betreuende in Deutschland oder Beistände in der Schweiz) bestimmte Ange-
legenheiten von Menschen mit schwerwiegenden psychosozialen Problemen
übernehmen. Das kann für Betroene eine Erleichterung sein und als Unter-
stützung verstanden werden. Die Einsetzung einer rechtlichen Betreuung ge-
gen den Willen der Betroenen aber ist ein massiver sozialer Ausschluss vom
Rechtssystem, der in schwierigen Situationen in aller Regel von Diensten oder
Mitarbeitenden der psychiatrischen Versorgung angeregt oder befürwortet
wird.
Hinsichtlich der Antwort auf die Frage der Legitimität solcher Ein-
schränkungen hat sich in der letzten Zeit eine – man kann sagen – erbitterte
Auseinandersetzung zwischen psychiatrischen Fachkräen auf der einen Sei-
te und Betroenengruppen sowie Fachpersonen aus der Rechtswissenscha
und der Politik auf der anderen Seite ergeben. Eine solche Einschränkung ist
nach Ansicht der Vereinten Nationen nämlich grundsätzlich infrage zu stellen.
»[D]er Wille und die Präferenzen der betreenden Person« seien in jedem Fall
zu beachten, wenn es um Maßnahmen im Zusammenhang mit Menschen-
rechtsnormen bei Menschen mit Behinderungen gehe. So steht es im Artikel
der UN-BRK (United Nations ). Mit anderen Worten, Menschen- und
Freiheitsrechte dürfen danach nur eingeschränkt werden, wenn es dem Willen
und den Präferenzen der betroenen Person entspricht. Der gesamte Artikel
21
und dieser Passus haben sich als eine der umstrittensten Rechtsfragen der neu-
eren Psychiatriegeschichte herausgestellt. Der Terminus »Behinderung« steht
– aus meiner Sicht wenig glücklich – in den UN-Publikationen für verschie-
dene Einschränkungen, die Menschen erleben können, auch Menschen mit
»psychosozialen Behinderungen«, wie es dort heißt.
Damit geht die Konvention deutlich über die ethischen Leitlinien hin-
aus, die in der Medizin gelten. Die Beachtung des Willens und der Präferenzen
der Person sind nicht gleichbedeutend mit einer Handlung »im Interesse der
Person« oder »zum Wohle der Person«, wie sie in der Medizin nach wie vor
üblich ist, beispielsweise bei der Behandlung bewusstloser Unfallopfer. Ent-
scheidungen im Interesse der Person werden dann aufgrund von Mutmaßun-
gen getroen, ohne den Willen und die Präferenzen tatsächlich abzufragen.
Dies ist situationsbedingt omals auch gar nicht möglich.
Während der Coronapandemie haben wir lernen müssen, dass Grund-
und Freiheitsrechte aus medizinischen Gründen eingeschränkt werden können
und müssen. Ohne Quarantäne- und Lockdownmaßnahmen wären erheblich
mehr Krankheits- und Todesfälle zu beklagen gewesen. Die einschlägige em-
pirische Forschung hat dies eindrucksvoll bestätigt (Yakusheva et al. ). Die
Legitimation von Grundrechtseinschränkungen aus medizinischen Erwägun-
gen ist also durchaus fachlich, ethisch und rechtlich möglich – nicht nur im In-
teresse der Allgemeinheit, sondern auch im Interesse der von den Maßnahmen
betroenen Personen selbst.
In ähnlicher Weise wird auch bei Einschränkungen persönlicher Frei-
heiten durch die Psychiatrie argumentiert. Es gebe, so die konventionelle
psychiatrische Rechtfertigung, medizinische Gründe für Maßnahmen gegen
den Willen einer Person, also für Zwangseinweisungen, Isolation oder Fixie-
rung sowie die Unterbringung in einer forensischen Klinik nach einer Straf-
tat. Wenn die Person wegen einer psychischen Erkrankung urteilsunfähig ist,
wenn die Intervention gegen den Willen der betroenen Person mehr nützt
als schadet und wenn sie im Sinne und Interesse der Person erfolgt, dann sei
sie zu rechtfertigen (Ryan & Bartels ). Diese Begründung fußt auf den in
der Medizin etablierten vier Hauptprinzipien der Ethik, nämlich dem positi-
ven Nutzen (engl. benecence), dem Nicht-Schadens-Prinzip (engl. non-ma-
lecence), dem Respekt für die Autonomie der betroenen Person sowie der
Gerechtigkeit (Beauchamp & Childress ).
22
Eine medizinische Maßnahme gegen den Willen der betroenen Person
darf somit sowohl in einer epidemischen Lage als auch im Rahmen der psych-
iatrischen Behandlung aus ethischen und juristischen Erwägungen erfolgen,
wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind:
• Es handelt sich um eine denierte Krankheit.
• Die Krankheit muss relativ gravierende Auswirkungen auf die betroene
Person, auf weitere Personen oder auf die Bevölkerung haben.
• Es stehen eektive therapeutische Interventionen zur Verfügung.
• Die Maßnahme muss zum Nutzen der Person sein und darf ihr nicht scha-
den (etwa als Nebenwirkung).
• Die Anwendung muss verhältnismäßig sein.
• Die Maßnahmen dürfen nur so wenige Freiheiten wie möglich einschrän-
ken.
Soweit die konventionelle Begründung der Einschränkung von Freiheitsrech-
ten aus medizinischen Gründen. Dieser fachliche Konsens ist nun infrage ge-
stellt. Die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen wie der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) haben wiederholt auf den Aspekt verletzter
Menschenrechte aufmerksam gemacht, die etwa durch Zwangsmaßnahmen
entstehen. In einem Zusatzkommentar zum Artikel der UN-BRK hat der
zuständige UN-Ausschuss dargelegt, dass – entgegen den Rechtstraditionen
vieler Länder – der Artikel eine Trennung der Rechts- und Handlungsfähig-
keit von der Urteils- und Einwilligungsfähigkeit fordert (Snellgrove & Steinert
). Das heißt, selbst Menschen, denen Urteilsunfähigkeit attestiert wird,
sollen medizinische Behandlungen und damit auch psychiatrische Zwangs-
maßnahmen ablehnen dürfen, da sie ihre Rechtsfähigkeit prinzipiell behalten.
Das juristische Instrument der rechtlichen Vertretung (rechtliche Betreuung,
Beistandscha) wäre damit hinfällig, zumindest, wenn es gegen den Willen
der betroenen Person eingesetzt würde.
Verschiedentlich haben UN-Berichterstattende (»Rapporteurs«) auf die
Verletzung von Rechten von Menschen mit psychosozialen Problemen hin-
gewiesen und Zwangsmaßnahmen wie Fixierung, Isolation und Zwangsme-
dikation angeprangert. Zwangsmaßnahmen, so die in psychiatrischen Fach-
kreisen umstrittene Forderung, sollen grundsätzlich abgescha werden. Die
damit einhergehenden Auseinandersetzungen zwischen den psychiatrischen
23
Fachverbänden und den Unterorganisationen der Vereinten Nationen erreich-
ten ihren vorläugen Höhepunkt, als der Menschenrechtsrat der UN einen
Berichterstatter einsetzte, der sich mit Folter, Missbrauch und erniedrigender
Behandlung in medizinischen Einrichtungen befasste. Psychiatrische Ein-
richtungen wurden in der Folge aufgefordert, jene rechtlichen Regelungen zu
überarbeiten, welche »die Unterbringung aus Gründen der psychischen Ge-
sundheit und in psychiatrischen Settings ohne die freie und informierte Zu-
stimmung erlauben« (UN General Assembly : ; alle Übersetzungen aus
dem Englischen von DR). Die Institutionalisierung von Menschen mit Behin-
derungen aufgrund ihrer Behinderung sei abzuschaen, wenn die betroenen
Personen nicht zustimmen.
In dem Hauptbericht des UN-Beauragten wird ein Zusammenhang
zwischen Zwang und dem konventionellen biomedizinischen Paradigma her-
gestellt und ein grundlegender Wandel gefordert: »Zwang, Medikalisierung
und Exklusion als Reste der traditionellen psychiatrischen Versorgung müssen
ersetzt werden durch ein modernes Verständnis von Recovery und evidenzba-
sierten Diensten, welche Würde wiederherstellen und betroene Menschen zu
ihren Familien und Lebensbereichen zurückbringen.« (UN General Assembly
: )
Inzwischen hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) neue
Richtlinien für die psychiatrische Versorgung veröentlicht, die den Fokus auf
die Zwangsvermeidung und die Beachtung von Menschenrechten legen. Auch
hier wird eine Abkehr vom biomedizinischen und primär auf Medikation ba-
sierenden Paradigma gefordert. Explizit wird von den Mitgliedsstaaten der
WHO erwartet, sicherzustellen, dass Menschen jegliche Form einer psychia-
trischen Intervention ablehnen können (WHO a).
Die von der UN und der WHO formulierten Positionen sind mit dem
traditionellen medizinisch-psychiatrischen Selbstverständnis nicht vereinbar.
Mindestens die Freiheitsrechte werden unterschiedlich gewertet. Während
die UN-BRK und verschiedene weitere UN-Dokumente den Menschen- und
Freiheitsrechten eine herausragende Stellung zuschreiben, ist dies im aktuellen
Standardwerk der biomedizinischen Ethik nicht der Fall. Dort heißt es, »Men-
schenrechte sind nicht basaler als moralische Werte einer universellen Moral«
(Beauchamp & Childress : ) Mit anderen Worten, Menschenrechte haben
keinen höheren Stellenwert als beispielsweise eine ärztliche Standesethik.
24
Es ist wohl auch dieser aus ärztlicher Perspektive immer notwendigen
Abwägung der Werte Freiheit und Gesundheit zuzuschreiben, dass bis heu-
te dem Willen der Betroenen in der psychiatrischen Behandlung zumindest
in der Akutversorgung nicht mehr Beachtung geschenkt wird. Allenfalls im
nichtmedizinischen Bereich der Begleitung von Menschen mit Behinderun-
gen hat es rechtliche Konsequenzen gegeben, wie das Bundesteilhabegesetz in
Deutschland (Rosemann ) oder das sogenannte »Berner Modell« in der
Schweiz (Participia o. J.), welche sich ausdrücklich auf die UN-BRK berufen.
Inwieweit damit die Situation der betroenen Personen tatsächlich verbessert
wurde, bleibt zukünigen Evaluationen vorbehalten.
Es war aber nicht nur die konventionelle biomedizinisch ausgerichte-
te Psychiatrie, die Probleme mit der Forderung nach der Abschaung von
Maßnahmen gegen den Willen der betroenen Person und insbesondere der
Abschaung von Zwangsmaßnahmen hatte. Eigentlich hätte man erwarten
können, dass die Sozialpsychiatrie sich diese Forderungen und Initiativen zu
eigen macht. Und wenngleich das in geringem Maße auch geschieht, sehen die
Reaktionen vieler Fachpersonen dennoch anders aus. Aus meiner Perspektive
ist die Ablehnung der UN-Initiativen weder psychiatrisch noch sozialpsychi-
atrisch zu rechtfertigen. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und
sagen, dass die UN-BRK und die damit in Verbindung stehenden Initiativen
wie »QualityRights« als Leitfaden für die Umsetzung einer zeitgemäßen Psy-
chiatrie im Sinne einer psychosozialen Unterstützung gelesen werden können.
Im Folgenden werden deshalb die verschiedenen für unser ema relevanten
Normen der Konvention genauer vorgestellt: Welche Menschenrechtsverlet-
zungen sind genau gemeint und welche Folgen hätte eine konsequente Beach-
tung der Menschenrechte in der Psychiatrie?
Menschenrechte und
das soziale Modell der Behinderung
Wichtig für das Verständnis der UN-BRK ist zunächst, dass diese nicht nur
für Menschen mit psychischen oder psychosozialen Problemen gilt. Die Kon-
vention gilt für Menschen mit jedweder Form von Behinderung, also sowohl
für Menschen mit körperlichen wie auch mit anderen Problemen. Zentrale
25
Forderung der Konvention ist die Nichtdiskriminierung von Menschen mit
Behinderungen. Menschen mit Behinderungen sollen genauso behandelt wer-
den wie Menschen ohne Behinderungen. Sie sollen die gleichen Rechte genie-
ßen wie alle anderen Menschen auch, und dies betri auch ihre Rechte im
Gesundheitswesen, etwa in der psychiatrischen Behandlung.
In der Einleitung habe ich schon erklärt, dass der Begri der »Behinde-
rung« aus meiner Sicht nicht sinnvoll ist und ein neutraler und inklusiver Be-
gri wie »psychosoziale Probleme« angemessener wäre. In diesem Abschnitt
folge ich jedoch der oziellen Terminologie der Konvention, um Missver-
ständnisse zu vermeiden.
Im Artikel der UN-BRK wird erklärt, wer zu den Menschen mit Be-
hinderungen zählt, nämlich »Menschen, die langfristige körperliche, seelische,
geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung
mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten
Teilhabe an der Gesellscha hindern können« (alle wörtlichen Zitate in die-
sem Abschnitt stammen aus der oziellen deutschen Übersetzung der Kon-
vention; Beauragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen ).
Das heißt, das Konzept Behinderung folgt dem sogenannten sozialen Modell
(Shakespeare ), bei dem die Problematik nicht mehr in erster Linie bei der
Person liegt, wie es in früheren medizinischen Modellen der Fall war. Vormals
hatte sich die Person einer wie auch immer gearteten Umwelt anzupassen, in-
dem etwa die Wohnsituation nach den Möglichkeiten und Fertigkeiten der
Person ausgesucht wurde. O war das dann eine stationäre Einrichtung und in
aller Regel fand in der Folge keine weitere Besserung mehr statt. Heute stehen
dagegen mit Konzepten wie Wohncoaching Unterstützungsdienste zur Verfü-
gung, die Menschen mit Behinderung helfen, auch in einer eigenen Wohnung
zurechtzukommen. Mit anderen Worten: Die Umgebung wird so an die Per-
son angepasst, dass der Mensch idealerweise seinen Präferenzen gemäß leben
kann.
Abbildung (s. S. ) fasst die zentralen Merkmale und Auswirkungen
sowohl des medizinischen Modells wie auch des sozialen Modells der Behin-
derung zusammen (siehe auch Reynolds ). Das medizinische Modell der
Behinderung geht von der Behinderung als eine Eigenscha der Person aus.
Die Person ist behindert. Die behinderte Person kann sich integrieren, indem
sie sich den Umweltbedingungen anpasst. Sollte das nicht möglich sein, wird
26
sie im Rahmen besonderer Institutionen wie Heimen oder Werkstätten unter-
stützt. Demgegenüber geht das soziale Modell von der Behinderung der Per-
son durch die Umwelt aus. Die Person ist nicht behindert, sie wird behindert,
weil die soziale Umwelt nicht exibel genug auf ihre Bedürfnisse eingeht. Die
beiden Modelle markieren den Unterschied zwischen den Begrien »Integra-
tion« und »Inklusion«.
Hinter der gesamten Konvention steht der Anspruch, betroenen Personen
»eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbe-
reichen zu ermöglichen«, wie Artikel Satz formuliert. Übersetzt meint dies
die volle Inklusion der Menschen in die Gesellscha und die Möglichkeit, all
das zu erreichen, was Menschen ohne Behinderungen erreichen können.
Gleichheit vor dem Gesetz: Die volle Teilhabe bedeutet konsequenter-
weise auch eine rechtliche Gleichstellung. In dem schon angesprochenen, sehr
kontrovers diskutierten, Artikel wird gefordert, dass Menschen mit Behin-
derungen ihre Rechts- und Handlungsfähigkeit behalten und bei Bedarf Un-
terstützung bekommen, um diese auszuüben. Dieser Artikel wird gemeinhin
so interpretiert, dass rechtliche Vertretungen gegen den Willen der Person
nicht mehr zulässig sind; dies betri etwa bestimmte Beistandschaen in der
Schweiz oder gesetzliche Betreuungen mit Einwilligungsvorbehalt in Deutsch-
Medizinisches und soziales Modell der Behinderung
Medizinisches Modell Soziales Modell
Grund der Behinderung liegt in der Person
Die Person ist behindert
Grund der Behinderung liegt im sozialen
Umfeld, das nicht exibel genug auf die
Bedürfnisse der betroenen Person reagiert.
Die Person wird behindert
Primär Anpassung der betroenen Person an
die Umwelt bzw. Versorgung in einer Sonder-
einrichtung
Integration
Primär Anpassung der Umwelt an die Bedürf-
nisse der betroenen Person; keine Versorgung
in einer Sondereinrichtung
Inklusion
27
land. An deren Stelle soll die unterstützte Entscheidungsndung treten, die
Wille und Präferenzen der Person berücksichtigen soll.
Keine Behandlung ohne Zustimmung: Artikel Satz der UN-BRK
lautet: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Insbesondere
darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wis-
senschalichen Versuchen unterworfen werden.« Mit diesem Satz werden die
unfreiwillige Unterbringung und Behandlung in die Nähe von Folter und Er-
niedrigung gerückt. Die Behandlung in psychiatrischen Settings darf demnach
ausschließlich freiwillig erfolgen. Während hier eine negative Formulierung
verwendet wird, heißt es im Artikel (d), der den Zugang zu Gesundheits-
leistungen beschreibt, explizit, die Staaten verpichten sich, »Menschen mit
Behinderungen eine Versorgung von gleicher Qualität wie anderen Menschen
angedeihen zu lassen, namentlich auf der Grundlage der freien Einwilligung
nach vorheriger Aulärung.«
Unabhängige Lebensführung und volle Teilhabe: Die unabhängige Le-
bensführung von Menschen mit Behinderungen wird in Artikel ausgeführt.
Dort heißt es unter anderem, dass »Menschen mit Behinderungen gleichbe-
rechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu ent-
scheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpichtet sind, in besonderen
Wohnformen zu leben« und dass sie Zugang zu Unterstützungsdiensten haben
sollen, »einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des
Lebens in der Gemeinscha und der Einbeziehung in die Gemeinscha so-
wie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinscha
notwendig ist«. Damit ist klar, dass Menschen mit Behinderungen ihre Wohn-
form nicht mehr vorgeschrieben werden darf; sie sollen so leben dürfen, wie
sie wollen und die dafür notwendige Assistenz erhalten. Unterbringungen ge-
gen den Willen in Wohnheimen oder ähnlichen Settings sind demnach nicht
mehr zulässig. In diesem Zusammenhang fordert Artikel mit Bezug auf
Gesundheitsleistungen eine ächendeckende ambulante Versorgung auch im
ländlichen Raum.
Zur unabhängigen Lebensführung und zur vollen Teilhabe gehört der
Konvention zufolge auch der gleichberechtigte Zugang zu Bildungsangeboten.
Artikel regelt das inklusive Bildungsangebot, was eine Trennung von An-
geboten für Menschen mit und ohne Behinderungen verhindern soll. Auau-
28
end auf dem Bildungsartikel wird in Artikel Satz bezüglich Arbeit und
Beschäigung das Recht »auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Ar-
beit zu verdienen, die in einem oenen, integrativen und für Menschen mit
Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt
oder angenommen wird« und dies »einschließlich Chancengleichheit und
gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit« formuliert (Artikel Satz ). Die
Beschäigung in Werkstätten ist demnach nicht gleichwertig, d. h., Menschen
mit Behinderungen ist zunächst ein Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu
ermöglichen, wenn sie diesen denn haben wollen. Artikel Satz schließlich
formuliert das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard »für sich selbst
und ihre Familien, einschließlich angemessener Ernährung, Bekleidung und
Wohnung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen«.
Aus den gerade angeführten Artikeln, die für Menschen mit psychoso-
zialen Problemen besonders relevant sind, lassen sich klare Auräge für die
Sozialpsychiatrie ableiten. Menschen mit psychosozialen Problemen sollen so
leben, arbeiten und unterstützt werden, wie sie dies wünschen. Sozialpsychia-
trie in diesem Sinne würde heißen:
• ausschließlich freiwillige Behandlungen,
• unterstützte Wohnformen gemäß der Präferenz der Person,
• Sicherstellung einer Schul- und Berufsausbildung,
• Sicherstellung des Zugangs zum allgemeinen Arbeitsmarkt,
• Verhinderung von Armut,
• neue Formen der Entscheidungsndung, welche Wille und Präferenzen der
Person priorisieren.
Im Prinzip sind die meisten Professionellen in der psychiatrischen oder psy-
chosozialen Versorgung durchaus mit den hier aus der UN-BRK abgeleiteten
Aurägen einverstanden. Anhand zweier aktueller Kontroversen möchte ich
jedoch aufzeigen, dass dieses Einverständnis klare Grenzen hat und dass –
wenn es hart auf hart kommt – diese Prinzipien nicht beachtet werden. Es
dreht sich zum einen um die bereits angesprochene Frage von Zwang und e-
rapie, zum anderen um die assistierte Selbsttötung bzw. Sterbehilfe für Men-
schen mit psychosozialen Problemen.
29
Die Kontroverse um die Anwendung von
Zwangsmaßnahmen in der Sozialpsychiatrie
Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Versorgung
ist, das wurde eingangs schon erwähnt, selbst in der Sozialpsychiatrie höchst
umstritten. Unlängst wurde die Kontroverse in verschiedenen deutschsprachi-
gen Psychiatriezeitschrien ausgetragen. Auf der einen Seite standen führende
Personen der deutschen Sozialpsychiatrie-Community, auf der anderen Seite
standen ebenfalls bekannte Fachpersonen, aber auch die Betroenenbewe-
gung. Gegenstand der Kontroverse war die Frage, ob die psychiatrische Ver-
sorgung grundsätzlich auf Zwang verzichten kann und welche Konsequenzen
ein solcher Verzicht nach sich ziehen würde.
Diese ematik und die damit einhergehenden Kontroversen sind nicht
neu. Schon zu Beginn der er-Jahre schlussfolgerte der US-amerikani-
sche Psychiater und Psychoanalytiker omas Szasz: »Es gibt keine medizi-
nische, moralische oder juristische Rechtfertigung für unfreiwillige psychiat-
rische Interventionen. Diese sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
(Szasz : ) Der Grund für diese Schlussfolgerung war so einfach wie
umstritten: Nach Szasz ist die Idee der psychischen Krankheit ein »Mythos«.
Psychische Krankheiten seien »erfunden« worden, indem die Psychiatrie zen-
trale medizinische Kriterien aufgab. Während bei körperlichen Krankheiten
Veränderungen der Körperstruktur nachweisbar sein müssen (zum Beispiel
ein Tumor oder eine Fraktur), sei für psychische Krankheiten ein neues Kri-
terium eingeführt worden, das der funktionalen Veränderung. Funktional er-
klärte Krankheiten sind aber, so ist Szasz zu interpretieren, keine »wirklichen«
Krankheiten, da diese nicht entdeckt, sondern eben erfunden wurden.
Was aber sollte mit Menschen geschehen, die vor dem Hintergrund ei-
ner vermeintlichen psychischen Krankheit eine gravierende Normverletzung
wie beispielsweise eine Straat begangen haben? Auch hier war Szasz’ Antwort
so einfach wie umstritten: Diese Menschen sollten in einem Gefängnis unter-
gebracht werden.
»Institutionen mit Strafcharakter (Gefängnisse) sollten diejenigen be-
herbergen, welche die Gesellscha abzusondern wünscht. Der primäre
Zweck dieser Institution sollte die Herstellung der öentlichen Sicher-
heit sein.« (Szasz : )
30
Menschen, die als psychisch krank gelten, waren nach Szasz’ Überzeu-
gung nicht anders als jüdische oder nichtweiße Menschen zu Sündenböcken
gemacht worden.
omas Szasz, der zusammen mit dem britischen Psychiater Ronald D.
Laing, dem amerikanischen Soziologen Erving Goman und dem französi-
schen Philosophen Michel Foucault heute zu den Begründern der »Antipsy-
chiatrie« gezählt wird, war nicht grundsätzlich gegen eine psychiatrische Un-
terstützung von Menschen, sofern diese danach suchten. Diesen Menschen
ging es – so seine Interpretation – primär um Fragestellungen und Unsicher-
heiten der Lebensführung, etwa die Verwirklichung von Lebenszielen.
Ganz ähnlich argumentieren Martin Zinkler und Sebastian von Peter in
ihrem Artikel »Ohne Zwang – ein Konzept für eine ausschließlich unterstüt-
zende Psychiatrie« (Zinkler & von Peter ). Sie schlagen ferner vor, dass
etwa Strafverfolgungsbehörden nicht mehr – wie derzeit möglich – Menschen
gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik bringen können. Ihre Be-
gründung ist allerdings eine andere als bei Szasz. Die Reformüberlegungen
von Zinkler und von Peter beruhen auf der bereits zitierten UN-BRK, welche
die Diskriminierung von Menschen mit körperlichen oder seelischen Behin-
derungen gegenüber Menschen ohne Behinderungen untersagt. Demnach
müssen Menschen mit und ohne Behinderungen prinzipiell gleichbehandelt
werden. »Aus dem Diskriminierungsverbot folgt, dass die Person, bei der eine
psychische Erkrankung vermutet wird, rechtlich nicht anders von der Polizei
behandelt wird als ohne die Vermutung.« (Zinkler & von Peter : )
Das bedeutet nicht, dass Zinkler und von Peter darauf verzichten wol-
len, diejenigen zu unterstützen, die eine Klinikbehandlung ablehnen. Als Al-
ternativen werden Hilfestellungen bei sozialen Problemen wie Obdachlosig-
keit und Armut genannt, aber auch Home Treatment, also die psychiatrische
Akutbehandlung in der eigenen Wohnung. Diese ausschließlich als Unterstüt-
zungsangebot konzipierte Form der Psychiatrie soll aber auf die traditionel-
le »Doppelfunktion«, nämlich Behandlung und Kontrolle, verzichten, indem
die Kontrollfunktion aufgegeben wird. Die Autoren versprechen sich dadurch
eine größere Akzeptanz psychiatrischer Hilfsangebote, wenn die Nutzenden
wissen, dass Zwangsmaßnahmen nicht mehr mit der Psychiatrie verbunden
werden, sondern allenfalls mit Polizei und Strafrecht.
Der Artikel von Martin Zinkler und Sebastian von Peter hat harsche
31
Reaktionen hervorgerufen. Die Überlegungen seien »in psychiatriegeschicht-
licher Hinsicht [...] ein Rückschritt um etwa Jahre«, so die Psychiater
Maximilian Gahr und Manfred Spitzer in einer Entgegnung (Gahr & Spitzer
: ). Ihrer Meinung nach ist der Ansatz einer ausschließlich ohne Zwang
operierenden Psychiatrie im Kern »patientenfeindlich, weil es dem Interesse
einer Person, bei Krankheit professionelle Hilfe zu bekommen, zuwiderlaufen
kann« (Gahr & Spitzer : ). Der Psychiater Peter Brieger und die Psycho-
login Susanne Menzel charakterisierten den Ansatz gar als »unmenschlich«
(Brieger& Menzel : ). Das Prinzip einer ausschließlich ohne Zwang
arbeitenden psychiatrischen Versorgung stelle den Aspekt der Selbstbestim-
mung unzulässigerweise über die Prinzipien der Fürsorge und des Nichtscha-
dens.
Etwas anders argumentierte der Psychiater Tilman Steinert. Sein zen-
traler Einwand bezieht sich auf den Unterschied zwischen körperlichen und
psychischen Erkrankungen. Dieser sei darin zu sehen, »dass psychische Er-
krankungen das für die Willensentscheidungen eines Menschen verantwortli-
che Organ betreen, das Gehirn. Alle psychischen Erkrankungen können – in
einem relativ weiten Sinne – als Funktionsstörungen des Gehirns aufgefasst
werden.« (Steinert : ) Aufgrund dieses Unterschieds folge eine Sonder-
stellung psychischer Erkrankungen, da diese potenziell die Fähigkeit der freien
Willensentscheidung einschränken könnten. Vor diesem Hintergrund sei es
grundsätzlich zu rechtfertigen, dass medizinische Fachpersonen im Interes-
se anderer Menschen freiheitsbeschränkende Maßnahmen anordnen düren,
ganz analog zu Infektionsschutzmaßnahmen, die eine Quarantäne für Men-
schen mit vorhandener Selbstbestimmung verpichtend machen können.
Der Argumentation, Fachpersonen düren im Interesse von Menschen
mit psychischen Erkrankungen Maßnahmen anordnen, wurde anschließend
in einer Stellungnahme zweier deutscher Betroenenverbände widersprochen.
Der Ansatz von Zinkler und von Peter spiegele das wider, »was Psychiatrieer-
fahrene seit Langem am bestehenden psychiatrischen System kritisieren. So
machen Betroene regelmäßig darauf aufmerksam, dass Psychiatriegewalt
dem ärztlichen Nichtschadensprinzip zuwiderläu und als unethisch und un-
menschlich bewertet wird.« (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener & Bun-
desarbeitsgemeinscha Psychiatrie-Erfahrener : ) Die Verbände ver-
wahrten sich gegen die aus ihrer Sicht erfolgte Instrumentalisierung des Wohls
32
der Betroenen. Diese Instrumentalisierung sei Teil der von Betroenen erleb-
ten »Psychiatriegewalt«.
