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Feministische Geo-RundMail
Informationen rund um feministische Geographie
Nr. 94
|
August 2023
© M. Hobbs, 2023
Das Bild, aufgenommen auf einem Campingplatz in Rheinland-Pfalz, suggeriert eine offene und kritische Auseinandersetzung mit dem
Thema Alter(n). Wir haben an dem Wochenendeseminar zwar nicht teilgenommen, wünschen uns aber eine ebenso hinterfragende Her-
angehensweise, wie sie das Bild für uns vermittelt.
Themenheft:
Feministische Geographien des Alter(n)s
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
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Liebe Leser:innen,
„[…] ageing is a factor which feminist geographers
simply cannot afford to neglect.“ (Harper & Laws
1995: 212)
Fast dreißig Jahre ist es her, dass die Gerontologin Sarah
Harper und die Geographin Glenda Laws feststellten, dass
wir es uns nicht mehr leisten können, Alter(n) nicht zu un-
tersuchen.
Im regelmäßigen Austausch zu unseren Dissertationspro-
jekten fiel uns schnell auf, dass sich in der deutschsprachi-
gen Geographie nur wenige mit dem Thema Alter(n) be-
schäftigen. Mit dem Gedanken, die Sichtbarkeit für Al-
ter(n)sfragen zu erhöhen und gleichzeitig einen interdiszip-
linären Austausch zu fördern, traten wir an den AK Feminis-
tische Geographien heran. Dabei sind wir der festen Über-
zeugung, dass eine feministische Perspektive auf Alter(n) ei-
nen wichtigen Beitrag für eine intersektional inspirierte
Forschung leistet. Trotz der zunehmenden Bedeutung des
Alterns in unserer alternden Gesellschaft gibt es immer noch
zu wenige Forschungsarbeiten, die die Wechselwirkungen
zwischen Geschlecht, Raum und Alter(n) eingehend be-
trachten und dekonstruieren. Mit dieser RundMail möchten
wir den Fokus auf diese wichtige und dringend benötigte
Forschungsrichtung lenken. Denn Altern ist eine lebens-
lange Erfahrung, die uns alle betrifft.
In Gesellschaft und Politik ist das Thema unlängst alltäglich
präsent, sei es in Debatten um das Renteneintrittsalter, Be-
drängnisse in der Pflege, Altersarmut oder eine allgemeine
Alterung der Gesellschaft. Dabei tauchen „die Alten“ häufig
entweder im Lob ihrer Weisheit sowie ihres Einbringens in
Care-Verantwortlichkeiten auf oder werden zu negativen
Auslösern gesellschaftlicher Krisen, wie z.B. steigender Pfle-
gekosten, stilisiert.
Doch was heißt eigentlich „Alter(n)“? Zunächst gibt es die
Unterscheidung zwischen biologischem, chronologischem,
psychischem, sozialem und sichtbarem Alter. Während das
biologische Alter die Entwicklung des Organismus meint,
bezeichnet das chronologische Alter das kalendarische Alter
in Jahren. Das psychische Alter meint die altersbezogene
Selbstverortung und das soziale Alter umfasst Alter als Pro-
dukt gesellschaftlicher Prozesse. Daneben rückt mit der Om-
nipräsenz des visuellen Selbstausdrucks das sichtbare Alter
immer mehr in den Fokus (van Dyk 2020: 17). Alter ist also
eine zutiefst komplexe Kategorie, die es sich lohnt, sozial-
und raumtheoretisch genauer unter die Lupe zu nehmen.
1
Da wir uns vor allem mit Literatur aus Europa, Nordamerika und Ostasien
beschäftigt haben, können wir nicht für gesellschaftliche Altersstrukturen
darüber hinaus sprechen.
Alter(n) kann außerdem als Zustand (alt sein) und als Pro-
zess (alt werden) verstanden werden, was wir durch das
eingeklammerte „(n)“ kennzeichnen. Als Prozess kann Al-
tern relational einerseits zu allen gemeint sein, die zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt als nicht alt gelten (synchrone Rela-
tion) und andererseits relational zur eigenen Vergangenheit
(diachrone Relation) betrachtet werden, wobei Fragen von
Biographien und Generationenbeziehungen im Vorder-
grund der Forschung stehen. Mit seinem Prozesscharakter
unterscheidet sich Altern von anderen Differenzkategorien
wie Geschlecht oder race.
Als Zustand umfasst Alter eine komplexe Strukturkategorie,
die erst im 20. Jahrhundert durch eine gestiegene Lebenser-
wartung an Bedeutung gewonnen hat (van Dyk 2020: 21).
Durch die Verlängerung der Lebensphase Alter wurde diese
zunehmend ausdifferenziert. Die Alternsforschung (Geron-
tologie) macht für westlich industrialisierte Länder
1
ein
Drittes und ein Viertes Alter aus, wobei das Dritte Alter po-
sitiv als aktiv und „jung geblieben“ beschrieben wird (Las-
lett 1989), während das Vierte Alter – die Hochaltrigkeit –
mit Pflegebedürftigkeit und negativen Attributen assoziiert
wird (Higgs & Gilleard 2015). Die Grenzen zwischen Drittem
und Viertem Alter sind keinesfalls eindeutig und die gestie-
gene Lebenserwartung unterliegt einer Klassenspezifik, da
Menschen in ökonomisch prekären Lebenslagen im Durch-
schnitt früher sterben (van Dyk 2020: 16). Kennzeichnend
für Alter als Zustand ist vor allem seine Funktion als Diffe-
renzkategorie gegenüber der Kategorie „jung“. Insgesamt ist
Alter(n) nach der Soziologin Silke van Dyk „eine existentielle
Erfahrung [sowie] Produkt kultureller Repräsentationen
und gesellschaftlicher Institutionalisierungen“ (ebd.: 8–9).
Gerade in der englischsprachigen Geographie gibt es mitt-
lerweile diverse Arbeiten, die den Zusammenhang von Al-
ter(n) und Raum untersuchen. Wir können in dieser Einlei-
tung kein vollständiges Bild zeichnen, aber wollen im Fol-
genden ein paar Ansätze vorstellen, die wir im Zuge einer
feministisch geographischen Alternsforschung besonders
spannend finden. Einige Arbeiten sind bereits etwas älter,
was darauf hinweist, dass in den letzten Jahren wenig zu Al-
tern aus einer feministisch-geographischen Perspektive ge-
forscht wurde. Wir beginnen mit der kleinsten geographi-
schen Maßstabsebene des Körpers, gehen dann auf das Zu-
hause ein und stellen zum Schluss Arbeiten vor, die sich mit
Alternsprozessen und gebauter Umwelt auseinandersetzen.
| Feministische Geographien des Alter(n)s
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Körper
Alter wird oft über körperliche Zuschreibungen verhandelt,
daher bietet es sich in feministisch-geographischer Tradi-
tion an, den Körper als Ort zum Ausgangspunkt der Analyse
zu machen. Vor allem für Frauen gilt: Sie altern „erfolgreich“,
wenn sie dem alternden Körper trotzen, während sich
männliche Schönheit im Alter entfaltet. Grundlage für dieses
Schönheitsideal ist eine neoliberale Konsumkultur, in der
Schönheit gleichgesetzt wird mit „Jugendlichkeit“ (Jones
2022, Sontag 2018). Morton (2015) untersuchte in diesem
Zusammenhang die räumliche Dimension von Körpermodi-
fikationen in Schönheitskliniken, als Orte der Normierung
und Disziplinierung von (un-)angemessenen Körperlichkei-
ten. Die feministische Gerontologin Twigg (2004) stellt her-
aus, dass eine Betrachtung von Körperlichkeit im Vierten
Lebensalter aus einer feministischen Perspektive fehlt. Die
Körperlichkeit des Vierten Alters wurde bisher meist aus ei-
ner objektifizierenden, biomedizinischen Brille betrachtet.
Diese Objektifizierung und Reduzierung auf Körperlichkeit
im Kontext des Vierten Alters (Higgs & Gilleard 2015) führt
dazu, dass ältere Menschen zu negativen emotionalen Stere-
otypen konstruiert und zu einer homogenen Gruppe stili-
siert werden (Featherstone & Hepworth 1993). Dadurch
verwischen sozioökonomische Klassenlagen, Benachteili-
gungen durch Rassifizierungen oder gesundheitliche und
physische Einschränkungen. Das führt so weit, dass ältere
Menschen, die als hochaltrig gelten, vor allem als Pflege ge-
nerierende Objekte angesehen werden, die keine individu-
ellen Bedürfnisse und Sehnsüchte mehr haben (Milligan
2007, van Dyk 2021). Den Zusammenhang vom alternden
Körper innerhalb der eigenen Identifikation älterer Men-
schen dokumentieren Mowl, Pain und Talbot (2000). Sie zei-
gen, dass die Konstruktion von Körpern und Räumen als
„alt“ sowohl vergeschlechtlicht, als auch rassifiziert und ab-
leisiert ist (ebd.: 190). Die Konstruktion älterer Körper geht
mit Konstruktionen von Räumen des Alter(n)s einher. Dabei
spielt das Zuhause im Kontext des Alterns eine besondere
Rolle.
Zuhause
Die negative Selbstkonstruktion als alt führt zu einer kont-
roversen Bedeutung des Zuhauses: Das Zuhause wird als an-
gemessener Ort für ältere Menschen angesehen, allerdings
ist für manche genau diese Verknüpfung von Häuslichkeit
und Alter negativ und weiblich konnotiert und soll vermie-
den werden. Dies führte dazu, dass ältere Männer in der Stu-
die von Mowl, Pain und Talbot (2000) viel Wert darauf leg-
ten, mehr Zeit außerhalb des Zuhauses zu verbringen und
teilweise Ziellos mit dem Auto durch die Gegend fuhren, um
nicht mit dieser abgewerteten Räumlichkeit in Verbindung
gebracht zu werden.
Aktuell gilt das Zuhause als Ort eines gelingenden, selbstbe-
stimmten, sicheren und aktiven Alter(n)s. Die politische
Förderung eines Ageing in Place ist aus einer feministischen
Perspektive allerdings ambivalent, bedeutet ein Altern in
den eigenen vier Wänden doch meist Pflege im Zuhause, die
zum großen Teil unbezahlt von weiblichen Angehörigen
und/oder migrantisierten Arbeitskräften verrichtet wird
(Milligan 2009, Schwiter et al. 2018). Wird das Zuhause zu
einem Arbeitsort für Pflegende, kann sich der Charakter des
Zuhauses verändern (Young 2005). Milligan (2009) ver-
deutlicht, wie das Zuhause als Ort der Pflege zu einem klini-
schen Ort wird, der die Grenzen zwischen öffentlichem und
privatem Raum verschwimmen lässt.
Neben der Privatisierung und Familiarisierung, die mit ei-
nem Ageing in Place einhergehen, stellt Marquardt (2018)
heraus, inwiefern der Care-Krise mit neuen Smart Home
Technologien begegnet werden soll, welche ein unabhängi-
ges und kostengünstiges Altern im Zuhause versprechen.
Dabei stehen die digitalen Pflegetechnologien vor dem Wi-
derspruch einerseits für mehr Unabhängigkeit und Sicher-
heit zu stehen und andererseits negative Alter(n)sbilder (A-
ceros et al. 2015) zu reproduzieren und eine Ökonomisie-
rung, (Selbst-)Überwachung und Quantifizierung des All-
tags voranzutreiben.
Alter(n) und gebaute Umwelt
Die leider sehr früh verstorbene feministische Geographin
Glenda Laws (1993), hat die (Ko-)Konstruktion von gesell-
schaftlichen Alter(n)sbildern und der gebauten Umwelt ein-
drücklich für den US-Kontext anhand eines relationalen
Raumverständnisses herausgearbeitet. Sie analysiert drei
verschiedene Phasen in der US-Geschichte (Beginn der In-
dustrialisierung, Nachkriegsjahre, Entwicklungen der
1990er Jahre) und zeigt, wie sich die gebaute Umwelt durch
veränderte Alternsbilder gewandelt hat. Laws stellt dar, wie
Stadtentwicklungsprozesse zutiefst geaged sind: So wurde
beispielsweise die junge, heteronormative, weiße Kleinfa-
milie in Suburbanisierungsprozessen enorm privilegiert
und ältere Menschen blieben mit anderen marginalisierten
Menschen – zumeist Afroamerikaner*innen – in den nieder-
gehenden Kernstädten wohnen, weil sie keine andere Per-
spektive hatten. Laws resümiert, dass die Alterssegregation
im Laufe der Zeit zugenommen hat, wie in Retirement Ho-
mes und Suburbanisierungsprozessen nachzuvollziehen ist.
Die gebaute Umwelt ist damit Ausdruck einer altersdiskri-
mierenden Haltung.
Alter(n) begegnet uns auch in der aktuellen städtischen
Wohnungskrise. Alt und jung werden hier gegeneinander
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
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ausgespielt, indem älteren Menschen pauschal vorgeworfen
wird, sie nähmen zu viel Platz ein und lebten in zu großen
Wohnungen und Häusern. In dieser pauschalisierenden
Aussage erleben wir eine Demographisierung sozialer Fra-
gen (van Dyk 2020). Außer Acht gelassen wird dabei, dass
jeder fünfte Mensch über 80 von Armut betroffen ist
(BMFSFJ 2021) und sich aufgrund der Wohnungskrise in
Städten keinen Umzug in eine kleine Wohnung mit neuem
Mietvertrag leisten kann. Das Beispiel der Altersarmut zeigt,
dass sich existierende Ungleichheiten im Alter verschärfen.
Enßle und Helbrecht (2018) widmen sich Altern und Raum
hier aus einer intersektionalen Perspektive und weisen da-
rauf hin, dass Alter(n) auch in der Ungleichheitsforschung
marginalisiert ist.
Ein geschärfter Blick auf die Ko-Konstruktion von Alter und
Raum kann die sozialen Fragen, die auf verschiedenen Ebe-
nen ausgehandelt werden, in den Vordergrund rücken. Eine
feministisch-geographische Perspektive lässt uns die vielfäl-
tigen räumlichen Dimensionen, in denen Ungleichheiten
und Machtbeziehungen Alter(n) prägen, verstehen und her-
ausfordern. Dazu müssen wir nicht bei null anfangen, son-
dern können in ältere Arbeiten, internationale Debatten und
andere Disziplinen schauen, die auch in dieser Ausgabe ver-
treten sind.
