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Rationalisierung der Jugendfürsorge : die Herausbildung neuer Steuerungsformen des Sozialen zu Beginn des 20. Jahrunderts

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Abstract

Kernstück der vorliegenden Arbeit bilden sieben Jugendfürsorgefälle aus dem Archivbestand der Amtsvormundschaft der Stadt Zürich, die sich über den Zugriff der "rationellen Jugendfürsorge" in die Geschichte eingeschrieben haben. Die fürsorgerischen Tätigkeiten haben sich in einer unüberschaubaren Masse von Dokumenten niedergeschlagen, die das Gedächtnis des gewöhnlichen Lebens bilden, für das im ausgehenden 19. Jahrhundert eine neue Regie entstand, die den Menschen das Gesicht der "Verwahrlosung" zuteilte. Von diesem Zeitpunkt an bezog sich soziale Ungleichheit nicht mehr auf den unterschiedlichen Gebrauch der Freiheit und Verantwortlichkeit, sondern markierte eine Differenz im Grad der Gesellschaftlichkeit, wobei der sozialen Arbeit die Aufgabe zukam, die Ursachen und Bedingungenn der Minderwertigkeit der Individuen erkennbar zu machen und die Rassenhygiene die Auswahl derjenigen treffen konnte, deren Förderung für das Gedeihen der Gesellschaft erwünscht war. Die Verwaltung und Frührung der "Verwahrlosung" bildete die Legitimationsbasis für umfassende Strategien und Technologien der Führung der Menschen und der Regierung des Sozialen. Über das Verwahrlosungsdispositiv konnte die Frage des individuellen Zustandes mit der Frage nach dem Leben der Bevölkerung verbunden werden und damit wurde das Wissen, das sich in der Mischzone des Sozialen um die "Verwahrlosung" gebildet hatte, zu einem Einsatz für politische Interventionen. In den neuen Fürsorgepraktiken zeigt sich nicht einfach das Verschwinden einer Machtform, wie Uwe Uhlendorff und Nadja Ramsauer unterstellen, sondern deren Transformation in eine andere. Was heute rückbildend als sozialpädagogische Praxis gefasst wird, ist in der Schweiz weniger aus der Pädagogik hervorgegangen, als aus einem Konglomerat disziplinärer und beruflicher Zusammenhänge, in denen der Pädagogik zunächst eine untergeordnete Rolle zukam. Die akademische Fundierung der sozialen Arbeit, ihre Konzeption als sekundäre Profession scheiterte und führte zur Verengung der sozialen Arbeit auf die soziale Hilfsarbeit und damit auch zu einer Überbewertung der Rolle der bürgerlichen Frau für die Herausbidlung der sozialen Arbeit.
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Thesis
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Thema der Master Thesis ist die Anstaltsversorgung von sog. Schwachsinnigen in der deutschsprachigen Schweiz im Zeitraum von 1925 und 1945. Auf Basis eines sozialkonstruktivistischen Modells von Behinderung wurden primär Fachzeitschriften mittels eines diskurs- und dispositivanalytischen Verfahrens untersucht. Auf der Ebene der Fachdiskurse wurden die Schwachsinnigen als eine Kontrastgruppe zum vernunftbegabten, bürgerlich-modernen Subjekt problematisiert: Die Schwachsinnigen seien infolge einer defizitären Verstandestätigkeit lebenslang unfähig zur eigenverantwortlichen, „vernünftigen“ Einordnung in die moderne Gesellschaft. Einerseits sei mit dem Schwachsinn ein konstitutionelles Schutzbedürfnis verbunden. Andererseits müsse die Gesellschaft vor den Schwachsinnigen geschützt werden, da sie lebenslang ihren Trieben und Affekten verhaftet bleiben würden und zudem die Gefahr einer „Degeneration des Volkskörpers“ durch die Fortpflanzung der erbkranken Schwachsinnigen bestehe. Um das mit dem Schwachsinn verbundene Gefährdungspotential zu kontrollieren, wurden umfassende und segregierende Versorgungsstrukturen im Rahmen des Sozialstaates gefordert. Diese sollten insbesondere dazu dienen, „Kräftereste“ nutzbar zu machen und damit unter den Schwachsinnigen ein Höchstmass an sozialer Brauchbarkeit zu erreichen. Im Bereich von Pädagogik und Fürsorge dominierten paternalistische Paradigmen, welche umfassende Eingriffe in die Selbstbestimmung legitimierten. Mit den Anstalten wurden materielle Sonderterritorien gebildet, im Rahmen derer die Adressatinnen und Adressaten von ihrem Herkunftsmilieu isoliert werden sollten. Dadurch sollte einerseits ein verdichteter pädagogischer Zugriff auf die Zöglinge ermöglicht werden. Andererseits sollte dem angeblich ungeordneten, triebverhafteten Wesen der Zöglinge eine durch rigide Tagesstrukturen sowie einheitliche Verhaltenserwartungen haltgebende und dadurch entwicklungsförderliche Lebenswelt entgegengestellt werden.