Die vorstehenden Ausführungen zusammenfassend bleibt festzustellen,
dass es fundamental gegensätzliche Perspektiven auf Autonomie, Entschei-
dungsfreiheit und psychische Krankheit gibt. Aus konventioneller psychiatri-
scher und auch sozialpsychiatrischer Sicht kann eine psychische Erkrankung
die Wahrnehmung der eigenen Rechte beeinträchtigen und daher unter be-
stimmten Umständen die stellvertretende Entscheidung durch medizinische
Fachpersonen rechtfertigen. Aus Betroenensicht wird bestritten, dass über-
haupt jemand ohne Weiteres die Stellvertretung übernehmen darf, und dies
unabhängig davon, ob die beeinträchtigte Person als psychisch krank gilt.
Letztere Position entspricht im Grunde der bereits vorgestellten Positi-
on der Vereinten Nationen, insbesondere dem Artikel der UN-BRK, wel-
cher ausführt, »dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen
gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen«
(United Nations ). Demnach dürfen psychische Einschränkungen nicht
zu rechtlichen Einschränkungen führen. Das heißt, stellvertretende Entschei-
dungen, beispielsweise durch eine Fachperson oder eine rechtliche Vertretung,
sind im Grunde nicht zulässig. Wie nicht anders zu erwarten, hat diese Rechts-
position große Diskussionen (Scholten & Gather ; Szmukler ) und
auch massiven Widerstand (Appelbaum ) in der psychiatrischen Fachwelt
ausgelöst.
Die Kontroverse um die Sterbehilfe von
Menschen mit psychosozialen Problemen
Neben der bereits angesprochenen Kontroverse um Zwangsmaßnahmen wird
wohl keine weitere Diskussion so emotional geführt wie diejenige, die sich
mit der assistierten Selbsttötung von Menschen mit psychosozialen Proble-
men befasst. In verschiedenen europäischen Ländern ist die Unterstützung
bei einer Selbsttötung durch medizinische Fachpersonen auch für Menschen
mit psychischen Problemen erlaubt, so etwa in der Schweiz, in Belgien und in
den Niederlanden. Im Rahmen der Neuordnung der Sterbehilferegelungen in
Deutschland wird diese Frage gegenwärtig auch hier wieder diskutiert.
33
Aber, um es von vornherein deutlich zu sagen: Ein Verbot der assistier-
ten Selbsttötung ist eine Variante des in der Einleitung beschriebenen sozialen
Zwangs. Menschen werden entweder gezwungen, mit ihrem Leiden weiterzu-
leben oder einen würdelosen oder gar andere Menschen in Mitleidenscha
ziehenden Ausweg zu suchen. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass vie-
le Lesende dieser Position nicht zustimmen werden, da schon die Frage nach
Sterbehilfe ethisch, medizinisch-psychiatrisch oder gar religiös konnotiert ist.
Mir geht es an dieser Stelle nicht primär um die Zulässigkeit von Sterbehilfe
an sich, sondern um die Anwendung von psychiatrisch legitimiertem Zwang
gegenüber Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen.
Vorab seien deshalb zwei kurze Bemerkungen gestattet. Der Transpa-
renz halber muss hier berichtet werden, dass ich selbst an dieser Kontroverse
beteiligt bin, und zwar als Befürworter der assistierten Selbsttötung von Men-
schen mit psychischen Problemen (Richter ; Richter a). Im Rahmen
der gründlichen Auseinandersetzung mit dieser Problematik, und das ist die
zweite Bemerkung, habe ich für mich terminologische Konsequenzen gezo-
gen, welche den »assistierten Suizid« von der »assistierten Selbsttötung« klar
unterscheidet. Der US-amerikanischen Fachgesellscha für Suizidologie (AAS
) und den deutschen Ethikern (Gather & Vollmann ) folgend, ist der
Suizid eine Handlung im Rahmen einer akuten psychischen Störung, während
die assistierte Selbsttötung ein wohlerwogener Schritt ist, der nicht in einer
akuten Krise erfolgt. tun
Aus Sicht vieler Fachpersonen in der Psychiatrie sprechen verschiede-
ne Gründe gegen die assistierte Selbsttötung. Besonders in Deutschland gibt
es wegen der Euthanasie von Menschen mit psychischen Beeinträchtigun-
gen während der Herrscha des Nationalsozialismus die Sorge, dass aus ei-
ner Option eine Regel werden könnte. Auch wird die Begrisgeschichte der
deutschen Sozialpsychiatrie von den Ideen der Rassenhygiene überschattet
(Schmiedebach & Priebe ). Umso verständlicher ist es, dass die Sozial-
psychiatrie gerade im Nachkriegsdeutschland eine klare Trennlinie zu Tötun-
gen von beeinträchtigen Menschen zu ziehen suchte. Asmus Finzen, einer der
bekanntesten Reformpsychiater in Deutschland und in der Schweiz, beklagte
vor diesem Hintergrund etwa, dass in Belgien und in den Niederlanden über-
haupt darüber nachgedacht wurde, Sterbehilfe für Menschen mit psychischen
Erkrankungen zu erlauben (Finzen ).
34
Ein weiterer Grund ist die medizinische Sicht auf die Suizidalität als pa-
thologisches Phänomen. Was vielen psychiatrisch tätigen Fachpersonen heute
im Grunde als selbstverständlich erscheint, dass nämlich Suizide überwiegend
im Zusammenhang mit einer psychosozialen Problematik begangen werden,
war nicht immer so und ist in Teilen der Welt auch heute noch nicht so. Der
Suizid war lange eine moralisch, religiös und sogar rechtlich fragwürde Hand-
lung, die erst in jüngster Zeit medikalisiert und pathologisiert wurde (Barbagli
). Bekanntermaßen ist es eine der zentralen Aufgaben der psychiatrischen
Versorgung, Suizide zu verhindern; Selbstgefährdung wird deshalb in nahezu
allen europäischen Ländern vom Gesetzgeber als Grund für Zwangsmaßna-
men und Zwangsbehandlungen anerkannt. Dies unterscheidet die Psychiatrie
von einigen anderen medizinischen Disziplinen. Wenn ein Mensch mit einem
ausgeprägten Diabetes mellitus sich durch die Nichteinhaltung der Diät selbst
gefährdet, so hat dies üblicherweise keine rechtlichen Folgen.
Ein explizit sozialpsychiatrisches Argument gegen die assistierte Selbst-
tötung lautet, es werde mit der Möglichkeit der Sterbehilfe eine »verheeren-
de Signalwirkung« ausgesendet, weil man damit psychische Erkrankungen in
die Nähe der Unheilbarkeit rücken würde, so die Soziologin Silvia Krumm in
einer Pro- und Kontra-Diskussion mit dem Verfasser (Krumm ). Damit
werde Honung auf Besserung und ein Leben mit der Krankheit zunichte-
gemacht, was gerade dem Recoverykonzept zuwiderlaufe.
An dieser Stelle möchte ich noch mal auf die oben schon genannte Un-
terscheidung zwischen einem Suizid und einer assistierten Selbsttötung zu-
rückkommen. Eine assistierte Selbsttötung setzt eine wohlerwogene Entschei-
dung voraus, die bei einem Suizid omals nicht gegeben ist. Eine autonome
Entscheidung als Möglichkeit auszuschließen, führt aber zur Pathologisierung
einer Handlung und in der Folge zu einem Zirkelschluss: Wer das Leben be-
enden will, ist suizidal, und wer suizidal ist, ist psychisch krank und kann
daher nicht urteilsfähig sein, so die verkürzte Argumentation. Und ja: Wenn
psychiatrische Fachpersonen die Urteilsfähigkeit begutachten müssen, wie es
omals im Vorfeld assistierter Selbsttötungen der Fall ist, »ist die Feststellung
der Urteilsfähigkeit schwierig, wenn der Wunsch zu sterben, Teil des zugrunde
liegenden Syndroms ist«, so der einussreiche und der assistierten Selbsttö-
tung sehr kritisch gegenüberstehende Psychiater Paul Appelbaum (Appelbaum
: ).
35
Mir geht es um das Recht auf autonome Entscheidung auch von Men-
schen, die psychosoziale Probleme haben. Wenn das Leben mit diesen psy-
chosozialen Problemen als nicht mehr erträglich erlebt wird, dann wird so-
wohl von der konventionellen Psychiatrie wie auch von vielen Personen in der
Sozial psychiatrie-Community den betroenen Personen das Recht abgespro-
chen, autonom über diesen Schritt zu entscheiden. Daran reibe ich mich. Als
die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaen vor wenigen
Jahren neue Leitsätze im Zusammenhang mit der Sterbehilfe im Gesund-
heitswesen publizierte, welche auch Menschen mit psychischen Problemen
einschloss, reagierten große Teile der medizinischen Fachwelt mit drastischer
Ablehnung.
»Jegliche Objektivität und jegliche gemeinsame Subjektivität im Hin-
blick auf die Frage, ob das Leiden unerträglich ist, werden somit auf
dem Altar des Grundsatzes der Autonomie geopfert.« (Ducor & Kiefer
: )
Als in Deutschland das höchste Gericht, das Bundesverfassungsgericht, neue
rechtliche Grundsätze im Umgang mit Sterbehilfe anmahnte, schrieb Michae l
Wunder in den Sozialpsychiatrischen Informationen, das Gericht habe »im
Widerspruch zu den überwiegenden Erfahrungen in der psychiatrischen, psy-
chotherapeutischen und sozialpädagogischen Praxis den Suizid als Freiheits-
recht verklärt« (Wunder ).
Aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen stellt die hier
geforderte Ausklammerung psychischer Probleme als legitimes Motiv einer
Selbsttötung eine grundlegende Diskriminierung dar. Menschen mit körperli-
chen Krankheiten wird die assistierte Selbsttötung am Ende eines ausführlichen
Beratungsprozesses zugestanden, Menschen mit schweren und langwierigen
psychosozialen Beeinträchtigungen nicht. Dies widerspricht dem Nichtdis-
kriminierungsgebot der UN-BRK eindeutig. Wenn Menschen mit schweren
und unerträglichen psychosozialen Leiden dieser Schritt verwehrt wird, ist das
meines Erachtens mit einer sozialen Psychiatrie nicht vereinbar.
Der Widerspruch liegt für mich klar auf der Hand: Wir fördern Reco-
very und Empowerment, damit Menschen mit psychosozialen Problemen ihre
Angelegenheiten wieder selbst regeln und die damit verbundenen Entschei-
dungen selbst treen. Recovery bedeutet auch, Risiken einzugehen und nicht
von vornherein alles auszuschließen, was möglicherweise zu problematischen
36
Situationen führt. Als »positive Risk-Taking« wird dieser Aspekt des Recovery-
prozesses im englischen Sprachraum bezeichnet (Burr & Richter ).
Außerdem wollen wir in der Sozialpsychiatrie weg von einer paterna-
listischen Haltung, die suggeriert, sie wisse, was gut für die betroene Person
ist. Das bedeutet schlussendlich jedoch, dass wir den betroenen Personen zu-
gestehen müssen, dass sie Entscheidungen treen, die uns nicht gefallen – im
besonderen Falle der Sterbehilfe eben auch die Entscheidung für den Tod. Es
geht nicht, zu sagen: Nimm dein Leben wieder in die eigenen Hände, aber nur
so lange, wie es mir passt.
Nicht zuletzt gilt es, das Krankheitskonzept des Suizids zu hinterfragen.
Es ist durchaus möglich, einen Suizid aus rationalen Gründen zu begehen –
der in der oben eingeführten Terminologie eine Selbsttötung ist (vgl. Stefan
). In jüngerer Zeit gibt es zunehmende Kritik an den sogenannten psycho-
logischen Autopsiestudien, welche im Nachhinein nach psychischen Ursachen
eines Suizids suchen und diese bei – Prozent der Fälle auch nden. Aus
methodischer Sicht sind derartige retrospektive Studien höchst zweifelha
(Hjelmeland et al. ); wissenschalich adäquate Studien, die prospektiv
durchgeführt werden, nden interessanterweise bis heute keine stabilen Prä-
diktoren für einen Suizid (Franklin et al. ).
Aus epidemiologischer Sicht sind ebenfalls Zweifel an einer ausschließ-
lich pathologisierenden Perspektive angebracht. Soziale Entwicklungen, wie
beispielsweise die Finanzkrise Ende des er-Jahrzehnts, haben etwa in
Griechenland (Economou et al. ) oder in Spanien (Lopez Bernal et al.
) zu deutlich erhöhten Suizidraten geführt.
In der deutschen Geschichte gibt es mit der Wiedervereinigung der bei-
den deutschen Staaten DDR und BRD eine Vergleichsmöglichkeit, die einen
umgekehrten Zusammenhang nahelegt (von den Driesch ). Die Suizidra-
ten auf dem Gebiet der früheren DDR waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg
deutlich höher als im Westen und blieben dort während des sozialistischen
Regimes hoch. Allerdings wurden die hohen Suizidraten geheim gehalten und
auch internationalen Organisationen wie der WHO nicht gemeldet, da die-
se Zahlen nicht ins Bild eines funktionierenden Sozialismus passten. Mit der
Wiedervereinigung nach sanken die Suizidraten auf dem Gebiet der frü-
heren DDR dramatisch und glichen sich in den letzten Jahren den ebenfalls
sinkenden Zahlen im Westen an. Angesichts der sozioökonomischen Krisen-
37
jahre nach der Wende und den bis heute anhaltenden Unterschieden zwischen
Ost und West kann nicht von einer ebenfalls deutlich sinkenden psychosozia-
len Belastung der Menschen auf dem Gebiet der früheren DDR ausgegangen
werden. Das heißt, die Senkung der Suizidraten in Ostdeutschland ist aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht auf eine dramatisch verbesserte psychische Ge-
sundheit der dort lebenden Menschen zurückzuführen.
Im Diskurs über Behinderungen wird die pathologisierende Sicht auf
Suizidalität als eine epistemische Ungerechtigkeit erlebt. Das an anderer Stelle
noch näher erläuterte Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit (s. S. ) be-
deutet, dass etwaige andere Perspektiven der betroenen Personen keine Be-
rücksichtigung und auch kein Gehör im wissenschalichen, politischen oder
rechtlichen Raum nden. Analog zum Rassismus wird in diesem Diskurs eine
Diskriminierung durch Nichtbehinderte (»ableism«) und Gesunde (»sanism«)
beschrieben, aber eben auch durch Menschen, die nicht suizidal sind (Baril
). Viele Menschen mit suizidalem Erleben lehnen eine pathologisierende
Sichtweise ihrer Gedanken und Gefühle ab.
Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass die assistierte
Selbsttötung in der Betroenenbewegung durchaus umstritten ist. Immer wie-
der wird befürchtet, die assistierte Selbsttötung könne Menschen mit Behinde-
rungen, die sich sorgen, ihre zu Familie belasten und Kosten zu verursachen,
als Ausweg erscheinen oder sogar nahegelegt werden. Empirisch gesehen ist
diese Befürchtung jedoch wenig begründet. Wenngleich einschlägige Studien
im Zusammenhang mit psychosozialen Problemen nicht vorhanden sind, zei-
gen Daten im Zusammenhang mit körperlichen Krankheiten, dass die assis-
tierte Selbsttötung in erster Linie von Menschen mit einem hohen Sozialstatus,
ausgeprägter Individualität sowie ohne religiöse Bindung gesucht wird (Battin
et al. ; Steck et al. ). Sozialer Druck, so lässt sich aus diesen Studien
extrapolieren, spielt dabei oenbar keine große Rolle.
38
Schlussfolgerung: das Entscheidungsdilemma
der Sozialpsychiatrie
Sowohl die Kontroverse um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen wie die
um die Sterbehilfe kreisen um die Frage der Autonomie von Menschen, die wir
als »schwer psychisch krank« diagnostizieren. Wie viel Entscheidungsspiel-
raum gestehen wir ihnen zu? Ist es gerechtfertigt, Menschen mit »schweren
psychischen Krankheiten« anders zu behandeln als Menschen mit körperli-
chen Krankheiten, die ja teilweise ebenfalls Probleme haben, krankheitsbezo-
gene Entscheidungen zu treen?
Diese Fragen führen die Psychiatrie, aber vor allem auch die Sozialpsy-
chiatrie in ein Dilemma: Einerseits sollen Menschen mit ausgeprägten psycho-
sozialen Problemen möglichst selbstständig und autonom über ihre Belange
entscheiden. Andererseits kann die psychische Störung zu Entscheidungen
führen, die nicht im Interesse der Person sind. Im Kern geht es um die Frage,
was als pathologisch gilt und ob eine »Krankheit« oder »Störung« als Legiti-
mation für einen Eingri in die Menschenrechte angeführt werden kann, als
den die UN-BRK Zwangsmaßnahmen eingestu hat.
Der britische Psychiater George Szmukler hat in jüngerer Zeit verschie-
dentlich vorgeschlagen, diese Legitimationsprobleme auf rechtlichem Wege zu
lösen. Er schlug ein gemeinsames Recht (»fusion law«), das nicht zwischen
psychischen und nichtpsychischen Krankheiten unterscheidet, sondern zwi-
schen urteilsfähig und nichturteilsfähig (Dawson & Szmukler ; Szmukler
), vor. Letztlich hat sich sein – aus meiner Sicht durchaus nachvollziehba-
res Argument – aber vor allem in der Psychiatrie nicht durchsetzen können.
Welche Legitimationsgründe in der Psychiatrie für Maßnahmen gegen den
Willen einer Person im Detail angeführt wurden und immer noch werden,
damit befasst sich das nachfolgende Kapitel ausführlich.
39
Die Legitimation von
psychiatrischen Maßnahmen
gegen den Willen einer Person
Der Umgang mit Menschen, die als verrückt galten, denen unangemessenes
Verhalten vorgeworfen wurde oder die man als besessen ansah, ist vermut-
lich zu allen Zeiten mit gewissen Formen von Zwang verbunden gewesen.
Diese Menschen wurden aus sozialen Beziehungen ausgeschlossen und teilwei-
se weggeschlossen, sie wurden genauso wie Fremde als Barbaren betrachtet
und manchmal auch bekämp. Historisch gesehen kann die Einschränkung
der Autonomie von Menschen, die »inadäquates« Verhalten zeigten, quasi als
Konstante gelten. Jedoch ist der Zwang in Abhängigkeit von der Art der psy-
chiatrischen Versorgung, den wissenschalichen Vorstellungen und den all-
gemeinen gesellschalichen Veränderungen ganz unterschiedlich legitimiert
worden. Hierbei sind zwei große Phasen zu erkennen. Die erste Phase dauerte
von der Entwicklung der Psychiatrie als Wissenscha und als medizinische
Disziplin bis weit in die zweite Häle des . Jahrhunderts. In dieser Phase,
die wesentlich durch Institutionen wie Kliniken und Heime geprägt war, sind
Menschenrechte weitgehend missachtet worden. An die institutionszentrierte
Phase schloss sich ab ungefähr den er-/er-Jahren die personenzen-
trierte Phase an. Nunmehr wurden Menschenrechte zwar berücksichtigt,
gleichzeitig aber war die Einschränkung der Rechte aus medizinischen und
ethischen Gründen möglich.
Zwang in der psychiatrischen Versorgung:
die institutionszentrierte Phase
Körperlicher Zwang und andere Maßnahmen gegen den Willen einer Person
gehören zur Geschichte der Psychiatrie. Bei dem antiken griechischen Dichter
Aristophanes ist zu lesen, dass »Verrückte« mit Steinen beworfen wurden, bei
Platon enthielten die »Gesetze« (Abschnitt c) einen Passus für den Umgang
40
mit »Raserei«, welcher nahelegte, dass solche Personen am besten von der eige-
nen Familie von der Öentlichkeit ferngehalten werden und Zuwiderhandlun-
gen mit Geldstrafen belegt werden sollten (umiger ). Einen Umgang mit
»Verrücktheit« ohne Zwang hat es, zumindest im europäischen Raum, wahr-
scheinlich nie gegeben. Als »große Gefangenscha« hat der Philosoph Michel
Foucault die ersten Psychiatrieeinrichtungen im . Jahrhundert charakterisiert
(Foucault : .). Die spätere Forschung hat den Aspekt der Gefangenscha
bestätigt, allerdings auf das Ende des . sowie den Beginn des . Jahrhunderts
datiert und eine Verknüpfung mit der Aulärung hergestellt.
»[D]ie Geschichte der Psychiatrie begann als Geschichte des kustodia-
len Asyls, als Institutionen zur Gefangenscha tobender Individuen,
die gefährlich für sich selbst und Ärgernis für andere waren.«
(Shorter : )
In den kustodialen Asylen stand der Schutzgedanke vor der Behandlung. Schon
damals jedoch, so der Historiker Edward Shorter, stand hinter der »großen Ge-
fangenscha« die Honung, die zwangsweise Unterbringung könne eine kura-
tive Wirkung entfalten.
Neben der Psychiatriegeschichte ist hier auch die Rechtsgeschichte von
Bedeutung. Im Übergang zur frühen Neuzeit herrschte in den absolutisti-
schen Staaten die Vorstellung eines wohlwollenden Staates, der in bestimmten
Situatio nen Entscheidungen für seine Untertanen traf. In der angelsächsischen
Rechtstradition wurde dieses Rechtsprinzip als »Parens patriae« bezeichnet
(Custer ). Der jeweilige Herrscher war identisch mit dem Staat und trat
gemäß dieser Rechtsdoktrin auch als Elternteil auf. Wie der Begri nahelegt,
wurde die Parens-patriae-Doktrin überwiegend in Rechtsangelegenheiten an-
gewendet, welche das Kindeswohl betrafen. Das Prinzip des wohlwollenden
Staates wurde jedoch auch auf Menschen angewendet, die als »geisteskrank«
betrachtet wurden (Wesson ). Es galt in den Vereinigten Staaten bis weit
in die er-Jahre (Zander ). Auf dem europäischen Kontinent wurde
das Prinzip staatliche »Fürsorge« genannt (Müller ). Unfreiwillige Unter-
bringungen werden in der Schweiz bis heute »fürsorgerische Unterbringun-
gen« genannt. Der Begri der Fürsorge hatte jedoch immer etwas Euphemis-
tisches.
Doch zurück ins England des . Jahrhunderts. Der von Edward Shorter
erwähnte Ärger über bestimmte Personen war womöglich einer der Haupt-
41
faktoren für die Etablierung von »Madhouses«, wie man sie seinerzeit auf
den Inseln nannte. Hierbei handelte es sich überwiegend um privat nanzier-
te Einrichtungen, in welchen begüterte Familien Angehörige unterbringen
konnten, die oenbar unkonventionelles Verhalten zeigten und dadurch dem
Ansehen der Familie schadeten. Solch unkonventionelles Verhalten war nicht
allein damit verbunden, was heute als psychische Krankheit eingestu wird,
sondern es handelte sich auch um sozial anstößiges Verhalten wie der in der
damaligen medizinischen Literatur prominente »Lanchester Case« deutlich
macht. Im »British Medical Journal« wurde berichtet, dass Edith Lan-
chester auf Betreiben ihres Vaters und ihrer Brüder von einem Arzt in eine
Anstalt eingewiesen wurde, weil sie sich auf eine Beziehung mit einem Mann
unterhalb ihres Standes eingelassen hatte, den sie auch nicht heiraten woll-
te (BMJ ). Ferner sei sie immer schon exzentrisch gewesen und vertrete
neuerdings sozialistisches Gedankengut. Die ärztliche Einweisung in das Asyl
erfolgte aufgrund des »sozialen Suizids«, den sie begehen wolle. Sowohl der
später hinzugezogene Hausarzt als auch die ärztlichen Fachpersonen in der
Anstalt bestätigten die Einweisung, welche dann aber von der »Lunacy Com-
mission«, einer öentlichen Einrichtung, die Asyle und Madhouses in England
und Wales beaufsichtigte, abgelehnt wurde.
Andere Menschen hatten weniger Glück. Dazu ein Beispiel, das für das
Schicksal Hunderttausender steht, deren Namen vergessen sind: Die Schri-
stellerin Elsa Asenije wurde auf der Basis der Diagnose »Querulantenwahn«
im Leipzig der er-Jahre entmündigt, zwangseingewiesen und verstarb im
Jahre nach jahrzehntelangen Aufenthalten in Kliniken und Heimen. Die
medizinhistorische Forschung stellte die sozialen Hintergründe als maßgeb-
lich für ihre tragische Lebensgeschichte heraus: »[S]o lebte sie als alleinste-
hende Frau, die in ihrem Verhalten als nicht den sozialen und geschlechtli-
chen Normen angepasst erlebt werden musste und zudem keinen familiären
Rückhalt besaß, bereits in der kriegsgeschädigten jungen Weimarer Republik
zunehmend in Armut und Isolation.« (Kommol & Steinberg : )
Diese Vermischung aus medizinischen und sozialen Ursachen für
eine in der Regel unfreiwillige Hospitalisation ist in vielen Ländern bis weit
in die zweite Häle des . Jahrhunderts hinein anzutreen. Noch Ende der
er-Jahre beschrieb ein US-amerikanischer Psychiater die traditionellen In-
dikationen folgendermaßen:
42
»() Verhalten, welches das Leben des Patienten in Gefahr bringt und
() Verhalten, das die Umwelt des Patienten nicht länger toleriert. Diese
klassischen Indikationen haben gemeinsame Merkmale – beide entste-
hen üblicherweise aus Notfallsituationen, beide sind Manifestationen
schwerer Ausmaße psychischer Krankheit. In beiden Fällen will der
Patient den Klinikaufenthalt nicht selbst in Anspruch nehmen – andere
werden initiativ. Und in beiden Fällen wird die Einweisung üblicher-
weise durch die Familie, Freunde, Richter, die Polizei – und historisch
interessant – selten durch einen Psychiater veranlasst. Der Psychiater
widerspricht der Laien-Einweisung selten, weil die Schwere der Erkran-
kung des Patienten und der Bedarf für eine Klinik-Behandlung norma-
lerweise oensichtlich sind.« (Hall : )
Psychiatrische Anstalten oder Asyle wurden während des . Jahrhunderts in
nahezu allen europäischen Ländern etabliert. Wer dort aufgenommen oder
eingewiesen wurde, musste omals viele Jahre dort verbringen. Die Zustände
in den meisten Anstalten waren unmenschlich und sowohl hinsichtlich sozia-
ler wie hygienischer Aspekte katastrophal. Wenige Jahre nach Ende der insti-
tutionszentrierten Phase beschrieben zwei deutsche Psychiater diese Phase als
»skandalöse Praxis der Asylierung psychisch Kranker und geistig Behinderter
in gefängnisähnlichen, übergroßen und Hospitalisierungsdefekte zwangsläu-
g hervorbringenden Verwahreinrichtungen, deren Ausstattung zumeist un-
würdig war und deren personelle Besetzung gerade noch die Beaufsichtigung,
aber keine Behandlung erlaubte« (om & Wul : ).
Der Historiker Edward Shorter zitiert einen Psychiater, der in den
er-Jahren im Maudsley Hospital in London arbeitete:
»Für die Patienten war das Leben unangenehm, sie waren eingesperrt
in geschlossenen Stationen mit einem Garten für die Freizeit. Viele
Patienten, deren stürmische Krankheit nachgelassen hatte, zeigten nur
Residualsymptome und verbrachten dort Jahr um Jahr, unbeschäigt
und ohne Anreize für Selbstverantwortung und Selbstbestimmung;
sie gewöhnten sich an die Zwangsjacke einer unveränderten täglichen
Routine.« (Shorter : f.)
Die meisten »Insassinnen und Insassen«, wie man seinerzeit zu sagen pegte,
hatten keine Rechte und wurden, ohne sie zu fragen, behandelt. Sie waren,
so schrieb der Soziologe und Historiker Andrew Scull, »ohne Persönlichkeits-
43
rechte und unter der Annahme, dass ihr urteilsunfähiger psychischer Zustand
keine Entscheidungen zuließ und als Patienten meistens nicht fähig, denen
zu widersprechen, die ihre gesamte Existenz kontrollierten« (Scull : ).
Teilweise wurden brutale physische Interventionen gegen den Willen der Be-
troenen durchgeführt, von Insulinschocks über operative Eingrie im Ge-
hirn (z. B. Lobotomien) bis hin zu Krampherapien, welche erst später unter
Anästhesie durchgeführt wurden. Die Rechtlosigkeit der Psychiatriepatientin-
nen und -patienten war schließlich auch eine der Voraussetzungen für die Er-
mordung Tausender Menschen mit psychischen, kognitiven und körperlichen
Behinderungen während des Nationalsozialismus in Deutschland.
Damit einhergehende Vorstellungen über Menschen mit psychischen
Problemen dominierten auch in der Nachkriegszeit, sowohl in der früheren
DDR wie in der BRD. Im Jahr resümierte Ehring Lange, einer der sei-
nerzeit führenden Psychiater Ostdeutschlands, die Auassungen, die es noch
in den er-Jahre zu überwinden galt. Man habe kritisch umgehen müssen
»mit der Auassung, daß schizophrene Erkrankungen obligatorisch und ir-
reversibel zum Defekt führen und daß man deren Kerngruppe nicht spezi-
ell-intensiv behandeln solle, mit der Auassung, daß von einer querschnittha
erfaßten Symptomatologie auf eine verbindliche Prognose geschlossen werden
könne – die dann über Wert oder Unwert von erapie und Rehabilitation
vorentscheidet, mit der Auassung, daß Arbeitstherapie ein Mittel zur Aus-
füllung ungenutzter Tageszeit für chronische Anstaltspatienten sei, überüssig
aber bei akut Erkrankten in klinischer Behandlung, mit der Auassung, daß
der psychisch Kranke grundsätzlich unberechenbar, aus der Eigengesetzlich-
keit der Erkrankung heraus selbst- und gemeingefährlich sei und deswegen
im Prinzip der geschlossenen Unterbringung und der Absonderung aus der
Gesellscha bedürfe« (Lange : ).