Vorstellung der Beiträge
Mit einem Fokus auf Materialität widmen sich Anamaria
Depner, Cordula Endter und Anna Wanka in ihrem Beitrag
der Material Gerontology aus feministischer Perspektive.
Sie fragen am Beispiel des Liftes, wie Materialität Alter pro-
duziert. Julia Hahmann beleuchtet die Kritik an der Material
Gerontology und weist auf historisch gewachsene System-
und Machtstrukturen hin, indem sie den Gemeinschaftstisch
einer US-Seniorenresidenz dekonstruiert.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit der Thematik des
Wohnens. Am Beispiel Zuhause und Pflegeheim spürt Imke
Hurlin wohnbezogener Identität und der Ko-Konstruktion
von Alter und Raum nach. Annabelle Müller fragt nach al-
ternden Dingen und Materialitäten im Wohnraum und ihrer
Bedeutung für Wohnen als Praxis. Marc Schumann unter-
sucht die Veränderung des Zuhauses durch Telepflegetech-
nologien, die einen Überwachungscharakter haben. Vor dem
Hintergrund aktueller Neoliberalisierungstendenzen und
Ausschlüssen von Alter zeigt Carolin Genz, wie Alter(n) im
Kontext der zugespitzten Wohnungskrise verhandelt wer-
den kann.
Mit Geschlecht und Sexualität im Alter beschäftigen sich die
Beiträge von Stefanie Heiber, Rona Bird und Ralf Lottmann,
sowie Noah Marschner. Stefanie Heiber, Rona Bird und Ralf
Lottmann zeigen, vor welchen Herausforderungen LSBTI*
Senior*innen mit Pflegebedarf stehen und wie so genannte
Caring Communities Perspektiven für LSBTI* Senior*innen
sein können. Noah Marschner schaut mit einem kritischen
Blick auf queere Alterswohnprojekte und fragt, inwieweit
diese solidarische Antworten auf ökonomische Ungleich-
heit, Klassismus und Diskriminierung innerhalb der quee-
ren Community geben können.
Die RundMail wird mit der Rubrik „Veranstaltungen und
Hinweise“ abgerundet. Dabei geben uns die Veranstalter*in-
nen des letzten Vernetzungstreffen Feministische Geogra-
phien in Heidelberg einen Einblick in das Treffen. Ihr Bericht
zeigt auf, wie wesentlich überregionale Vernetzung für femi-
nistisches Arbeiten ist. Wir haben darauf verzichtet die Zi-
tierweisen der Beiträge zu vereinheitlichen, um den Lekto-
ratsprozess kurz zu halten.
Wir möchten uns bei allen bedanken, die an der RundMail
mitgewirkt haben – sei es mit wertvollen Beiträgen, forma-
ler Unterstützung bei der Herausgabe oder hilfreichen Hin-
weisen. Ganz besonderer Dank gilt Leonore Okruch, die die
RundMail in die abschließende Form gebracht hat. Schluss-
endlich ist es uns ein Anliegen, den gemeinsamen Austausch
und die interdisziplinäre Zusammenarbeit rund um das
Thema Alter(n) mit der RundMail weiter zu stärken. Darauf
freuen wir uns nun ganz besonders!
Viel Spaß beim Lesen!
Dominique, Linda und Marlene
Literatur
Aceros, J. C., Pols, J. & Domènech, M. (2015): Where is grandma?
Home telecare, good aging and the domestication of later life.
Technological Forecasting and Social Change, 93, 102–111.
BMFSFJ (2021): Fast ein Viertel der über 80-Jährigen in Deutsch-
land leidet unter Altersarmut.
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldun-
gen/fast-ein-viertel-der-ueber-80-jaehrigen-in-deutschland-
leidet-unter-altersarmut-190066 (letzter Aufruf 10.07.2023).
Enßle, F. & Helbrecht, I. (2018): Ungleichheit, Intersektionalität
und Alter(n) – für eine räumli-che Methodologie in der Un-
gleichheitsforschung. Geographica Helvetica, 73(3), 227–239.
Featherstone, M. & Hepworth, M. (1993): »Images of Aging«. In:
John B., Coleman P. & Peace, S. (Hg.), Ageing in Society, London
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Harper, S. & Laws, G. (1995): Rethinking the geography of ageing.
Progress in Human Geography, 19(2), 199–221.
Higgs, P. & Gilleard, C. (2015): Rethinking old age - theorising the
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Jones, R. L. (2022): Imagining feminist old age: Moving beyond ‘suc-
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Laslett, P. (1989): A fresh map of life: the emergence of the third
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| Feministische Geographien des Alter(n)s
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Annals of the Association of American Geographers, 83(4),
672–693.
Marquardt, N. (2018): Digital assistierter Wohnalltag im smart
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script Verlag, 285–298.
Milligan, C. (2009): There's No Place Like Home: Place and Care in
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Morton, K. (2015): Emerging geographies of disciplining the ageing
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Mowl, G., Pain, R. & Talbot, C. (2000): The ageing body and the
homespace. Area, 32(2), 189–197.
Schwiter, K., Strauss, K. & England, K. (2018): At home with the
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Sontag, S. (2018): The Double Standard of Aging. In: Pearsall, M.
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van Dyk, S. (20202): Soziologie des Alters. Bielefeld: transcript Ver-
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Young, I. M. (2005): On Female Body Experience: „Throwing Like a
Girl“ and Other Essays. Oxford University Press.
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
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Themenschwerpunkt: Feministische Geographien des Alter(n)s
Beiträge zum Themenschwerpunkt
Material gerontology ....................................................................................................................................................................................... 7
What is material gerontology (MG) – and what is feminist about it?
Anamaria Depner, Cordula Endter & Anna Wanka................................................................................................................................................... 7
Material Communities – materielle und materialistische Perspektive auf Alter und Altern
Julia Hahmann ...................................................................................................................................................................................................................... 11
Wohnen und Alter(n) .................................................................................................................................................................................... 15
Wohnbezogene Identität – Die Bedeutung des Zuhauses für Alter und Alterskonstruktionen
Imke Hurlin ............................................................................................................................................................................................................................. 15
„An der Frage des Todes entscheidet sich ja alles – worum geht es im Leben?“
Annabelle Müller .................................................................................................................................................................................................................. 18
Telepflegetechnologie im häuslichen Wohnumfeld
Marc Schumann .................................................................................................................................................................................................................... 22
Wohnen im Alter(n)
Carolin Genz ........................................................................................................................................................................................................................... 25
Queeres Altern ................................................................................................................................................................................................ 27
Räume für queeres Alter(n)
Stefanie Heiber, Rona Bird & Ralf Lottmann ............................................................................................................................................................ 27
Eingeschränkte Solidarität. Ein intersektionaler Blick auf Klassenverhältnisse in queeren Alterswohnprojekten
Noah Marschner ................................................................................................................................................................................................................... 33
Veranstaltungen & Hinweise
Abschlussbericht: Endlich – vom Anfangen und Aufhören: Vernetzungstreffen der Feministischen Geographien in
Heidelberg ........................................................................................................................................................................................................ 37
Ankündigungen ............................................................................................................................................................................................... 39
Sitzung AK Feministische Geographien auf dem DKG in Frankfurt ............................................................................................................. 39
Tagung "Körper, Dinge und Räume des Alter(n)s: Perspektiven und Befunde einer Materiellen Gerontologie" ................... 39
Nächste Feministische GeoRundMail: Ausblick .................................................................................................................................. 40
Impressum ........................................................................................................................................................................................................ 40
| Feministische Geographien des Alter(n)s
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Beiträge zum Themenschwerpunkt
Material gerontology
What is material gerontology (MG) – and what is femi-
nist about it?
Anamaria Depner, Cordula Endter & Anna Wanka
Introduction
Age is a category of difference that permeates almost all as-
pects of life – from the distribution of legal rights and obliga-
tions (for example, the right to vote or drive a car) to social
networks and relations (for example in the age compilation
of our circle of friends or at what age it is appropriate to have
children). And age matters in spatial terms – in the way how
cities and communities are designed and built, how policies
about aging in place are formulated, and how people experi-
ence, relate to, and appropriate places.
Gerontology, as the discipline that is concerned with aging,
older adults, and old age, has a longstanding tradition of re-
searching the relationship between older adults and their
socio-spatial environments. However, this field tends to fol-
low a positivistic understanding of space as either a barrier
or a compensation for age-related changes in spatial compe-
tencies. As a multidisciplinary research field that deals with
age-related phenomena it is rooted in psychology and medi-
cine, but also influenced by sociology, educational sciences,
or sports science, and in recent years increasingly by cultural
anthropological topics and approaches. Gerontology sees it-
self as an application-oriented science, it aims at the popula-
tion, especially older people and their families, but is also
dedicated to politics and sees it as a task to educate and im-
part knowledge. Consequently, gerontological research usu-
ally aims at prevention and/or intervention. More recently,
however, a new theoretical approach inspired by feminist
new materialisms turned towards the study of age and
space: Material Gerontology (MG).
Material Gerontology draws on theories such as Karen
Barad’s agential realism, Donna Haraway’s post humanism,
or Rosa Braidotti’s process ontological thinking, and applies
them to the study of age and ageing. From an MG perspec-
tive, age is co-constituted in a nexus of discursive-material
practices (Barad, 2003 / 2007). This implies acknowledging
that aging itself is not an attribute of a human being but
emerges as a phenomenon through the entanglement of di-
verse materialities, practices, discourses, and subjectivities.
The process of aging is therefore not only a biological but a
symbolic, discursive, cultural, social and—most importantly
in our perspective — material phenomenon (Wanka and
Gallistl 2018), in which a variety of human and nonhuman
actors are entangled (Höppner and Urban 2018). Ageing is
understood as distributed (Höppner 2021), as an assem-
blage of materialities: from human bodies, things and tech-
nologies to spaces and their relations (Gallistl and Wanka
2021).
MG is thus concerned with the co-constitution of materiali-
ties and age(ing). One defining characteristic of it is hence
that MG emphasizes the relationality between human and
non-human actors, making “a priori separations between hu-
mans and nonhumans difficult to sustain” (Hazard, 2019,
629), and instead question the “very practices through which
different distinctions get drawn” (Barad, 2003, 816). These
material-discursive boundary-making practices, that is, the
“processual, dynamic mutual entanglement of meanings and
materialities” that become agentic through "specific iterative
enactments—agential intra-actions—through which matter
is differentially engaged and articulated (in the emergence of
boundaries and meanings)” (Barad, 2003: 822-23). Using a
materiality lens thus cuts across and questions several di-
chotomies – like young and old, object and subject, person
and environment, male and female, or meanings and matter
- that are fundamental in the social sciences and humanities
in general (Fox & Alldred 2018) and gerontology in particu-
lar. This refers to different fields in which ageing material-
ises spatially and spaces are constituted by age vice versa.
These include spaces that are often linked with stereotypic
notions of age such as vulnerability, e.g. nursing homes.
From a material-gerontological spatial perspective, how-
ever, it is also a question of how demographic ageing
changes a region and how regions are stereotyped in terms
of age. For example, when statistical parameters that indi-
cate a high average age are described as ageing or shrinking
regions in demographic change, which can have socio-polit-
ical and economic effects on the inhabitants of these regions,
as well as effects on their mentalities. In addition, material
gerontology also asks about the relationship between na-
tures/cultures in more-than-human societies. Connected to
this is the question of how notions of ageing also affect non-
human entities and how, in intra-action with human actors,
notions of age and ageing are entangled.
At this point we want to draw attention to the feminist foun-
dations of such new materialist thinking. Stemming from a
critique of the distinction between nature and culture – an
endeavor at the heart of feminist and emancipatory research
and practice – “the emancipation of mat(t)er is also by na-
ture a feminist project” (Braidotti, 2012: 93). Hence, feminist
new materialisms encourage us to think difference differ-
ently. One conceptual tool to do this that is taken up by Ma-
terial Gerontology is Barad’s notion of intra-actions (2003;
2007). In this context, intra action ”signifies 'the mutual
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
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constitution of entangled agencies’ (Barad, 2007: 33) and is
opposed to interaction, which assumes pre-existing agen-
cies.” This is of particular importance to the study of ageing
and space, which gerontology often approaches as two dis-
tinct entities, and showcasing what we can see when we ex-
plore ageing and space not as a dichotomy, but an intra-ac-
tive entanglement. For this, we want to focus on an ethno-
graphically based case study in a nursing home to illustrate
how the constitution of age is entangled with its materiality
and occurs in intra-actions that configure the lifted body.
© A. Depner
It`s all about care!?
What do we see when having a look at this picture?
The picture takes us into a room that emits a certain clinical
atmosphere, personal objects seem to be largely missing,
and there is a nursing bed at the side. It gives the impression
of taking up a lot of space. In the background, there are win-
dows and plants. But the most striking thing is the two peo-
ple and the lifting system between them. The standing per-
son seems younger than the person who is already in the lift-
ing system. The objects, the spatial arrangement, and espe-
cially the persons' actions in the room and their spatial posi-
tioning in relation to each other, which is established by the
lifting system, indicate that this is a situation of caring. This
is associated with an interpretation of the persons involved
in the event: one of them seems to be in need of care, and the
other seems to provide care. This powerful positioning is
configured by the third actor in the room: the lifter. It relates
and separates both human beings in providing the act of lift-
ing up a body that, due to a lack of physical ability, is unable
to lift up by its own and instead depends on the help of oth-
ers. In this case, others are not only human caregivers but
also technical instruments that play a crucial role in doing
care (work) and in this constitute a material-spatial situation
of caring. It is the lifter that indicates who is in need of care,
who seems to be vulnerable and not able to move without
assistance.
In doing so the lifter is an ambivalent agent of care: On the
one hand, it enables the lying person to move from the bed
into the wheelchair and within that offers the possibility to
get around, leaving the bed as well as getting into an upright
position. Furthermore, it releases the caregiver from the
physically demanding care work by assisting in lifting the
person out of the bed. On the other hand, it constitutes a care
situation that is quite fixed, the lifter in its appearance deter-
mines the act of lifting in its sequence, positioning and in the
roles the others have to take on. What is lifting and how lift-
ing can be assumed as a practice of care is rarely determined
by the caregiver, nor by the care receiver, but by the material
artifact.