Chapter
Im Frühling 1936 soll sich die folgende Unterhaltung zwischen zwei Schulkindern zugetragen haben. Auf die Frage, ob sie gerne bei ihrer Lehrerin zur Schule ginge, antwortete die Schülerin B.: „Natürlich!“ Auf die Nachfrage „Warum?“ erwiderte sie: „Weil sie so gescheit ist!“ Der Schüler A. habe ihr daraufhin „etwas verächtlich“ entgegnet: „,Pah, das müssen alle Lehrer sein! Unserer ist gerade so gescheit wie deine Lehrerin!‘ – B.: ,Das vielleicht schon! Aber Kranke gesund machen, das können die Anderen alle nicht, das kann nur mein Fräulein!‘“ Die siebenjährige Schülerin besuchte seit Herbst 1935 eine sogenannte Beobachtungsklasse in Basel.
Chapter
Als 1929 in Basel ein neues Schulgesetz angenommen wurde, hatte es nicht nur „langer Vorbereitungsjahre“ bedurft, sondern auch die „parlamentarische Verabschiedung des Gesetzes“ hatte sich hingezogen: Das Erziehungsdepartement hatte schon 1920 einen „fertigen Entwurf“ präsentiert (Hauser 1930, S. V). Offiziell wurden mit dem neuen Gesetz nur gerade zwei „Reformen“ verfolgt. Zum einen wurden nämlich, wie der Vorsteher des Erziehungsdepartements, Fritz Hauser, hervorhob, „durchgreifende organisatorische Änderungen“ vorgenommen (Hauser 1930, S. V), die jedoch in so unterschiedlichen Massnahmen wie der Einführung neuer,Sorten‘ von Gymnasien (eines Realgymnasiums mit Latein und Englisch, eines mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweigs) oder der Schaffung obligatorischer „Fortbildungskurse für schulentlassene Jugendliche, die noch keine Lehre“ begonnen hatten (Stirnimann 2000, S. 390), bestanden.
Chapter
Der Beitrag macht zunächst aufmerksam darauf, dass der Begriff der Sozialpädagogik seine Selbstverständlichkeit verloren hat, um Kinder- und Jugendhilfe zu begründen. Eher wird von Sozialer Arbeit gesprochen, wenngleich diese kaum Bezug nimmt auf erzieherische Vorgänge und solche im Bildungswesen – die aber neuerdings große Aufmerksamkeit genießen. Sozialpädagogik nimmt dabei das pädagogische Geschehen in einer stärker philosophischen Form auf, dient Professionellen nicht zuletzt als Instanz für eine reflexive Theorie und für Kritik. Im Fokus steht dabei die Unterstützung von jungen Menschen als Subjekten und hin zur Entwicklung ihrer Autonomie. Diese Grundidee der Subjektivität ist heute umstritten, stützt sich jedoch auf lange Traditionslinien, die für die sozialpädagogische Praxis in der Moderne der Gegenwart starke Argumente bieten.
Book
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Ausgehend von der These einer mangelnden politikwissenschaftlichen Kontextualisierung Sozialer Arbeit wird Soziale Arbeit mit Foucault als staatlich-räumliche Praxis konzipiert. Anhand wenig rezipierter Texte Foucaults zu Zusammenhängen von Staat, Stadt und Raum werden Ordnungsstrategien sowie territoriale Ein- und Ausschließungsprozesse diskutiert und auf Soziale Arbeit bezogen. Mittels eines qualitativen Forschungsansatzes, der Diskurs-, Programm- und Praxisanalyse verbindet, werden am Beispiel des Bahnhofs Wien Praterstern öffentlich-parlamentarische und öffentlich-mediale Diskursausschnitte kontrastierend analysiert und mit einer Fallstudie zu Praktiken aufsuchender Sozialer Arbeit in Bezug gesetzt. Aufsuchende Soziale Arbeit kann in diesem Kontext als raumrelationale Praxis charakterisiert werden, die in ein staatlich-privates Ensemble von strafenden und führenden Strategien eingebunden ist und dabei Hilfeleistungen organisiert und territoriale Ordnungen lenkt. ***************** Based on the thesis of a lack of political science contextualization of social work, social work is conceived with Foucault as a state-spatial practice. On the basis of little-received texts by Foucault on the connections between state, city and space, strategies of order as well as territorial processes of inclusion and exclusion are discussed and related to social work. Using a qualitative research approach that combines discourse, program and practice analysis, public-parliamentary and public-media discourse excerpts are analyzed in contrast using the example of the Vienna Praterstern train station and related to a case study on outreach social work practices. Outreach work can be characterized in this context as a spatio-relational practice that is embedded in a state-private ensemble of punitive and guiding strategies, organizing assistance and directing territorial orders.