Solche – aus heutiger Sicht – abstrusen Einschätzungen waren auch in
Westdeutschland verbreitet. Psychisch Kranke würden nahezu immer un-
ter krankhaen Einüssen handeln, daher sei keine »innere Freiheit« gege-
ben und Bewegungseinschränkungen seien unproblematisch, hieß es in den
er-Jahren in einer ärztlichen Stellungnahme zur Einführung von Unterbrin-
gungsgesetzen in den Bundesländern (Bruns : ). Dabei ergab sich auch
eine Diskussion zwischen Fachpersonen aus der Rechtswissenscha und aus
der Psychiatrie. Ärztlicherseits wurde durch den Einbezug von Gerichten bei
44
Unterbringungsverfahren eine Einschränkung der medizinischen erapie-
hoheit und eine Belastung der therapeutischen Beziehung befürchtet (Bruns
: ). In der Folge waren in einzelnen deutschen Bundesländern wie dem
Saarland rechtliche Unterbringungen bis nicht angemessen geregelt.
In der DDR wurden Einweisungen, nicht nur wie in anderen Ländern
durch die Familie, sondern auch auf Drängen örtlicher Funktionärsperso-
nen veranlasst (Coché ). Deshalb hinaus muss von politisch motivierten
Zwangsbehandlungen ausgegangen werden, die zwar nicht so weitverbreitet
waren wie in der Sowjetunion oder in Rumänien, aber durchaus vorkamen
(Erices ).
Viele Anstalten in Ost- und Westeuropa, die sich im Lauf der Zeit als
Kliniken verstanden, nahmen zudem an Medikamentenversuchen teil, bei de-
nen die meisten Patientinnen und Patienten vermutlich allenfalls mündlich
um Zustimmung gebeten wurden – und auch in diesen Fällen ist zumeist von
informellem Zwang auszugehen. Historisch Forschende in der Schweiz ha-
ben diese Vorgehensweisen für viele psychiatrische Kliniken bis weit in die
er-Jahre dokumentiert (Meier et al. ), darunter auch für die Universi-
tätsklinik in Bern (Manser-Egli ). Bei diesen Versuchen mit nicht zugelas-
senen Medikamenten kam es zu zahlreichen Todesfällen, deren Ursache we-
der entsprechend dokumentiert noch gegenüber den Angehörigen oengelegt
wurde. Dass ein fahrlässiger Umgang mit Einwilligungen auch bei ärztlichen
Mitarbeitenden vorkam, ist im Rahmen der LSD-Versuche in der Zürcher Uni-
versitätsklinik Burghölzli bekannt geworden. Dort wurde im Jahre Mitar-
beitenden die Substanz unwissentlich im Kaee zugeführt (Rey ); bei Pati-
entinnen und Patienten, an denen das »Phantastikum«, wie es seinerzeit hieß,
ebenfalls versucht wurde, vermerkt der entsprechende Artikel, dass sie oder
die Angehörigen um Einwilligung gebeten worden waren (Stoll ).
Im Allgemeinen wurde in der institutionenzentrierten Phase der Psy-
chiatrie fast ausschließlich auf Medikation als Behandlung gesetzt. Noch bis
in die er-Jahre wurde beispielsweise eine ausgeprägte antipsychotische
Hochdosistherapie angewendet (Abrahamson ), die für viele Betroene
mit erheblichen gesundheitlichen Problemen verbunden war. Primär wurden
Symptome unterdrückt, wie diese Hochdosistherapie schon impliziert. Psy-
chodynamische und später auch biomedizinische Krankheitsmodelle domi-
nierten das therapeutische Geschehen. Überwachung und Exklusion hatten
45
Priorität vor der Wiedereingliederung, eine wirkliche Rehabilitation fand nicht
statt. Allenfalls wurden die Betroenen in andere Institutionen wie Heime und
Werkstätten vermittelt. Physische und psychische Bedürfnisse wurden nur im
Ansatz befriedigt. In der Ausbildung sowie in der Forschung waren Menschen
mit »psychischen Krankheiten« überwiegend Objekte. Erst ab den er-Jah-
ren in den USA und ab den er-Jahren auch in Europa veränderten sich die
Bedingungen, allerdings sehr langsam, wie ein Bericht über ein Reformprojekt
in einer US-amerikanischen Klinik aus dem Jahr verdeutlicht:
»Wände wurden gestrichen, Bilder und Kalender wurden angebracht
und Patienten wurde ein wenig Privatheit im Schlafraum und im Bad
zugestanden. Allerdings gab es wenig begleitende Veränderung in der
psychologischen Architektur der Stationen. Patienten hatten weiterhin
Angst vor den Mitarbeitern, während Mitarbeiter Angst vor den Patien-
ten hatten; Patienten hielten sich von den Mitarbeitern fern, die omals
sich von den Patienten zurückzogen. Die Mitarbeitenden waren ho-
nungslos bezüglich der Patienten und die Patienten waren honungslos
bezüglich der Mitarbeitenden.« (Hirschowitz : f.)
Die Legitimation von Zwang in der institutionszentrierten Phase erfolgte mit
zwei ineinander verschränkten Argumentationslinien, die wegen ihrer vagen
Kriterien und sehr exiblen Auslegungsmöglichkeiten erst ab den er-Jah-
ren kritisiert wurden (Livermore et al. ). Zuallererst ging es um die Auf-
rechterhaltung der öentlichen Ordnung. Insbesondere zu Beginn wurde auf
den »Geisteszustand« noch wenig abgehoben; die öentliche Ordnung war
weitaus wichtiger. Dies änderte sich mit der Entwicklung der Psychiatrie als
medizinische Disziplin. Neben der Unterstellung der »Gefährlichkeit« psy-
chisch Kranker und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit ihrer Unterbrin-
gung wurde eine aus heutiger Sicht abstruse weitere Begründung geliefert,
die in gewissen Variationen bis in die Gegenwart wirkt: Psychisch kranke
Menschen seien aufgrund ihrer Erkrankung nicht wirklich frei, daher kön-
ne der Freiheitsentzug durch Unterbringung auch nicht als solcher gewertet
werden (Bruns ). Daher verwundert es auch wenig, dass zwangsweise un-
tergebrachten Personen in aller Regel keine Rechte zugesprochen wurden. Sie
mussten ärztlichen Anordnungen folgen, bekamen keine Informationen über
die Ergebnisse medizinischer Untersuchungen und wussten omals nicht,
welche Medikamente sie einzunehmen hatten (Tolchin et al. ).
46
Von der institutionszentrierten zur
personenzentrierten Phase
»Verhandeln statt behandeln«, das war das Motto der deutschen Reformpsy-
chiatrie, die gleichzeitig als Kernaufgabe des personenzentrierten Ansatzes
betrachtet werden kann. Geprägt wurde der Slogan durch den Reformpsy-
chiater Asmus Finzen Anfang der er-Jahre, der deutlich machen wollte,
wodurch sich eine sozialpsychiatrisch geprägte Gemeindepsychiatrie von der
Anstaltspsychiatrie unterscheidet. Es war, wie Finzen später schrieb, die greif-
bare »vielfach erlebte Bevormundung durch die Ärzte«, die sowohl Nutzende
als auch Angehörige zu einer Ablehnung des traditionellen und mit teils erheb-
lichem Zwang und Menschenrechtsverletzungen verbundenen Psychiatriesys-
tems motivierte (Finzen ).
Was genau aber unterschied die Gemeindepsychiatrie von der früheren
Anstaltspsychiatrie? Der österreichische Soziologe Rudolf Forster () be-
schrieb Reformprojekte folgendermaßen: Statt eines rein organischen Krank-
heitskonzepts sollte ein multifaktorielles Modell zur Anwendung kommen,
das auch psychosoziale Komponenten enthielt. Anstelle der Verwahrung solle
soziale Integration das Ziel sein. Nicht nur Ärztinnen und Ärzte sollten über
die Behandlung beraten, sondern ein multiprofessionelles Team. Die rechtli-
che Grundlage der Behandlung sollte die Freiwilligkeit sein. Ihr vorausgehen
sollte eine partnerschaliche Beratung (»auf Augenhöhe«).
Der »personenzentrierte Ansatz« war in den er-Jahren, als die Psy-
chiatrie ihn entdeckte, keinesfalls neu. Die Grundidee wurde von einer der
zentralen Personen der Psychotherapiegeschichte, Carl Rogers, bereits in den
er-Jahren formuliert. Rogers () zufolge hat die Personenzentrierung,
die er Klientinnen- und Klientenzentrierung nannte, drei wesentliche Merk-
male, die eine hilfreiche therapeutische Beziehung prägen:
• Echtheit, das bedeutet beispielsweise den Verzicht auf eine professionelle
Fassade und die Herstellung einer kongruenten Situation, in der sich nie-
mand verstellt;
• eine akzeptierende Haltung, die nicht wertet und dadurch Veränderung auf-
seiten der Klientin oder des Klienten hervorrufen kann;
• empathisches Verstehen, das etwa durch aktives Zuhören erreicht wird.
47
In den er-Jahren prägte der Psychoanalytiker Michael Balint als Gegenent-
wurf zu einer »krankheitszentrierten Medizin« die »patientenzentrierte Me-
dizin« (Balint ). Der zu behandelnde Mensch sollte beispielsweise nicht
mehr nur als ein Mensch mit einem Knochenbruch betrachtet werden, sondern
als ein »einzigartiges menschliches Wesen«, das eine »übergreifende Diagnose«
(»overall diagnosis«) erhalten und entsprechend behandelt werden sollte.
Die patientenzentrierte Medizin wurde später zum zentralen Kriterium
einer guten medizinischen Versorgung. Das US-amerikanische Institute of Me-
dicine hat in seinem Bericht über Qualitätsmängel im Gesundheitswesen die
Patientenzentrierung neben weiteren Merkmalen wie Gerechtigkeit, Sicherheit,
Schnelligkeit, Eektivität und Ezienz zu einem der Hauptziele erklärt (Insti-
tute of Medicine Committee on Quality of Health Care in America ). Pati-
entenzentrierung wiederum hat dem Bericht zufolge diese Eigenschaen:
• Respekt für Werte und Präferenzen der Patientinnen und Patienten,
• Koordination und Integration der Versorgung,
• Information, Kommunikation und Edukation,
• körperliches Wohlbenden,
• emotionale Unterstützung und Einbezug von Angehörigen und naheste-
henden Menschen.
Im Lauf der Zeit sind die genannten Merkmale einer Patienten- oder Personen-
zentrierung zunehmend in Kompetenzen übersetzt worden, die in der Ausbil-
dung ärztlichen, pegerischen oder therapeutischen Personals gelehrt werden.
Zahlreiche Studien sind in diesem Zusammenhang durchgeführt worden, die
zum einen gezeigt haben, dass diese Skills durchaus zu vermitteln sind und
von den Fachpersonen angewendet werden können, die aber zum anderen ge-
zeigt haben, dass die Eekte bei den Nutzenden des Gesundheitswesens doch
nicht so eindeutig zu messen sind, wie etwa einer großen Übersicht aus der
Cochrane-Initiative zu entnehmen ist (Dwamena et al. ).
Eine weitere Entwicklung, die in der »patientenzentrierten Medizin« bei
Balint schon angelegt war, ist, dass nicht mehr von einer »Patientin« oder ei-
nem »Patienten« gesprochen wird, sondern von einer »Person«. Damit sollte
ausgedrückt werden, dass die zu behandelnde Person »ganzheitlich« betrach-
tet werden sollte und nicht auf den Status einer Patientin oder eines Patienten
reduziert werden kann. Personenzentrierte Versorgung, so lautet es in einem
48
der zentralen theoretischen Beiträge, sei die »Antithese zum Reduktionismus«
(Ekman et al. : ). Methodisch gehe es demnach um zwei wichtige As-
pekte, zum einen um die Geschichte, welche die kranke Person zu erzählen
habe, zum anderen um die geteilte Entscheidungsndung (»shared decision-
making«). Letztere rückte im Lauf der letzten Jahre immer stärker in den Mit-
telpunkt der Diskussion um eine personenzentrierte Behandlung. Professio-
nelle, Betroene sowie ihre Angehörigen, so die Idee, sollen gemeinsam zum
Wohle aller entscheiden, welche erapieverfahren anzuwenden sind. Es war
jedoch bereits Rudolf Forster, der konstatierte:
»Die Klu zwischen Anspruch und Ankündigung auf der einen Seite
und den Ergebnissen und Auswirkungen auf der anderen Seite ist bei
vielen Reformprojekten auallend groß.« (Forster : )
Und der Grund dafür war nach Forster oensichtlich:
»Die Psychiatrie ist vor allem zu einer relativ konventionellen medi-
zinischen Disziplin geworden.« (Forster : ; Hervorhebung im
Original)
Zwar habe sich die Psychiatrie in verschiedener Hinsicht gewandelt und viele
Änderungen hervorgebracht, allerdings sei die medizinische Dominanz nicht
grundlegend gebrochen worden, sondern sie habe sich dadurch verfestigt, dass
die Psychiatrie sich der üblichen Medizin immer mehr angeglichen habe.
Die Integration der Psychiatrie in die allgemeine Medizin war jedoch
kein Betriebsunfall der Reformen, sondern erklärte Absicht. Die Gleichstel-
lung psychisch Kranker mit körperlich Kranken war eine Forderung der Psy-
chiatrieenquete, die von der Bundesregierung übernommen wurde (Deut-
scher Bundestag : ). In der Folge wurden in Deutschland zahlreiche
psychiatrische Stationen an Allgemeinkrankenhäusern etabliert. Ziel war es,
die Sonderstellung und Stigmatisierung der psychiatrischen Behandlung über
die Normalisierung in der Medizin zu erreichen. Der Preis war, dass die Me-
dizin Leitwissenscha der Psychiatrie blieb. Das bedeutete beispielsweise eine
deutliche Favorisierung der Pharmakotherapie gegenüber gesprächstherapeu-
tischen Angeboten (Prosser et al. ) und die Nutzung eines Diagnosemo-
dells wie der Internationalen Klassikation der Krankheiten (International
Classication of Diseases, ICD).
Das Bemühen, weniger paternalistisch zu entscheiden und eher den Ver-
such zu unternehmen, zu einem gemeinsamen Vorgehen und gleichberechtig-
49
ten Entscheidungen zu gelangen, war nun immerhin Konsens. Im Grundsatz
ähnelten sich die Konzepte im deutschsprachigen wie im englischsprachigen
Raum. Gefordert wurde »die konsequente Orientierung am individuellen Hil-
febedarf des psychisch kranken Menschen« (Aktion Psychisch Kranke :
). Personenzentrierung bedeutete in der Frühzeit dieses Ansatzes, die Nut-
zenden zu fragen, welchen Hilfebedarf sie haben und diesen im Rahmen ei-
nes koordinierten Hilfesystems unter Einbezug gemeindebezogener Dienste
zu decken. Man beachte, dass hier noch die Rede von »Hilfebedarf« und nicht
von »Bedürfnissen« ist, geschweige denn von »Präferenzen«. Der Hilfebedarf
sollte nach vorgegebenen medizinischen und/oder sozialrechtlichen Indikato-
ren erfasst und anschließend in Leistungen umdeniert werden. In Deutsch-
land wurde zu diesem Zweck der Integrierte Behandlungs- und Rehabilita-
tionsplan (IBRP) entwickelt und die »Bedarfsorientierung« als Gegenmodell
zur früheren »Angebotsorientierung« beschrieben.
Andere Konzepte sahen eine »Personenzentrierte Integrative Diagno-
se« (»Person-centered Integrative Diagnosis«; PID) vor (Mezzich & Salloum
). Die PID erfasste: positive und negative Gesundheitsaspekte im Lebens-
kontext der betroenen Person, soziale Funktionen, protektive Faktoren, Le-
bensqualität sowie Angaben zu Würde, Werten und Motivationen. Dies alles
sollte weiter im Rahmen konventioneller Klassikationssysteme wie der ICD
geschehen.
Erst im Lauf der er-Jahre wurde mit der zunehmenden Rezeption
des angelsächsischen Recoveryansatzes die Perspektive der Nutzenden im
deutschsprachigen Raum stärker berücksichtigt. Allerdings war und ist es bis
heute nicht klar, wie sich Personenzentrierung und Recoveryansatz verbinden
lassen. Einige meinen, die Personenzentrierung diene dazu, Nutzende im Sinne
von Recovery dabei zu unterstützen, ein sinnvolles Leben zu führen (Martinel-
li& Ruggeri ). Andere erwarten von der Personenzentrierung zusammen
mit dem Recoveryansatz und dem im ersten Kapitel schon angesprochenen
Menschenrechtsansatz eine konzeptionelle Erneuerung der psychiatrischen
Versorgung (Rosen et al. ). Dritte wiederum sehen in der Personenzen-
trierung einen kulturell angereicherten, beziehungs- und recoveryorientierten
Ansatz (Gabrielsson et al. ).
Je nach Perspektive sind die Unterschiede nicht trivial. Der Recovery-
ansatz wurde von Betroenen und Nutzenden entwickelt. In der Folge rückten
50
nichtmedizinische Aspekte in den Fokus. Wenn das Ziel nicht mehr die Besei-
tigung von Symptomen ist, sondern ein sinnvolles Leben zu führen, relativiert
sich die Bedeutung psychiatrischer erapieverfahren, insbesondere die der
Pharmakotherapie. Auch werden aus Recoveryperspektive Unterstützungsver-
fahren favorisiert, die nicht als evidenzbasiert betrachtet werden, wie beispiels-
weise das Open-Dialogue-Verfahren. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen,
dass der Recoveryansatz Unterstützungsmaßnahmen fordert, die nicht nur
personenzentriert, sondern »durch die Nutzenden gesteuert sind« (»consu-
mer-driven«; Schmolke et al. : ). Und an diesem Punkt entzünden sich
dann wieder die oben genannten Kontroversen um die Autonomie von Psy-
chiatriepatientinnen und -patienten.
Die Legitimation von Zwang
in der personenzentrierten Phase
Es gehört zur Ambivalenz des Konzepts der Personenzentrierung, dass sowohl
Recoveryorientierung als auch paternalistisches Verhalten damit einhergehen
können. Unter dem Stichwort Adhärenz wird Personenorientierung immer
noch als erapietreue gegenüber den ärztlichen (Medikamenten-)Verord-
nungen verstanden (Pyne et al. ). Sogar Zwangsmaßnahmen werden als
potenziell personenzentriert diskutiert (Rudnick ). Dass damit die Vorstel-
lung gemeinsamer Entscheidungen »auf Augenhöhe« verlassen wird, irritiert
vor allem nichtmedizinische Fachleute. In der konventionellen Medizinethik
ist es durchaus üblich, »zum Wohl der betroenen Person« zu entscheiden.
Dies ist auch insofern verständlich, als viele der ethisch zu diskutierenden Si-
tuationen in der Akutsomatik davon ausgehen, dass die betroenen Personen
ohne Bewusstsein sind und ärztlichen Notfallmaßnahmen zustimmen würden.
Juristisch wird dies als »natürlicher Wille« konzipiert (Nossek et al. ).
Dies ist in psychiatrischen Settings insofern anders, als die betroenen
Menschen in aller Regel nicht bewusstlos sind. Historisch gesehen wurden ihre
Ansichten allerdings ähnlich gewertet. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts
wurde kaum hinterfragt, ob Zwangsmaßnahmen dem Wohle der Person die-
nen können, zumal es so gut wie keine empirische Forschung dazu gab. Erst
ab der Mitte der er-Jahre gewann die ethische und fachliche Diskussion
51
deutlich an Bedeutung (Lidz ). Nun wurde gefragt, unter welchen Bedin-
gungen es ethisch zu legitimieren sein könne, Menschen gegen ihren Willen
psychiatrisch zu behandeln. Reicht es aus, einen medizinischen Bedarf festzu-
stellen, oder muss die Erkrankung mit einem Risiko für sich selbst einhergehen,
und wie sieht es mit Risiken für andere Personen aus? Und weiter: Welche Art
der erapie darf angewendet werden? Ist etwa auch eine Elektrokramphe-
rapie gegen den Willen erlaubt, wie es über Jahrzehnte hinweg durchaus Usus
war? All diese Dinge, die zuvor mehr oder minder unhinterfragt praktiziert
wurden, wurden nunmehr ethisch und empirisch untersucht (Tannsjo ).
In der Folge wurden in vielen Ländern ethisch-praktische Leitlinien für den
Umgang mit selbst- oder fremdverletzendem Verhalten in psychiatrischen Set-
tings entwickelt. Es gab sogar Versuche, diese im europäischen Rahmen zu
harmonisieren (Kallert et al. ).
Dieser fachlichen und ethischen Debatte ging eine juristische Diskus-
sion voraus. Sowohl nationale als auch internationale Gerichte befassten sich
seit den er-Jahren zunehmend mit der Frage, ob Zwang in psychiatrischen
Einrichtungen unter gewissen Umständen legitimiert sei. Gemäß einer Umfra-
ge in vierzig europäischen Staaten ist psychiatrischer Zwang gegenwärtig bei
Vorliegen einer psychischen Erkrankung oder eines ungesunden Geists (engl.
»unsound mind«) sowie eines Risikos für die eigene Gesundheit oder die
Gesundheit anderer möglich (Wasserman et al. ). In einzelnen Ländern
können allein die von ärztlichen Fachpersonen festgestellte Notwendigkeit zur
Behandlung sowie eine erheblich eingeschränkte Urteilsfähigkeit Zwangsmaß-
nahmen rechtfertigen (Bartlett ). Darüber hinaus wird allgemein gefor-
dert, dass es sich bei der Maßnahme um eine therapeutisch eektive Interven-
tion handeln sollte, die nur als letztes Mittel (engl. »last resort«) und nur mit
so wenigen Einschränkungen wie möglich (engl. »least restrictive alternative«)
zur Anwendung kommt. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass die Maß-
nahme im Interesse resp. zum Wohl der betroenen Person ist.
Der Deutsche Ethikrat () hat sich in einer umfangreichen Stellung-
nahme mit diesen Argumenten auseinandergesetzt. Die Stellungnahme um-
fasst nicht nur psychiatrische Zwangsmaßnahmen im engeren Sinne, sondern
nimmt auch Freiheitseinschränkungen bei älteren Menschen und bei Kindern
und Jugendlichen in den Blick. Der Ethikrat hält viele der in der Psychiatrie
und anderen Bereichen des Gesundheitswesens angewendeten Maßnahmen
52
für ethisch problematisch, lehnt aber einen generellen Verzicht auf Zwang in
»professionellen Sorgebeziehungen« ab, wie ein Mitglied des Ethikrates be-
gründete:
»Eine Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen kommt nach Ansicht
des Ethikrats nur dann in Betracht, wenn die Person zwar Wünsche
und Bedürfnisse nach Handlungen oder die Verweigerung von Hand-
lungen äußert, durch die sie sich schwer zu schädigen droht, aber nicht
zu freiverantwortlichen Entscheidungen in der Lage ist. Eine generelle
Ablehnung jeder Form von Zwangsmaßnahmen würde nämlich dazu
führen, viele vulnerable Personen ihrem Schicksal überlassen zu müs-
sen. Das kommt für den Deutschen Ethikrat nicht in Frage.« (Grau-
mann : )
Interessant an der Stellungnahme des Ethikrates ist, dass dieser sich ausschließ-
lich mit der Frage beschäigt hat, ob Zwang zum Schutz der Gesundheit der
betroenen Person selbst erlaubt ist. Gefahren für andere Personen sind aus-
drücklich nicht betrachtet worden, wobei unklar ist, warum. Eine denkbare
Begründung wäre, dass bei Fremdgefährdung nicht notwendigerweise eine
medizinische Intervention notwendig ist, sondern auch polizeiliche oder justi-
zielle Aktivitäten möglich sind. Da aber keine Begründung gegeben wurde, ist
das Denkbare hier nur Spekulation.
Mit seiner Stellungnahme bewegt sich der Deutsche Ethikrat im Rah-
men der international üblichen Argumentation zur Rechtfertigung von Zwang
in der Psychiatrie wie eine systematische Analyse unlängst ergeben hat (Chieze
et al. ). Die verwendeten Argumente sind stets die gleichen:
• Zwar werden Autonomie und Integrität durch Zwangsmaßnahmen be-
droht, sie können jedoch auch durch eine solche Maßnahme wiederherge-
stellt werden. Gleiches gelte für die Menschenwürde.
• Zwang könne zum Wohl der betroenen Person erfolgen (Benevolenz) und
diene dem Vermeiden von Schaden (Non-Malezienz).
• Zwang könne insofern fair sein, als individuelle und soziale Belange abge-
wogen werden.
• Zwang könne der Sicherheit anderer und auch der eigenen Person dienen
und damit auch dem Wohl eines größeren Ganzen.
53
In der Praxis spielen diese Argumente natürlich auch eine Rolle. Wenn Zwangs-
maßnahmen in der Psychiatrie ergrien werden, werden stets die Notwen-
digkeit und o auch das am Ende positive Ergebnis hervorgehoben. Da rüber
hinaus wird omals argumentiert, dass die Maßnahme gegen den Willen der
Person auch therapeutische Eekte habe, etwa »Krankheitseinsicht« sowie
Compliance mit der Behandlung im Allgemeinen zu fördern und damit auch
den Recoveryprozess (Paradis-Gagné et al. ). Außerdem diene der Ein-
satz von Zwangsmaßnahmen der Wiederherstellung der sozialen Ordnung.
Allerdings ist man sich in der Praxis durchaus bewusst, dass Zwangsmaßnah-
men die therapeutische Beziehung gefährden (Gerace & Muir-Cochrane ;
eodoridou et al. ). Diese negativen Konsequenzen, die in der Versor-
gungspraxis auch reektiert werden, zeugen von einer Ambivalenz im Um-
gang mit Zwangsmaßnahmen. Gleichwohl werden in der Praxis die Argumen-
te der Notwendigkeit und des letztendlichen Nutzens zum Wohle der Person
höher gewichtet (Morandi et al. ).
In der Forschungsliteratur zu dieser ematik wird auf einen erhebli-
chen gesellschalichen Wandel aufmerksam gemacht, der sich in der Versor-
gungspraxis niedergeschlagen hat. Sowohl in der allgemeinen psychiatrischen
Versorgung wie auch und gerade in der Forensik wird in vielen Ländern der
westlichen Welt Sicherheitsaspekten zunehmend mehr Bedeutung zugeschrie-
ben. Risikoabschätzung und Risikovermeidung dominieren die therapeuti-
schen Ziele (Doedens et al. ; Oosterhuis & Loughnan ). Insofern ver-
wundert es nur wenig, wenn Sicherheitsaspekte bis heute eine starke Rolle in
der Legitimation von Zwang in der Psychiatrie spielen.
Wenn man die zahlreichen länderspezischen Ausprägungen im Um-
gang mit psychiatrischem Zwang (Wasserman et al. ) einmal außer Acht
lässt, so ergibt sich folgender schematischer Ablauf für die Legitimation von
Zwang in psychiatrischen Kontexten (Abbildung ).
Ethische Begründung von Zwangsmaßnahmen
Psychische Störung
bzw. Krankheit
Risiko oder
Schaden Zwangsmaßnahme Wohl der
betroenen Person
54
Wenn eine psychische Störung vorliegt und eine eingeschränkte Ur-
teilsfähigkeit vermutet wird sowie ein Schaden für die betroene Person oder
andere bereits eingetreten ist oder doch erwartet wird, dann kann als letztes
Mittel eine Zwangsmaßnahme eingesetzt werden – vorausgesetzt, die Zwangs-
maßnahme schränkt die Freiheitsrechte der Person nicht mehr ein als zu die-
sem Zwecke nötig ist. Am Ende liegt die Zwangsmaßnahme – so die Annah-
me – im Interesse der betroenen Person, welche diese im gesunden Zustand
auch gutheißen würde. Mit der Zwangsmaßnahme soll – so wird weiterhin
angenommen – die Autonomie der betroenen Person wiederhergestellt wer-
den, die durch die psychische Störung erheblich beeinträchtigt ist. Dies alles
setzt voraus, dass die mit Zwang verbundene erapie wirksam ist und die
erwünschten Ergebnisse hervorbringt.
Schlussfolgerung: Die Legitimation von
Zwang in der Psychiatrie –
das klinisch-ethisch-juristische Patt
Die Legitimation von Zwang in der Psychiatrie hat sich in den letzten Jahr-
hunderten erheblich gewandelt. Stand vormals das Wegschließen vermeintlich
gefährlicher Menschen im Vordergrund, haben therapeutische Interventionen
in Form von Medikamenten aber auch von Gesprächen im Lauf des . Jahr-
hunderts deutlich an Bedeutung gewonnen. Es wurde zunehmend auf die in-
dividuellen Merkmale und Hintergründe eingegangen, allerdings nur bedingt
auf die Bedürfnisse und Wünsche der betroenen Personen; Maßnahmen
gegen ihren Willen wurden anders begründet, aber sie wurden nicht ausge-
schlossen.