And this artifact is a powerful one. First of all, it is quite
space-filling, prominent, and a little bulky. Through its ap-
pearance in this care setting, it changes the interaction be-
tween the caregiver and the care receiver, it changes the care
arrangement, and although it seems to make care easier, less
exhausting, and demanding, it constitutes care in a quite
technically determined manner. Normally the caregiver
would reassure the person who is getting lifted in bodily
contact, sound words, and by routinized practices. With the
lifter, the procedure gets more mechanical and loses the
physical, emotional, and sensual closeness. With the lifter
other movements, sounds, and feelings are assembled to
build up care. Thus, it becomes obvious that care technolo-
gies are not these neutral objects, which simply enable care
workers, foster autonomy and prevent a care crisis. Instead,
it becomes clear how technology transforms imaginations of
age, autonomy, selfhood, and care and reconfigures the
boundaries between human and machine, care and technol-
ogy, autonomy and dependence.
But not only the care practices and their situatedness are
technified also the body of the lifted person has to be made
suitable for the lifter and its lifting procedure in a way that
one size that fits all with one color for all, one type of mate-
riality, and one way of being lifted. As a result, we have a pas-
sive body that is sociotechnically configured as a frail body,
a demanding body, and a body that has to be handled care-
fully.
| Feministische Geographien des Alter(n)s
9
Queering hegemonic ideas of (not only) technocare
Care technologies play a prominent role in society’s strate-
gies of coping with demographic change. They should assist
care workers or older people to age in place longer and more
autonomously. However, they are also a promising field of
innovation and last but not least a powerful sales market.
The lifter’s agency reassembles these political imaginations
of care and technology. In its materiality, it is not only an in-
strument assisting care but also rationalizes care in the
Alle Bilder © A. Depner
realm of demographic change. Therefore, not only rational
ideas of care work are inscribed into the artifact but also of
older bodies, gender, and ethics...
Here, a material gerontological approach shifts the focus to-
wards the politics of care, its ecologies, its technology, and
its agency by queering the powerful assumption of age as de-
cline and care as a completely good thing. In doing so, it
shows how age and technology as material-discursive
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
10
practices can be conceptualized, analyzed and negotiated
differently by decentering human agency and embedding it
in more-than-human-agencies.
As MG is concerned with the co-constitution of materialities
and age(ing) as well as older adults’ positions, practices, and
perceptions in and of materialities, research in this field fo-
cuses not only the roles of technologies or technical objects.
Scholars in MG also analyze in their work the role of daily
things, spaces, architectures, and bodies in the diverse expe-
riences of aging (Buse and Twigg 2018; Depner 2015; Endter
2020; Gallistl and Wanka 2019). These studies acknowledge
the role of materialities and the ways that they shape our ex-
periences of aging, which bears great analytical potential for
contemporary anthropological debates and links to already
established fields like material culture studies, gender stud-
ies, and (feminist) science and technology studies (STS).
Moreover, age and aging exemplify present and future are-
nas of socio-material entanglements in and through time and
space: If, for example, we look from another perspective at
the example above (or, spoken with Barad, set another agen-
tial cut) we can see a heterotopic space that is a private living
sphere and a working place at the same time (Atzl & Depner,
2017).
Furthermore, the methodologies that go together with MG
research also help queering, irritating and reflecting estab-
lished perspectives and knowledge taken for granted, for ex-
ample when analyzing a social situation with a non-human-
centered approach (Depner & Wazinski, forthcoming, for a
further discussion on new materialist methodologies see
Schadler, 2019).
As feminist material gerontologists we are encouraged to re-
think our research practices, epistemologies, method(olo-
gie)s and conventions. In her ethnographic laboratory stud-
ies (1981), Karin Knorr-Cetina showed how every form of
knowledge – scientific or lay, explicit or implicit – is itself
constituted in practice. Material Gerontology thus requires
studying the politics of age(ing) (Twigg and Martin 2015) to-
gether with studying the politics of ontological constitution
(Woolgar and Lezaun 2013) of age(ing). Consequently, ma-
terialist approaches of age and ageing tend to be critical to-
wards the politics of knowledge production within academia
and thus self-reflexive towards research practices, concepts
and methodologies, towards the boundaries that are estab-
lished and the ways research findings are framed and dis-
seminated. This props us to irritate research apparatuses,
implicit norms and taken-for-granted procedures in our re-
spective research fields, for example through exploring new,
experimental, sensory and material methods and diffractive
analysis, new forms of writing or disseminating findings
through film or performance (for illustrative examples for
this approach see Endter, Depner & Wanka (ed.), 2023).
Conclusions: Age matters
With this piece of thought, we want to draw attention to the
ways age matters in spatial terms, and what Material Geron-
tology has to offer for an age-sensitive feminist geography.
We thereby hope to spark a discussion among researchers
concerned with other categories of difference – like gender
or ethnicity – and encourage them to consider the spatial
constitution of age as a more-than-human phenomenon.
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Material Communities – materielle und materialistische
Perspektive auf Alter und Altern
Julia Hahmann
Einleitung
Die Lebensphase Alter(n) wird von einer Reihe von Fächern
fachspezifisch aber auch interdisziplinär untersucht und dis-
kutiert. Im Lichte des sich in verschiedenen Disziplinen voll-
ziehenden „material turn“ ist auch für die Alter(n)sfor-
schung interessant, wie sich die Perspektive auf und Wahr-
nehmung und wissenschaftliches Verstehen von Alter und
Altersprozessen verändert: Wie lässt sich Alter(n) erfor-
schen, wenn wir anfangen, nicht allein das menschliche Sub-
jekt als relevanten und handlungsmächtigen Akteur wahrzu-
nehmen, sondern auch weitere nicht-menschliche Ak-
teur*innen im Herstellungsprozess als wesentlich erachten,
z.B. Dinge oder Räume? Der Einbezug nicht-menschlicher
Akteur*innen hat in der gerontologischen Forschung durch-
aus Tradition, beispielsweise beim Fokus auf den Körper
oder auf Symbole wie Kleidung im Doing Age (Hahmann
2018; Schroeter 2012). Auch beim Bezug auf die altersspezi-
fische Wohnumgebung in der ökologischen Gerontologie
(Wahl et al. 2012) oder bei der Untersuchung von Pflege-
Dingen in der Perspektive der Material Culture (Depner
2015) findet es sich wieder. Dennoch bleibt der menschliche
Akteur hier immer die dominante Figur, von der aus gedacht
wird, deren Wahrnehmung, Bedeutungszuweisung und Be-
arbeitung der nicht-menschlichen Akteur*innen dominant
gilt.
Seit einigen Jahren bearbeitet eine Gruppe von Wissen-
schaftler*innen im Rahmen der DFG-Nachwuchsgruppe
„Material Gerontology“ (erkenntnis-) theoretische Positio-
nen der New Materialisms (Coole und Frost 2010a). Hierzu
gehören die bereits genannte Kritik des
Anthropozentrismus, Fragen zum Verständnis von Subjekt
und Objekt, Debatten zu einer neuen Ontologie sowie Über-
legungen zu neuen methodischen Ansätzen. Dabei vertreten
die in der Gruppe (und mittlerweile im Arbeitskreis Materi-
elle Gerontologie in der Deutschen Gesellschaft für Geronto-
logie und Geriatrie) organisierten Forscher*innen durchaus
unterschiedliche Lesarten einer materiellen Gerontologie
(einführend siehe Höppner und Urban 2018). Stets bleibt da-
bei jedoch die Frage des Zusammenspiels von menschlichen
und nicht-menschlichen Akteur*innen, die Bedeutung unter-
schiedlicher Grenzziehungen zwischen beteiligten Entitäten
und die sich verschiebenden methodologischen Prämissen
(Gallistl et al. in Vorbereitung).
Im vorliegenden Beitrag wird die Frage der Grenzziehungen
von Entitäten anhand der Analyse von altersgerechten
Wohnformen (Hahmann 2019) in den Fokus genommen.
Hierzu befasse ich mich zunächst mit neomaterialistischen
Denkformen von u.a. Karen Barad (Barad 2003; Barad
2007), um diese im Anschluss insofern kritisch zu diskutie-
ren, als dass ich ihr fehlendes Potential für die Analyse von
Macht und Herrschaft hervorhebe, wie sich dies im An-
schluss an die Kritik aus feministisch-materialistischer Per-
spektive anbietet. Am genannten Beispiel aus meiner eige-
nen Forschung veranschauliche ich, wie eine Analyse von
Räumen und Dingen als Teil von Vergemeinschaftungspro-
zessen materiell vollzogen werden kann, dabei aber auf
Grundlage eines dialektischen Materialismus auch herr-
schaftskritisch soziale Ungleichheiten beleuchten kann. Die
Entwicklung eines Kritischen Materialismus (Lettow 2017)
für die Altersforschung ist dabei nicht möglich, ohne einige
Grundsätze der New Materialisms zu hinterfragen und zu
überwinden.
Materielle und materialistische Gerontologie
Ansätze, die sich unter dem Terminus New Materialisms
(Coole und Frost 2010b) sammeln, sind zahlreich und in ih-
rer (erkenntnis)theoretischen sowie methodisch-methodo-
logischen Konsequenz stark unterschiedlich. Einheitlich kri-
tisieren neomaterialistische Autor*innen den menschlichen
Blick, aus dem Materialität gedacht wird. Es ist der Mensch,
der Bedeutung verleiht, damit verbleiben Dinge im weiteren
Sinne als passive und unveränderliche Entitäten (Barad
2003: 801). Die New Materialisms verstehen Materialität
hingegen als vitale, selbstorganisierende, instabile, agile, in-
tra-aktive Assemblagen (Barad 2003; Bennett 2010;
Braidotti 2013; Coole und Frost 2010a): Materialität ist dann
nicht mehr die hell erstrahlte Leinwand für kulturelle Kon-
struktionsleistungen, sondern gleichsam eine dunkle Mate-
rie, die sich eigenmächtig bemerkbar macht (Folkers 2013:
20). Um einer Forschungsagenda gerecht zu werden, die
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
12
nicht den menschlichen Blick primär setzt, äußern Wissen-
schaftler*innen die Notwendigkeit, eine neue, vor allem re-
lationale (Hoppe und Lemke 2021) Ontologie zu entwickeln,
die den von Teilen der New Materialisms diagnostizierten
epistemologischen Exzessen des Sozialkonstruktivismus
(Lettow 2017) und des Dekonstruktivismus (Barad 1996;
Benson 2019) vorzuziehen ist. Ob und wie das Subjekt-Ob-
jekt-Verhältnis dekonstruiert wird und Handlungsmacht der
beteiligten Entitäten konzipiert ist, unterscheidet sich hinge-
gen in den theoretisch-konzeptuellen Darlegungen. So deu-
tet Bennett in der Konzeption des vitalen Materialismus
Dinge als wirkmächtige, dynamische Gefüge und deren Ver-
flechtungen (Bennett 2010). Dennoch geht sie davon aus,
dass ihnen eine Vitalität eingeschrieben ist, die diesen Ver-
flechtungen vorausgeht. In Barads (2012) agentiellem Rea-
lismus werden Phänomene über Beziehungen und Intra-Ak-
tionen hingegen erst konstituiert (für einen Überblick siehe
Hoppe und Lemke 2021). Es lassen sich keine vorgängigen
Qualitäten ausmachen.
(Feministische) marxistische Materialist*innen weisen je-
doch auf Probleme des ontologischen Ansatzes der neuen
Materialismen hin, insbesondere im Hinblick auf kritische
Perspektiven, die Macht- und Unterdrückungssysteme the-
matisieren (Choat 2018; Lettow 2017). Dabei erabeiten sie,
dass der Fokus auf Dynamiken der Entstehung von Phäno-
menen, das Werden von Dingen oder die Intra-Aktion der
benannten Prozesse (z.B. in Barad 2007; Coole 2005) die
Möglichkeiten untergräbt, die Entstehungsbedingungen und
die politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen,
z.B. Machtstrukturen und damit soziale Ungleichheiten, zu
verstehen (Garske 2014; Lettow 2017; Peters 2018). Wenn
untersucht wird, wie Phänomene situativ zustande kommen,
also z.B. sich Altern in einem Aufeinandertreffen von Men-
schen und Dingen konstituiert, bedeutet dies, dass es keine
vorgängigen (herrschaftsförmigen) Kontexte gibt, die Ein-
fluss auf die beteiligten Entitäten, also Mensch und Dinge,
haben (Garske 2014; Washick et al. 2015). Barads Intra-Ak-
tion-Konzept, das die Grenzziehungen von beteiligten En-
titäten und ihre Handlungsmacht in den Blick nimmt,
“make[s] it difficult to name and so hold in view the continu-
ities, durabilities and often monotonous predictabilities that
characterize systems of power asymmetry (such as capital-
ism, patriarchy, racism), wie Washick et al. (2015: 66) es for-
mulieren. Diese Kritik kann auf der Mikroebene reprodu-
ziert werden: Eine dezidiert posthumanistische Perspektive,
die sich gleichermaßen für „persons, worms, leaves, bacte-
ria, metals and hurricanes" (Bennett 2010: 107) interessiert,
hat keine analytische Kraft, um Unterschiede zwischen Men-
schen zu benennen, die aus Systemen von Macht und Unter-
drückung resultieren (Garske 2014).
Beispiel für einen kritischen Materialismus in der Al-
tersforschung
Lettow (2017) versucht in ihrer Kritik der New Materialisms
nun ihrerseits einen kritischen Materialismus zu entwickeln,
der die Infragestellung und Überarbeitung des Anthropo-
zentrismus ernst und übernimmt, indem die Handlungs-
macht von menschlichen wie von nicht-menschlichen Enti-
täten konzeptuell in den Blick genommen wird. Gleichzeitig
verbleibt Lettows Vorschlag aus der Perspektive der New
Materialisms weniger radikal – ihr Interesse gilt den Entste-
hungsbedingungen von sozialen Phänomenen nicht den Ent-
stehungsprozessen. Indem sie Materialität nicht metaphy-
sisch denkt, ist es ihr möglich eine kritische Sozialtheorie als
Grundlage des Verständnisses sozialer Phänomene zu etab-
lieren: “It would combine social critical theory and critical
epistemology in its attempt to analyze socio-natural constel-
lations and to reveal possibilities of transgressing and over-
coming the sedimented power relations that shape them”
(Lettow 2017: 118).