Möglicherweise hat die Medikalisierung und Psychologisierung genau
dies bewirkt. Indem die einzelne Person in den Fokus rückte, wurden auch die
Risiken sichtbarer, welche von der Person ausgehen könnten. Ähnliches gilt
auch für die ethische Diskussion generell, diese hat sich in eine Sackgasse ma-
növriert. Man kann mit den gleichen ethischen Argumenten – Menschenwür-
de und Wohl der Person – sowohl für die Abschaung von Zwang als auch für
die Beibehaltung plädieren. Selbst klinische Argumente können sowohl für die
Beibehaltung wie für die Abschaung von Zwang beigebracht werden. Wäh-
55
rend die eine Seite legitimerweise behaupten kann, dass psychische Probleme
die Urteilsfähigkeit beeinträchtigen können, kann die andere Seite ebenso legi-
timerweise darauf hinweisen, dass der paternalistische Umgang, der mit Zwang
einhergeht, nicht zur Stärkung von Recovery führt. Auf einer politisch-insti-
tutionellen Ebene wurde diese Sackgasse bereits als das Genfer Patt beschrie-
ben (Martin & Gurbai ). Damit ist gemeint, dass innerhalb der Vereinten
Nationen und der Weltgesundheitsorganisation WHO sowohl Konventionen
zu nden sind, die Zwang legitimieren, als auch solche, die Maßnahmen gegen
den Willen einer Person abzuschaen versuchen. Das heißt, selbst auf der Ebe-
ne der Menschenrechte sind beide Seiten mit guten Argumenten ausgestattet.
Insofern helfen ethische, juristische, menschenrechtliche, aber auch klinische
Argumente am Ende nicht wirklich weiter.
Es bleibt zu schauen, welche Studien und Daten vorliegen, um beispiels-
weise die Frage zu beantworten, ob der Zwang tatsächlich zum Wohle der be-
troenen Person ist, ob also letztlich mit Zwang verbundene erapie wirksam
sind. Diese empirischen Fragen sollen im nachfolgenden Kapitel beantwortet
werden.
56
Psychiatrischer Zwang:
ethische Bedingungen und
empirische Daten
Die moderne Gesellscha kennt verschiedene Formen von Zwang. Dies reicht
von der Androhung von Bußgeldern bei Verkehrsdelikten bis hin zum Aufge-
bot eines Sondereinsatzkommandos der Polizei bei Geiselnahmen. Psychiatri-
scher Zwang ist eine Variante des allgemeinen gesellschalichen Zwangs, wie
er von Ordnungsbehörden angewendet werden kann. Da der psychiatrische
Zwang formal im Rahmen der medizinischen Versorgung stattndet, braucht
es hier eine besondere Legitimation, wie im vorherigen Kapitel beschrieben.
Eines der wichtigsten ethisch-rechtlichen Argumente für die Rechtfertigung
von Zwang in der Medizin im Allgemeinen und in der Psychiatrie im Beson-
deren ist, dass die Maßnahme letztendlich dem Wohle der betroenen Person
dienen muss. Die betroene Person sollte – so auch das bereits erwähnte Kri-
terium des Deutschen Ethikrats – im Nachhinein nachvollziehen können, dass
die Maßnahme gerechtfertigt war, weil das Unterbleiben der Maßnahme zu
gesundheitlichen Schäden geführt hätte (Deutscher Ethikrat ). Die Maß-
nahme und auch die gesamte Behandlung müssen also wirksam sein. Zudem
sollten Zwangsmaßnahmen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn alle
anderen Optionen ausgeschöp sind, und es sollten möglichst wenige Frei-
heitsrechte eingeschränkt werden. Außerdem wird angenommen, dass durch
die Zwangsmaßnahme die Autonomie der Person wiederhergestellt wird. Aber
ist das wirklich der Fall? Was sagt die empirische Forschung zu den ethischen
Bedingungen? Folgende Bedingungen für die Anwendung psychiatrischen
Zwangs sollen also nachfolgend betrachtet werden:
. Zwang erfolgt zum Wohle der betroenen Person.
. Es wird die am wenigsten einschränkende Maßnahme gewählt und nur als
letztes Mittel ergrien.
. Psychiatrische erapien sind wirksam.
. Durch die Zwangsmaßnahme wird die Autonomie der betroenen Person
wiederhergestellt.
57
Eine weitere fundamentale Bedingung ist das Vorliegen einer psychischen Er-
krankung. Diese ematik wird, da sie sehr komplex und facettenreich ist, im
nachfolgenden Kapitel umfassend abgehandelt.
Bedingung : Erfolgt der Zwang zum Wohle
der betroffenen Person?
Sind von Zwangsmaßnahmen betroene Personen im Nachhinein einverstan-
den mit dem, was ihnen geschehen ist? Hil ihnen der Aufenthalt oder gar
die Behandlung gegen ihren Willen in gesundheitlicher Hinsicht? Und was ist
mit Menschen, denen mit Hinweis auf ihre psychische Störung der Zugang
zum ersten Arbeitsmarkt oder zur eigenen Wohnung verwehrt wird? Dienen
geschützte Arbeitsplätze und betreute Wohngemeinschaen wirklich ihrem
Wohl?
Bevor diese Fragen im Detail beantwortet werden können, ist zu klä-
ren, aus welcher Perspektive das Wohl der Person zu betrachten ist. Aus einer
ethisch-rechtlichen Perspektive, so wurde schon verschiedentlich festgestellt,
zählt allein die Sicht der betroenen Person. In der Praxis, auch in der For-
schung wird dies jedoch nicht immer so gesehen. Eine systematische Über-
sicht über Zwang im Rahmen von Essstörungen beispielsweise kommt zu dem
Schluss, dass Zwangsernährung zu rechtfertigen sei, da sich der Body-Mass-In-
dex der betroenen Personen ähnlich wie der freiwillig behandelter Personen
verbessern würde (Atti et al. ). Diese Sichtweise ist auch paradigmatisch
für die forensische Psychiatrie. Dort wird das kriminelle Rückfallrisiko als ein
Hauptparameter der Behandlungsergebnisse angesehen (Hachtel et al. ).
Obwohl dies vermutlich auch von einem Teil der betroenen Personen so gese-
hen wird, bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob dies für die Mehrheit gilt.
Es gibt zahlreiche Studien, die sich vor allem mit den Auswirkungen di-
rekten Zwangs befassen, mittlerweile existieren sogar diverse systematische Li-
teraturübersichten. Unter Letzteren hat sich ein Review explizit mit ethischen
Problemen und ihren Folgen befasst. Wie bereits erwähnt, wird das Wohl der
betroenen Person als »wichtigste Rechtfertigung von Zwang« (Hem et al.
: ) betrachtet. So wird beispielsweise davon ausgegangen, dass eine an-
tipsychotische Medikation gegen den Willen der Person besser sei als gar kei-
58
ne Medikation. Jedoch, so heißt es in dieser Übersicht zum Schluss, »obwohl
Benezienz die Rechtfertigung sein mag, kann das im Endeekt nicht der Fall
sein.« (Hem et al. : ) In dieser ethisch motivierten Studie wird denn
auch hervorgehoben, wie sehr der Zwang die therapeutische Beziehung zwi-
schen Professionellen und Betroenen beeinträchtigt und wie viel Misstrauen
aufseiten der Betroenen entsteht.
Eine qualitative Metasynthese hat die Erfahrungen von Menschen un-
tersucht, die zunächst gegen ihren Willen stationär eingewiesen wurden und
dann dort weitere Zwangsmaßnahmen wie Isolation und Fixation erleben
mussten. Die Autoren kommen zu folgenden Schlussfolgerungen:
»Patientinnen und Patienten berichteten in verschiedenen Studien, dass
ihre unfreiwillige Aufnahme ihnen Sicherheit gegeben hat in einer Zeit,
als sie die Schwere der Krankheit nicht erkannten; aber negative Erleb-
nisse wurden auch regelmäßig beschrieben. (...) Zusätzlich ergab diese
Übersicht, dass körperliche Interventionen wie Fixation und Isolation
als besonders negativ von vielen Patientinnen und Patienten erlebt wur-
den und dies spielte eine wichtige Rolle in den negativen Befunden in
der Mehrheit der Studien. Diese Übersicht ergab zudem die langandau-
ernden Auswirkungen der Unterbringung, indem viele Patientinnen
und Patienten über verschiedene Studien hinweg Gefühle wie Scham
und Marginalisierung berichteten, dies insbesondere von Patientinnen
und Patienten in forensischen Settings, die eine Straat begangen hat-
ten.« (Akther et al. : )
Eine weitere systematische Übersicht hat analysiert, welche Folgen Fixierung
und Isolation für die betroenen Menschen haben (Chieze et al. ). Da die-
se Analyse nach meiner Einschätzung die umfassendste ist, sei hieraus eben-
falls länger zitiert:
»Die identizierte Literatur legt im hohen Maße nahe, dass Isolation
und Fixation schädliche physische und psychologische Konsequenzen
haben. Die Inzidenz posttraumatischer Belastungsstörungen nach
Isolation und Fixation beträgt zwischen und , was nicht zu
vernachlässigen ist. (...) Die subjektive Wahrnehmung hat eine erheb-
liche interindividuelle Variabilität und kann positiv sein mit Gefühlen
von Sicherheit, Hilfe, klinischer Verbesserung und der Einschätzung
der Notwendigkeit. Allerdings sind Isolation und Fixation in der Regel
59
mit negativen Emotionen assoziiert, insbesondere mit Gefühlen von
Bestrafung und Belastung. Schlussfolgerungen über protektive oder
therapeutische Eekte von Isolation und Fixation sind schwieriger zu
ziehen. Unsere Ergebnisse geben nur wenige Hinweise für diese Out-
comes, aber mehr Forschung ist hier sicher notwendig.« (Chieze et al.
: ; Zitationen hier nicht wiedergegeben)
Es gibt eine weitere Übersichtsarbeit, die sich mit dem Erleben von Menschen,
die Zwangsmaßnahmen erfahren mussten, auseinandersetzt (Aguilera-Serra-
no et al. ). Diese Autoren kommen zu einem ähnlichen Schluss: Es seien
überwiegend negative Erfahrungen mit Zwangsmaßnahmen verbunden und
dies unabhängig von der Art der Maßnahme. Im Einzelnen werden folgende
Erfahrungen beschrieben: Angst und posttraumatische Belastungen; Machtlo-
sigkeit, Vernachlässigung, Misstrauen und Einsamkeit; Bestrafung, Misshand-
lung und Schmerz; Ärger, Wut und Verbitterung; Depression, Ohnmacht und
Trauer; Erniedrigung und Scham; Freiheitsverlust und Zwang. Allerdings, so
die Studie, werden in einigen wenigen Originalarbeiten auch positive Erfah-
rungen wie Hilfe, Notwendigkeit, Beruhigung, Zeit zum Nachdenken, Sicher-
heit, Kontrolle sowie die Prävention von Gewalt berichtet. Ferner sollte nicht
außer Acht gelassen werden, dass körperliche Zwangsmaßnahmen nicht nur
psychische Folgen haben, sondern dass es auch – wenngleich selten – zu kör-
perlichen Schäden und sogar Todesfällen kommen kann (Kersting et al. ;
Steinberg ). Letztere kommen zumeist durch Herzstillstände sowie Lun-
gen- und romboembolien zustande.
Die überwiegend negativen Erlebnisse gelten im Übrigen nicht nur für
die Akutpsychiatrie, sondern auch und insbesondere für forensische Einrich-
tungen. Die zusammenfassenden Resultate einer entsprechenden Übersichts-
arbeit seien hier ebenfalls zitiert:
»In der verfügbaren Literatur wurden die restriktiven Praktiken mit
schädlichen Folgen für die Nutzenden assoziiert, darunter Gefühle wie
Ärger, Aggression und Angst genauso wie das Erleben von Trauma,
Desorientierung und Erleben von Vernachlässigung und Missbrauch.
(...) [R]estriktive Praktiken können Teil eines »Teufelskreises« werden,
in dem die psychologische Instabilität und der Stress, die sie hervor-
bringen zu mehr Risiko-Verhalten führen, die wiederum in restriktive
Praktiken münden.« (Lawrence et al. : )
60
Dies korrespondiert mit einer anderen Übersichtsarbeit zum forensischen Set-
ting, in dem viele Betroene eine Kultur der »Repression« beklagen (Tomlin
et al. ). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Konzepte wie Re-
covery es in der Forensik relativ schwer haben (Bredenoort et al. ). Die
dort herrschenden Regeln und Normen, die Dauer der Unterbringung sowie
nicht zuletzt auch die Einstellungen der Mitarbeitenden stehen oenbar der
Entwicklung einer individuellen Honungsperspektive omals entgegen.
Andere Übersichtsarbeiten zu einzelnen Aspekten des Zwangserlebens
weisen überwiegend in die gleiche Richtung (Cusack et al. ; Modini et al.
; Muir-Cochrane & Oster ; Sugiura et al. ; Tingle et al. ).
Mehrheitlich wird der psychiatrische Zwang von den betroenen Personen
nicht als wohltätig erlebt. Es gibt jedoch oenbar eine Minderheit, welche
Zwangsmaßnahmen im Nachhinein als positiv bewerten, und es gibt oenbar
bestimmte Situationen, in denen Menschen eine Unterbringung als Form von
Sicherheit erleben.
Diese Resultate betreen den unmittelbaren und letztlich körperlichen
Zwang. Doch bei informellem Zwang ist es ähnlich. Hinzu kommt ein Gefühl
von Minderwertigkeit, wenn den Betroenen weniger Rechte und auch weni-
ger Wahlfreiheit als anderen Menschen eingeräumt werden (Allison & Flem-
ming ).
Leider existieren keine Studien zu dem Erleben der Menschen, die mit
dem Hinweis auf ihre psychische Störung nicht bei der Suche nach einem
Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt oder einer eigenen Wohnung un-
terstützt werden. Dies liegt vermutlich daran, dass das Vorenthalten solcher
Lebensperspektiven bis jetzt nicht als Zwang klassiziert wird. Es ist jedoch
bekannt, welche Folgen es hat, wenn Menschen mit psychosozialen Problemen
nicht im ersten Arbeitsmarkt beschäigt werden und in Heimsettings oder
Gruppensettings leben müssen.
Die Idee, Menschen mit psychosozialen Problemen seien nicht so belast-
bar und sollten langsam an Herausforderungen herangeführt werden, stammt
aus den Anfängen der psychiatrischen Rehabilitation. Hinter dem sogenann-
ten »Stufenleiterprinzip« (Richter et al. ) oder »linearem Kontinuum«
(Ridgway & Zipple ) steckt die Erwartung, dass ein Weg von der Werk-
statt über eine Sozial- oder Zuverdienstrma in den allgemeinen Arbeitsmarkt
führt oder von einem Heimsetting über eine betreute Wohngemeinscha in
61
die eigene Wohnung. Doch anders als in der somatischen Medizin funktio-
niert dieses Stufenleiterprinzip im psychiatrischen Kontext nicht. Wie empi-
rische Studien gezeigt haben, erreichen nur bis Prozent der Menschen
mit psychosozialen Problemen über die Stufenleiter ihre Ziele (Killaspy et al.
; Richter & Homann a). Demgegenüber ist die Erfolgsquote bei
dem Prinzip der »Unterstützten Inklusion«, also dem direkten Zugang zum
Arbeitsmarkt und zur eigenen Wohnung deutlich besser (Adamus et al. ;
Dehn et al. ; Mötteli et al. ; Richter & Homann a; Suijkerbuijk
et al. ).
Für viele Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen kön-
nen, hat dies zur Konsequenz, dass sie an oder unter der Armutsgrenze leben
müssen. Dies ist in der Schweiz bei knapp der Häle der Menschen mit aus-
geprägten psychosozialen Problemen der Fall (Richter & Homann b).
Möglicherweise hat der soziale Ausschluss über Armut in den letzten Jahr-
zehnten sogar zugenommen, wie eine belgische Studie unlängst nahelegte
(Smith et al. ). Bei Menschen, die nicht in der eigenen Wohnung leben
können, sind diese »objektiven« Nachteile nicht sichtbar. Allerdings ist die
Präferenz gegen ein Heim- oder WG-Setting so ausgeprägt, dass wir in einem
Forschungsprojekt, an dem ich beteiligt war, die Studie quasi abbrechen muss-
ten, da sich kaum jemand bereitfand, über eine längere Zeit freiwillig in einem
solchen Setting zu leben (Mötteli et al. ). Aus Umfragen unter Menschen
mit ausgeprägten psychosozialen Problemen ist bekannt, dass mehr als Pro-
zent der Befragten sich für die eigene Wohnung entscheiden würden (Richter
& Homann ). Das heißt zusammengefasst, auch der soziale Zwang dient
nicht Wohl der betroenen Person. Die Nachteile der sozialen Exklusion in
den Bereichen Arbeit und Wohnen sind oensichtlich.
Bedingung : Wird die am wenigsten
einschränkende Maßnahme gewählt und nur als
letztes Mittel ergriffen?
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie sollen möglichst vermieden werden.
Falls sie angewendet werden, müssen vorher andere Optionen geprü und
verworfen worden sein. Aber ist das tatsächlich der Fall?
62
Um diese Fragen zu beantworten, kann nur zum Teil auf systematische
Übersichten zurückgegrien werden. Es muss zunächst einmal geschaut wer-
den, welche alternativen Mittel in der psychiatrischen Versorgung zur Verfü-
gung stehen.
Zwangsmaßnahmen entstehen in der Regel entweder als Reaktion auf
eine eskalierende Situation außerhalb des stationären Settings oder aber als
Reaktion auf einen meist aggressiven Konikt in der Klinik. Schauen wir zu-
nächst einmal auf die Situationen in der Klinik.
In den meisten psychiatrischen Einrichtungen im deutschsprachigen
Raum, aber auch generell in der westlichen Welt, haben Mitarbeitende mitt-
lerweile gelernt, wie sie Zwangsmaßnahmen reduzieren können. Diese Maß-
nahmen reichen von Deeskalationstrainings bis hin zu verbesserten individu-
alisierten erapie- und Pegeplanungen. Systematische Übersichten haben
festgestellt, dass diese Maßnahmen in der Tendenz positiv wirken, aber längst
nicht alle Ziele erreichen (Väkiparta et al. ). Dies gilt etwa auch für das
derzeit bekannteste Programm, »Safewards«. Safewards zielt auf die Reduktion
von Konikten in stationären Einrichtungen und damit indirekt auch auf die
Reduktion von Restriktionen und Zwangsmaßnahmen ab. Zwei unlängst pu-
blizierte Übersichten haben eine Tendenz zur Reduktion dieser Maßnahmen
festgestellt, jedoch war dies nicht in allen eingeschlossenen Studien der Fall
(Finch et al. ; Mullen et al. ). Das heißt, es ist möglich, Interventionen
wie Fixation oder Isolierung zu vermeiden, die Frage ist jedoch, wie gut dies
in der alltäglichen Praxis funktioniert. Wir wissen, Studien sind das eine, die
Routinepraxis ist das andere. Omals kommt es zu sogenannten Auswasch-
eekten. Das bedeutet, Intervention werden mit einem gewissen Aufwand
eingeführt und auch umgesetzt, doch mit der Zeit lassen die Aufmerksamkeit
und die Interventionstreue nach. Übersichtsarbeiten (Lincoln et al. ) und
Einzelstudien (Heumann et al. ; Heumann et al. ) legen nahe, dass im
Nachgang der Implementation neuer Interventionen tatsächlich noch erhebli-
cher Verbesserungsbedarf besteht.
Viele Betroene nehmen primär wahr, dass psychiatrisch Tätige le-
diglich über die Medikation und über Androhungen von Konsequenzen die
formale Zwangsmaßnahme zu verhindern versuchen. Dies ist aus Sicht der
Betroenen jedoch nicht sonderlich hilfreich. Vielmehr wünschen sie sich ein
Gespräch und das Erfragen aktueller Bedürfnisse.
63
Mitarbeitende sind in der Regel überzeugt, das letzte Mittel eingesetzt
zu haben (Riahi et al. ). Allerdings denken sie dabei nicht ausschließlich
an die unmittelbar betroene Person. Zwangsmaßnahmen werden nach ih-
rer Einschätzung auch eingesetzt, um Sicherheit und Ordnung in der jewei-
ligen Abteilung wiederherzustellen (Doedens et al. ; Paradis-Gagné et al.
).
Eine weitere und bis heute nicht hinreichend angewendete Möglichkeit,
Zwangsmaßahmen zu vermeiden, ist die Önung geschlossener Stationen.
Geschlossene Stationstüren sollen Menschen daran hindern, die Abteilung
oder die Klinik zu verlassen, damit sie keine selbst- oder fremdgefährdenden
Handlungen unternehmen können. Seit Jahrzehnten ist jedoch bekannt, dass
geschlossene Türen selbst zu aggressiven Konikten auf psychiatrischen Statio-
nen führen (Nijman et al. ). Zum ema Türönungen existieren keine
qualitativ hochwertigen Übersichten, jedoch sind gerade aus dem deutsch-
sprachigen Raum sowohl langjährig angelegte retrospektive Beobachtungs-
studien (Huber et al. ) wie auch prospektive quasiexperimentelle Studien
bekannt (Schreiber et al. ). Diese Studien legen nahe, dass eine Türönung
weder mit einem erhöhten Suizidrisiko noch mit anderen unerwünschten Er-
eignissen verbunden ist.
Es wäre zudem viel gewonnen, wenn schon das Risiko der stationären
Aufnahme im Vorfeld reduziert werden könnte. Die Intervention der Wahl
ist hier das sogenannte »Home Treatment«, das im deutschen Sozialrecht als
»Stationsäquivalente Behandlung« umschrieben wird und in der britischen
Versorgung als »Crisis Resolution Team« bekannt ist (Wheeler et al. ).
Home Treatment ist in vielen Ländern eingeführt worden, allerdings mit gro-
ßen Unterschieden und auch mit unterschiedlichen Erfolgen (Holgersen et al.
). Es gelingt den meisten Home-Treatment-Programmen zwar – wie in
der Schweiz (Stulz et al. ) und in den Niederlanden (Cornelis et al. ) –
die stationären Behandlungstage zu reduzieren, nicht jedoch die Aufnahmen.
Dies liegt vermutlich an den Ausschlusskriterien für die Behandlung im häus-
lichen Umfeld, welche eine stationäre Einweisung vorsehen, wenn eine gewisse
Risikoschwelle überschritten ist.
Hinzu kommt, dass die Home-Treatment-Programme außerhalb der
britischen Inseln noch nicht ächendeckend verbreitet sind. In der Schweiz
existieren sie nur an wenigen Standorten und auch in Deutschland, wo die Sta-
64
tionsäquivalente Behandlung als großer Fortschritt betrachtet wird, bleibt der
Anteil der Home-Treatment-Fälle an der Gesamtheit aller Behandlungsfälle
bislang im einstelligen Bereich (DKG et al. ).
Möglicherweise erfolgt das Home Treatment in vielen Fällen zu spät, um
eine stationäre Einweisung zu verhindern, die Eskalation ist vielleicht schon
zu weit fortgeschritten. Eine umfassende Studie über die Risikofaktoren einer
unfreiwilligen Aufnahme in der Schweiz mit mehreren tausend Fällen konnte
zeigen, wie relevant die Faktoren Aggressivität und Nichtkooperation aufsei-
ten der Betroenen für eine Zwangseinweisung sind (Silva et al. ).
Verschiedene systematische Übersichten haben die Relevanz sogenann-
ter Vorausverfügungen und Behandlungsvereinbarungen in diesem Zusam-
menhang aufgezeigt (de Jong et al. ; Molyneaux et al. ). Es geht hierbei
um Maßnahmen, die das Vertrauen der Betroenen in das Hilfesystem stär-
ken, indem ihnen zugesichert wird, im Falle einer erheblichen psychosozialen
Krise den schrilich niedergelegten Vorstellungen zu entsprechen. Gemäß den
zitierten Reviews sind diese Maßnahmen tatsächlich die einzigen, welche sig-
nikant zu weniger Zwang beitragen.
Eine Wohnbegleitung im Vorfeld könnte möglicherweise ebenfalls die
Entstehung von Krisen verhindern helfen, indem durch Unterstützung bei All-
tagsproblemen Vertrauen zum Hilfesystem aufgebaut wird (McPherson et al.
; Richter & Homann ). In unserer von – laufenden Wohn-
studie in Zürich und Bern haben wir dies explizit geprü und konnten eine
deutliche Reduktion feststellen (Mötteli et al. ). In einer weiteren Studie
mit einer anderen Stichprobe konnten wir ebenfalls zeigen, dass das stationäre
Eintrittsrisiko durch Wohncoaching – wie wir das in Bern nennen – erheblich
zurückging (Adamus et al. ).
Das heißt, es stehen im Prinzip sowohl im stationären wie im außersta-
tionären Setting Maßnahmen zur Verfügung, die Zwangsmaßnahmen zumin-
dest reduzieren können. Dies werden aber aktuell nicht konsequent genug und
nicht ächendeckend eingesetzt. Aus allen Bemühungen vonseiten der Pro-
fessionellen kann nicht geschlussfolgert werden, dass tatsächlich in jedem Fall
die am wenigsten einschränkende Maßnahme gewählt und diese nur als letztes
Mittel ergrien wurde.
65
Bedingung : Sind psychiatrische Therapien
wirksam?
Zwangsmaßnahmen haben im psychiatrischen Hilfesystem das ultimative
Ziel, zur Gesundheit der Personen beizutragen, die von den Maßnahmen be-
troen sind. Es geht hier also nicht in erster Linie um die Abwehr eines Risikos
oder einer Gefahr, sondern um die therapeutische Eektivität der Behandlung,
die mit der Maßnahme verbunden ist. Aber wie eektiv sind psychiatrische
Behandlungen?
Diese Frage wird hier nicht zum ersten Mal im Zusammenhang mit
Zwangsmaßnahmen gestellt. Bereits im Jahr haben Mary Durham und
John La Fond im Kontext des US-amerikanischen Rechtssystems und der sei-
nerzeitigen Bestrebungen der US-Bundesregierung, die Rechte von Menschen
mit psychosozialen Problemen nach Jahren der Deinstitutionalisierung wieder
einzuschränken, folgende analytische Fragen bearbeitet:
»Hil sie [die unfreiwillige Behandlung; D. R.] tatsächlich den Individu-
en, denen die Regierung vorgibt, helfen zu wollen? Gibt es irgendeine
Evidenz, welche zeigt, dass dies so ist? Gibt es Evidenz, dass die Perso-
nen möglicherweise eher beeinträchtigt werden als Hilfe bekommen?
(...) [E]s ist zentral, dass die vorhandene empirische Evidenz sorgfältig
analysiert wird, um einschätzen zu können, ob die Regierung tatsächlich
die erhebliche Beweislast erbringen kann, dass der therapeutische Zweck
erreicht wird, für den die Freiheit einer großen Zahl von Amerikanern
eingeschränkt wird.« (Durham & La Fond : f.)
Die Antworten, welche die Forschenden gaben, waren ernüchternd. Anstelle
eines therapeutischen Nutzens wurde seinerzeit eher ein Schaden für die von
Zwang betroenen Personen festgestellt, beispielsweise durch die erheblichen
Neben- und Langzeitwirkungen der Medikamente.
Doch wie sieht es heute nach erheblichen Veränderungen in der psychia-
trischen erapie aus? In einer unlängst publizierten sogenannten »Umbrel-
la-Review« (Leichsenring et al. ) ndet sich eine Antwort. Bei dieser Art
von Übersichtsarbeit wird eine statistische Methodik auf publizierte systema-
tische Metaanalysen angewendet. In eine Umbrella-Review gehen also nicht
die Einzelstudien ein, wie bei einer normalen Metaanalyse, sondern die be-
reits aggregierten Daten der Reviews. Derartige Umbrella-Reviews ergeben
66
vor allem dann Sinn, wenn in einem Forschungsfeld bereits viele Metaanaly-
sen publiziert wurden. Das ist bei der psychiatrischen erapieforschung der
Fall.
In die genannte Studie wurden insgesamt . randomisierte, nach
publizierte Vergleichsstudien mit über . Teilnehmenden aufgenommen;
die Studie besitzt also eine erhebliche Aussagekra. Geschaut wurde, wie eek-
tiv sowohl pharmakologische wie auch psychotherapeutische Interventionen
waren, und zwar auf standardisierte Skalen zur Erfassung von Psychopatho-
logie bezogen. Der entscheidende Indikator ist die standardisierte Mittelwert-
dierenz, welche wiederum mit der Eektstärke einer Intervention korrespon-
diert (Cohen’s d; siehe Andrade ). Diese gibt an, wie groß die gemessenen
Unterschiede zwischen den Interventionsgruppen und den Kontrollgruppen
sind. Die Interventionsgruppen erhielten das Medikament oder die erapie,
das oder die geprü wurde, und die Kontrollgruppen erhielten das Placebome-
dikament oder die übliche Versorgung (TAU, »treatment as usual«).
Die standardisierte Mittelwertdierenz, also die Eektstärke der phar-
makologischen Interventionen, betrug , für die Psychotherapie und ,
für die Pharmakotherapie. Ab einer Eektstärke von , wird üblicherweise
von einer moderaten Eektivität gesprochen, bei , von einer starken Eek-
tivität. Das heißt, psychiatrische erapien, ganz gleich, ob Pharmakotherapie
oder Psychotherapie, waren nicht einmal moderat wirksam. Nur eine Min-
derheit der Personen, die behandelt wurden, protierten tatsächlich von der
Behandlung.
Wie groß diese Minderheit bei der Pharmakotherapie mit Antidepres-
siva ist, wurde unlängst im Rahmen einer Metaanalyse berechnet (Stone et al.
). Diese Analyse basierte auf Daten der US-amerikanischen Zulassungs-
behörde FDA (»Food and Drug Administration«). Vorteil dieser Datenbank
ist, dass es keinen Publikationsbias in den zu analysierenden Daten gibt. Bei
Metaanalysen kommt es gerade in der pharmakologischen Forschung zu dem
Phänomen, dass Studien ohne Erfolg für die Intervention mitunter nicht ver-
öentlicht werden und daher nicht in Metastudien berücksichtigt werden kön-
nen, die FDA-Daten sind also näher an der Wirklichkeit. Tatsächlich zeigte
eine antidepressive Monotherapie bei lediglich Prozent der Behandelten
eine Wirkung über den Placeboeekt hinaus. Um nicht missverstanden zu
werden: Das ist nicht nichts, ich würde im Falle einer depressiven Entwick-
67
lung als Erstes auch ein Antidepressivum versuchen. Ob diese recht geringe
Wirkung aber als Rechtfertigung für eine psychiatrische Zwangsmaßnahme
herangezogen werden kann, daran habe ich große Zweifel.
Außerdem ist zu beachten, dass es sich bei den Teilnehmenden an Studi-
en zur Wirksamkeit von erapien ausschließlich um Freiwillige handelt, de-
nen eine gewisse Motivation zur Veränderung unterstellt werden kann. Bei un-
freiwillig Behandelten ist diese Motivation deutlich geringer und daher muss
hier eine noch geringere Eektivität der erapie angenommen werden.
Da selbstgefährdendes Verhalten neben Fremdgefährdung die häugste
Indikation für psychiatrische Zwangsmaßnahmen ist, sei auch noch explizit
ein Blick auf die Eektivität therapeutischer Interventionen hinsichtlich Suizi-
dalität und Suizid geworfen. Eine umfassende Metaanalyse mit RCTs aus fünf-
zig Jahren mit allen möglichen Interventionen ergab eine nicht einmal als ge-
ring zu interpretierende Eektstärke (Hedges’ g = ,; Fox et al. ). Genau
wie bei der Eektstärke Cohen’s d wird ab , von einem geringen, ab , von
einem moderaten Eekt gesprochen. Zwei Dinge waren neben dem zentralen
Ergebnis an dieser Studie besonders interessant: Zum einen wurde keine Inter-
vention identiziert, die in der erapie von Suizidalität wesentlich eektiver
war als andere. Zum zweiten gab es quasi keine Evidenz für die Wirksamkeit
psychiatrischer Akutbehandlung, wie sie in der Regel mit Zwangseinweisun-
gen aufgrund Suizidalität einhergeht.
Eine weitere Metaanalyse fokussierte sich auf pharmakologische und
somatische Interventionen wie die Elektrokrampherapie (Wilkinson et al.
). Diese Analyse fand signikante Eekte in Bezug auf vollendete Suizide
lediglich bei Lithium für Menschen, die mit einer Bipolaren Störung diagnos-
tiziert wurden, sowie bei Clozapin für Menschen, die mit einer psychotischen
Störung diagnostiziert wurden. Alle weiteren Antipsychotika und auch die
Elektrokrampherapie zeigten keine signikanten Resultate.
Ebenfalls auf pharmakologische Interventionen hatte sich eine andere
Metaanalyse fokussiert. Diese ergab über alle Medikationsklassen hinweg eine
geringe Eektstärke von , (Huang et al. ). Allerdings betonten die For-
schenden mögliche negative Auswirkungen bestimmter Medikamente, welche
sogar das Suizidrisiko erhöhen können. Eine entsprechende Metaanalyse hatte
dies beispielsweise für die SSRI-Klasse der Antidepressiva gefunden (Hengart-
ner et al. ).
68
Der Vollständigkeit halber sei betont, dass psychotherapeutische Verfah-
ren ebenfalls nur geringe Eekte auf Suizidalität aufweisen, wie eine neuere
Übersichtsarbeit zeigte (Teismann & Gysin-Maillart ). Ähnliches gilt für
nachsorgende Kurzkontakte nach Entlassung aus der stationären Behandlung.
Diese Übergangsinterventionen konnten zwar die Suizidalität in geringem
Maße reduzieren, nicht aber Suizide verhindern (Tay & Li ).
Nun hatte ich schon eingangs dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass
im Kontext von Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nicht nur die
Gesundheit der Betroenen zählt. Entsprechende Metaanalysen aus foren-
sischen Settings verweisen unter anderem auf weniger kriminelle Rückfälle.
Allerdings berichten sie ebenfalls über eine vergleichsweise hohe Suizidmor-
talität bei Personen, die aus forensischer Behandlung entlassen wurden (Fazel,
Fimińska et al. ). Im Einklang mit der oben beschriebenen Umbrella-Stu-
die wurden auch in psycho- und pharmakotherapeutischen Reviews aus foren-
sischen Einrichtungen lediglich schwache Eekte gefunden (Ross et al. ).
Hier ist anzumerken, dass die Originalarbeiten o nicht sehr aussagekräig
waren (Howner et al. ). Ähnliches ist auch über Übersichtsarbeiten zu
psycho- und pharmakotherapeutischen Intervention bei Dissozialität oder bei
Sexualstraaten zu sagen. Für beides gibt es nach aktueller Studienlage keine
therapeutisch wirksamen Verfahren (Adshead & McGauley ; Hoberman
; Khalifa et al. ).
Außerhalb forensischer Einrichtungen sind zwar diverse Einzelstudien
zu unfreiwilligen Behandlungen durchgeführt worden, allerdings konnte ich
lediglich zwei systematische Übersichten identizieren. Davon ist eine nicht
mehr ganz neu (Katsakou & Priebe ) und die andere fasst nur Studien aus
Norwegen zusammen (Wynn ). Beide Arbeiten enthalten eine Vielzahl
von Studien mit heterogenen Ergebnisindikatoren, die leider nicht sonderlich
aufschlussreich für unsere Fragestellung sind.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass für die Mehrzahl der von psychia-
trischen erapien Betroenen weder im Kontext von Freiwilligkeit noch im
Rahmen von Zwangsmaßnahmen ein empirischer Beleg für den Nutzen zu
nden ist. Ein als gering einzuschätzender Nutzen muss vielmehr einem er-
wartbaren Schaden für die therapeutische Beziehung gegenübergestellt wer-
den, wie er oben (siehe Bedingung ) dargestellt wurde.
69
Bedingung : Kann die Autonomie der
betroffenen Personen wiedergestellt werden?
Eine zentrale Annahme bei der Entscheidung für Zwangsmaßnahmen ist die
verminderte Autonomie der betroenen Personen. Die psychische Krankheit,
so die Überzeugung, beeinträchtige das Vermögen zur selbstbestimmten und
freien Willensbildung. Die Entscheidungen der Person gegen die Behandlung
sind demnach von der Krankheit überlagert. Im Umkehrschluss zielt die mit
der Maßnahme verbundene Behandlung auf die Wiederherstellung der Auto-
nomie, was in der rechtswissenschalichen Literatur sowohl im deutschspra-
chigen Raum (Friedrich & Heinrichs ; Prüter-Schwarte ) als auch im
angelsächsischen (Haydt ; Winick ) entsprechend postuliert wird. Aber
ist das überhaupt möglich? Kann Autonomie durch eine Krankheit gemindert
werden und kann sie durch eine Behandlung wiederhergestellt werden?
Bei der Beantwortung dieser Fragen können wir uns nicht auf empiri-
sche Daten stützen. Die Problematik der Autonomie und des freien Willens
wird bekanntermaßen überwiegend in der Philosophie diskutiert, wo diese
Begrie – wie o in der Philosophie – sehr unterschiedlich besetzt sind (Mül-
ler & Walter ). Aber das gilt nicht nur für die theoretische Analyse, son-
dern auch für die psychiatrische Praxis. Während aus medizinischer Sicht die
Autonomie einer Person durch die Krankheit beeinträchtigt wird (Radoilska
), betonen Betroene die Einschränkung ihrer Autonomie durch Zwangs-
maßnahmen (Bennion ).
Die medizinische Sicht spielt vor allem in juristischen Verfahren eine
Rolle, wenn die verminderte Schuldfähigkeit mit einem psychosozialen Pro-
blem begründet wird. Diese im Englischen als »insanity defence« bekannte
Verteidigungsstrategie wird bemüht, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden und
Menschen mit ausgeprägten psychosozialen Problemen vor einer Gefängnis-
strafe zu bewahren (Malatesti et al. ). Alternativ können erapieauagen
oder auch Unterbringungen in einer forensischen Klinik erfolgen.
Aus einer menschenrechtlichen Perspektive ist die Unterscheidung zwi-
schen Menschen, die Taten unter dem Einuss einer psychischen Problematik
begangen haben, und solchen, bei denen das nicht der Fall war, durchaus pro-
blematisch. Es gibt sogar Autoren, die dies als Diskriminierung auassen und
auch in dieser Hinsicht Gleichbehandlung fordern (Minkowitz ).
70
In der Philosophie werden Autonomie und freier Wille zumeist zusam-
men betrachtet. Autonome Entscheidungen werden, so eine der Sichtweisen,
durch einen freien Willen bestimmt (Weissman ). Diese Sichtweise ist
jedoch nicht unumstritten (Pereboom ). Da jeder Entscheidung bereits
eine Kaskade von Entscheidungen vorausgegangen ist, wird ganz grundsätz-
lich gestritten, wie frei eine Entscheidung sein kann. Neben dieser Determi-
nismus-Indeterminismus-Debatte existiert eine weitere Debatte zu der Frage,
inwieweit Determinismus und freier Wille nicht doch kompatibel sind.
Aus einer rein naturwissenschalichen Betrachtung ist die Kompatibi-
lität von Determinismus und freiem Willen zwar nicht grundsätzlich ausge-
schlossen (Glannon ), jedoch kaum plausibel. Der Biologe Robert Sapols-
ky bemerkte einmal trocken, der freie Wille sei das, was die Biologie noch
nicht entdeckt habe (Sapolsky ). Für die vorliegende Fragestellung heißt
das zusammengefasst, es ist aus philosophischer Sicht und auch aus neurowis-
senschalicher Perspektive mindestens unklar, ob Menschen überhaupt über
so etwas wie Autonomie und freien Willen verfügen. Wenn es aber mindestens
unklar ist, dass Menschen überhaupt über eine Form von Autonomie verfü-
gen, dann ist stark zu bezweifeln, dass eine psychiatrische erapie diese Au-
tonomie durch Zwangsmaßnahmen wiederherstellen kann.
Schlussfolgerung: ethische Annahmen
und empirische Daten
Die vorstehenden Ausführungen sollten deutlich machen, wie wenig die ethi-
schen Annahmen und Begründungen von der einschlägigen empirischen
Forschung gestützt werden. Psychiatrischer Zwang erfolgt überwiegend nicht
zum Wohle der betroenen Person. Auch werden die Maßnahmen gegen den
Willen in aller Regel nicht als letztes Mittel und als geringstmögliche Ein-
schränkung eingesetzt. Es gibt zumeist mehr Optionen, als in den jeweiligen
Versorgungssystemen umgesetzt werden. An der Wirksamkeit psychiatrischer
erapien generell, aber insbesondere im Rahmen unfreiwilliger Rahmenbe-
dingungen, besteht erheblicher Zweifel. Und mindestens ebenso große Zweifel
bestehen hinsichtlich der Annahme, mittels Zwangsmaßnahmen könne die
Autonomie der Person wiederhergestellt werden.
71
Nun bleibt noch eine weitere wichtige Voraussetzung für die Anwen-
dung von Zwang in psychiatrischen Settings zu klären, nämlich die Denition
einer psychischen Störung. Dies geschieht im nachfolgenden Kapitel.
72
Psychische Krankheit:
Was ist das eigentlich?
Für die Legitimation von Zwang in der psychiatrischen Versorgung braucht
es aktuell die Feststellung einer psychischen Störung. Wenn Menschen als »zu
krank« im psychiatrischen Sinne betrachtet werden, dann ist es nach Meinung
vieler Fachpersonen unter Umständen gerechtfertigt, die ansonsten hoch ge-
haltene Autonomie der betroenen Personen einzuschränken – auch wenn
damit das Gebot der Gleichbehandlung von Menschen mit körperlichen und
psychischen Krankheiten missachtet wird. Das heißt, bei aller Geneigtheit von
Fachpersonen, den Präferenzen der betroenen Personen zu folgen, obsiegt in
der Abwägung von Autonomie vs. Krankheitskonzept omals Letzteres. Da-
mit stellen sich vor allem drei Fragen, die positiv beantwortet werden müssten,
um Zwang in der psychiatrischen Versorgung zu rechtfertigen:
• Was wissen wir über die menschliche Psyche?
• Kann hinreichend zwischen »psychisch gesund« und »psychisch krank« un-
terschieden werden?
• Wie werden gegenwärtig psychische Krankheiten oder Störungen klassi-
ziert bzw. voneinander abgegrenzt?
Diese Fragen werde ich nachfolgend versuchen, zu beantworten, auch wenn
dazu schwieriges Terrain betreten werden muss. Das Terrain liegt irgendwo
zwischen Psychologie, Neurowissenschaen, Soziologie und vor allem Philo-
sophie.
Gibt es überhaupt eine menschliche Psyche?
Zunächst einmal soll der Aspekt einer Krankheit oder Störung außen vor blei-
ben. Wenn man sich die Frage stellt, was eine psychische Krankheit ist, wird
man sich zunächst die Frage stellen müssen, ob es denn eine Psyche oder –
wie im Englischen oder inzwischen auch im Deutschen o gebraucht – einen
menschlichen Geist gibt, die bzw. der erkranken kann.
In unserem Alltagsleben fragen wir uns eher selten, ob es eine menschli-
che Psyche, eine Seele oder einen Geist gibt. Wir alle erleben mehr oder min-
73
der erfreuliche emotionale Momente und für uns alle ist klar, dass wir wahr-
nehmen, denken und Schlüsse ziehen können, also kognitive Eigenschaen
haben, die ebenfalls Teil der menschlichen Psyche sind. Das ist unser Alltags-
verständnis und es ist, wenn wir als Professionelle in der Psychiatrie oder in
der Psychotherapie arbeiten, in der Regel auch unser klinisches Verständnis.
Und das muss – wie später noch deutlich wird – nicht gänzlich falsch sein.
Interessanterweise werden jedoch Begrie wie »Psyche« oder »Seele« in
neueren wissenschalichen Untersuchungen allenfalls noch historisch zitiert.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn neurowissenschaliche Grundla-
genforschung im Spiel ist. Über den Wert neurowissenschalicher Grund-
lagenforschung kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein, sie ist
jedoch zentral für das aktuelle wissenschaliche Verständnis der Psyche und
damit auch der psychischen Krankheiten. Selbst wenn man – wie ich – ei-
nen sozialwissenschalichen Hintergrund kann, kann man diese Erkenntnisse
nicht ignorieren (Richter ).
In der neurowissenschalichen Grundlagenforschung und in damit
verbundenen philosophischen Denkschulen ist die Frage nach der Existenz
der Psyche gewissermaßen schon zu den Akten gelegt worden, die Rede ist
dort primär von »Bewusstsein« (für die Philosophie etwa Dennett , für
die Neurowissenschaen Koch ). Anders als Psyche und Seele wird das
Bewusstsein als ein wissenschalich zugängliches ema betrachtet, das em-
pirisch und theoretisch durchdrungen werden kann. Schon Mitte bis Ende der
er-Jahre begann auch die deutschsprachige Philosophie mit Bedauern, die
»Seele« als einen Begri zu betrachten, welcher mit einem naturwissenscha-
lichen Verständnis kaum kompatibel ist (Hastedt ). Statt von Seele und
von Psyche wird auch im deutschsprachigen Raum eher von »Geist« (engl.
»mind«) und eben von Bewusstsein gesprochen.
Die zentralen Fragen des Bewusstseins und vor allem die Frage nach
der Entstehung eines subjektiven Bewusstseins sind bis heute jedoch ungelöst.
Dieses Subjektive ist – wenn man so will – das zentrale Merkmal des Bewusst-
seins. In einem der wohl meist zitierten philosophischen Artikel der zweiten
Häle des . Jahrhunderts fragte der US-amerikanische Philosoph omas
Nagel in den er-Jahren, wie es sei, eine Fledermaus zu sein. Seine Antwort:
Wir wissen es nicht und wir werden es auch prinzipiell nicht erfahren können.
Das Bewusstsein einer Fledermaus ist für Menschen nicht zugänglich, aber wir
74
können davon ausgehen, dass Fledermäuse erleben, wie es ist, eine Fledermaus
zu sein und daher können wir annehmen, sie haben ein Bewusstsein:
»Die Tatsache, dass ein Organismus überhaupt bewusste Erfahrung
hat, heißt im Wesentlichen, dass es irgendwie ist, dieser Organismus zu
sein.« (Nagel : )
Bereits Mitte der er-Jahre unterschied der australische Philosoph David
Chalmers zwischen den vielen einfachen Problemen und dem einen besonders
schwierigen Problem der Bewusstseinsforschung (Chalmers ). Das beson-
ders schwere Problem (»hard problem«), so Chalmers, ist, das subjektive Er-
leben zu erklären. Vereinfacht gesagt besteht das Problem darin, zu verstehen,
wie aus den materiellen biologischen Abläufen des Gehirns ein Gefühl oder
ein Gedanke entsteht, der nur für das Individuum erlebbar ist. Wir können,
mit anderen Worten, nicht erklären, wie aus den synaptischen Verbindungen
der Nervenzellen während eines Wahrnehmungsprozesses ein persönliches
Erlebnis einer bestimmten Farbe entsteht. Das ist, um einen anderen viel dis-
kutierten Begri der Philosophie zu gebrauchen, die »Erklärungslücke« (»ex-
planatory gap«) zwischen der Materie und den nur subjektiv erlebbaren Quali-
täten von Wahrnehmungen (Levine ). Diese Qualitäten werden mit einem
weiteren philosophischen Begri »Qualia« genannt (Block ).
In den letzten zwanzig Jahren sind nun verschiedene eorien entwi-
ckelt worden, um das »schwierige Problem« zu lösen. Der Philosoph Keith
Frankish hat drei größere theoretische Lager identiziert, die um die Dichoto-
mie von Realismus und Antirealismus kreisen (Frankish ). Zu den realis-
tischen Positionen zählen für Frankish jene, welche davon überzeugt sind, dass
es einen menschlichen Geist gibt, dass dieser aber nicht den Methoden der
Wissenscha zugänglich ist. Der Philosoph Colin McGinn zum Beispiel ver-
tritt die ese, das Bewusstsein oder der menschliche Geist seien schlicht zu
kompliziert für uns Menschen, um diese zu verstehen. Das Bewusstsein bleibe
daher ein Mysterium (McGinn ). Frankish hält auch jene Positionen für
realistisch, die davon ausgehen, dass die Erkenntnislücke früher oder später
auf der Basis neurowissenschalicher Erkenntnisse überwunden werden kön-
ne. Unrealistisch erscheint Frankish jene Position, die meines Erachtens die
überzeugendste ist, weil mit einem materialistischen wissenschalichen Kon-
zept am besten zu vereinbaren: Das Bewusstsein ist eine Illusion, die unser
Gehirn uns vormacht (Frankish ).
75
Die Idee geht zurück auf einen Vorschlag von Daniel Dennett, der in sei-
nem Buch »Consciousness Explained« (auf Deutsch: Philosophie des mensch-
lichen Bewusstseins) gefordert hatte, Qualia, also die subjektiv wahrgenom-
menen Eigenschaen von Wahrnehmungen als nicht existent zu betrachten
(Dennett ). Das hat einen Vorteil: Wer von einer »Illusion des Bewusst-
seins« ausgeht, muss nicht erklären, wie Bewusstsein zustande kommt. Nach-
teil: Es muss erklärt werden, wie es zu der Illusion kommt, und das ist sicher
noch nicht vollständig gelungen.
Ein Erklärungsansatz besteht darin, dass die Illusion, subjektive Phäno-
mene wahrzunehmen, eine evolutionäre Funktion hat oder zumindest in der
menschlichen Geschichte hatte. Der schon mehrfach zitierte Daniel Dennett
hat es folgendermaßen formuliert:
»Bewusstsein ist die Illusion von Nutzenden, eine brillante Simplika-
tion des lauten Tumults von Verursachung und Interaktion (beispiels-
weise auf molekularem und zellulärem Niveau), der umsichtig und
schnell zusammengestellt werden muss, damit das Gehirn seine Arbeit
im Zusammenhang mit der Kontrolle eines großen komplexen Körpers
in einer herausfordernden und sich wandelnden Welt machen kann.«
(Dennett : )
Unsere Psyche oder unser Bewusstsein als eine Illusion des Gehirns zu verste-
hen, bedeutet nun nicht, die Existenz psychischer Krankheiten zu verneinen.
Wie der Neurowissenschaler Antonio Damasio unlängst formuliert hat, kön-
nen wir nicht einfach so tun, als ob Illusionen keine Wirkungen hätten (Dama-
sio ). Sie sind im Wesentlichen kulturell bedingt (Humphrey ). Gerade
in der westlichen Kultur sind wir davon überzeugt, eine individuelle Psyche
zu haben. Das unterscheidet uns von vielen nichtwestlichen Kulturen. Die-
se Eigenart hat der Evolutionsbiologe Joseph Henrich mit dem wunderbaren
Akronym WEIRD (auf Deutsch: eigenartig, sonderbar) beschrieben (Western,
Educated, Industrialized, Rich, Democratic; Henrich ). Kulturelle Einüs-
se werden auch herangezogen, um zu erklären, warum wir davon überzeugt
sind, dass erst ein Geist uns als Personen ausmacht.
Im Rahmen eines Versuchs, die verschiedenen Bewusstseinstheorien zu
vereinen, hat ein Team um den Neuropsychologen Michael Graziano unlängst
vorgeschlagen, zwischen einem Informationsbewusstsein und einem Myste-
riumsbewusstsein zu unterscheiden (Graziano et al. ). Das Informati-
76
onsbewusstsein (»i-consciousness«) ist kompatibel mit aktuellen neuropsy-
chologischen eorien, die insbesondere kognitive Prozesse erklären. Das
Mysteriumsbewusstsein (»m-consciousness«) passt dagegen zu den Illusio-
nismustheorien. Es bezieht sich beispielsweise auf das subjektive Erleben von
Schmerz und anderen Qualia-Phänomenen. Obwohl wir diese Phänomene
wissenschalich nicht erklären können, sind die meisten Kulturen und die da-
mit verbundenen Menschen von der Existenz einer Instanz oder gar einer Es-
senz überzeugt, die Psyche, Seele oder Geist enthält. Solche Vorstellungen wer-
den in der Philosophie mit dem nur schwer übersetzbaren englischen Begri
»Folk Psychology« beschrieben, der so viel meint wie »Alltagspsychologie«.
Oenbar brauchen wir in unserem Alltag solche Zuschreibungen, um Men-
schen besser verstehen und soziale Prozesse besser einordnen zu können.
Ich erwarte nicht, dass alle Lesenden mir folgen und die Illusionismust-
hese für den einleuchtendsten Ansatz zur Erklärung des Bewusstseins halten.
Es sollte aber deutlich geworden sein, wie sehr die Auassungen über das Wesen
und die Existenz der Psyche, des Geistes oder des Bewusstseins auseinanderge-
hen und wo die Probleme und Erklärungslücken sind. Aus einer biologischen
Perspektive – darauf kann ich mich vielleicht auch mit den Skeptikerinnen und
Skeptikern einigen – ist es vollkommen unklar, ob es eine menschliche Psyche
gibt. Die Zweifel daran sind recht ausgeprägt, aber wir haben bislang weder ein
theoretisch hinreichendes Modell noch empirische Daten, die für mehr Klar-
heit sorgen. Aus meiner derzeitigen (!) Sicht kann die menschliche Psyche als
eine soziokulturelle Zuschreibung charakterisiert werden, die das Erleben und
das Verhaltens der eigenen und anderer Personen erklärt. Menschen im Glo-
balen Norden und Westen (und viele darüber hinaus) sind von der Existenz
einer individuellen Psyche überzeugt; und diese Überzeugung ist vermutlich
eher durch soziokulturellen Wandel entstanden als durch neurobiologische
Prozesse. Wenn die menschliche Psyche aber nur wenig bis gar nichts mit der
Biologie zu tun hat, sondern überwiegend mit soziokulturellen Entwicklun-
gen, dann stellt sich natürlich die Frage, ob Zwangsmaßnahmen, die mit dem
Vorliegen einer Störung des Geists oder des Bewusstseins begründet werden,
schon auf dieser abstrakten Ebene Argumentations- und Legitimationsproble-
me bekommen könnten. Wenn wir nicht wissen, ob Menschen überhaupt eine
Psyche haben, dann entfällt womöglich schon hier ein zentrales Argument für
psychiatrische Zwangsmaßnahmen.
77
Haben psychische Störungen zugenommen?
Trotz der aufgezeigten Schwierigkeiten, eine menschliche Psyche oder ein Be-
wusstsein empirisch nachzuweisen oder mindestens zu denieren, sind die
meisten Menschen im Globalen Norden von ihrer Existenz überzeugt. Ich
möchte nun soziologisch und historisch rekonstruieren, wieso diese Überzeu-
gungen so stark sind, dass sie kaum hinterfragt werden. Und ich möchte aufzei-
gen, dass auch »psychische Störungen« soziokulturelle Konstrukte sind.
Die Wahrnehmung ist, wie bereits angedeutet, jedoch eine andere. Me-
dien, Öentlichkeit und auch Fachöentlichkeit sind weitgehend davon über-
zeugt, dass psychische Probleme zunehmen (Richter ). Und es gibt in der
Tat zwei Indikatoren, welche dies nahelegen. Da ist zum einen die deutlich
angestiegene Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer
Dienstleistungen. Immer mehr Menschen lassen sich wegen psychischer Pro-
bleme behandeln und bekommen entsprechende Medikamente wie z. B. An-
tidepressiva verschrieben. Damit zusammen hängt der zweite Indikator, dass
nämlich immer mehr Menschen arbeitsbezogene Ausfallzeiten wegen psychi-
scher Krankheiten haben. Es ist dieser Indikator, der es durch Berichte von
Krankenversicherungen regelmäßig in die Schlagzeilen scha und den Ein-
druck erweckt, als gäbe eine Zunahme psychischer Krankheiten.
Im Gegensatz dazu geht die psychiatrisch-epidemiologische Forschung
nahezu unisono davon aus, psychische Störungen oder Krankheiten hätten
bis zur Coronapandemie nicht zugenommen haben (Baxter et al. ; GBD
Disease Injury ; Richter et al. ). Es gibt zwar einzelne Studien, die in
bestimmten Regionen zu bestimmten Zeiten zu anderen Resultaten kommen,
aber die systematischen Übersichtsarbeiten und Metastudien zeigen in der Zu-
sammenschau eben auf, dass dies, insgesamt gesehen, nicht der Fall ist.
Beide Phänomene, die Nichtzunahme psychischer Krankheiten und die
ansteigende Bereitscha, sich deswegen behandeln zu lassen, sind unbestrit-
ten. Doch wie lässt sich dies erklären? Oenbar werden psychische Probleme
in den letzten Jahrzehnten anders wahrgenommen, sie sind weniger tabuisiert
und stigmatisiert. Das heißt nicht, dass es keine Stigmatisierung mehr gibt,
aber das Ausmaß hat insgesamt abgenommen und bestimmte psychosoziale
Probleme wie etwa die Depression werden heute sogar deutlich weniger stig-
matisiert (Pescosolido et al. ; Schomerus et al. ).
78
Dahinter steckt ein Wandel von Einstellungen, aber darüber hinaus auch
ein grundlegender gesellschalicher Wandel, der im Folgenden kurz skizziert
wird. Im Hintergrund haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, welche in der
Soziologie »funktionale Dierenzierung« genannt wird (Luhmann ). Da-
mit ist gemeint, dass die moderne Gesellscha massiv von der Durchsetzung
sozialer Teilsysteme wie Politik, Wirtscha, Wissenscha, Erziehung, Recht,
Intimbeziehung etc. geprägt ist. Diese Teilsysteme entwickelten sich schon im
. Jahrhundert in den westlichen Gesellschaen, durchgesetzt haben sie sich
jedoch erst gegen Ende des . Jahrhunderts (Richter ). Dies ist etwa empi-
risch daran zu sehen, dass Geld als Teil des Wirtschassystems erst zu diesem
Zeitpunkt auch im letzten Dorf als Zahlungsmittel eingesetzt wurde. Gleiches
gilt übrigens auch für das staatliche Gewaltmonopol und das Rechtssystem.
Zuvor waren Konikte überwiegend in lokalen Milieus geregelt worden.