Beispielhaft sollen hier nun Daten eines qualitativen For-
schungsprojekts vorgestellt werden, in dem ich verglei-
chend in den USA und in Deutschland Vergemeinschaftungs-
prozesse in Seniorenresidenzen untersucht habe. Senioren-
residenzen sind zumeist Formen des Betreuten Wohnens, in
denen Individuen relativ eigenständig in kleinen Wohnun-
gen leben. Gleichzeitig können sie Dienstleistungen und Ser-
vices der Einrichtung in Anspruch nehmen, wie z.B. kleine
Einkaufsläden, die Versorgung mit Mahlzeiten, Sportange-
bote und räumliche Angebote wie Aufenthaltsräume. Zudem
können über einen hauseigenen Dienst Pflegedienstleistun-
gen genutzt werden. Ist eigenständiges Wohnen nicht mehr
möglich, können die Bewohner*innen in stärker struktu-
rierte und an Pflegeheime angelehnte Bereiche der Residenz
umziehen. Zumeist handelt es sich um relativ kosteninten-
sive Einrichtungen.
In meiner Untersuchung habe ich mir angesehen, wie Perso-
nen nun nach ihrem Umzug Teil der Gemeinschaft und/oder
Nachbarschaft der Residenzen werden. Dabei habe ich zu-
nächst Interviews mit Bewohner*innen geführt, die ich
durch Beobachtungsprotokolle sowie Interviews mit ver-
schiedenen Mitarbeiter*innen der Residenzen, sowohl auf
Leitungs- als auch auf ausführender Ebene, ergänzt habe. Im
US-amerikanischen Untersuchungsfeld wird dabei sehr
deutlich, dass die Befragten immer wieder auf bestimmte
räumliche Arrangements zurückgreifen, wenn sie darüber
sprechen, was ihnen hilft und geholfen hat, Teil der Gemein-
schaft der Residenz zu werden. Dazu gehört die „Dining
Hall“, also der Speisesaal der Residenz. Dieser ist dabei auf
der Raum- und Artefakt-Ebene ausgestattet wie ein Restau-
rant mit einzelnen Tischen, mit Tischdecken, Blumen und
Menükarten, aus denen die Bewohner*innen situativ wählen
| Feministische Geographien des Alter(n)s
13
können, was sie essen möchten. Eine materielle Gerontolo-
gie kann nun aufarbeiten, inwiefern bestimmte „socio-natu-
ral constellations“ die Entstehung des zu interessierenden
Phänomens, in diesem Falle Vergemeinschaftung, ermögli-
chen, behindern oder gar verhindern. Dabei ist in der vorlie-
genden Untersuchung z.B. ein Gemeinschaftstisch („commu-
nity table“) von Interesse, der es den Bewohner*innen er-
möglicht, niedrigschwellig zueinander in Kontakt zu treten.
Dies ist jedoch nicht möglich, indem allein die Materialität
des Tisches, also z.B. seine Größe, seine Verortung, etc. ana-
lysiert wird, sondern dieser muss in Zusammenhang mit ma-
teriell-diskursiven Praktiken gedacht werden. Die Praktiken
der Nutzung des Tisches lassen sich nicht auf die konkrete
Essenssituation begrenzen. Mitgedacht werden müssen Per-
sonen, institutionelle Rahmungen wie auch symbolische Be-
deutungen und vieles mehr, die notwendig sind, um über-
haupt in einer Gruppe am Tisch sitzen zu können und diesen
als Ausgangspunkt von Gemeinschaft verstehen zu können.
Im angezeigten Fall organisieren Bewohner*innen ehren-
amtlich die Tischrunden, zu denen sie neu Hinzugezogene
wie Alteingesessene einladen. Die ehrenamtlich Tätigen or-
ganisieren sich im sogenannten „Hospitality Committee“, ei-
nem der zahlreichen Komitees, in denen die Bewohner*in-
nen der Residenz den Alltag mitgestalten. Während mit einer
materiellen Gerontologie hier also Vergemeinschaftung auf
mikrosoziologischer Ebene erfasst werden kann, ermöglicht
der Hinzubezug einer materialistischen Perspektive die Ana-
lyse grundlegender Strukturen, die das Arrangement ermög-
lichen. Hier lassen sich insbesondere und ganz im Sinne ei-
nes historischen Materialismus Fragen der Bedingungen
stellen, dieses Mal verstanden als Fragen von Einkommen
und Vermögen der Bewohner*innen. Diese müssen, um ein-
ziehen zu können, eine einmalige Summe zahlen, dazu
kommt die monatliche Miete für ihre Wohnung. Gesund-
heitsbezogene Dienstleistungen verursachen zusätzliche
Kosten. Die Bewohner*innen können Teile der Kosten über
Versicherungen refinanzieren, zudem existieren solidari-
sche Angebote, die es auch weniger vermögenden Personen
ermöglichen sollen, in der Seniorenresidenz zu leben. Den-
noch beschreibt die Leitung die Bewohner*innenstruktur als
(mehrheitlich) überdurchschnittlich wohlhabend. Über die
Kosten werden nicht nur die individuellen Wohnräume ge-
staltet, sondern auch die sonstigen räumlichen Strukturen.
Hierzu gehören neben dem bereits genannten Restaurant
zahlreiche Räume, die Möglichkeiten zur Freizeitbeschäfti-
gung und Vergemeinschaftung bieten, wie z.B. ein Schwimm-
bad, ein Bereich mit Sportgeräten, ein Theatersaal, der auch
für Kinoabende und Versammlungen genutzt wird, große
Parkflächen, eine Bar und mehrere TV- und „Tea Rooms“. Die
Tea Rooms verfügen beispielsweise über offene Kamine,
Sofas und Spieltische, an denen die Bewohner*innen
Kartenspiele machen. Die gesamte Ausstattung imitiert da-
bei ästhetisch ein Landhaus oder teures Hotel sowohl in der
Größe als auch in der Wahl von Farben und Möbeln. Damit
ermöglicht die räumliche Ausstattung Anknüpfungspunkte
an Klassengeschmack der Bewohner*innen. In diesem Um-
feld sind können sie routinierte Praktiken der Vergemein-
schaftung ausüben. Hier lassen sich die Möglichkeiten einer
verschränkten Betrachtung von materieller und materialis-
tischer Gerontologie im Sinne eines Lettowschen kritischen
Materialismus verdeutlichen: Die beteiligten Materialitäten
haben ihre eigene materielle Basis, die wiederum auf Un-
gleichheitsstrukturen verweist. Um diese Analyse vorneh-
men zu können, lässt sich Materialität jedoch nicht als ano-
nym konzipieren. Weitere Ansatzpunkte für eine kritische
Analyse ließen sich zudem darüber generieren, die wohl-
fahrtsstaatliche Rahmung zu betrachten. Welche Formen
der Altersvorsorge (sowohl im Sinne von Pflege- und Kran-
kenversicherung als auch im Sinne von Rente) sind in den
USA üblich? Wie unterscheiden sich die Bedingungen für die
deutsche Vergleichsstichprobe? Wie ordnen sich darin Vor-
stellungen von Sorge und Sorgen z.B. im Sinne von Care-Re-
gimen? Inwiefern lassen sich die in Care-Regimen eingelas-
senen vergeschlechtlichten, heteronormativen, familialisti-
schen Muster in der Vergemeinschaftung in Seniorenresi-
denzen rekonstruieren?
Abschließende Einordnung
Das Verständnis der agentiellen nicht-menschlichen Ak-
teur*innen ist für die Alternsforschung in vielen Gebieten
bereichernd und nahezu unumgehbar, denkt man beispiels-
weise an Überwachungstechnologien oder Pflegerobotik, in
denen menschliche wie nicht-menschliche Akteur*innen ge-
meinsam Altern herstellen. Gleichzeitig ist die Alter(n)sfor-
schung in großen Teilen zwar an ungleichheitsrelevanten
Fragestellungen interessiert, wie z.B. an Altersarmut, ohne
jedoch ganz grundlegend über gesellschaftliche Transforma-
tionsprozesse nachzudenken. Es braucht meines Erachtens
daher mehr macht- und herrschaftskritische Perspektiven –
nicht weniger (Hahmann 2020). Der vorgeschlagene kriti-
sche Materialismus erlaubt in der Betrachtung diskursiv-
materieller Praktiken den Einbezug einer kritischen Sozial-
theorie, beispielsweise im Verständnis einer feministisch-
materialistischen Gesellschaftstheorie, wie Lettow (2017)
dies konzipiert und welche sich anhand des empirischen Ma-
terials beispielhaft darlegen lässt. Um einen kritischen Mate-
rialismus zu ermöglichen, müssen jedoch die ontologischen
Forderungen, das Verständnis von Materialität als z.B. intra-
aktiv, als anonym oder als „dunkel“ sowie weitere, in diesem
Artikel nicht diskutierte Forderungen, wie z.B. die des Post-
humanismus (Braidotti 2013; Ferrando 2013), vernachläs-
sigt werden. Denn gerade der Fokus auf die
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
14
Entstehungsbedingungen, auf das Dunkle, das Nicht-Be-
nannte ist notwendigerweise Aufgabe einer kritischen Wis-
senschaft, die die historische und bestehende Formation ei-
ner Gesellschaft nicht nur in ihrer Existenz und ihren Wirk-
weisen beschreiben, sondern diese auch hinterfragen und
auf eine mögliche alternative soziale, politische, ökonomi-
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| Feministische Geographien des Alter(n)s
15
Wohnen und Alter(n)
Wohnbezogene Identität – Die Bedeutung des Zuhau-
ses für Alter und Alterskonstruktionen
Imke Hurlin
Einleitung
Wohnen ist ein lebenslanger Austauschprozess zwischen
Menschen und ihrer Umwelt. Die Bedeutung der Wohnung
kann auf physischer, psychischer und sozialer Ebene in allen
Lebensphasen betrachtet werden (Oswald et al. 2014: 29).
Im höheren Alter gilt die Wohnumwelt als zentrale Variable
für die Aufrechterhaltung von Selbstständigkeit und Autono-
mie als auch für die Lebenszufriedenheit. Beispielsweise hat
die Wohnung nach dem Wegfall von alltäglichen Arbeitsräu-
men und daraus folgendem Lebensfokus auf Wohnraum im
Rentenalter einen hohen Stellenwert (Oswald et al. 2014:
32). Die Relevanz des Wohnens für das körperliche und psy-
chische Wohlbefinden gewinnt im hohen Alter an Wert und
die Form und Art des Wohnens haben einen großen Einfluss
auf das Wohlbefinden. Insgesamt kann die eigene Wohnung
mehr zu dem Raum werden, der das Gefühl der Identität ver-
mittelt (Kricheldorff 2008: 239). Das aktuell sehr verbreitete
und politisch geförderte Konzept des Ageing in Place (vgl.
z.B. Achter Alternsbericht der Bundesregierung) hat als
grundlegende Prämisse die Unterstützung älterer Menschen
beim Verbleib in der eigenen Wohnung. Dies wird gesamtge-
sellschaftlich als positiv angesehen und soll zu einer Steige-
rung des Wohlbefindens, der Unabhängigkeit, der sozialen
Teilhabe und des gesunden Alterns beitragen.
Im Folgenden sollen das Konzept der Semantik von Zuhause
nach der Autorin SIXSMITH und den Autorinnen BLUNT & DOW-
LING und die Dynamik von Mensch-Umwelt-Beziehungen im
Alter erläutert werden. Aus sozialgeographischer Perspek-
tive beschäftige ich mich mit der Frage, wie sich Alter und
die Räume des Zuhauses und des Pflegeheims gegenseitig
konstruieren.
2
Dazu betrachte ich, inwiefern die eigene
Wohnung zur Identität von älteren Menschen beiträgt und
was bei einem Umzug ins Alten- oder Pflegeheim passiert.
Bedeutung von Zuhause
Die Autorin SIXSMITH reduziert eine breite Sammlung an Aus-
sagen über die Bedeutung von Zuhause auf drei verschie-
dene Arten der alltäglichen Erfahrung: das physische, das so-
ziale und das persönliche Zuhause (Sixsmith 1986). Als phy-
sisches Zuhause beschreibt sie alle Haushaltseinrichtungen,
2
Wohnformen wie Altersheim/Seniorenheim ohne Pflegestufe werden in
diesem Essay nicht differenziert benannt und berücksichtigt.
den Baustil und die Wohnräume. Das soziale Zuhause be-
steht hauptsächlich aus den Beziehungen zu anderen Men-
schen in einem gemeinsamen Raum. Das persönliche Zu-
hause wird als eine Art Erweiterung der eigenen Person mit
Wünschen, Gefühlen, Hoffnungen und Handlungen betrach-
tet. Das Zuhause stellt somit einen zentralen, emotionalen
und physischen Bezugspunkt im Leben einer Person dar
(ebd.: 290).
Die persönliche und soziale Ebene des Zuhauses ist eine sehr
individuelle und wird mit verschiedenen Emotionen assozi-
iert, die gegenteilig auftreten können. Für einige Menschen
stellt das Zuhause einen Ort der Sicherheit, Vertrautheit und
Behaglichkeit dar. Für andere ist er verbunden mit Unsicher-
heit, Ausgrenzung und Entfremdung. Das Haus oder die
Wohnung stellt somit nicht automatisch ein Zuhause mit
persönlichen Beziehungen dar, die das Sich-zu-Hause Füh-
len ausmachen (Blunt & Dowling 2022: 1).
Die Identität und Zugehörigkeit zum Zuhause hat zusätzlich
eine politische Komponente und wird durch Einschlüsse,
Ausschlüsse und Ungleichheiten in Bezug auf Geschlecht,
Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Sexualität, Klasse, Religion
und Alter geprägt. Die Autor:innen BLUNT & DOWLING be-
schreiben Heimat und den Ort des Zuhauses als ein multiska-
lares geographisches Konzept, ein räumlich Imaginäres – als
gegenseitig beeinflussende und variable Ideen und Gefühle,
die Orte konstruieren und verbinden und sich über beste-
hende Räume und Maßstäbe erstrecken. Das Zuhause be-
deutet Macht und Identität und kann materiell und immate-
riell sein (ebd.: 1f.).
Das Zuhause beim Umzug
Umzüge im Alter können den Wechsel in eine andere Woh-
nung, einen anderen Wohnort oder von einer Wohnung in
eine Einrichtung für betreutes Wohnen oder ein Alten- bzw.