Aus einer soziologisch-historischen Perspektive haben die genannten
Teilsysteme erheblich zu der Auösung traditioneller sozialer Milieus beigetra-
gen, wie wir sie verstärkt seit der Mitte des . Jahrhunderts erleben. Seit Ende
des Zweiten Weltkrieges verschwinden bäuerliche und bürgerliche Milieus, aber
auch die sogenannte Arbeiterklasse. Noch bis in die er- oder er-Jahre
hinein fühlten viele Menschen sich diesen Milieus zugehörig und identizierten
sich mit ihnen. Dies zeigte sich beispielsweise daran, dass Partnerinnen oder
Partner überwiegend aus dem gleichen Milieu gewählt wurden und dass Be-
rufskarrieren sich primär an denen der Eltern orientierten. In der Landwirt-
scha, im Bergbau, aber auch in akademisch gebildeten Milieus folgten die Kin-
der omals den Eltern, insbesondere bei der Berufswahl (Raphael ).
Aus heutiger Sicht erscheinen diese Milieus vielen als gemeinschasstif-
tend. Allerdings waren diese Milieus auch geprägt durch Armut, soziale Enge
und Kontrolle sowie geringe Aufstiegs-, Ausstiegs- oder Entfaltungsmöglich-
keiten (Lawrence ). Es gab beispielsweise in vielen Ländern kaum eine
Chance, aus nicht funktionierenden Ehen auszubrechen, worunter insbeson-
dere Frauen zu leiden hatten. Scheidungen oder Schwangerschasabbrüche
waren lange Zeit vor dem Hintergrund religiös-konfessioneller Normen un-
möglich und Verhütungsmittel waren rar. Dies alles änderte sich allmählich
durch die wirtschaliche und technologische Entwicklung nach dem Zweiten
Weltkrieg. Zentraler Treiber war die Umstellung von einer primär industri-
ell und landwirtschalich geprägten Wirtschas- und Sozialstruktur auf eine
79
Dienstleistungsgesellscha. Diese Deindustrialisierung war mit einer erhebli-
chen Bildungsexpansion verbunden, von der vor allem Frauen protierten. Im
Folgenden werden drei wesentliche Aspekte betrachtet, welche für den sozio-
kulturellen Wandel der Wahrnehmung psychischer Probleme verantwortlich
sind: Individualisierung, Psychologisierung und veränderte Klassikationssys-
teme psychischer Störungen.
Individualisierung
Die Sozialstruktur westlicher Gesellschaen wurde zunehmend von der In-
dividualisierung geprägt. Es waren nun nicht mehr die sozialen Milieus, wel-
che bestimmten, wen man heiratete und welchen Beruf frau ergri, sondern
vielmehr individuelle Entscheidungen. Es standen mehr Möglichkeiten zur
Verfügung, auch mehr Aufstiegsmöglichkeiten, allerdings auch mehr Risiken
und mehr Entscheidungsdruck. Und mit dem Entscheidungsdruck wurde die
Aufmerksamkeit auf die eigenen Wünsche und Bendlichkeiten gelenkt.
Die eigenen Wünsche und Bendlichkeiten standen nämlich in den Zei-
ten zuvor kaum je im Zentrum von Entscheidungen. Entschieden wurde pri-
mär nach Konvention, Sitte, Religion und Vorgaben der Familie. Nun musste
sich das Individuum als Handlungszentrum der eigenen Biograe begreifen,
wie der Soziologe Ulrich Beck treend in seinem Buch »Risikogesellscha«
in den er-Jahren formulierte (Beck ). Dies verlangte eine Innenper-
spektive: Was will ich aus meinem Leben machen, wie fühlen sich bestimmte
Entscheidungen an und wie geht es mir mit meinem derzeitigen Leben?
»Wenn klare Kriterien fehlen für das, was richtig oder falsch, gut oder
böse ist, wird das Selbst und seine Gefühle zum einzigen moralischen
Kompass.« (Bellah et al. : ).
Psychologisierung
Im Rahmen eines empirischen Vergleichs zum Hilfesuchverhalten von Men-
schen in den USA zwischen den er- und den er-Jahren kam ein For-
schungsteam um den Psychologen Joseph Vero zu folgendem Schluss:
80
»Es fällt auf (...), dass Männer und Frauen in ihrem Denken über sich
selbst und ihr Leben deutlich mehr psychologisch orientiert sind.«
(Vero et al. : )
Empirische Indikatoren hierfür waren der Anstieg in der Inanspruchnahme
therapeutischer Leistungen und die Abnahme der Verleugnung persönlicher
Probleme.
Diese Entwicklung geel nicht allen. Philipp Rie, ein konservativer
amerikanischer Soziologe, beklagte schon früh den kulturellen Verfall, der sei-
ner Ansicht nach mit dem »Triumph des erapeutischen« () verbunden
war. Mit der Durchsetzung des Marktes und der Demokratie, so seine Analyse,
verlören religiöse Autoritäten und Sitten ihre kulturelle Prägung.
»Der religiöse Mensch wurde geboren, um gerettet zu werden; der psy-
chologische Mensch wurde geboren, um zufriedengestellt zu werden.«
(Rie : )
Rie hielt gewissermaßen den Übergang von der Religion zur erapie für
notwendig, da das Individuum in der modernen Gesellscha keinen inneren
Frieden mit sich selbst nden könne, wie es – seiner Überzeugung nach – in re-
ligiös geprägten Kulturen der Fall war. Mit dieser Kritik stand Rie nicht allein
und sie kam auch nicht nur von konservativer Seite. Der Soziologe Christopher
Lasch etwa beklagte in den er-Jahren eine »Kultur des Narzissmus«, der
mit einem exzessiven Individualismus und einer damit einhergehenden »Popu-
larisierung psychiatrischer Denkweisen« verbunden sei (Lasch : ).
Dieser Komplex sich verändernder kultureller Praktiken wie der zuneh-
menden Inanspruchnahme von Psychotherapie und sich gleichfalls wandeln-
der Einstellungen wird in der Soziologie mit dem Begri der Psychologisie-
rung umschrieben (Madsen ). Die Eekte der Psychologisierung gehen
jedoch weit über die genannten Aspekte hinaus. Psychologische Semantiken
sind heute nahezu in jedem gesellschalichen Sektor zu nden. Die gesam-
te Pädagogik fußt auf psychologischem Denken, das Rechtssystem beleuchtet
viele Fragen unter psychologischen Gesichtspunkten (etwa bei der Feststellung
von Schuldfähigkeit), in den Medien kommt man an entsprechenden Artikeln
oder Ratgebersendungen nicht vorbei und unser Arbeitsalltag (etwa bei der
Rekrutierung von Mitarbeitenden durch Assessment-Center) oder unser Be-
ziehungsalltag ist ohne psychologische Deutungen (»Was macht das mit dir?«)
kaum vorstellbar.
81
Psychischen Bendlichkeiten – so ist insgesamt festzuhalten – wird heu-
te deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als in früheren Generationen.
Die erhöhte Aufmerksamkeit sowie die erhöhte Bereitscha, therapeutische
Leistungen in Anspruch zu nehmen, hat Folgen, die durchaus ambivalent
zu bewerten sind. Auf der einen Seite ist es positiv, dass die Stigmatisierung
psychischer Krankheiten in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegan-
gen ist. Es ist heute keine Schande mehr, wegen einer Depression oder einer
Angststörung behandelt zu werden – bei Psychosen oder Abhängigkeitser-
krankungen sieht das noch anders aus. Auf der anderen Seite jedoch trägt die
erhöhte Aufmerksamkeit für die eigene Psyche zu einem Gefühl der seelischen
Verwundbarkeit bei (Furedi ). Psychische oder emotionale Belastungen
bestimmen unser Lebensgefühl.
Klassifizierung
Da wir wegen psychischer Probleme immer häuger ärztliche oder therapeu-
tische Hilfe in Anspruch nehmen, werden wir auch öer mit entsprechenden
Diagnosen konfrontiert. Diagnostische Klassikationssysteme wie das DSM
oder die ICD spielen bei der Gewährung von Hilfen, sei es Medikation oder
Psychotherapie, eine zentrale Rolle. Ohne Diagnose zahlt keine Krankenver-
sicherung. Unsere Probleme werden somit nicht nur psychologisiert, sondern
auch medikalisiert, private oder soziale Probleme verwandeln sich in Behand-
lungsauräge (Conrad & Bergey ).
Es ist exakt dieser Mechanismus, an dem das aus der Philosophie be-
kannte und später noch weiter erläuterte Phänomen der Reikation, also der
Verdinglichung eines Konstrukts, deutlich wird. Über die diagnostischen
Klassikationen erhalten sowohl Personen mit Fachkenntnissen als auch sol-
che ohne Fachkenntnisse Kriterien zur Denition einzelner Störungsbilder.
Diese Kriterien werden als »wahr« eingestu und in der Folge übernehmen
Medien und andere Teilsysteme der Gesellscha wie die Pädagogik oder das
Rechtssystem diese Kriterien für ihre Bereiche und für ihre Entscheidungen. Je
häuger dies geschieht, desto überzeugter sind Professionelle, Betroene und
Angehörige von der Existenz der Störungsbilder. Hinter der Medikalisierung
steckt keine Verschwörung der pharmazeutischen Industrie, auch wenn diese
82
im Detail ihren Beitrag leistet. Es ist die wiederholte Kommunikation und An-
wendung bestimmter Kriterien, welche die »Realität« psychischer Störungen
erzeugt.
Diese Medikalisierung trägt nicht unwesentlich dazu bei, wie wir unse-
re Bendlichkeiten erleben und denieren. Es werden nämlich immer mehr
Bereiche des Alltags medikalisiert und – im psychiatrischen Bereich – psy-
chologisiert. Die Sozialwissenschaler Allan Horwitz und Jerome Wakeeld
machten vor einigen Jahren darauf aufmerksam, wie vormals nicht medika-
lisierte Sachverhalte wie eine Trauerreaktion im Lauf der Veränderungen der
Klassikationssysteme in eine Depression umetikettiert wurden. Das Buch
trug den treenden Titel »e Loss of Sadness« (»Der Verlust der Trauer«;
Horwitz & Wakeeld ). Diese Entwicklung veranlasste einige Jahre später
Allen Frances, den Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, die die vierte Revision des
DSM zu verantworten hatte, zu einem kritischen Buch über den Klassikati-
onsprozess, das den Titel »Saving Normal« (Frances ) trug (Dt.: »Normal:
Gegen die Ination psychiatrischer Diagnosen«, Frances ).
Der Blick auf unsere Alltagsprobleme verändert sich also nicht unwe-
sentlich durch Psychologisierung und Medikalisierung und dadurch verändert
sich auch unser Erleben. In der westlichen Welt registrieren wir das kaum noch,
so groß ist der gesellschaliche Konsens. Und die Medikalisierung bringt auch
durchaus positive Aspekte mit sich, man denke nur an die Entkriminalisierung
des Drogenkonsums. Medikalisierung und Psychologisierung werden jedoch
auch in viele nichtwestliche Regionen exportiert, indem nämlich DSM und
ICD zu Standards der Diagnosestellung werden. Interessanterweise verändert
sich dadurch die Wahrnehmung von Problemen. Ein besonderes Phänomen
ist dabei die »Hyperintrospektion», also die massiv gesteigerte Aufmerksam-
keit für das eigene Benden. Diese Form der Psychologisierung ndet sich
nicht mehr nur im Globalen Norden, sondern auch in vielen Regionen des
Globalen Südens (Watters : ).
Nun mag es so aussehen, dass unser Erleben psychischer Probleme aus-
schließlich durch den gesellschalichen Wandel, durch Medikalisierung, Psy-
chologisierung und Klassizierung geprägt wird. Dem ist aber nicht so. Es gibt
auch den umgekehrten Fall, dass nämlich soziale Veränderungen die Diag-
nosesysteme beeinussen. Zwei prominente Beispiele sind die Streichung der
Diagnose »Homosexualität« aus dem DSM und die Aufnahme der »Post-trau-
83
matischen Belastungsstörung« (PTBS) auf massiven Druck von US-amerikani-
schen Vietnamkriegsveteranen. Die Aufnahme der PTBS in das DSMIII
hatte nicht nur therapeutische Gründe, sondern auch politische. Sie »wurde
angetrieben durch die Überzeugung, dass ein unmoralischer Krieg den Krieg-
steilnehmenden schweren psychologischen Schaden zugefügt hatte« (Horwitz
: ). Tatsächlich erhielten Traumafolgestörungen in der Folge eine große
Aufmerksamkeit, die sich auch in der Forschung niederschlug.
Damit sollte deutlich geworden sein, welche Wechselwirkungen zwi-
schen der psychischen Bendlichkeit in der Bevölkerung und den Klassi-
kationssystemen bestehen. Klassikationssysteme denieren die Details psy-
chischer Bendlichkeiten und diese Bendlichkeiten wirken ihrerseits auf die
Klassikationssysteme zurück. Der kanadische Wissenschashistoriker und
-theoretiker Ian Hacking hat diesen Sachverhalt als »Loopingeekt« charak-
terisiert.
»Menschen, die in einer bestimmten Weise klassiziert werden, neigen
zu einem Verhalten, das konform geht mit der Beschreibung; aber sie
entwickeln sich auch auf eigene Art und Weise, sodass die Klassi-
kationen und Beschreibungen regelmäßig revidiert werden müssen.«
(Hacking : )
Das heißt, Klassikationssysteme und Bendlichkeiten beeinussen sich
kontinuierlich gegenseitig. Hacking war auf diesen Umstand gestoßen, als
er versuchte, zu erklären, wieso bestimmte psychische Krankheiten, wie die
Hysterie, die Fugue oder die Multiple Persönlichkeitsstörung zu bestimmten
Zeiten sehr prävalent waren, später aber nahezu vollkommen verschwanden.
Die Krankheiten kamen und verschwanden eben nicht aus ärztlich-therapeu-
tischer Perspektive, sondern auch aus dem realen Leben der Patientinnen und
Patienten.
Hacking hat sich auch mit dem umkehrten Fall beschäigt. Ihn bewegte
die Frage, ob es vor der Beschreibung des Autismus im Jahre durch den ös-
terreichisch-amerikanischen Psychiater Leo Kanner diesen überhaupt gegeben
hat. Und er beantwortet sie so: Es sei absurd, anzunehmen, dass Autismus vor
nicht existiert habe. Nur hätten sich vorher Menschen nicht so erlebt. Die
Betroenen hätten mit ihren Familien, mit ihren Sozialkontakten, aber auch
mit dem Hilfesystem nicht als Autistinnen und Autisten interagiert. Erst als die
Diagnose in DSM und ICD verankert und bekannt war, also spätestens seit den
84
er-Jahren, sei dies anders geworden. Dann hätten sich die Menschen mit
den entsprechenden psychischen Phänomenen so wahrgenommen und, wenn
Probleme auauchten, auch unter dem Label »Autismus« Hilfe gesucht. Damit
wird deutlich, sowohl die Feststellung einer »Krankheit« als auch die damit
assoziierte Selbstwahrnehmung sind historisch und kulturell bedingt.
Aus soziologischer Perspektive sind »psychische Krankheiten« das Re-
sultat einer Kombination aus sozialem Wandel, Einstellungsveränderungen in
der Bevölkerung und medizinischen Klassikationen. Selbst der Einschluss
oder der Ausschluss von Diagnosen in Klassikationssysteme ist – wie im Zu-
sammenhang mit dem Autismus, der PTBS und der Homosexualität zu sehen
war – keine rein medizinische Entscheidung.
Kann zwischen psychisch krank und gesund
unterschieden werden?
In der einschlägigen Forschungsliteratur wird die Frage nach der Unterscheid-
barkeit von psychisch kranken und psychischen gesunden Zuständen als
»Problem der Grenzziehung« (»boundary problem«, »demarcation problem«)
beschrieben (Jablensky ; Kingma ). Damit zusammen hängen weite-
re Fragen, etwa: Welche Kriterien denieren die Grenze zwischen krank und
gesund? Was ist normal?
Bis heute werden Begrie wie »abnormal« im Zusammenhang mit psy-
chologischen Merkmalen benutzt, obwohl die »erbliche Abnormität« zentraler
Gegenstand der nationalsozialistischen Eugenik war, die zunächst zu Sterilisa-
tionen und dann zur Ermordung Hunderttausender Menschen mit intellek-
tuellen und psychosozialen Problemen führte. Zu den »erblichen Abnormitä-
ten« zählten unter anderem »Schizophrenie«, »manisch-depressive Psychose«,
»schwere Psychopathie«, »Hysterie«, »Homosexualität«, »Drogenabhängig-
keit« und »Alkoholismus« (Slater ). Das »Journal of Abnormal Psycholo-
gy« änderte erst im Jahr seinen Namen in »Journal of Psychopathology
and Clinical Science«. Auch Lehrbücher mit entsprechenden Titeln sind nach
wie vor im Handel (Raskin ).
Zu den meines Erachtens nicht hinreichend bekannten Fakten der Wis-
senschasgeschichte gehören die unrühmlichen Beiträge der frühen Statistik
85
und der frühen Psychologie zur Eugenik, die etwa mit den Namen Francis Gal-
ton (Normalverteilung), Karl Pearson (Korrelationskoezient) oder Ronald
A. Fisher (Maximum-Likelihood-Schätzverfahren) verbunden sind (Yakushko
). Die in den Klammern genannten Konzepte und Verfahren gehören bis
heute zu den Grundlagen der Statistik und werden an jeder Hochschule unter-
richtet. Interessanterweise ist das Konzept des »Normalen« erst durch die Sta-
tistik entwickelt worden und hat sich erst im Lauf des . Jahrhunderts so weit
popularisiert, dass es heute zur Alltagssprache gehört. Wie die einschlägige
historische Forschung herausgearbeitet hat, entwickelte sich durch die Entde-
ckung der Normalverteilung erst die Vorstellung, dass das Durchschnittliche
auch das Gesunde sein müsse (Cryle & Stephens ). Die Vorstellung des
»Normalen« und des »Abnormalen« ist also ebenso durch soziokulturelle Ein-
üsse geprägt wie schon die Idee der »psychischen Störung«.
Auch das Konzept der Normalität prägt nicht nur Psychologie oder Psy-
chiatrie, sondern nahezu alle Bereiche der Medizin und Gesellscha. Doch
bei vielen klinisch Tätigen herrscht bis heute die Überzeugung, bei »psychi-
schen Störungen« handele es sich um klar abgrenzbare Krankheitsentitä-
ten, die abnormale Zustände sind. Diese Überzeugungen entstanden in den
er-Jahren, wo es vor allem in der US-amerikanischen Psychiatrie erheb-
liche Anstrengungen gab, die Psychiatrie als ein medizinisches Fachgebiet zu
etablieren. Es handelte sich zum einen um eine Reaktion auf die antipsychia-
trische Bewegung, zu denen unter anderen der verschiedentlich schon ange-
sprochene Psychiater omas Szasz, der Philosoph Michel Foucault oder die
Soziologen Erving Goman und omas Sche gezählt wurden. Diesen Au-
toren gemeinsam war die Überzeugung, dass soziale und kulturelle Faktoren
prägend, wenn nicht sogar entscheidend für die Wahrnehmung »psychischer
Krankheiten« sind. Zum anderen sollte mit der Verortung in der Medizin der
massiven Kritik an der Psychiatrie entgegengetreten werden, die vor allem
nach dem sogenannten Rosenhan-Experiment aufgetreten war. Dieses Experi-
ment, bei dem der Forscher David Rosenhan selbst und andere Personen psy-
chiatrische Symptome spielten und in mehreren Kliniken stationär aufgenom-
men wurden, hatte nach der Veröentlichung in dem Publikationsagschi
»Science« (Rosenhan ) hohe Wellen geschlagen. Anschließend wurde die
Fundamentalkritik Rosenhans am psychiatrischen Diagnosesystem und seine
wissenschaliche Methodik zurückgewiesen – Letzteres zu Recht, wie wir wis-
86
sen heute, da höchst fragwürdige Vorgehensweisen bei seinen Experimenten
angewendet wurden (Cahalan ). Zudem wurde diese Kritik als Ansporn
genommen, wissenschaliche Prozeduren einzuführen, welche die Reliabilität
der Diagnosen verbessern (Spitzer ), also dafür sorgen sollten, dass Symp-
tome von unterschiedlichen Behandelnden zuverlässig den gleichen Diagno-
sen zugeordnet werden.
Der Versuch, die Psychiatrie zu einem medizinischen Fachgebiet wie alle
anderen zu machen, gipfelte in einer Art Manifest des seinerzeitigen Präsiden-
ten der US-amerikanischen Behörde für Alkohol- und Drogenmissbrauch und
psychische Gesundheit ADAMHA, Gerald Klerman (Klerman ). Er stellte
unter anderem folgende esen auf:
». Die Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin.
. Die Psychiatrie sollte moderne wissenschaliche Methoden
anwenden und ihre Praxis auf wissenschalichem Wissen basie-
ren.
. Die Psychiatrie behandelt Menschen, die krank sind und Behandlung
für die psychische Krankheit benötigen.
. Es gibt eine Grenze zwischen dem Normalen und dem Krankhaf-
ten.
. Es gibt unterschiedliche psychische Krankheiten. Psychische Krank-
heiten sind keine Mythen. Es gibt nicht eine, sondern viele psychische
Krankheiten. (...)
. Der Fokus der psychiatrischen Ärztescha sollte insbesondere auf
den biologischen Aspekten der psychischen Krankheiten liegen.«
(Klerman : )
Am Beispiel der Schizophrenie verdeutlichte Klerman sein Krankheitskon-
zept. Bestimmte Erfahrungen und Verhaltensweisen seien seiner Ansicht nach
als abnormal zu klassizieren. Es gebe zwar eine gewisse Übereinstimmung
mit dem emotionalen Leben der »Normalen«, aber die Intensität, die Dauer
und das Ausmaß der Störung würden nahelegen, dies alles als Krankheit zu
klassizieren.
Wie schwierig und – so muss es am Ende formuliert werden – wie
willkürlich die Grenzziehung ist, zeigt die Entwicklung der sogenannten
Feighner-Kriterien. Diese Schwierigkeiten gehen zurück auf Studien in den
er-Jahren, wo – wie auch später im US-amerikanischen Diagnosema-
87
nual DSM – die Diagnose eines bestimmten Störungsbilds von der Anzahl
von Symp tomen abhängig gemacht wurde; so mussten beispielsweise für die
Diagnose einer Depression sechs von zehn Symptomen vorhanden sein. Als
Jahrzehnte später einer der Verfasser gefragt wurde, wieso denn gerade sechs
von zehn, antwortete er: »It sounded about right.« (»Das klang irgendwie ganz
sinnvoll«; Kendler et al. : ) Diese eher willkürliche Praxis wurde in spä-
teren Versionen der Feighner-Kriterien beibehalten. Zentrale Kriterien wur-
den nach klinischer Einschätzung und nicht auf der Basis empirischer Studien
gesetzt.
Die aktuelle Denition psychischer Störungen im ICD-, der . Version
der WHO-Klassikationssystems, die Anfang in Kra getreten ist, lautet
folgendermaßen:
»Psychische, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen sind Syndrome,
die durch klinisch signikante Störungen in der Kognition, Emoti-
onsregulation oder im Verhalten eines Individuums charakterisiert
sind, welche eine Dysfunktion in psychologischen, biologischen oder
Entwicklungsprozessen reektieren, die psychischer oder verhaltensbe-
zogener Funktionsfähigkeit zugrunde liegen. Diese Störungen hängen
gewöhnlich mit Belastungen (›distress‹) oder Beeinträchtigungen im
persönlichen, familiären, sozialen, Ausbildungs-, Arbeitsbereich oder
anderen wichtigen Bereichen der Funktionsfähigkeit zusammen.«
(WHO b)
Anhand dieser doch recht komplexen Denition wird deutlich, dass die Pro-
bleme mit der Grenzziehung und den damit zusammenhängenden Kriterien
auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen.
• Es wird auf klinische Signikanz abgehoben, das heißt, auf die Einschät-
zung von Fachpersonen zum Ausmaß eines Phänomens.
• Es wird eine Dysfunktion im Denken, Fühlen und Handeln postuliert. Hier
geht es also um idealerweise objektivierbare Fehlfunktionen im Gehirn oder
im Verhalten, auf denen jene klinische Einschätzung beruht.
• Es geht um Belastungserleben sowie um Beeinträchtigungen, welche sich
im Alltag der betroenen Personen bemerkbar machen.
Klinische Signikanz besteht oensichtlich aus Merkmalen, die für Fachper-
sonen eine deutliche Abweichung von gesunden Zuständen abbilden. Welche
88
Anzeichen dies sind, wird üblicherweise über Klassikationssysteme wie der
ICD deniert. Für eine schwere depressive Episode sprechen beispielsweise
eine deutlich herabgesetzte Stimmung, vermindertes Interesse an Alltagsak-
tivitäten, Konzentrationsprobleme oder Gefühle von Wertlosigkeit. Grenzzie-
hungsprobleme sind erkennbar, wenn es darum geht, zu beschreiben, ab wel-
chem Stimmungsgrad von einer Herabsetzung gesprochen werden kann, ab
wann ein Interesse an Alltagsaktivitäten als vermindert gelten sollte oder wie
ausgeprägt Gefühle von Wertlosigkeit sein sollen, um als klinisch signikant
zu gelten. Dabei wird die klinische Signikanz mit einem Vergleich zu »nor-
malen« oder »gesunden« Referenzklassen festgestellt. Die Validität und Relia-
bilität dieser Feststellungen sind jedoch nicht sonderlich ausgeprägt, denn wir
wissen nicht, was »normal« und »gesund« bedeuten.
Noch problematischer ist der Verweis auf psychische oder biologische
Prozesse, die dysfunktional sein sollen. Da es keine validen Biomarker für die-
se Dysfunktionen gibt, ist die Fachperson auf Beobachtungen und Interviewer-
gebnisse angewiesen, die hypothetisch Verbindungen zu mentalen Prozessen
herstellen können. Selbst wenn es solche Marker irgendwann geben sollte–
was aus meiner Perspektive nicht sonderlich wahrscheinlich ist –, bleibt die
Frage, was der Norm entspricht und was nicht.
Nicht minder problematisch ist der Verweis auf Belastungen oder Be-
einträchtigungen in sozialen Beziehungen oder anderen Bereichen des All-
tagslebens. Wo ist etwa die Grenze bei der Anzahl oder der Intensität von
Sozialkontakten zu ziehen? Im Arbeits- oder Ausbildungsbereich kann sicher
gesagt werden, dass erhebliche Fehlzeiten zu Schwierigkeiten führen werden.
Aber wo ist die Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Fehlzeiten zu
ziehen?
Im englischsprachigen ICD- werden für die Diagnosen interessan-
terweise – im Gegensatz zum DSM- und auch im Gegensatz zur deutschen
Übersetzung – Bedingungen beschrieben, welche als »Grenzen zur Norma-
lität (Schwellenwert)« betitelt werden. Für die Schizophrenie (Code A)
wird beispielsweise angemerkt, dass psychotisches Erleben oder entsprechen-
de Symptome in der Allgemeinbevölkerung vorkommen können, diese aber
»gewöhnlich von üchtiger Natur sind und nicht von anderen Symptomen
der Schizophrenie oder einer Verschlechterung der psychosozialen Funktion
begleitet werden« (http://id.who.int/icd/entity/; ..). Bei
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der Depression wird beschrieben, dass diese als normale Reaktion auf be-
stimmte negative Lebensereignisse vorkommen kann, aber sich von diesen
durch »Schwere, Ausmaß und Dauer« unterscheidet (http://id.who.int/icd/
entity/; ..). Diese Abgrenzungsversuche sind auf der einen
Seite sicher wichtig und lobenswert, bleiben auf der anderen Seite aber auch
vage.
Wie geht die psychiatrische Forschung mit dieser Problematik um? Ge-
nerell existieren wiederum zwei Lager: Im ersten werden körperliche Indika-
toren gesucht, welche geeignet sind, krank und gesund zu unterscheiden. Im
zweiten geht es um die gesellschalichen Werte oder Konstrukte, die Men-
schen als psychisch krank erscheinen lassen.
Biologische Unterscheidungsversuche
Innerhalb des ersten, biologischen Lagers lassen sich wiederum drei Ansätze
unterscheiden:
Der »klassische« Ansatz beruht auf der biostatistischen eorie von
Christopher Boorse (Boorse ). Hier werden Gesundheit und Krankheit
eines Individuums in Bezug zu einer vergleichbaren Gruppe von Organismen
oder Menschen deniert. Gesunde Menschen verfügen demnach über die ty-
pischen Eigenschaen dieser Gruppe, die diese braucht, damit ihre Mitglieder
überleben und sich reproduzieren können. Gesellschaliche Werte spielen in
diesem Ansatz keine Rolle. Das ist allerdings zu kurz gegrien, wie die ein-
schlägige Forschungsliteratur festgestellt hat (Kingma ). Mit Blick auf die
sexuelle Orientierung wird dies deutlich. Homosexuelle Orientierungen zum
Beispiel stehen der menschlichen Reproduktion in vielen Fällen entgegen und
würden nach der biostatistischen eorie als Störung klassiziert werden müs-
sen.
Der zweite Ansatz kreist um die von Jerome Wakeeld () postu-
lierten »schädlichen Dysfunktionen« (»harmful dysfunctions«). Eine psychi-
sche Störung basiert demnach auf während der menschlichen Entwicklung
selektierten Funktionen, die sich im Hinblick auf den Alltag als dysfunktional
erweisen. Als Beispiel kann ein hoher Adrenalinspiegel dienen, der für den
Moment das Individuum zu Höchstleistungen befähigt, auf Dauer aber krank
90
macht (Stressfaktor). Wakeelds Ansatz gilt heute als Quasistandard in der
klinischen Denition psychischer Störungen, wie sie in den Klassikationen
DSM und ICD zu nden sind (Zachar ). Allerdings ist dieser Ansatz schon
früh kritisiert worden (Lilienfeld & Marino ) und ist bis heute umstritten
(Faucher & Forest ). Kritisiert wird zum Ersten das Postulat, die biopsy-
chologischen Dysfunktionen seien evolutionär selektiert worden, zum Zwei-
ten die Unterscheidung von Funktionalität und Dysfunktionalität selbst und
zum Dritten die auch von Wakeeld eingeräumte Schwierigkeit, hier eine klare
Grenze zu ziehen. Letzteres ist aber nach seiner Ansicht kein grundlegendes
Problem, da die besonders markanten Extremwerte als Störung auf einer Ver-
teilung gelten würden (Wakeeld ).
Für den dritten Ansatz dienen die schon angesprochenen Biomarker der
Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit. Ein Biomarker ist ein »Merkmal,
das objektiv gemessen und bewertet wird als ein Indikator normaler biologi-
scher Prozesse, pathogener Prozesse oder pharmakologischer Reaktionen auf
eine therapeutische Intervention« (Biomarkers Denitions Working Group
: ). Die Honung ist, dass Laborbefunde oder Bildgebungsverfahren
klare Belege für eine Erkrankung liefern, wie es etwa bei der Alzheimerdemenz
der Fall ist. Für psychische Störungen ist es jedoch bis heute nicht gelungen,
solche eindeutigen Biomarker zu nden.
Das ist auch einer der Gründe, warum die aktuell gültigen Klassikati-
onssysteme der Psychiatrie wie das US-amerikanische DSM oder die ICD der
WHO nun von der biologischen Forschung infrage gestellt werden. Statt den
in der Regel künstlich gezogenen Demarkationen zwischen Gesundheit und
Krankheit favorisiert die biologische Forschung ein dimensionales Konzept,
bei dem die Merkmale kontinuierlich verteilt sind (Yee et al. ).
Ob damit allerdings das grundlegende Problem der Grenzziehung gelöst
werden kann, darf bezweifelt werden. Robert Plomin, einer der bekanntesten
und bedeutendsten Verhaltensgenetiker, wies unlängst darauf hin, dass sich
die Merkmale, welche für die Klassizierung psychischer Störungen herange-
zogen werden, nicht qualitativ, sondern rein quantitativ unterscheiden.
»Die genetische Forschung zeigt, dass das medizinische Modell vollkom-
men falsch ist in Bezug auf psychologische Probleme. Was wir als Störun-
gen bezeichnen, sind nur die Extreme derselben Gene, die sich in einer
normalen Verteilung bemerkbar machen.« (Plomin : )
91
Seine Konsequenz: »Abnormal ist normal«. Das heißt, auf Basis biologischer
Merkmale kann nicht sinnvoll zwischen krank und gesund unterschieden wer-
den.
Normative Unterscheidungsversuche
Im Wertelager (Bracken & omas ; Sadler ) wird in der Regel ver-
sucht, normative Merkmale im Sinne sozialer Abweichung oder Devianz als
»krank« zu klassizieren und dafür zu sorgen, dass die dermaßen bezeichne-
ten Personen – unter Umständen auch gegen ihren Willen – psychiatrisch be-
handelt werden. Die Geschichte der Psychiatrie ist voller Beispiele, sie reichen
von dem vermeintlich krankhaen Drang der Sklavinnen und Sklaven in den
Vereinigten Staaten, aus ihrer Situation zu iehen (»Drapetomanie«) bis hin
zum schon vom zitierten Umgang mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen,
die noch bis im DSM als krank beschrieben wurden.
Zwar werden heute ausschließliche moralische Wertungen als nicht
hinreichend für eine psychiatrische Diagnose betrachtet, dennoch sind sie
nicht gänzlich verschwunden, wie beispielsweise die nachfolgende Beschrei-
bung der »Störung mit zwanghaem Sexualverhalten (Code C)« im ICD-
zeigt:
»Zu den Symptomen gehören u. a., dass wiederholte sexuelle Aktivi-
täten so sehr in den Mittelpunkt des Lebens der Person rücken, dass
Gesundheit und Körperpege oder andere Interessen, Aktivitäten und
Verantwortlichkeiten vernachlässigt werden, dass zahlreiche erfolglose
Bemühungen unternommen werden, um das wiederholte Sexualverhal-
ten deutlich zu reduzieren, und dass das wiederholte Sexualverhalten
trotz nachteiliger Folgen fortgesetzt wird oder wenig oder keine Befrie-
digung ndet.«
In den Klassikationssystemen ICD und DSM wird oziell nicht von Abwei-
chung oder Devianz gesprochen. Gesellschaliche Normen gehören schon aus
formalen Gründen nicht in ein Krankheitskonzept. Die Rede ist aber von Dys-
funktionen – nicht im Sinne von Wakeelds Modell der schadensbezogenen
Dysfunktion, die auf evolutionären Selektionsmechanismen beruht, sondern
Sinne einer Belastung oder Behinderung (Rashed & Bingham ). Dann
92
heißt es zum Beispiel, dass sich zu viel Alkoholkonsum dysfunktional auf die
Gesundheit auswirkt, dass eine depressive Stimmung sowohl die körperliche
Gesundheit wie soziale Beziehungen beeinträchtigt, oder dass, wie im Zitat
oben, »zwanghaes Sexualverhalten« zur Vernachlässigung der Körperpege
führen kann.
Durch die Hintertür werden auf diese Weise dann doch soziale und nor-
mative Wertungen aufgerufen. Was einen Menschen stresst und behindert,
ist eben nicht allein von psychischen Phänomenen abhängig, sondern auch
davon, wie die soziale Umwelt dies sieht und darauf reagiert. Warum sollte
ein junger Mann seine Körperpege nicht vernachlässigen dürfen, beispiels-
weise zugunsten permanenten Pornokonsums und andauernder Masturbati-
on? Selbst wenn dies von seiner Umwelt nicht toleriert werden sollte und er
Pichten vernachlässigt, etwa nicht mehr zur Schule oder zur Arbeit geht, was
macht dieses Verhalten zu einem pathologischem, wenn er selbst nicht darun-
ter leidet und anderen nicht schadet?
Bewertungen aus der sozialen Umwelt sind im Übrigen nicht nur für
psychische Phänomene relevant. Um im Feld der Sexualität zu bleiben: Die
sogenannte erektile Dysfunktion ist ein recht weitverbreitetes Phänomen, das
nicht nur mit zunehmendem Alter auritt. Rein biologisch betrachtet könnte
allein die nicht oder nicht ausreichend vorhandene Erektion unter sexueller
Stimulation als Dysfunktion deniert werden. In einer sexuellen Beziehung
wird aber aus therapeutischer Sicht die nicht vorhandene Erektion erst dann
zu einer Dysfunktion, wenn sie sich negativ auf diese Beziehung auswirkt und
Leidensdruck erzeugt. Wenn jedoch zufriedenstellende erotische Umgangs-
formen für alle Beteiligten entwickelt werden oder aber einvernehmlich auf
bestimmte Formen von Sexualität ganz verzichtet wird, dann handelt es sich
nicht mehr um eine Dysfunktion.
Und so ist es auch bei psychischen Phänomenen. Selbst aus einer neu-
rowissenschalichen Perspektive wird mittlerweile anerkannt, dass psychische
Probleme aus einer Kombination von dimensionalen Ausprägungen einer be-
stimmten Eigenscha und Behinderungen durch die jeweilige Umwelt entste-
hen:
»Manchmal haben wir vielleicht extreme Werte in einer Dimension,
aber das Ausmaß der Problematik hängt von vielen Faktoren ab, unter
anderem von den Umwelten.« (Prat : )
93
»Normalität« ist gemäß dieser Perspektive eine Mischung aus typischen und
funktionalen Eigenschaen. Und beides, das Typische und das Funktionale, ist
mit normativen sozialen Wertungen durchsetzt.
In einer sozialen Umgebung, die deutlich toleranter auf Substanzkon-
sum, Halluzinationen oder Stimmungsschwankungen reagiert, würden sich
Menschen mit diesen Phänomenen weniger belastet oder gar behindert fühlen.
Gesellschaliche normative Wertungen lassen sich in diesem Zusammenhang
gar nicht vermeiden (Martin ): Warum soll ich nicht mehr trinken als mir
meine Umwelt zugesteht? Warum soll ich keine schlechte Stimmung haben dür-
fen? Warum soll ich nicht mehr Sex oder weniger Sex haben als gemeinhin für
normal betrachtet wird? Bei den Dysfunktionen oder Deziten handelt es sich,
wie unlängst im Rahmen einer entsprechenden Analyse aus dem Autismusbe-
reich festgestellt wurde, um »[n]eurokognitive Unterschiede in neurotypischen
Umgebungen« (Legault et al. ). Es sind eben die »typischen« sozialen Um-
gebungen, welche festlegen, was denn ein Dezit oder eine Dysfunktion ist.
Insbesondere der Begri der Behinderung wird in jüngerer Zeit primär
sozial deniert. Der bereits mehrfach angesprochenen UN-BRK liegt – wie im
ersten Kapitel beschrieben – explizit ein soziales Modell zugrunde, das den
Grund für die Behinderung nicht mehr in der Person sieht, sondern in der
Umwelt (Palacios ). Deshalb wird die Umwelt bereits heute vielerorts so
gestaltet, dass etwa Menschen mit Rollstühlen den öentlichen Verkehr besser
nutzen können oder Menschen mit Sehbehinderungen akustische Signale an
Ampeln erhalten. Wie bei psychosozialen Problemen soziale Umwelten zu ge-
stalten wären, sodass die davon betroenen Menschen besser inkludiert wer-
den, ist nicht so oensichtlich, aber möglich. Rehabilitationsprogramme wie
Supported Employment oder Supported Housing sehen genau dies vor (Rich-
ter et al. ). Aber wenn die Umwelten optimiert sind, dann stellt sich natür-
lich die Frage, ob die betroene Person noch behindert ist. Und was bedeutet
das für die Diagnose einer psychischen Störung? Können wir zwischen »psy-
chisch gesund« und »psychisch krank« wirklich sauber unterscheiden?
In neueren Publikationen zu diesem emenkreis werden inzwischen
Begrie wie »vage« oder »fuzzy« benutzt, um die mangelnde Grenzziehung
zwischen krank und gesund in der Psychiatrie zu beschreiben (Keil et al. ).
Der frühere Präsident des größten US-amerikanischen Forschungsinstituts in
der Psychiatrie, Steve Hyman, hat das Problem auf dem Punkt gebracht:
94
»Die Grenze zwischen krank und gesund erfordert soziale Entschei-
dungen (›policy decisions‹) bezüglich des Setzens der Schwellenwerte,
genauso wie es in allen Fällen der Medizin ist, bei denen Störungen
quantitative Abweichungen von der Gesundheit repräsentieren.«
(Hyman : )
Diese Problematik betri nicht die Psychiatrie allein, sondern ndet sich in
vielen medizinischen Fachgebieten (Hofmann ). Das Besondere an der
Psychia trie ist, dass Menschen mit psychosozialen Problemen unter Umstän-
den gegen ihren Willen mit einer Diagnose versehen, in einer Einrichtung un-
tergebracht und sogar behandelt werden können. Deshalb ist die Frage nach der
Grenze zwischen psychisch krank und psychisch gesund fachlich und ethisch
weit herausfordernder als die Frage, wo die Grenze der Hypertonie oder des Di-
abetes mellitus zu ziehen ist. Eine gesundheitliche Selbstgefährdung im Rahmen
eines Diabetes hat keine Zwangsmaßnahme zur Folge, eine Selbstgefährdung
im Rahmen einer diagnostizierten depressiven Störung hingegen schon.
Kann zwischen verschiedenen psychischen
Störungen unterschieden werden?
Klassikationssysteme und darin beschriebenen Diagnosen haben verschiede-
ne Zwecke. In praktischer Hinsicht sollen sie dazu dienen, sich Klarheit über die
verschiedenen Krankheitsbilder zu verschaen, die Kommunikation zwischen
allen Akteuren zu erleichtern sowie die Abrechnung mit Kostenträgern zu er-
möglichen. Für die Wissenscha sollen Diagnosen eindeutige Denitionen
und Kriterien liefern, die es erlauben, Forschung zu Ursachen oder erapie-
möglichkeiten durchzuführen. Alle diese Funktionen setzen voraus, dass un-
terschiedliche Krankheitsbilder voneinander abgegrenzt werden können.
In der Medizin generell werden die entsprechenden Klassikations-
systeme regelmäßig revidiert, um neue wissenschaliche Erkenntnisse in die
Krankheitsbeschreibungen einießen zu lassen. Dies gilt selbstverständlich
auch für das DSM und die ICD. Mit der Revision des DSM-IV hoen viele
Fachpersonen wie auch Forschende, die im vorherigen Abschnitt angespro-
chene Schwierigkeit der Unterscheidung von krank und nicht krank überwin-
den zu können. Grundsätzlich war man sich einig, dass ein kategoriales System
95
wenig taugt, um der Komplexität psychischer Probleme gerecht zu werden.
Stattdessen sollte ein kontinuierliches und dimensionales System entwickelt
werden (Lilienfeld & Treadway ). Am Ende allerdings wurde dann doch
nur das das bestehende kategoriale System nachgebessert, aber nicht ersetzt,
weil dies praktikabler erschien.
Neben der Kategorialität war vor allem die Validität der Krankheits-
bilder und ihrer Kriterien ein großes Diskussionsthema. Die Validität meint
hier, ob die Beschreibungsmerkmale tatsächlich für das zugrunde liegende
Krankheitsbild zutreen. Als Reaktion auf das Rosenhan-Experiment wurde
die Interraterreliabilität verbessert. Die Interraterreliabilität ist in diesem Zu-
sammenhang ein Maß für die Übereinstimmung verschiedener Fachpersonen
hinsichtlich der Diagnosen. Das heißt, psychiatrische Fachpersonen konnten
sich auf Merkmale einigen, die eine Diagnose ausmachten. Ob die Diagnosen
jedoch bestimmte biopsychologische Einschränkungen repräsentierten, darü-
ber konnten keine Aussagen gemacht werden.
Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich vor einigen Jahren eine Initia-
tive gegründet, die neue Kriterien für die Psychopathologie entwickeln will.
Gefördert vom US-amerikanischen Nationalen Forschungsinstitut für psychi-
sche Gesundheit (NIMH) versucht die Research-Domain-Criteria-Forschung
(RDoC) anstelle der üblichen Verhaltensmuster und Beobachtungen nunmehr
sogenannte Endophänotypen zu etablieren. Voraussetzung dafür ist es, Mar-
ker zu identizieren, die idealerweise biologische oder neuropsychologische
Dysfunktionen repräsentieren. In der Folge wurden sechs Domänen für die
gesamte Psychopathologie deniert – negative Valenz, positive Valenz, kogni-
tive Systeme, Systeme für soziale Prozesse, Systeme der Erregung und Regula-
tion und sensomotorische Systeme (Michelini et al. ) –, die neue Impulse
für die – primär biologische – Ursachenforschung psychischer Erkrankungen
schaen sollen.
Ein ähnliches Ziel verfolgt die HiTOP-Systematik. HiTOP steht für
»Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie« (Kotov et al. ). Basie-
rend auf statistischen Analysen von Symptomen und Syndromen sind sechs
Spektren deniert worden: Somatoform, Internalisierung, Denkstörung, Dis-
tanziertheit/Sozialer Rückzug (»Detachment«), Enthemmte Externalisierung,
Antagonistische Externalisierung (Kotov et al. ). Die Autorinnen und Au-
toren des HiTOP-Ansatzes versprechen sich von diesem vergleichsweise re-
96
duzierten Rahmen sowohl eine bessere Ursachenbezogenheit als auch einen
besseren klinischen Nutzen.
Noch reduzierter ist der P-Faktor-Ansatz. Analog zum G-Faktor der
allgemeinen Intelligenz (»General Intelligence«) beschreibt dieser Faktor die
allgemeine Psychopathologie. Empirisch basiert der P-Faktor auf der vor al-
lem in der Entwicklungspsychologie sehr bekannten Dunedin-Studie. Dabei
handelt es sich um eine Längsschnittkohortenstudie aus Neuseeland, bei der
eine Geburtskohorte über mehrere Jahrzehnte begleitet und immer wieder neu
untersucht wurde (Caspi et al. ). Im Lebensverlauf der von psychischen
Problemen betroenen Personen ergab sich eine recht hohe Komorbidität
verschiedener Störungsbilder, sodass erhebliche Zweifel an der Unterschied-
lichkeit der Problemlagen auauchten. Die Forschenden vermuten eine allge-
meine Anfälligkeit (»liability«), die letztlich unspezisch ist, aber insbesondere
kognitive Schwierigkeiten auslösen kann (Caspi & Mott ).
In der Zusammenschau zeigt sich, dass die Forschung bis heute keine
validen und reliablen Kriterien für die Krankheitsbilder benennen kann, die
wir seit Langem zu kennen meinen und von deren Existenz viele Menschen
überzeugt sind. Weder kann eindeutig zwischen verschiedenen Störungsbil-
dern noch zwischen krank und nicht krank unterschieden werden. Die Dia-
gnosen der Klassikationssysteme DSM und ICD haben sich gewissermaßen
verselbstständigt: Fachpersonen haben über Jahrzehnte hinweg bestimmte
Symptome einzelnen Diagnosen zugeordnet, sodass ihnen eine Depression
so real erscheint wie ein Tumor. Die Forschungsdaten geben das aber nicht
her: Psychische Störungen sind nicht wie Tumore, sie sind keine natürlichen
Krankheitsentitäten, sondern pragmatisch gewählte Kategorien, die aus klini-
scher Sicht nützlich erscheinen (Zachar ).
Schlussfolgerung: Menschenrechte und
das reale Konstrukt der psychischen Störung
Wie schon im ersten Kapitel beschrieben, wurde omas Szasz Anfang der
er-Jahre mit der ese bekannt, psychische Erkrankungen seien ein My-
thos, weil sie biologisch nicht nachweisbar seien (Szasz ). Aus heutiger
Sicht muss man konstatieren, dass die Grundlagenforschung vieles aulären
97
konnte, was für die Pathologie der Psyche relevant ist. Wir wissen heute viel
mehr über die Ursachen, welche zu unterschiedlichem Erleben und Verhalten
von Menschen führen. Allerdings können wir nicht eindeutig sagen, was denn
die »Psyche« eigentlich ist und wir können genauso wenig sagen, was »patho-
logisch« bedeutet.
Heißt das, psychische Krankheiten ein Mythos im Sinne von omas
Szasz sind? Aus meiner Sicht ist das nicht korrekt. Nach meiner festen Über-
zeugung gibt es psychische Krankheiten, aber vermutlich nicht in dem Sinne,
wie sie von den Diagnosesystemen des DSM und ICD klassiziert werden.
Was wir mit psychischen Phänomenen verbinden, sind vor allem soziokultu-
relle Konstrukte. Dies beginnt schon mit dem Konstrukt der Emotion. Lange
war man der Überzeugung, es gebe universelle Emotionen wie Angst oder Är-
ger, welche in jeder Kultur ähnlich Ausdruck nden. Heute hingegen wird von
der aktuellen neurowissenschalichen Forschung die Emotion als ein kulturell
abhängiges Konstrukt gesehen, das keine Reaktion, sondern eine Art Vorher-
sage- und Erwartungsfunktion des Gehirns ist. Das bedeute jedoch nicht, so
die Emotionsforscherin Lisa Feldman Barrett in ihrem Grundlagenwerk zum
ema, dass Emotionen nicht »real« seien:
»Die Unterscheidung zwischen »real in der Natur« und »illusorisch«
ist eine falsche Dichotomie. Angst und Ärger sind real für eine Gruppe
von Menschen, welche übereinstimmen, dass gewisse Veränderungen
im Körper, im Gesicht und so weiter Bedeutung als Emotionen haben.
Mit anderen Worten, Emotionskonzepte haben eine soziale Realität.«
(Barrett : )
Ganz ähnlich nden wir auf der biologischen Ebene keine harte Evidenz für
psychische Krankheiten im Sinne valider Denitionen von »Gesundheit« und
von »Krankheit«. Allerdings sind die meisten Menschen von der Existenz
psychischer Krankheiten überzeugt, und dies legt nahe, das Konzept als ein
soziales Konstrukt zu betrachten. Und um Lisa Feldman Barretts Argument
aufzunehmen: Soziale Konstrukte sind absolut real und haben sehr reale Kon-
sequenzen, wenn die beteiligten Menschen diese Vorstellung teilen. Muss man
aber nicht. Es gibt keine validen Diagnosekriterien. Bei näherem Hinsehen
verschwinden die als sicher angenommenen Eigenschaen der »psychischen
Störung«, eine klare Grenze zwischen »gesund« und »krank« lässt sich nicht
ziehen und soziale Normen lassen sich nicht ausschließen.
98
Diese Unsicherheiten sind es, die es meiner Ansicht nach nicht rechtfer-
tigen, Menschen gegen ihren Willen aus medizinischen Gründen psychiatrisch
zu behandeln. Wenn wir nicht wissen, was genau eine psychische Störung ist,
wenn soziokulturelle Aspekte wichtiger sind als medizinische Kriterien und
wenn wir noch nicht einmal die Existenz der menschlichen Psyche nachweisen
können, dann entfällt nach meiner Überzeugung ein wesentliches Argument
für die Rechtfertigung für die Anwendung von Zwang.
99
Psychosoziale Probleme anders
betrachten: das Spektrenmodell
Welche Konsequenzen hätte es, wenn Zwangsmaßnahmen in der psychiatri-
schen Versorgung nicht länger zu rechtfertigen wären? Was würde daraus
folgen? Eine neue Legitimationsstrategie wäre ein Ausweg, ist jedoch derzeit
nicht in Sicht. Ein weiterer Ausweg könnte eine juristische Regelung sein, wie
sie von George Szmukler vorgeschlagen wurde, dass nämlich Menschen mit
psychischen und nichtpsychischen Krankheiten gleichbehandelt werden sol-
len (»fusion law«), um Diskriminierungen zu vermeiden (Szmukler ).
Dann wäre allein die Feststellung der Urteilsunfähigkeit ausschlaggebend. Al-
lerdings bringt dies neue Schwierigkeiten mit sich. Zum einen müsste eine kla-
re Grenzziehung bei der Urteilsfähigkeit bestehen. Aber auch hier läu man in
die gleichen methodischen Probleme dimensionaler psychischer Eigenschaf-
ten hinein, wie sie im vorherigen Kapitel skizziert wurden; auch die Grenze
zwischen »urteilsfähig« und »nicht urteilsfähig« düre nicht sauber zu ziehen
sein. Zum anderen würde man auch hier eine Zwangsbehandlung nicht in je-
dem Fall mit dem Wohl der betroenen Person begründen können. Deshalb
möchte ich vorschlagen, dass ausschließlich die betroene Person selbst für
sich feststellen kann, ob sie unter einer psychischen Störung leidet und ob sie
therapeutische, nichttherapeutische oder gar keine Hilfe in Anspruch nehmen
will. Dafür brauchen wir ein Modell psychischer Krankheit, welches sowohl
die Akzeptanz als auch die Ablehnung dieses Modells erlaubt. Menschen mit
psychosozialen Problemen hätten demnach die Wahl zwischen einer Selbstde-
klaration, krank zu sein, und einer Selbstdeklaration, nicht krank zu sein.
Sollte sich eine derartige Sichtweise durchsetzen, wären den Menschen-
rechtsverletzungen in der psychiatrischen Versorgung die Grundlage entzo-
gen. Niemand würde mehr gegen seinen oder ihren Willen in der Psychiatrie
aufgenommen oder behandelt werden. Psychiatrische Interventionen wären
auf diejenigen Menschen beschränkt, die sich als krank erleben und auf dieser
Basis medizinische oder therapeutische Hilfe suchen. Die Attestierung einer
»psychischen Störung« von außen wäre nicht mehr zulässig.
100
Von der Neurodiversität
zur neurokognitiven Diversität
In den nachfolgenden Abschnitten versuche ich, zu skizzieren, wie man aus
sozialpsychiatrischer Perspektive ein Verständnis psychischer Störungen oder
Krankheiten schaen kann, das für Betroene, die sich nicht als krank erleben,
anschlussfähig ist.
Es mag den einen Leser oder die andere Leserin überraschen, wenn ich
nun mit biologischen und psychologischen Prozessen argumentiere. Ich bin
allerdings von der Relevanz biopsychologischer Mechanismen für Entstehung
und Erleben psychosozialer Probleme überzeugt. Ohne synaptische Verbin-
dungen kann kein Gedanke und kein Gefühl entstehen, selbst wenn wir die
Übersetzung in ein subjektives Erleben noch nicht aulären konnten und
vielleicht auch nie aulären können. Und daran, dass Gefühle und Gedan-
ken sich auf weiteres Erleben auswirken, kann ebenfalls kein Zweifel bestehen
(Borsboom et al. ), auch wenn wir nicht wirklich wissen, wie diese zustan-
de kommen. Es sind, wie der Neurowissenschaler Antonio Damasio in einem
unlängst erschienenen Buch formuliert hat »funktionale Mechanismen, die es
uns erlauben, einen Prozess mental zu erleben, der eindeutig im körperlichen
Bereich stattndet« (Damasio : ).
Ich beziehe mich im Folgenden auf die neuere neurowissenschaliche
und taxonomische Forschung, welche grundsätzlich von der Dimensionalität
biopsychologischer Sachverhalte ausgeht., Das heißt: Gefühle, Gedanken und
Erleben folgen nahezu immer einer statistischen Verteilung, bei der Grenzen
und Unterschiede nicht klar auszumachen sind. Bei den konventionellen Klas-
sikationssystemen des DSM und ICD ist Komorbidität eines der zentralen
Probleme. Wir wissen, dass verschiedene »Störungsbilder« recht hoch mitein-
ander korrelieren, beispielsweise Angst und Depression. Dieser Umstand hat –
wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben – in den letzten Jahren zu neuen
taxonomischen Vorschlägen bezüglich der Einteilung psychischer Störungen
geführt.
Ein sehr weitgehender Vorschlag ist, wie erwähnt, der P-Faktor, also der
Faktor für eine allgemeine Psychopathologie (Caspi & Mott ). Folgt man
diesem Vorschlag, so ist davon auszugehen, dass dieser in der Bevölkerung
einer gewissen Verteilung vorliegt. Neurotizismus, emotionale Dysregulation,
101
intellektuelle Beeinträchtigungen und Denkstörungen wären in diesem Sinne
Extremmerkmale, welche pathologisiert werden, dazwischen liegt ein Raum
möglicher Merkmalsausprägungen, die unterschiedlich wahrscheinlich sind.
Man kann dieses Risiko für das Individuum auch biopsychologische Vulnera-
bilität oder Verletzlichkeit nennen.
Ein in diesem Zusammenhang häug gebrauchter Begri ist die »Neuro-
diversität«. Er stammt aus der Asperger-Autismus-Bewegung und beschreibt
die Unterschiedlichkeit und das Anderssein von Menschen, die sich selbst als
»neurodivergent« sehen (Silberman ; Singer ). Ihre Neurodivergenz
beruht auf einer biologischen Unterschiedlichkeit, welche sie von Menschen
unterscheidet, die als »neurotypisch« betrachtet werden. Bei aller Unterschied-
lichkeit wird in der Bewegung größter Wert darauf gelegt, nicht als krank oder
behindert etikettiert zu werden. Eher schon sehen sich Menschen mit Autis-
mus als eine »neurologische Minderheit« (Singer : ) und beanspruchen
entsprechende Minderheitenrechte.
Anders zu sein, aber nicht krank, diese Sichtweise hat sich auf weite-
re psychosoziale Phänomene wie ADHS oder Psychosen übertragen, die in
der konventionellen Psychopathologie als Störung etikettiert werden. Dieses
Selbstverständnis wird auch in der Selbsthilfe als ein Ansatz gesehen, von dem
gelernt werden kann (Graby ). Gleichzeitig wird Neurodiversität in der
klinischen Psychiatrie als eine Möglichkeit gesehen, einerseits die Stigmatisie-
rung zu vermindern und andererseits Anpassungen in der sozialen Umwelt
der Betroenen zu erreichen (Sonuga-Barke & apar ). Insofern steht der
Neurodiversitätsansatz dem sozialen Modell der Behinderung nahe, das nicht
auf die Person fokussiert, die behindert ist, sondern auf die Umwelt, die eine
Person behindert, die anders ist als viele andere Menschen.
Wie der Begri der Neurodiversität schon vermuten lässt, wird die Un-
terschiedlichkeit von Individuen biologisch begründet. Es sind demnach die
Gehirne, die anders verschaltet sind als bei den Neurotypischen. Auch wenn
im Neurodiversitätsansatz explizit dem Label der Krankheit widersprochen
wird, legt dies eine gewisse Nähe zu reduktionistischen biologischen Ansätzen
der Psychiatrie nahe, welche die Frage nach dem Wesen psychischer Störungen
so beantworten: »Hirnerkrankungen? Ganz genau« (Insel & Cuthbert ).