Pflegheim umfassen. Dieser Umzug kann bei guter Gesund-
heit, als auch bei Kompetenzverlust geschehen. Die Bedeu-
tung, die einer Wohnung zugewiesen wird, beeinflusst die
Entscheidung für einen Umzug (Rowles & Ravdal 2001;
Rowles & Watkins 2003). Stand 2021 leben 96% der über
65-jährigen in Deutschland in der eigenen Wohnung. Nur
4% in Alten- und Pflegeheimen (Statistisches Bundesamt
2021). In der Altersgruppe 65–70 Jahre beträgt die Pflege-
quote 3,8 Prozent, in der Altersgruppe 90 Jahre und älter
steigt sie auf 70,7 Prozent an. Davon werden 72,7% zu Hause
versorgt und 27,2% in stationären Pflegeeinrichtungen. Die
Pflegebedürftigkeit nimmt also mit dem Alter rapide zu
(Tesch-Römer & Engstler 2020: 4).
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
16
Wohnen und Pflege in der eigenen Wohnung
Es zeigt sich, dass viele Menschen auch im höheren Alter
noch in der eigenen Wohnung leben. Häufig wird ein Umzug
ins Heim hinausgezögert oder versucht zu verhindern. Wenn
ältere Menschen aus ihrem vertrauten Zuhause ausziehen
müssen, stellt sich der mit dem Umzug verbundene Wechsel
aus einer vertrauten in eine fremde Umgebung oft als Prob-
lem dar.
Die kostengünstigere und angesehenere häusliche Pflege im
Vergleich zur Verlegung in ein Pflegheim ist zusätzlich ein
entscheidender Faktor (Sixsmith & Sixsmith 2008: 220f.).
Beim Recherchieren nach alternativen Wohnformen zum Al-
ten- oder Pflegeheim wird schnell ersichtlich, dass vielfältige
Programme und Initiativen Lösungen vorschlagen, ältere
Menschen so lange es geht, in ihrer eigenen Wohnung leben
zu lassen und die individuelle Lebensgestaltung zu erhalten.
Selbstständiges und selbstbestimmtes Wohnen in der Woh-
nung so lange wie möglich heißt die griffige Parole dazu –
selbst bei pflegebedürftigen Personen. Der Raum, das Zu-
hause, wird anscheinend mit einem positiven Bild verbun-
den. Es wird von einem Zuhause auf persönlicher, sozialer
und physischer Ebene ausgegangen, das es gilt zu bewahren.
So stellt das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend im Konzept „Wohnen im Alter“ verschie-
dene ambulante Wohnformen dar. Bestehende Wohnungen
älterer Personen sollen altersgerecht umgebaut werden:
„Kleine handwerkliche Umbaumaßnahmen in der Wohnung
sowie einfache handhabbare Technik können den Alltag der
Menschen erheblich erleichtern.“ (BMFSFJ 2019). Das Motto
ist: „Das Leben in der eigenen Wohnung und im vertrauten
Wohnumfeld erhöht die Lebensqualität im hohen Alter und
bei gesundheitlichen Einschränkungen.“, so das Deutsches
Zentrum für Altersfragen (DZA 2016).
Privater und öffentlicher Raum im Alter
Um Selbstständigkeit zu erhalten, liegt der Fokus meist auf
der Unterstützung und Kompensation von altersbedingten
körperlichen und kognitiven Einbußen. Hierzu werden ge-
zielte Interventionen im Wohnbereich unternommen. Je-
doch wird die Wohnfunktion oder -Bedeutung – Anregung
durch die Umwelt, Freude am Wohnalltag, biographische
Verankerung und lebenslange identitätsstiftende Wohnver-
bundenheit – meist außer Acht gelassen (Oswald et al. 2014:
38). Das soziale und persönliche Zuhause wird auch in der
eigenen Wohnung bei einem altersgerechten Umbau laut
Oswald et al. meist nicht beachtet und lässt die Bedeutung
des Zuhauses schwinden.
Die häusliche Pflege in der eigenen Wohnung wirft auch ethi-
sche und relationale Bedenken von privaten zu öffentlichen
Orten auf. So wird diese Form der Gesundheitsversorgung
als eine Verletzung der Privatsphäre oder Eingriff in den
häuslichen Bereich gesehen. Identität und Sicherheit inner-
halb der Grenzen des Zuhauses werden so von außen zum
Teil unerwünscht durchbrochen (Angus et al. 2005: 162f.).
Eine Krankheit und die verbundenen häuslichen Pflege-
dienste unterbrechen die intime und elementare Beziehung
zwischen dem Selbst und dem Zuhause. Die Bedeutung und
Erfahrung des eigenen Zuhauses werden durch diesen Ein-
griff der Pflege demontiert und rekonstruiert. Der Körper
und das Zuhause werden, laut der Studie von ANGUS ET AL., zu
Objekten der Pflege (ebd.: 182f.).
Inwiefern macht im fortgeschrittenen Alter die Bedeutung
des vertrauten Zuhauses in Kombination mit Pflege in der ei-
genen Wohnung dann einen Unterschied zu einem Umzug
ins Alten- oder Pflegeheim?
Umzug ins Alten- oder Pflegeheim
Gründe für einen Umzug in ein Alten- oder Pflegeheim sind
meist eine zunehmende Abhängigkeit bei alltäglichen Akti-
vitäten, kognitive Beeinträchtigungen und ein Mangel an
pflegerischer Unterstützung durch beispielsweise Familien-
angehörige oder einen ambulanten Pflegedienst. Aus der
Perspektive der älteren Personen können Gründe, einen Um-
zug anzutreten, eine zu große Wohnung, das Alleinsein in
der Nacht oder gesundheitliche Bedürfnisse sein (Mischke et
al. 2015: 73).
Der Eintritt ins Alten- oder Pflegeheim kann positive Effekte
auf das psychische und physische Wohlbefinden haben. Die
Wahrnehmung ist auch hier, wie beim Zuhause, individuell.
Ein geplanter oder gezwungener Eintritt kann großen Ein-
fluss auf das Wohlbefinden haben. Hier ist meist eine orga-
nisierte Vorbereitung und Eingewöhnung der Bewohner:in-
nen und Familienangehörigen von großer Bedeutung und
kann einen entscheidenden Unterschied in der Wahrneh-
mung hervorrufen (ebd.: 73f.). Positive Effekte des Umzugs
werden von „Wohnen im Alter“ wie folgt benannt: Geregel-
ter Tagesablauf, Kontakt mit Gleichaltrigen, eine gesicherte
medizinische Versorgung und viele begleitende Aktivitäten,
um einer Vereinsamung entgegenzuwirken. Zudem können
die Besuche der Angehörigen gemeinsam intensiv genutzt
werden und werden nicht mit Pflege verbunden (Wohnen im
Alter Internet GmbH 2023).
Der Wechsel von der gewohnten häuslichen Umgebung in
eine institutionalisierte Einrichtung wird als prägnantester
Einschnitt im Leben bezeichnet. Er ist daher meist mit vielen
Herausforderungen verbunden. Mit dem räumlichen Wech-
sel fallen auch Beziehungen zu Freunden und die Ausfüh-
rung von Hobbies weg oder sind nur beschränkt möglich
(Mischke et al. 2015: 73).
| Feministische Geographien des Alter(n)s
17
Aus einer raum- und wohntheoretischen Perspektive wird
die Privatheit „der eigenen vier Wände“ durch die Einrich-
tung des Pflegeheims aufgehoben. Ein Raum der Selbstbe-
stimmung und Ort des Rückzugs wird ersetzt durch einen
Raum, der von professionellen Interventionen und mehre-
ren Berufsgruppen durchdrungen scheint. Es entstehen ge-
meinsam konstruierte Räume, die identitätsstiftend sein
können. In der Tat lässt sich aus vielen Studien herauslesen,
dass ein Umzug ins Alten- oder Pflegeheim für viele ältere
Menschen eine Hürde darstellt (Meyer et al. 2017: 269). Da-
her überrascht die oben genannte Zahl nicht, dass nur 4% in
Einrichtungen der Pflege wohnen. Diese Unterstellungen
zum Alten- und Pflegeheim werden in zahlreichen Veröffent-
lichungen benannt und werden hier als zusammengefasster,
allgemeiner Einblick dargestellt.
Auffällig ist, dass auch bei einem aufgrund des gesundheitli-
chen Zustandes unvermeidlichen Umzug in ein Alten- oder
Pflegeheim oft versucht wird, das Zuhause in Form der vor-
herigen Wohnung der Bewohner:innen so gut es geht zu be-
wahren. Die niederländische Firma „True Doors“ beispiels-
weise produziert Türaufkleber, die die vorherige Woh-
nungstür der Bewohner:innen zeigt. So finden gerade De-
menzkranke ihre Zimmertür schneller und es wird ihnen bei
der Suche nach etwas Vertrautem geholfen. Der Slogan:
„Transform impersonal hallways into neighborhoods with
home” (True Doors 2023) prägt die Website der Firma. Die
physische und persönliche Bedeutung des Zuhauses nach
SIXSMITH wird hierbei aufgegriffen. Bei einem Umzug wird
das Aussehen der eigenen Wohnungstür/Haustür verwen-
det, um Identität und Vertrautheit wiederherzustellen. So
soll es den Bewohner:innen erleichtert werden, trotz Umzug
in ein Pflegeheim eine Identifikation mit dem Ort zu entwi-
ckeln.
Eine schon ältere Studie von 1976 von FISCHER über die Fol-
gen der Institutionalisierung im hohen Alter vergleicht äl-
tere Menschen, die in Altenheimen leben, mit solchen, die auf
sich allein gestellt in ihrer Wohnung leben. Ergebnisse sind,
dass bei beiden Szenarien des Wohnens das Angewiesensein
auf die Hilfe anderer als schlimmste Selbstwertbeeinträchti-
gung und Versorgungsabhängigkeit empfunden wird. Den-
noch erwies sich eine Institutionalisierung des Wohnens als
deutlicher Faktor, das Gefühl der Beeinträchtigung und Ab-
hängigkeit durch die vorherrschenden geregelten Abläufe zu
bestärken (Haußer 2013: 35).
Fazit
Die eigene Wohnung ist nicht mit einem Zuhause auf physi-
scher, sozialer und persönlicher Ebene gleichzusetzen. Der
Blick auf die Thematik erfordert eine individuelle
Perspektive mit Emotionen und Erfahrungen in Bezug auf
Zuhause und einem Umzug ins Alten- oder Pflegeheim. Dar-
über hinaus spielen strukturelle Faktoren wie die Verfügbar-
keit von Pflegenden und angemessenen Wohnungen, sowie
Kosten für Pflege und Wohnen eine große Rolle. Wie hier im
Essay aufgezeigt, weist sowohl das Alten- und Pflegeheim als
auch die Pflege zuhause Aspekte auf, welche identitätsstif-
tend sein können.
Die Wohnung hat im hohen Alter eine große Bedeutung und
ist ein Raum der Identität. Inwiefern diese Identität durch
eine Institution wie das Alten- oder Pflegeheim verloren
geht, ist fraglich. Bei einer unvermeidlichen Abhängigkeit
durch Pflege können auch die altersgerechte umgebaute
Wohnung und die Pflege vor Ort einen Eingriff in die Identi-
tät und das Wohlbefinden darstellen. So kann vermutet wer-
den, dass sich die eigene Wohnung im Alter mit vielen alters-
gerechten Eingriffen zur Pflege schon vor dem Heimeinzug
so verändert, dass hier keine Rede mehr vom physischen, so-
zialen und persönlichen Zuhause ist. Das Zuhause kann die
Wohnung darstellen, schließt jedoch nicht aus, dass dieses
Gefühl im Alten- oder Pflegeheim nicht auch erreicht werden
kann. So ist es fraglich, ob das Anstreben möglichst lange in
der eigenen Wohnung zu leben, wie es die Rufe nach Ageing
in Place fordern, die beste Lösung ist. Eine positive Wendung
ist möglich, wenn die Transformation des Zuhauses auf allen
drei Ebenen, der physischen, sozialen und persönlichen, ge-
lingt. Dann kann ein Wechsel von eigener Wohnung in ein
Alten- oder Pflegeheim für alle Beteiligten erleichternd wir-
ken und sich ein Gefühl von Zuhause einstellen.
Es hat sich gezeigt, dass vertraute Elemente der Wohnung,
seien es physische, soziale oder persönliche, genutzt wer-
den, damit ältere Menschen sich noch lange selbstbestimmt
und geborgen fühlen, auch bei einem krankheitsbedingten
Umzug ins Heim. Wie im Essay aufgezeigt wird, ist die Pfle-
gebedürftigkeit und vor allem die gesellschaftliche Einord-
nung dieser als etwas Schlechtes, ein entscheidender Faktor
dafür, wie Räume des Wohnens und Pflegens Vorstellungen
von „gutem“ Altern konstruieren.
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3
Ich weise an dieser Stelle explizit darauf hin, dass ich mich insbesondere
auf angloamerikanische und europäische Debatten beziehe. Darüber hinaus
hat meine explorative, ethnographisch informierte Empirie ausschließlich
in deutschsprachigen Kontexten in Deutschland und der Schweiz stattge-
funden – repräsentiert also eine spezifische Perspektive auf das Themen-
feld der Haushaltsauflösungen.
4
Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass der Begriff der häuslichen Ge-
walt durchaus kritisch hinterfragt werden sollte. Wie beispielweise bei
„An der Frage des Todes entscheidet sich ja alles – wo-
rum geht es im Leben?“
Annabelle Müller
„Aging in Place“, das Altern im eigenen Wohnumfeld, erfreut
sich zurzeit großer Beliebtheit und scheint die bevorzugte
Lösung für den allgemeinen Pflegenotstand zu sein, indem
Sorgearbeit abermals in den privaten Wohnraum verlegt
wird (für eine kritische Auseinandersetzung damit siehe bei-
spielsweise Milligan 2009). Mit diesem Fokus auf das Altern
im eigenen Zuhause, widme ich mich den Auswirkungen, die
damit einhergehen: Haushaltsauflösungen, die untrennbar
mit Wohnveränderungen verknüpft sind, basierend auf den
Ergebnissen meiner Masterarbeit.
3
Anders gesagt: Wie ver-
ändert sich das Wohnen durch Alter(n)sprozesse? Wie wan-
deln sich die (Wohn-)Materialität und der Umgang mit der
Dinglichkeit durch alter(n)sbedingte Veränderungspro-
zesse?
Aufräumen, Ausräumen, Umräumen – Wohnen als Prak-
tik
Bevor ich mich den Haushaltauflösungen selbst zuwende,
nähere ich mich zunächst der Frage an, was Zuhause eigent-
lich bedeutet und welche Zuschreibungen damit einherge-
hen. Der Wohnort, das Zuhause, das Haus, die Unterkunft,
die Wohnung, das Wohnen – all diese Begriffe bezeichnen
und umschreiben ein Phänomen, das kaum alltäglicher sein
könnte und am Kern menschlichen Lebens steht. In der eng-
lischsprachigen, geographischen Auseinandersetzung findet
sich zumeist der Begriff des home (insbesondere bei
Blunt/Dowling 2006/2022, in dem gleichnamigem Werk). In
ihrer Konzeptionierung verweisen Alison Blunt und Robyn
Dowling (2006/2022) auf multiskalare, materiell-imagi-
nierte und von Macht durchzogene Ebenen von home. Entge-
gen einem alltagssprachlichen Verständnis von Zuhause als
sicher, als Zufluchtsort von gesellschaftlichen Macht- und
Gewaltverhältnissen, kann auch genau dieser Ort geprägt
sein von Gewalt, Macht- und Missbrauchserfahrungen wie
der Blick auf häusliche Gewalt
4
zeigt. Ich wende mich des-
halb in diesem Text von dem Begriff des Zuhauses ab und
widme mich vielmehr dem Wohnen.
Brickell/Cuomo 2020 deutlich wird, ist Gewalt, die in einem häuslichen
Kontext verübt wird, in globale Macht- und Gewaltstrukturen eingebettet
(2020: 297). Im Gegensatz dazu verlagert der Begriff der häuslichen Gewalt
das Problem in einen privaten Kontext und entpolitisiert damit die gewalt-
vollen Strukturen, die häusliche Gewalt ermöglichen (beispielsweise durch
Abhängigkeitsverhältnisse in familiären Strukturen).
| Feministische Geographien des Alter(n)s
19
„Das Zuhause [home im Original, Anm. d. Autorin] ist
ein Ort des Kommens und Gehens, des Lebens und Ster-
bens, des Ein- und Ausziehens, von materiellem Verfall
und Erneuerung.“ (Baxter/Brickell 2014: 140, eig.
Übersetzung)
Das Wohnen bezeichnet in diesem Zusammenhang sowohl
den Ort – das Zuhause – rückt jedoch als nominalisiertes
Verb zugleich ein wichtiges Charakteristikum ins Zentrum:
Wohnen als Prozess. Es durchbricht das Verständnis von
Wohnen als statisches Konzept, als bloßen Containerraum,
sondern öffnet den Blick auf das Wesen des Wohnens als
Praktik. Diese Wohnpraktiken, finden im Zusammenspiel
mit der Wohnmaterialität selbst (den baulichen Strukturen,
den Möbeln und Inhalten der Schränke und Kommoden) so-
wie gesellschaftlichen Strukturen, in welche das Wohnen
eingebettet ist, statt. Sie konstituieren und (re-)produzieren
das Wohnen im Doing (Boccagni/Kusenbach 2020: 597;
Power 2012: 8). Deutlich wird dies auch in folgendem Aus-
schnitt meiner empirischen Auseinandersetzung mit Haus-
haltsauflösungen:
Aber so das Gefühl irgendwie, sich von manchem, was
man so aufbewahrt, sich einfach zu befreien, weil man
sieht, man kann es auch nicht mehr bewirtschaften, du
musst es ja auch mal angucken, und mal pflegen, und
mal abstauben und mal sauber machen, und das schafft
man einfach, oder irgendwann hat man da auch keinen
Bock mehr drauf. Nicht nur, dass man es nicht mehr
schafft. Oder man sieht irgendwie, es ist unnütz. Du wi-
schelst da immer drum rum, aber machst damit eigent-
lich nichts. (Interview mit Katharina*
5
, Position 88, ei-
gene Hervorhebungen)
Die Kommoden und Schränke, Schubladen und Ober-
schränke beherbergen zumeist den weltlichen Besitz der mit
ihnen Wohnenden – die Socken und Unterhosen, das Silber-
besteck und Teeservice, die Häkelnadeln und Computer-
spiele. Doch was passiert mit diesen unausweichlich materi-
ellen Besitztümern, wenn sie nicht mehr gebraucht werden?
Manchmal steht am Ende des Wohnens ein Todesfall, der die
Fragen nach dem Verbleib der Gegenstände aufwirft: wohin
mit den angedetschten Tassen, den abgetragenen Schuhen,
der Vollholzwohnzimmergarnitur? Übergeordnet widme ich
mich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Menschen,
Praktiken und Materialitäten, das im Moment der Abwesen-
heiten dieser Menschen neu verhandelt wird.
5
Ich verwende für meine Interviewparter*innen größtenteils Pseudonyme,
diese sind mit einem „*“ gekenntzeichnet.
6
Die Autor*innen verwenden im Original den Begriff „divest“, was sich nur
schwerlich wörtlich ins Deutsche übertragen lässt. Ich habe mich dafür
Auswohnen als Auflösung des Wohnens
Das Wohnen, und damit auch der Wohnraum, wird durch die
Auseinandersetzung mit den Wohnmaterialitäten und ande-
ren Bewohnenden, mit Wünschen, Ängsten und Träumen
stetig (re-)produziert (Dowling/Mee 2007: 161; Schwertl
2010: 21; Blunt/Dowling 2006: 2). Diese Produktion des
Wohnens steht in einem steten Spannungsverhältnis mit
Auswohnprozessen. Im englischen als unmaking bezeichnet
umfassen sie all jene Aspekte, die dem Wohnen diametral ge-
genüberstehen – und dennoch einen immanenten Teil dar-
stellen (Boccagni/Miranda Nieto 2022: 517; Baxter/Brickell
2014: 140). Wohnen wird demnach (re)produziert und ent-
wohnt, verändert und zerstört in einem iterativen Prozess
(Visser 2018: 302). Neben Wohnungslosigkeit, Zwangsräu-
mungen (dazu auch Dimitrakou/Hilbrandt 2022) und Zer-
störung durch Krieg oder Naturkatastrophen gehören auch
intime Prozesse von häuslicher Gewalt, Einbruch und Haus-
haltsauflösungen zu Prozessen des Auswohnens (Bax-
ter/Brickell 2014: 135): „Das Auswohnen [Home unmaking,
Anm. d. Autorin] ist der prekäre Prozess, durch den materi-
elle und/oder imaginierte Bestandteile des Wohnens aus
Versehen oder absichtlich, vorübergehend oder dauerhaft
abgegeben/enteignet
6
, beschädigt oder sogar zerstört wer-
den.“ (Baxter/Brickell 2014: 134, eig. Übersetzung)
In dem Moment der Auflösung materialisieren sich diese
Prozesse als Umstände im Wohnraum, wie beispielhaft in
dem Gespräch mit einem professionellen Haushaltsauflöser
deutlich wird:
„Frau Müller hat ihren Sohn verloren und Sie wissen
jetzt, alles klar, ich kann von der Wohnung vielleicht
10% oder 20%, der hat vielleicht irgendwelchen Elekt-
ronikmüll gesammelt, das ist wertlos, das kostet auch
noch richtig Geld zu entsorgen. Dann hat der leider mit
seiner Krebserkrankung am Ende auch nicht mehr auf-
geräumt, die Küche ist also ziemlich verschimmelt. Ja,
das heißt sie können das nicht in den 2nd Hand Laden,
sie können das auch nicht an irgendwelche Freunde
verschenken, das will halt keiner haben. Und es ist halt
auch leider noch 3. Etage und es muss auch noch da
runtergetragen werden, und der Teppichboden ist lei-
der durch die Inkontinenz am Ende auch durch.“ (Inter-
view U2*, Position 29)
Auswohnen findet in diesem Beispiel schleichend statt,
wenn Wohnpraktiken wie Putzen und Aufräumen nicht
mehr durchgeführt werden und das Wohnen so nicht mehr
stetig (re-)produziert wird – analog zu schleichenden
entschieden, zwei mögliche Lesarten durch den Spiegelstrich darzustellen,
um die Bandbreite des Begriffs auch im Deutschen greifbar zu machen.
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
20
Prozessen des Alterns, festgemacht an Krankheitsverläufen
und Pflegebedürftigkeiten (Van Dyk 2020: 27). Dieser As-
pekt verdeutlicht, dass Wohnen sich aus dem Verhältnis zwi-
schen menschlichen und mehr-als-menschlichen Aktanten
konstituiert (McKeithen 2017: 3). Der Blick auf schleichen-
des Auswohnen (Visser 2018: 290) wirft die Frage nach dem
Zusammenhang von Wohnen und Alter(n) auf: inwiefern
kann das Einbeziehen (schleichender) Auswohnpro-
zesse die Debatte um Aging in Place fruchtbar und kri-
tisch erweitern? Inwiefern materialisiert sich die Frage
nach dem „guten Leben“ und würdigem Alter(n) im Wohnen
und wird in Auswohnprozessen sichtbar?
„[B]ei meinem Vater, als er diesen Platz in dem Senio-
renheim dort hatte, musste sein Haus dann aufgelöst
werden. Und da war es so staubig und so dreckig und so
kniestig und so ekelig und so muffig und so feucht, dass
ich auch gesagt habe, ich kann da gar nicht reinge-
hen.“ (Interview mit May*, Position 35-36)
Eine weitere Frage, welche diesen Aspekt im Hinblick auf
Haushaltsauflösungen aufgreift, ist was Menschen dazu ver-
anlasst, im eigenen „Zuhause“ wohnen zu bleiben, obwohl
der Wohnraum nicht mehr den Anforderungen entspricht.
Im Kern geht es demnach um die Auseinandersetzung mit
dem Verhältnis von Mensch, Wohnraum und Wohnmateria-
litäten. Folgender Ausschnitt aus einem Gespräch mit Chris-
tine Süssmann, der ehemaligen Leiterin des Friedhof Fo-
rums Zürich und Kuratorin der Ausstellung „Die letzte Ord-
nung. Tote hinterlassen Dinge“ illustriert genau diesen Zu-
sammenhang.
„Ich habe gesehen, wie die Leute das so aufschieben. Sie
bleiben einfach in ihren großen Wohnungen, die gar
nicht mehr zu ihren Bedürfnissen passen. Und manche
alten Menschen haben auch Häuser, und da sind sie, so-
lange es nur irgendwie geht, das ist ihr Zuhause, und
zum Teil hat das Bleiben auch was mit Finanzen zu tun,
denn jeder Wechsel würde sie teurer zu stehen kom-
men. Sie behalten die ganze umfangreiche Infrastruk-
tur, obwohl ihnen das alles inzwischen zu viel ist. Das
habe ich auch bei meinen Eltern gesehen. Sie sind über
90 und jetzt im Altersheim, das ging von einem Tag auf
den andern, aufgrund einer Notfallsituation, und meine
Geschwister und ich haben dieses Haus irgendwann
noch zu räumen. Von Keller bis Estrich ist alles voll, und
mit dem vielen zurechtzukommen, hat meine Eltern zu-
letzt belastet. Sie selbst sagen das vielleicht nicht, es
war ihr Daheim, da waren sie auch autonom, sie woll-
ten das nicht einfach so hergeben, aber die Immobilie
samt Inhalt hat sie irgendwann auch behindert. Das ist
mein Gefühl, und das bleibt mir schon sehr in Erinne-
rung, jedes Stück Material muss ich verwalten, und spä-
testens, wenn die Kräfte schwinden, ist das ein Thema.
Der Alltag wäre einfacher, wenn alles ein bisschen
schlanker und leichter ist, aber das zu bewerkstelligen,
ist schwierig, offenbar. Schon erstaunlich, wenn man
denkt, noch zwei-drei Jahre, und dann musst du alles
loslassen, auch diesen Körper. Und dann hängt man
noch an diesem Silberbesteck, für das die eigene Mutter
doch so hart gearbeitet hat. An jedem Ding klebt ein Ge-
fühl, ich verstehe das, aber denk noch einen Moment
weiter, und dann lässt du alles zurück. Es ist wie bei ei-
nem Paar, das ein Kind erwartet und sich auf die Geburt
einfach nicht einstellen will. Dann läuft halt vieles
schief, und beim Tod ist es genauso. Wichtig wäre zu
klären: Ist ein Lebewesen, bin ich selbst nur eine An-
sammlung von Material oder mehr? Und welchen seeli-
schen Ballast muss ich noch loswerden, damit ich unbe-
schwert das Zeitliche segnen kann? Wer dazu bereit ist,
kann alles loslassen.“ (Interview mit C. Süssmann, Po-
sition 44-46, nachträgliche Änderungen durch die In-
terviewpartnerin)
Sie hebt hervor, dass Wohnmaterialitäten auch mit Ein-
schränkungen und Belastung verknüpft sein können. Insbe-
sondere mit Blick auf Aging in Place Debatten wird deutlich,
dass das Verbleiben im Zuhause auch ein Aufschieben von
Entsorgen bedeuten kann – und dass das Behalten des ge-
samten Hausstands keineswegs nur positiv gesehen werden
kann.
Dinge, die bleiben
Der Fokus auf das Verhältnis von Menschen zu der sie umge-
benden Materialität, insbesondere der Wohnmaterialitäten,
wird in Umbruchsmomenten deutlich – beispielsweise in
Form von Haushaltsauflösungen. Der Umgang der Hinter-
bliebenen mit den hinterlassenen und vererbten Gegenstän-
den gibt einen Einblick in das Verhältnis zwischen Mensch
und Materialität, bzw. Besitztümern.
Wie entscheiden Hinterbliebene, was behalten wird und was
nicht? In der Literatur verweist Eva Kotowski (2018) darauf,
dass Wohngegenstände Träger von Erinnerungen, von Ge-
fühlen und Erlebnissen darstellen (können). Verweist somit
die Aging in Place Debatte auch auf die Auseinandersetzung
mit den Erinnerungen des eigenen Lebens? Ist die Unwillig-
keit, um- und auszuziehen auch ein Ausdruck eines materiell
orientierten Lebens, in dem Gegenständen über sie selbst
hinausweisende Eigenschaften und Attribute zugeschrie-
bene werden? „[I]hr Leben hat sie in dieser Kammer aufbe-
wahrt, was sehr eng war.“ (Interview mit May*, Position 40)
Die gesammelten Besitztümer werden hier mit dem Leben
selbst gleichgesetzt. Gegenstände werden hier Erinnerungs-
träger, als Stellvertreter für gesammeltes Leben gleichge-
setzt. In diesem Sinne erzählen Gegenstände Geschichten,
die ihnen zugeschrieben werden und damit nicht dem
| Feministische Geographien des Alter(n)s
21
Gegenstand inhärent sind, sie werden zu Vehikeln für Erin-
nerungen (Korte/Axelrod 2004: 110&113). Die Auseinan-
dersetzung mit den Gegenständen trägt dazu bei, diese zu
Erinnerungsstücken zu transformieren (Schneider 2022: 3).