Diesem – zumindest terminologisch vorhandenem – Reduktionismus wird
daher auch innerhalb der Neurodiversitätsbewegung in Teilen mit deutlicher
102
Skepsis begegnet (Russel ). Andere sehen hier ein fundamentales Miss-
verständnis:
»Neurodiversität ist die Variation des Geists (›mind‹). Jedes mensch-
liche Wesen unterscheidet sich in gewisser Weise von jedem anderen
menschlichen Wesen bezüglich ihrer neurokognitiven Funktionswei-
sen– wie sie denken, wahrnehmen, wissen, und sich entwickeln, wie
ihre Psychen Informationen verarbeiten und mit der Welt interagie-
ren.« (Walker : )
Dies entspricht auch dem Erkenntnisstand in der allgemeinen taxonomischen
und psychologischen Forschung. Danach werden psychische Probleme primär
durch andere psychische Phänomene getriggert, die allerdings nicht unabhän-
gig von biologischen Einüssen sind. Grübeln fördert Schlafstörungen und
diese wiederum tragen zu einer niedergeschlagenen Stimmung bei, welche
dann erneut die Schlafstörungen verschlimmern kann und so weiter.
Dabei sind psychische Phänomene wie Grübeln oder Niedergeschlagen-
heit in einer Population statistisch graduell verteilt, aber nicht scharf abge-
grenzt. Manche Menschen haben eher eine Tendenz zu Niedergeschlagenheit
als andere, aber die Niedergeschlagenheit als Phänomen kann nicht aus sich
selbst heraus als »krank« oder als »gestört« klassiziert werden:
»Menschen mit einer Diagnose einer psychischen Störung unterschei-
den sich nicht qualitativ von »gesunden« Menschen. Über das gesamte
menschliche Erleben hinweg, das psychische Gesundheit und psychi-
sche Krankheit deniert, unterscheiden sich Menschen graduell, nicht
substanziell« (Conway & Krueger : ).
Gleiches gilt etwa für Halluzinationen. Im Rahmen einer umfangreicheren Be-
völkerungsstudie in Großbritannien wurde etwa eine Zwölf-Monats-Prävalenz
von Halluzinationen von mehr als Prozent gefunden. Jüngere Menschen zeig-
ten dabei eine deutlich höhere Rate als ältere (Yates et al. ). Auch Wahnvor-
stellungen, die konventionell mit Halluzinationen zu den Kernsymptomen einer
Psychose gezählt werden, kommen nicht selten in der Allgemeinbevölkerung
vor. Solche Studienergebnisse werden bereits als mögliches Korrektiv gegen eine
»klinisch verzerrte Sichtweise« betrachtet (Harper ), welche dadurch ent-
steht, dass klinisch Tätige nur Menschen zu Gesicht bekommen, die erhebliche
Probleme aufweisen. Es gibt es aber zahlreiche Menschen mit den gleichen Phä-
nomenen, die diese bestens in ihren Alltag integrieren können.
103
Das heißt zusammengefasst, neben der Neurodiversität, also der Unter-
schiedlichkeit biologischer Merkmale in der Bevölkerung, existiert auch eine
kognitive Diversität. Letzteres bedeutet graduell unterschiedliches Erleben
und Verhalten der Menschen, das nicht von sich heraus als pathologisch klas-
siziert werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Menschen nicht unter
diesen Phänomenen leiden können. Unter Umständen kann eine melancholi-
sche Bendlichkeit so gravierend sein, dass ein Suizid nicht nur erwogen, son-
dern auch ausgeführt wird. Und ebenso können manche Stimmen so bedroh-
lich sein, dass die davon betroenen Menschen sie nicht mehr ertragen. Etwas
nicht auszuhalten zu können, ist allerdings nicht zwingend pathologisch, wie
die Diskussion um die Trauerreaktion als mögliche psychische Störung gezeigt
hat (Horwitz & Wakeeld ). Der Verlust eines geliebten Menschen kann
eine kaum aushaltbare Belastung darstellen und zu Verhaltens- und Erlebnis-
weisen führen, die mit dem DSM oder ICD als Depression eingestu werden
können – aber nicht zwingend müssen.
Am Ende dieser Überlegungen muss daher festgehalten werden, dass
wir über zwei fundamentale Sachverhalte nicht genau wissen, ob und wie sie
zu trennen sind. Erstens können wir biologische und psychische Phänomene
nicht konsequent trennen. Da wir nicht genau sagen können, wie aus einem
neuronalen Impuls ein Gedanke oder ein Gefühl entsteht, empehlt es sich
hier, von neurokognitiven Phänomenen zu sprechen. Und zweitens können
wir gesund und krank nicht klar voneinander unterscheiden, da neurokog-
nitive Phänomene als Dimensionen anzuschauen sind. Aus diesen Gründen
schlage ich vor, diese Dimensionalität als »neurokognitive Diversität« zu cha-
rakterisieren.
Von der neurokognitiven Diversität
zur Soziodiversität
Die biologischen Eigenschaen einer Population, etwa ihre genetische oder
neurobiologische Disposition, folgen einer gewissen Verteilung. Gleiches gilt
für die psychische Bendlichkeit, das kognitive Erleben und Verhalten. Aus
bestimmten biologischen Eigenschaen folgt aber keine spezische psychische
Reaktion. Diese Systemebenen haben ihre eigenen Spielregeln, sie »irritieren«
104
einander, indem sie jeweils Umwelten für die andere Ebene darstellen (Richter
).
Für die psychische Bendlichkeit ist jedoch noch eine weitere Ebene
wichtig, die des Sozialen. Soziale Aspekte tragen im Sinne einer kausalen Ir-
ritation nicht unwesentlich zu dem bei, was als psychische Störung bezeich-
net wird und was ich als psychosoziales Problem beschreibe. Insbesondere
die nachfolgenden Sachlagen sind für das psychische Benden relevant: De-
mograe (u. a. Alters- und Geschlechtsfaktoren), Wirtscha (u. a. soziale Un-
gleichheit und Armut), das Quartier oder die Nachbarscha, in der man lebt
(u. a. Bevölkerungsdichte und Wohnbebauung), die Umwelt (u. a. Kriege und
Konikte sowie der Klimawandel) und soziokulturelle Bedingungen (u. a. so-
ziales Kapital und Bildung; Lund et al. ).
All diese Faktoren sind bedeutsam für die Entstehung und das Aufrecht-
erhalten psychosozialer Probleme, sie bilden wichtige Elemente der sozialen
Umwelt ab. Vor allem die soziokulturellen Faktoren sind für den Stellenwert
psychosozialer Probleme in einer Gesellscha entscheidend. Oben wurde be-
reits der Begri des Loopings gebraucht, den der Philosoph Ian Hacking für
das Wechselspiel zwischen der soziokulturell geprägten Klassikation psychi-
scher Störungen und dem psychischen Erleben der betroenen Personen ge-
prägt hat. Um diese Wechselwirkungen zwischen psychischer Bendlichkeit
und sozialer Umwelt soll es nun gehen.
Die gegenseitige Beeinussung von psychischem Erleben und sozialer
Sphäre zeigt sich nicht nur bei der Diagnostik. Viele psychische Probleme ha-
ben soziale Folgen: Wenn unter Niedergeschlagenheit die Arbeitsfähigkeit lei-
det oder gar Arbeitsunfähigkeit attestiert wird, wenn Wahnvorstellungen eine
Bedrohungslage suggerieren, dann hat das Auswirkungen auf die Menschen,
mit denen man zusammenlebt und arbeitet. Von psychosozialen Problemla-
gen zu sprechen, ist also nur konsequent.
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie tolerant die soziale
Umwelt auf das Erleben und Verhalten reagiert. Insgesamt ist in den vergan-
genen Jahrzehnten eine deutliche Liberalisierung in Bezug auf vormals ver-
achtete, geächtete oder gar kriminalisierte Verhaltensweisen zu beobachten
(Inglehart ). Diese Liberalisierung hängt mit der bereits beschriebenen
Individualisierung zusammen. Homosexualität ist heute in den westlichen
Ländern weder eine Krankheit noch ein kriminelles Vergehen mehr, selbst in
105
den religiös und konservativ geprägten Regionen der Schweiz ist die gleich-
geschlechtliche Ehe mittlerweile in einer Volksabstimmung gutgeheißen wor-
den. Drogenkonsum, zumindest in der Form von Cannabis, wird faktisch
ebenfalls nicht mehr pathologisiert oder kriminalisiert, wenn er sich denn in
Grenzen hält.
Sicher könnte noch viel mehr geschehen. Nach wie vor sind zahlreiche
Verhaltensweisen, die als psychisch krank etikettiert werden, stigmatisiert,
etwa psychotisches Erleben oder die Abhängigkeit von Alkohol. Mir geht es
hier aber um etwas anderes: Die sozialen Folgen psychischer Probleme kön-
nen ähnlich dimensional betrachtet werden wie die Neuro- oder die kognitive
Diversität, nämlich als Soziodiversität. Identische psychische Probleme kön-
nen unterschiedliche soziale Konsequenzen haben. Es hängt primär von der
sozialen Umwelt ab, wie gut oder wie schlecht eine Person mit psychischen
Problemen zurechtkommt. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einer westlichen
Großstadt mit einem dierenzierten psychosozialen Angebot, wird es eher ge-
lingen, im Rahmen eines Supported-Employment-Programms nach einer psy-
chischen Krise zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen (Richter et al.
). Lebt man jedoch in einer verarmten ländlichen Region Osteuropas, in
der solche Programme unbekannt sind, sieht es anders aus.
Soziodiversität entsteht also, wenn psychische Phänomene auf un-
terschiedliche soziale Umwelten treen. Toleranz, Stigmatisierung und das
psychosoziale Unterstützungsangebot gehören zu den zentralen Merkmalen,
welche Soziodiversität im Zusammenhang mit psychosozialen Problemen
ausmachen. Die sozialen Folgen sind vor allem bei ausgeprägten Beeinträch-
tigungen gravierend. Neben der Stigmatisierung ist hier die soziale Exklu-
sio n zu nennen, die viele Menschen mit psychosozialen Problemen erfahren
(Richter& Homann b). Sie erleben Benachteiligungen am Arbeitsmarkt,
erzielen weniger Einkommen, haben weniger soziale Beziehungen und Intim-
beziehungen und können manche Freizeitaktivitäten nicht ausüben. Hinzu
kommt eine – im Durchschnitt – schlechtere körperliche Gesundheit. Viele
Menschen mit ausgeprägten psychosozialen Problemen leben sozial isoliert,
fühlen sich einsam und abgeschnitten vom Rest der Gesellscha (Cogan et al.
).
Zur Soziodiversität trägt aber noch etwas anderes bei. Die moderne
Gesellscha ist kein monolithisches Gebilde, sondern ein komplexes kom-
106
munikatives Mit- und Gegeneinander von Gruppen und Individuen, die
einzelne Sachverhalte sehr unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. Die
Flüchtlingskrise, die Klimakrise und die Coronapandemie haben nicht nur
zu teils drastischen öentlichen Kontroversen geführt, sondern auch zu tätli-
chen Angrien auf einzelne Menschen. Die heutige Gesellscha ist polarisiert
und emotionalisiert. Selbst wenn die Wissenscha zu einem weitreichenden
Fast-Konsens kommt, wie etwa in der Klimafrage oder in der Pandemiebe-
kämpfung, bedeutet dies keineswegs, dass alle Personen die wissenschalichen
Erkenntnisse respektieren und den daraus abgeleiteten Verhaltensvorschlägen
folgen.
Anhand der Coronapandemie kann recht plausibel demonstriert wer-
den, wie die moderne Gesellscha funktioniert, nämlich als funktionale Die-
renzierung. Eine wesentliche Erkenntnis der Soziologie moderner Gesellschaf-
ten ist, dass es keine Autorität oder Wahrheit mehr gibt. Für alle Menschen
verbindliche Wahrheiten und andere Gewissheiten wie die Religion sind mit
dem Übergang zur modernen Gesellscha untergegangen. Die moderne Ge-
sellscha zeichnet sich dadurch aus, dass ihre verschiedenen Teilsysteme wie
Politik, Recht, Wissenscha oder Wirtscha sich gegenseitig beobachten und
beeinussen, ohne dass eines der Teilsysteme die anderen dominiert. Wenn
die Politik während der Pandemie behauptete, sie folge der Wissenscha, galt
dies nur so lange, wie nicht massive Verluste bei den nächsten Wahlen zu be-
fürchten waren (Richter & Zuercher ). Gesellschaliche Teilsysteme fol-
gen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und lassen sich allenfalls irritieren, aber
nicht von außen steuern (Luhmann ).
Selbstverständlich kann das Wissenschassystem nicht darauf verzich-
ten, seine Forschungsergebnisse als »wahr« zu publizieren – Forschungs-
ergebnisse, die von vornherein als »falsch« deklariert würden, hätten keine
Chance auf Veröentlichung. Es sind aber keine absoluten Wahrheiten, die
dort verkündet werden, sondern eben nur wissenschaliche Wahrheiten, also
Beobachtungen eines Teilsystems der Gesellscha. Die Wissenscha »kann
nicht für sich selbst eine Ausnahmestellung beanspruchen und sich selbst in
der Rolle eines externen Beobachters sehen, der die Wirklichkeit (auf wie im-
mer unvollkommene Weise) so beschreibt, wie sie ist.« (Luhmann : )
Wenn sie dies dennoch versucht, wie zuweilen zu beobachten ist, wird sie von
politischen, wirtschalichen oder medialen Realitäten schnell der Naivität
107
überführt. Eine dierenzierte Gesellscha produziert kontextabhängige Beob-
achtungen, und der wissenschaliche Kontext ist nur einer unter vielen. Die
moderne Gesellscha ist polykontextural.
Es kann daher nicht verwundern, wenn andere Teilsysteme wie das
Rechtssystem oder das politische System »psychische Krankheiten« anders be-
urteilen als der wissenschaliche Mainstream. Es wurde in diesem Buch schon
verschiedentlich auf die Vereinten Nationen und deren Unterorganisationen
hingewiesen, die in den letzten Jahren psychiatrische Zwangsmaßnahmen
ganz anders beurteilt haben als psychiatrisch Tätige.
In einer polykontexturalen Gesellscha kann nun nicht für alle verbind-
lich festgestellt werden, wer in dieser Angelegenheit Recht hat. Aus Sicht der
meisten psychiatrisch Tätigen und Forschenden handelt es sich bei Zwangs-
maßnahmen um Interventionen, die erapien ermöglichen, wenn nicht so-
gar selbst therapeutisch sind. Mit Blick auf die UN-BRK sprechen dagegen
Betroene von Menschenrechtsverletzungen, wenn nicht gar von Folter.
Im Kontext der UN-BRK wird auch nicht von Krankheit, sondern von
»psychosozialer Behinderung« gesprochen. In der rechtswissenschalichen
Forschung wird dies als Paradigmenwechsel zugunsten eines sozialen Modells
der Behinderung gesehen. Ziel der UN-BRK ist die vollständige Gleichstellung
und Inklusion von Menschen mit Behinderungen (Doyle Guilloud ).
Der Begri der »psychosozialen Behinderung« wurde vom »Weltnetz-
werk der Nutzenden und Überlebenden der Psychiatrie« (engl. World Network
of Users and Survivors of Psychiatry, WNUSP) geprägt. Für die Mitglieder ist
»psychosoziale Behinderung« die präferierte Bezeichnung für Menschen, die
sich folgendermaßen denieren: »als Nutzende oder Konsumierende psy-
chiatrischer Versorgung; Überlebende der Psychiatrie; Menschen, die Stim-
mungsschwankungen, Angst, Stimmen oder Visionen erleben, verrückt (mad)
sind; Menschen, die psychische Gesundheitsprobleme oder Krisen erleben.«
(WNUSP )
Auälligerweise wird die Nutzung psychiatrischer Unterstützungsange-
bote nicht ausgeschlossen. Die Nutzenden wollen entscheiden, ob sie Hilfe su-
chen und annehmen. Viele begegnen dem Krankheitskonzept mit einer gewis-
sen Skepsis, und diese Skepsis ist verständlich, denn gerade die institutionelle
Psychiatrie ist nicht immer sehr einladend und empathisch mit den Anliegen
vieler Nutzender umgegangen.
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Viele andere Menschen hingegen sind von der Existenz psychischer Stö-
rungen und Krankheiten vollkommen überzeugt. Und die Bereitscha, sich
behandeln zu lassen, steigt deutlich an, wie nahezu alle relevanten empirischen
Indikatoren nahelegen. Besonders bemerkenswert ist die Zunahme bei der
Verschreibung und wohl auch bei der Einnahme psychotroper Medikamente.
In den gesamten OECD-Staaten, also primär westlichen und entwickelten Län-
dern, verdoppelte sich der Konsum von Antidepressiva etwa zwischen
und (OECD ). In der Schweiz stieg der Konsum von Antidepressi-
va zwischen und um knapp Prozent und die Inanspruchnahme
psychiatrischer resp. psychotherapeutischer Praxen um ungefähr Prozent
(Schuler et al. ).
Vor dem Hintergrund dieses diversen Umgangs mit psychischer Krank-
heit und Nichtkrankheit stellt sich daher die Frage: Kann ein Erklärungsmo-
dell psychosozialer Probleme entwickelt werden, das für die gesamte Diversität
des Umgangs anschlussfähig ist?
Von der Krankheit zum Spektrum
Wenn man die Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit aufgeben und
der biologischen und psychischen Diversität Rechnung tragen will, bietet sich
das Spektrenmodell an. Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands
kann beschrieben werden, auf welchen Ebenen sich die biologischen, psycho-
logischen und soziokulturellen Faktoren bemerkbar machen.
Aus Abbildung geht hervor, dass sämtliche dieser Einüsse ihrerseits
als Spektren aufgefasst werden können. Wichtig in dem Zusammenhang ist
die Betonung der überwiegend nichtdeterministischen Zusammenhänge zwi-
schen den verschiedenen Ebenen. In der biologischen Forschung wird aktuell
von verschiedenen Genotyp-Phänotyp-Prozessen ausgegangen, die Variabili-
tät in einer Population herstellen. Die Rede ist dort von stochastischen (also
zufälligen) Zusammenhängen genauso wie von nichtdeterministischen, nur
in bestimmten Fällen besteht ein Kausalzusammenhang (Hiesinger, Hassan
). Da hier nur eine zweidimensionale Abbildung der Verhältnisse möglich
ist, sollen die unterbrochenen Linien diesen Sachverhalt indizieren.
109
Auf der genetischen Ebene existiert eine Diversität, die zu entsprechen-
den Risiken führt, bestimmte biologische oder psychische Eigenschaen zu
entwickeln – oder nicht (Moreno-De-Luca & Martin ). Mit einem gewis-
sen genetischen Prol erhöht sich demnach das Risiko, Stimmen zu hören
(oder nicht) oder eine eher depressive Weltsicht zu haben (oder eben nicht).
Gleiches gilt auch für die neurobiologische Variabilität (Bethlehem et al. )
oder, mit der hier gebrauchten Terminologie, der neurobiologischen Diversi-
tät. Auch hier gilt, dass bestimmte Eigenschaen das Risiko für die genannten
(und viele andere) Merkmale erhöhen oder vermindern können.
Etwas komplizierter ist die psychologische Ebene. Auch hier wird von ei-
ner psychischen Diversität ausgegangen, doch ist hier die Variation die Norm.
An dieser Stelle stoßen, wie in Abbildung angedeutet, biologische und sozio-
kulturelle Faktoren zusammen.
Mittlerweile existiert eine umfangreiche Evidenz der soziokulturellen
Einüsse auf psychische Phänomene wie Emotionen (Barrett , ). Es
Das Spektren-Modell psychosozialer Probleme
Ausmaß
Anzahl
Menschen
»nicht krank«
geringe Belastung
resilient
geringes Risiko
geringes Risiko
geringes Risiko
»krank«
hohe Belastung
vulnerabel
hohes Risiko
hohes Risiko
hohes Risiko
Soziokulturelle Prägung
Biologische Prägung
Lebensereignisse, materielle Umwelt
Bewertung
Psychosoziales Problem
Psychologische Aspekte
Genetische Faktoren
Neurobiologische Grundlagen
Soziale Umwelt
110
ist auch durch viele Studien belegt, dass diese in unterschiedlichen Kulturen
unterschiedlich ausgeprägt sind (Mesquita ). Auch dieses Zusammenspiel
von Biologie und Soziokultur wirkt sich auf die psychische Vulnerabilität bzw.
Resilienz aus (Shaer et al. ).
Zur sozialen Umwelt bzw. Lebenssituation gehören Merkmale wie Ein-
kommen oder soziale Kontakte. Die Verteilung oder aber Veränderungen bei
diesen Merkmalen haben einen Risikozusammenhang mit psychosozialen
Problemen. Soziale Umweltfaktoren sind dabei genauso bedeutsam wie gene-
tische oder neurobiologische Faktoren (omson et al. ).
Die etwas dickere gestrichelte Linie trennt die psychischen Phänomene
und die auf diese wirkenden biologischen, psychologischen und sozialen Ein-
üsse von den psychosozialen Problemen und ihrer Bewertung. Psychosoziale
Probleme sind als Kombination aus biologischen, psychologischen und sozi-
alen Eigenschaen zu denken, daher auch hier die schwarz-grau kombinierte
Linie. Diese Probleme liegen wiederum auf einem Spektrum, das die Belastung
beschreibt.
Vom psychischen Phänomen
zum psychosozialen Problem
Doch wie kommt es, dass psychische Phänomene oder Zustände zu psycho-
sozialen Problemen werden? Um diese Frage zu beantworten, muss noch ein-
mal etwas ausgeholt und auf die aktuelle Neurowissenscha Bezug genommen
werden. Eine der vielversprechendsten eorien derzeit ist der »Active Infe-
rence«-Ansatz (Friston et al. ; Parr et al. ). Dieser Ansatz, den man am
besten mit »Aktive Schlussfolgerung« oder »Aktive Inferenz« übersetzen kann,
geht auf ein Forschungsprogramm aus der mathematischen Psychiatrie zurück
(»Computational Psychiatry«; Friston et al. ), welches mit der ese arbei-
tet, dass die zentrale Funktion des menschlichen Gehirns die Vorhersage ist.
Das menschliche Gehirn, so die derzeitige Forschungssicht, verarbeitet Infor-
mationen nicht, sondern konstruiert diese. Das heißt, der Informationsuss
geht nicht von außen nach innen, von der Umwelt ins Gehirn, wie wir intuitiv
annehmen. Gegen die menschliche Intuition ist es genau umgekehrt, vom Ge-
hirn aktiv in die jeweilige Umwelt (Buzsáki ).
111
Die Aktive Inferenz geht zurück auf die mathematischen eorien o-
mas Bayes’, einen englischen eologen des . Jahrhunderts, der jedoch we-
niger durch die eologie als vielmehr durch Arbeiten zur Statistik und zur
Wahrscheinlichkeitstheorie bekannt wurde und dessen eorie heute gro-
ße Popularität in der Statistik (Lee ) sowie in der Wissenschastheorie
(Sprenger & Hartmann ) genießt. Bayes’ Problem war – sehr vereinfacht
formuliert – die Frage, wie wahrscheinlich ein Ereignis eintreten wird, wenn
wir bestimmte Vorinformationen bei der Vorhersage berücksichtigen.
Das Verhältnis von vorherigen Zuständen, Annahmen und Erwartun-
gen sowie nachfolgenden Wahrnehmungen ist denn auch zentral für die Akti-
ve Inferenz. Im Kern geht es dabei um die Minimierung von Unsicherheit und
Überraschungen. Dieser Ansatz ist an neuere eorien über das Bewusstsein,
die im Kapitel »Psychische Krankheit: Was ist das eigentlich?« beschrieben
wurden, anschlussfähig und berücksichtigt die soziale Umwelt, in der sich die
Auswirkungen psychischer Probleme so deutlich zeigen (s. S. f.). Wahrneh-
mung, so eine der Grundannahmen der eorie der Aktiven Inferenz, entsteht
aus Vorhersagen über die Umwelt und den subjektiven Informationen, die eine
Person aus ihrer Umwelt herausltert. Wir haben demnach keinen direkten
Zugang zu unserer Umwelt, sondern konstruieren unsere Wahrnehmung, in-
dem wir permanent unsere Erwartungen mit sensorischen Informatio nen ab-
gleichen. Letztlich, so sehen es diverse eorien aus Psychologie (Seth )
und Philosophie (Clark ), »halluzinieren« wir ohne Unterlass. Die ent-
scheidende Frage dabei ist, wie gut unsere Halluzinationen zu dem passen, was
wir als Umwelt wahrnehmen, wie gut wir also unsere Halluzinationen kontrol-
lieren können.
Probleme entstehen dann, wenn unsere Halluzinationen unkontrollier-
bar werden in dem Sinne, dass Annahmen und Erwartungen nicht mit den
Informationen aus der Umwelt korrespondieren. Das heißt, Probleme treten
auf, wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Annahmen an die Umwelt an-
zupassen oder umgekehrt. Der nicht angepasste Umgang mit Unsicherheit in
der sozialen Umwelt kann beispielsweise ängstliche oder depressive Zustän-
de hervorbringen. Zu den relevanten Umwelten zählt aber interessanterweise
auch der eigene Körper. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner
Funktionen (Interozeption) spielt bei der Entstehung emotionaler Zustände
und Problemlagen eine zentrale Rolle (Barrett ; Clark et al. ).
112
Damit ist die Aktive Inferenz auch an die neurokognitive Diversität an-
schlussfähig (Barrett ). Unsere konstruierten Wahrnehmungen und Emo-
tionen liegen ebenfalls auf einem Spektrum. Dieses Spektrum umfasst »neuro-
typische« Konstrukte, die von der Mehrheit geteilt werden, aber auch weniger
typische Konstrukte, die als divergent wahrgenommen werden. Für die Diag-
nose der Anorexia nervosa (AN) bedeutet das beispielsweise, »dass AN-Pati-
entinnen und -Patienten ein Modell ihres basalen homöostatischen Zustands
haben, das dramatisch von den Erwartungen abweicht, welches den typischen
menschlichen Phänotyp deniert« (Gadsby & Hohwy : ).
Anders als in der konventionellen psychiatrischen Forschung angenom-
men ist die Heterogenität von Phänomenen kein Ärgernis – wenn wir keine
klar unterscheidbaren Symptome erwarten. Lisa Feldmann Barrett, eine der
führenden Emotionsforscherinnen, stellte diesbezüglich fest:
»Wir müssen Variabilität als Norm annehmen und nicht als Störfaktor,
den wir nach der Feststellung erklären.« (Barrett : )
Neurokognitive Diversität ist also demnach die Norm und gewissermaßen die
Normalität. Alle Varianten existieren nebeneinander, ohne als krank oder ge-
sund bewertet zu werden.
Doch die Normalität der Diversität verhindert in bestimmten Situatio-
nen und psychosozialen Konstellationen nicht, dass Zustände zu Problemen
werden können. Psychosoziale Probleme entstehen dann, wenn die Konstruk-
te unserer Wahrnehmung, also unsere psychischen Zustände, negative Folgen
haben. Diese Folgen treten überwiegend dann auf, wenn Menschen mit be-
stimmten Varianten ihrer Zustände in einen Konikt mit ihrer sozialen Um-
welt kommen, wenn sie sich selbst so wahrnehmen oder andere Menschen
ihnen diese Veränderung spiegeln.
»Keine Form eines Geistes ist grundsätzlich besser oder schlechter als
jede andere. Manche Variationen passen einfach besser in ihre Umwel-
ten.« (Barrett : )
Das heißt im Umkehrschluss, es gibt Varianten psychischer Bendlichkeiten,
die nicht so gut in ihre jeweiligen Umwelten passen. Dazu gehört beispiels-
weise das Leiden unter dem individuellen oder sozialen Zustand (wie häug
bei depressiven Zuständen). Es können jedoch auch soziale Folgen sein (wenn
etwa das soziale Umfeld den Zustand oder das Verhalten nicht mehr akzep-
tiert). Die Probleme können unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Sie
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können kurzfristig und krisenha sein, sie können eine längere Zeit andauern
und sie können auch die Form einer Behinderung im Sinne der UN-BRK an-
nehmen. Alle diese Formen psychosozialer Probleme implizieren jedoch noch
nicht zwingend, dass sie als »Krankheit« oder »Störung« betrachtet werden
müssen.
Es ist aber natürlich nicht ausgeschlossen, ein psychosoziales Problem
als »Störung« zu sehen. Die niederländische Philosophin Sanneke de Haan
teilt in ihrem Buch über »Enaktive Psychiatrie« viele der hier vorgebrachten
Argumente, präferiert jedoch den Begri »Störung«. Ihre Begründung:
»Weil die Normalisierung denjenigen Unrecht widerfahren lassen
kann, die unter den psychischen Störungen leiden: ihr Leiden, ihr
Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein oder dass etwas mit ihnen nicht
stimmt.« (de Haan : )
Und in diesem Punkt würde ich de Haan selbstverständlich zustimmen, wir
müss