In der nachfolgenden Vignette laufe ich durch den Laden ei-
nes Hauhaltsauflösungsunternehmens, die Teile der aufge-
lösten Hausständen in ebendiesem Laden weiterverkaufen.
„Ich trete ein und stehe inmitten der Spuren gelebter
Leben. Natürlich handelt es sich ‚nur‘ um Gebrauchsge-
genstände, aber dennoch blitzen in einigen Momenten
Spuren möglicher Leben auf: Ein Kissenbezug mit ein-
gesticktem Monogramm, dort die Kiste mit den Initia-
len unterm Deckel. In dem kleinen, verwinkelten Laden
reihen sich Geschirrservice an Kristallglas, Porzellan an
Glasvasen. Gestapelt, übereinandergelegt, auf jeder
freien Fläche. Alte und neue Holzmöbel reihen sich an
Ölgemälde – und zwischendrin ein Fotokopierer. Roll-
stuhl steht neben Gartenstuhl und daneben eine alte,
rote Milchkanne. Draußen brausen die Autos vorbei,
doch hier drinnen treffen Zeiten aufeinander.“ (Vig-
nette U2*)
Deutlich wird die Einschreibung von Erlebnissen und Erin-
nerungen in Alltagsgegenstände, wie hier deutlich wird,
auch im Moment der Weitergabe.
Ent-Sorgen
Untrennbar mit Debatten um Aging in Place ist die Auseinan-
dersetzung mit Sorgepraktiken und -beziehungen verknüpft.
Denn zumeist geht Altern mit einer Verschiebung der Sorge-
beziehungen einher. Im Deutschen findet sich eine Vielzahl
von Begriffen, die das Wort der „Sorge“ beinhalten: entsor-
gen, Sorgfalt, sorgsam, fürsorglich, versorgen, um nur einige
zu nennen. Diese Sammlung verweist darauf, dass Gesell-
schaften durchzogen und geprägt sind von Sorgebeziehun-
gen. Oftmals stehen jedoch zwischenmenschliche Beziehun-
gen im Fokus. Die Erweiterung auf dingliche Materialität
kann dazu beitragen, das Verhältnis zwischen Menschen und
Dingen, Gegenständen und Krams besser zu verstehen. Und
auch bei Haushaltsauflösungen findet eine Verschiebung
von Sorgebeziehungen statt: Im Ent-Sorgen wird die Sorge-
beziehung zu dem Gegenstand beendet, verschiebt sich die
Sorgebeziehung zu der verstorbenen Person. Und die Sorge-
beziehung der Person selbst zu dem Gegenstand endet im
Moment des Todes. Doch was genau bedeutet Sorgebezie-
hung zu Gegenständen, zu den Materialitäten des alltägli-
chen Wohnens? Auf eine Antwort darauf verweist folgendes
Zitat:
„Aber so das Gefühl irgendwie, sich von manchem, was
man so aufbewahrt, sich einfach zu befreien, weil man
sieht, man kann es auch nicht mehr bewirtschaften, du
musst es ja auch mal angucken, und mal pflegen,
und mal abstauben und mal sauber machen, und
das schafft man einfach, oder irgendwann hat man da
auch keinen Bock mehr drauf. Nicht nur, dass man es
nicht mehr schafft. Oder man sieht irgendwie, es ist un-
nütz. Du wischelst da immer drum rum, aber machst
damit eigentlich nichts.“ (Interview mit Katharina*,
Position 88, eigene Hervorhebungen)
Katharina* verweist hier auf die Wohnpraktiken wie Putzen
als Ausdruck der Sorgebeziehung zu Wohnmaterialitäten. In
Rückbezug darauf, dass Wohnen durch Praktiken konstitu-
iert wird, sind es somit Sorgebeziehungen zwischen Men-
schen und Gegenständen, aber auch zwischen unterschiedli-
chen Menschen, die Wohnen konstituieren. Wohnen ist da-
mit ein Gefüge aus menschlichen und mehr-als-menschli-
chen Sorgebeziehungen und -netzwerken.
An der Frage des Todes entscheidet sich ja alles – ein Fa-
zit
Diese Zwischenüberschrift greift ein Zitat aus meiner empi-
rischen Feldarbeit auf und zeigt einen Zusammenhang auf,
der sich durch alle Interviews und Gespräche wie ein roter
Faden gezogen hat: die Erkenntnis, dass die Auseinanderset-
zung mit dem Sterben und den Verhältnissen, unter denen
gestorben wird, den Blick auf das Leben selbst richtet.
„Das, was man ansammelt im Leben, irgendwann ist es mehr
oder weniger nur noch eine Rauchschwade und weg ist es.“
(Interview mit May*, Position 72) – die explizite Auseinan-
dersetzung mit dem Ende des Wohnens und damit der Ent-
sorgung eines großen Teils der Wohnmaterialitäten erwei-
tert Fragen des Alters und Alterns, Aging in Place und wür-
dige Lebensbedingen um die Frage nach Mensch-Ding-Be-
ziehungen. Denn die Perspektive auf Wohnenbleiben und
Umziehen im Alter ist zutiefst durchzogen von dem Verhält-
nis zur materiellen Umwelt – welcher Wert wird den (eige-
nen) Dingen zugeschrieben? Warum fällt eine Trennung oft-
mals so schwer? Natürlich darf hier auch nicht außer Acht
gelassen werden, dass Aspekte wie etwa Pflegeumstände
und Vernachlässigung in Pflegeeinrichtungen ebenfalls ei-
nen entscheidenden Einfluss auf diese Entscheidungen ha-
ben. Nichtsdestoweniger scheint eine Erweiterung der De-
batte um Fragen der Mensch-Ding-Beziehung diese Debatte
bereichern zu können.
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Telepflegetechnologie im häuslichen Wohnumfeld
Marc Schumann
Viele ältere Menschen hegen den Wunsch, möglichst lang in
den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben. Als Ort der
Verbundenheit, der Identität und der Sicherheit erfüllt er für
viele ein grundlegendes Bedürfnis (Rowles, 2017). Um dies
zu ermöglichen, finden immer neuere technologischen Ent-
wicklungen wie Sensortechnik, Telepflege (telecare) oder
Assistenzsysteme Anwendung. Erste Programme wurden
bereits seit 2008 unter dem Stichwort ambient assisted
living (AAL) von der europäischen Kommission gefördert
(Guihen, 2016, S. 146). Sie machen das smart home auch für
das Leben im Alter relevant. Die modernen Show-Rooms
und Musterräume sind eindrückliche Beispiele wie das
Leben im Alter in der Zukunft aussehen könnte. In ihnen sind
verschiedenste Technologien wie ein intelligentes Sitzkissen
zur Messung von Vitaldaten, Aufstehhilfen für Betten, aber
auch umfassende Kameratechnik, die Temperatur-, Bewe-
gungs- und Farbaufnahmen anfertigen, zu sehen. Sie sollen
den Wohnalltag erleichtern und gleichzeitig gesundheitliche
Sicherheit gewährleisten (Smart Living and Health Center
e.V., 2023; Sozialwerk St. Georg Bauen und Wohnen GmbH,
2023). Dabei weisen die neuen Datenerfassungs- und Daten-
verarbeitungstechnologien einen überwachenden Charak-
ter auf, da sie nicht nur dem passiven Beobachten dienen,
sondern explizit auch zur Kontrolle und Selbstdisziplinie-
rung eingesetzt werden. Diese Überwachungstechnologien
beeinflussen damit maßgeblich das persönliche Wohnum-
feld und die Beziehung der Bewohner_innen zu ihrem Zu-
hause. Sie modifizieren die sozialen Beziehungen der Be-
wohner_innen zu ihren Angehörigen und zum Pflegeperso-
nal, indem Kommunikation und Pflegearbeit aus der Ferne
stattfindet (Milligan, 2009, S. 86). Die technologischen Ver-
änderungen in der häuslichen Pflege tragen damit zur Poro-
sität der Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Raum
bei. Neben den Überwachungstechnologien, die Daten erfas-
sen und sie für externe Pfleger_innen nutzbar machen, ge-
schieht dies, wenn der Ort des Zuhauses zu einem Ort der
Arbeit für die Pfleger_innen wird (Milligan, 2009, S. 70). Den-
noch wird besonders der Einsatz von Telepflegetechnologie
mit Überwachungsfunktionen kontrovers diskutiert. Sie
kann sowohl als Maßnahme der Einschränkung von persön-
licher Freiheit wahrgenommen werden, die mit Mitteln der
Selbstregulierung und der äußeren Kontrolle durchgesetzt
wird, als auch neue Sicherheit im Umgang mit den eigenen
gesundheitlichen Einschränkungen geben und damit zur
Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in den eigenen vier
Wänden beitragen. In dem Beitrag werden ich daher die Ver-
änderung des Zuhauses durch Telepflegetechnologien, die
einen überwachenden Charakter haben, diskutieren.
Der Einsatz von Telepflege im häuslichen Wohnumfeld
Das häusliche Wohnumfeld hat für ältere Menschen oft eine
besondere Bedeutung in Hinsicht auf Identität, Verbunden-
heit und Sicherheit. Milligan (2009, S. 67ff) hat dazu drei As-
pekte herausgearbeitet, die für die Bedeutung des Zuhauses
zentral sind. Zunächst ist das Zuhause ein geschützter Ort,
der Vertrauen schafft, der der Erholung dient und Sicherheit
in Form von Rückzug aus der Gemeinschaft und dem öffent-
lichen Raum bietet. Besonders für ältere Menschen gewinnt
der Ort an Bedeutung, da sie durch kognitive und sensori-
sche Einschränkungen vulnerabler werden. Das private
Wohnumfeld schafft aber auch mit seinen persönlichen Ge-
genständen eine Umgebung, die das Selbstgefühl und den so-
zialen Status bestärkt, was das allgemeine Wohlbefinden au-
ßerhalb der eigenen Wohnung positiv beeinflussen kann.
| Feministische Geographien des Alter(n)s
23
Weiter kann das Zuhause auch als ein Ort der eingeübten
Routinen verstanden werden, die insbesondere mit altersbe-
dingten Einschränkungen ein gefahrenfreies Navigieren im
Wohnumfeld ermöglichen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich,
wenn kleine Dinge wie ein verrückter Stuhl oder Tisch das
Gefahrenpotential für Stürze erhöhen. Ebenso kann es sich
mit neuer Technologie verhalten, die das Raumarrangement
verändert. Zuletzt ist das Zuhause auch ein Ort der Verkör-
perung von Identität und Selbstdarstellung. Die eigene Woh-
nung repräsentiert somit ein gelebtes Narrativ der Person,
die in ihr wohnt, mitsamt der Erinnerungen und sozialen Be-
ziehungen. Diese vielschichtigen Bedeutungsebenen und die
Tatsache, dass viele ältere Menschen mehr Zeit in der eige-
nen Wohnung verbringen, rücken den privaten Wohnraum
in das Zentrum von aktuellen Pflegedebatten (Marquardt,
2018, S. 288). Unter dem Leitbild „Altern im eigenen Zu-
hause“ verbirgt sich die Annahme, dass das Zuhause der op-
timale Standort für Pflege ist, um die Unabhängigkeit älterer
Menschen möglichst lang gewährleisten zu können (Milli-
gan, 2009, S. 67). Dies soll insbesondere durch Telepflege-
technologie ermöglicht werden, die den privaten Wohnraum
mit externen Pflegedienstleistern verbindet. Mittels Sensor-
und Kommunikationstechnik soll bei Notfällen Hilfe geleis-
tet, Gefahrensituationen im Haushalt minimiert, die Organi-
sation des Wohnalltags unterstützt und die Gesundheitsprä-
vention gefördert werden (Marquardt, 2018, S. 285, 289).
Gleichzeitig wird sich damit auch eine kostengünstige Ant-
wort auf die Pflegekrise erhofft. Die Ausgaben für Pflegeper-
sonal sowie allgemeine Gesundheitskosten sollen reduziert
werden und nebenbei die Versorgung strukturschwacher
Region ermöglicht werden (Marquardt, 2018, S. 286). Medi-
zinische Tätigkeiten werden dabei von Kliniken an Pflege-
personal und pflegerische Tätigkeiten an Call Center ausge-
lagert. Diese Umverteilung von Verantwortlichkeiten erfor-
dert nicht nur neue diagnostische Fähigkeiten, die ohne phy-
sische Präsenz stattfinden, sondern auch neue Fähigkeiten
der Auswertung medizinischer Daten und der darauf auf-
bauenden pflegerischen Interventionsmaßnahmen. Zudem
kann es von Angehörigen erforderlich sein, Pflegetechnolo-
gie zu benutzen und die Daten zu interpretieren, wenn sie in
die Überwachung eingebunden werden. Aufgrund der Tatsa-
che, dass die überwiegende Arbeit im Pflegesektor von weib-
lichem Personal verrichtet wird, birgt insbesondere die Um-
verteilung der Pflegearbeit das Potenzial, diese Tendenz zu
verstärken (Milligan, 2009, S. 86).
Die Evolution der Telepflegetechnologie
Erste Telepflegetechnologien waren einfache Kommunikati-
onssysteme, bei denen durch das Betätigen eines Knopfes
dem Pflegepersonal mitgeteilt werden konnten, dass ein
Notfall vorliegt. Eine Weiterentwicklung stellen passive
Beobachtungssysteme dar, die durch Körper- und Umwelt-
sensoren, Vitaldaten wie Atem- und Herzfrequenz, Blut-
druck, Sauerstoffgehalt oder Blutzucker aufzeichnen und
durch Umgebungswerte wie Geräusche, Gerüche, Bewegun-
gen und Lichtverhältnisse Notfälle registrieren. Heutige Te-
lepflegesysteme der 3. Generation sind mit smarter Techno-
logie ausgestattet, die mittels Algorithmen Abweichung vom
Normverhalten feststellen können (Mortenson et al., 2015, S.
514). Damit sollen potenziell problematische Veränderun-
gen am Gesundheitszustand und im Aktivitätsverhalten er-
kannt werden, um frühzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen zu
können. Die Dokumentation von Vitaldaten und Tagesabläu-
fen wie Schlafrhythmus, Nahrungsaufnahme und Bewe-
gungsmuster dient dabei nicht nur der Kontrolle von außen.
Vielmehr sollen auch Maßnahmen der Selbstbeobachtung zu
einer Disziplinierung und Regulation motivieren, um ge-
sundheitsfördernde Effekte zu erzielen. Das ständige Abglei-
chen zwischen Ist- und Soll-Wert schafft somit „[…] aktive
Verantwortung für die eigene Gesundheit und die Aufrecht-
erhaltung individueller Fähigkeiten. Als ‚aktive‘ Alte sollen
sie so maßgeblich zur Realisierung eines erfolgreichen Al-
terns in den ‚eigenen vier Wänden‘[beitragen]“ (Marquardt,
2018, S. 290).
Der ambivalente Charakter von Telepflege
Der Einsatz von Diagnostik- und Überwachungstechnologie
im häuslichen Umfeld weitet das Netzwerk des Gesundheits-
wesens (Pflegeheim, Krankenhaus, etc.) in den Bereich des
Zuhauses aus. Damit verwandelt sich das Zuhause weiter
vom privaten zum hybriden Raum, wo sich die öffentliche
und private Sphäre vermischen und immer wieder neu aus-
handeln (Milligan et al., 2011, S. 353). Obwohl bereits im 20.
Jh. das Zuhause durch Radio und Fernsehen, später auch
durch den Computer, zur Schnittstelle zwischen privaten
und öffentlichen Raum wurde, entwickelt sich durch mo-
derne Telepflegetechnologie eine neue Art von Öffentlich-
keit (Marquardt, 2021, S. 147f). Während die Technologien
des 20. Jh. vor allem die Öffentlichkeit in den privaten Raum
brachte, indem Fernsehsendungen aus aller Welt ins Wohn-
zimmer gelangten, so bringt heutzutage die pflegerische
Sensor- und Kameratechnologie das Private in den öffentli-
chen Raum, von Call Center über Krankenhäuser. Diese Ver-
änderungen des persönlichen Raums durch pflegerische
Technologie kann, wenn sie als eindringend empfunden
wird, das Gefühl von Identität, Vertraut- und Verbundenheit
langfristig schwächen (Guihen, 2016, S. 152f). Ganz konkret
zeigt Oudshoorn (2012) am Beispiel von Fernüberwa-
chungstechnik für Herzinsuffizienz, wie sich die häusliche
Routine durch alltägliches Wiegen und Blutdruckmessen
verändert. Die Ansicht der Daten über das Fernsehgerät so-
wie Erinnerungen an Fitness und Ernährungsberatung
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
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verstärken den Effekt der Überwachung und der Selbstdis-
ziplinierung, da die Bewohner_innen ständig mit den erfass-
ten Daten und den Handlungsanweisungen zur Gesundheits-
optimierung konfrontiert sind. Selbst passive oder nicht-
sichtbare Technologien können durch ihre beobachtende
Funktion als intrusiv wahrgenommen werden. Eine Ver-
knüpfung des Fernsehers mit Überwachungstechnologie
verändert damit auch den Bezug zum Gerät selbst. Das Zu-
hause wird somit ein Ort der Verantwortung für den eigenen
Körper. Technische Geräte in der Wohnung können eine
ständige Erinnerung an die Überwachung sein. Ebenso kann
eine permanente Erreichbarkeit für die Bewohner_innen
eine Belastung darstellen. Technik wird gerade dann als stö-
rend empfunden, wenn sie die alltägliche Routine und Mobi-
lität einschränkt (Oudshoorn, 2012, S. 126ff, 133).
Häusliche Überwachungstechnologien stärken des Weiteren
nicht zwangsläufig das Gefühl von Unabhängigkeit. Durch
den Fokus auf das persönliche Wohnumfeld fördern die
Technologien durch das Messen der Vitalwerte eher feste
Routinen, statt abwechslungsreiches und spontanes Verhal-
ten. Damit kann die Nutzung der Pflegetechnologien dazu
führen, dass soziale Beziehung in Form von Besuchen oder
Ausfahrten eingeschränkt werden. Auf der anderen Seite
wirken die Techniken nicht immer selbstdisziplinierend,
sondern können je nach Art sogar Passivität fördern, bei der
sich Bewohner_innen ganz auf die Technik verlassen, um ge-
sundheitliche Probleme zu registrieren (Mortenson et al.,
2015, S. 521f). In Anbetracht dieser Eingriffe in das private
Wohnumfeld stellt sich die Frage, inwiefern das Zuhause in
diesem technisierten und kontrollierenden Kontext noch als
Rückzugsort angesehen wird, wenn Überwachung ein Gefühl
des Unbehagens auslöst. Auch die alltäglichen Routinen, die
durch Messen der Vitalwerte und Hinweise zur Lebensstil-
veränderung geprägt sind, oder das Wohnumfeld, welches
sich durch Pflegeequipment und technologische Geräte ver-
ändert, können einen erlebten Kontrollverlust widerspie-
geln (Milligan et al., 2011, S. 352; Mortenson et al., 2015, S.
522; Oudshoorn, 2012, S. 137). Eine zunehmende Pflegebe-
dürftigkeit der Bewohner_innen erfordert meist mehr pfle-
gerisch-technologische Hilfsmittel, um das Altern im priva-
ten Wohnumfeld sicherzustellen. Dies kann den Effekt der
Entfremdung verstärken, wenn das Gefühl entsteht, die ei-
gene Wohnung wird zum Krankenhaus. Zugleich wirft es die
Frage auf, ob das eigene Zuhause überhaupt der optimale Ort
der Pflege ist (Milligan, 2009, S. 70; Oudshoorn, 2012, S.
133).
Nicht alle Erfahrungen mit Telepflegetechnologie werden je-
doch als beschränkend wahrgenommen. So kann die Befrei-
ung von gesundheitlichen Sorgen ein Gefühl von Sicherheit
und Selbstbestimmtheit hervorbringen. Dieses Gefühl ent-
steht, wenn die Technologie als Vermittler zwischen
Bewohner_innen und dem vertrauten Pflegepersonal gese-
hen wird. Wichtig ist dabei, dass die Autonomie der Betroffe-
nen durch die Möglichkeit der Beendigung der Datenüber-
tragung gewahrt bleibt. Pflegetechnologien mit Überwa-
chungsfunktionen kann die Nutzenden sogar in ihrer Pri-
vatsphäre schützen, da sie dank der Technik in der eigenen
Wohnung bleiben können und nicht ins Pflegeheim müssen,
wo sie unter Umständen weniger Kontrolle über ihre Daten
haben (Essén, 2008, S. 129, 133). Das Pflegeheim mit Perso-
nalmangel und inhumaner Pflege stellt des Weiteren keine
wirkliche Alternative zur häuslichen Pflege dar, sodass die
Wahl der Pflege im häuslichen Umfeld oft eine alternativlose
Entscheidung ist (Mortenson et al., 2015, S. 520). Zudem sor-
gen oftmals die finanziellen Kosten für ein Pflegeheim dafür,
dass für viele ältere Menschen nur das Zuhause als Pflege-
standort bleibt. Doch auch hier zeigen sich die Spannungen,
die grundsätzlich im Pflegebereich wiederzufinden sind.
Pflege ist in gewisser Hinsicht immer mit Kontrolle und
Überwachung verbunden (Schmidhuber et al., 2016, S. 46).
Jedoch ist die Absicht der Überwachung hier eine andere. Die
Beobachteten sollen nicht diszipliniert werden, um Fehlver-
halten zu korrigieren, wie dies im Gefängnis der Fall ist,
stattdessen sollen sie durch Technik zur gesundheitlichen
Eigenverantwortung motiviert werden. Diese muss nicht im-
mer als einschränkend wahrgenommen werden, da das In-
teresse in der Überwachung der Patient_innen primär in ih-
rer Fürsorge und ihrem Wohlergehen liegt. Das kann Sicher-
heit, Vertrauen und letztendliche auch ein Befreiungsgefühl
schaffen. Die Nutzer_innen der Pflegetechnologie sind somit
keine passiven Opfer, sondern aktive Mitgestalter der eige-
nen Kontrolle und Überwachung. Nur unter diesen Prämis-
sen kann die Überwachung in der häuslichen Pflege als Be-
freiung und nicht als Beschränkung verstanden werden (Es-
sén, 2008, S. 133; Mortenson et al., 2015, S. 514).
Fazit
Smart Home Technologien und Telepflegesysteme, die ei-
gentlich den längeren Verbleib im eigenen Wohnumfeld er-
möglichen sollen, verändern die Wahrnehmung des eigenen
Zuhauses selbst, sodass das eigene Zuhause nicht mehr vor-
dergründig als Ort der Identität und Sicherheit wahrgenom-
men wird. Digitale Pflegetechnologien mit Überwachungs-
funktionen im häuslichen Umfeld tragen zu veränderten
Routinen und Raumanordnungen bei. Die Grenzen zwischen
Krankenhaus, Pflegeheim und dem Zuhause verschwimmen.
Das wirft die Frage auf, wann und wie lang sich Pflege im ei-
genen Zuhause als sinnvoll herausstellt, oder ob sich durch
verstärkte Eingriffe, verbunden mit einem höheren Pflege-
grad, die Bedeutung vom eigenen Zuhause so stark verän-
dert, dass es eher als ein fremder, steriler Ort wahrgenom-
men wird, statt als Rückzugsraum und Ort der eigenen
| Feministische Geographien des Alter(n)s
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Identität. Wenn Pflege zum essenziellen Teil des Lebens
wird, dann überschneiden sich notwendigerweise die Sphä-
ren des privaten Wohnens und der Pflege. Um eine intensive
Pflege dauerhaft zu gewährleisten, braucht es einen Raum,
in dem dies geschehen kann, ein Raum, der beide Lebensbe-
reiche zufriedenstellend vereint (Atzl & Depner, 2017, S.
265). Dieser muss nicht notwendigerweise das persönliche
Wohnumfeld sein. Oft findet das Altern im eigenen Zuhause
aus pragmatischen Gründen statt. Es ist kostengünstiger
(abhängig von Anteil der Pflegetechnologie) und komfortab-
ler als der Umzug in ein Pflegeheim. Emotionale Verbunden-
heit spielt eher eine untergeordnete Rolle, vielmehr ist das
Zuhause als Ort dann besonders bedeutungsvoll, wenn es als
Teil einer lokalen Gemeinschaft fungiert und das Zentrum
der sozialen Beziehungen zu Freund_innen, Angehörigen
und Nachbar_innen bildet. Ein Umzug in ein Pflegeheim kann
auf der anderen Seite auch als positiv bewertet werden,
wenn das Zuhause ein Ort des Missbrauchs, der Isolation
und Einsamkeit repräsentiert (Milligan, 2009, S. 75). Trotz
zahlreicher technischer Innovationen im Bereich smart
home care werden Telepflegetechnologien die Pflege durch
Menschen nicht ersetzen können. Als Hilfs- und Assistenz-
system bietet es jedoch ein Potenzial älteren Menschen ein
längeres Leben im eigenen Wohnumfeld zu ermöglichen,
wenn dies der persönliche Wunsch ist. Überwachungstech-
nologien können, solange sie partizipativ und an die Nut-
zer_innen angepasst sind, ein Gefühl von Sicherheit und
Selbständigkeit vermitteln. Dies funktioniert nur, wenn sie
die fürsorgliche Pflege durch den Menschen ergänzt und
nicht ersetzt (Milligan et al., 2011, S. 353).
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Wohnen im Alter(n)
Carolin Genz
Eine feministisch-kritische Sozialgeographie des Alter(n)s
ist für Forschung und Gesellschaft von großer Relevanz,
denn sie untersucht u.a., wie soziale Ungleichheiten das Al-
ter(n) beeinflussen und wie marginalisierte Gruppen im Al-
ter(n) mit sozial-räumlichen Herausforderungen konfron-
tiert werden. Indem sie auf diese Aspekte und eine diversifi-
zierte Perspektive auf die soziale Kategorie „Alter(n)“ auf-
merksam macht und unterschiedliche soziale Identitäten an-
erkennt, trägt sie dezidiert zur Sensibilisierung für soziale
Gerechtigkeit bei und unterstützt Bemühungen um eine in-
klusive Gesellschaft. Dabei werden insbesondere beste-
hende Altersbilder und Stereotype hinterfragt, die oft durch
Ageismus und Geschlechterungleichheit geprägt sind (Kess-
ler/Warner 2023).
Gerade eine feministisch-kritische Betrachtung von Macht-
strukturen, die beispielsweise das Wohnen, die Mobilität
und die soziale Teilhabe älterer Menschen beeinflussen, sind
dabei von besonderer Relevanz. Den forschenden Blick da-
rauf zu wenden wie Geschlecht, Klasse, Ethnizität und an-
dere soziale Kategorien sozio-räumliche Erfahrungen im Al-
ter(n) formen und wie sie in die politische Strukturierung
von Räumen eingebettet sind ist dabei zentral (vgl. Genz
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
26
2020). Durch ebensolche sozial-räumlichen Analysen kön-
nen bestehende Ungleichheiten erkannt und aufgedeckt
werden, um lösungs- und anwendungsorientierte Perspekti-
ven und Handlungsempfehlungen anzustoßen.
In Anbetracht aktueller neoliberaler Tendenzen und der
zeitgleich stattfindenden demographischen Entwicklung hin
zu einer alternden Gesellschaft stellt die Auseinanderset-
zung mit den Protestpraktiken und der Kampf um bezahlba-
ren Wohnraum älterer Menschen eine drängende Aufgabe
für Wissenschaft und Gesellschaft dar. Dabei wendet sich die
Ethnographie „Wohnen, Alter und Protest“ (ebd.) den spezi-
fischen Protest- und Netzwerkpraktiken älterer Menschen in
städtischen Räumen zu und geht u.a. der Frage nach: Wie ist
es den Akteur:innen möglich, eine problemorientierte Öf-
fentlichkeit und damit Gehör für ihre Problemlagen und Be-
dürfnisse zu generieren? Gerade ältere Akteursgruppen se-
hen sich mit sozialgesellschaftlichen Distinktionen konfron-
tiert, welche sie beispielsweise im Kontext städtischer Mie-
tenproteste als Akteur:innen „out of place“ (Sanjek 2009) ka-
tegorisieren. Roger Sanjek greift die Wendung „out of place“
in seiner Bibliographie zur US-amerikanischen „Gray Pan-
thers Movement“ auf und verweist auf den Protest älterer
Menschen, die über ihr öffentliches Auftreten dominante so-
ziokulturelle Erwartungen gegenüber älteren Menschen als
politisch Agierende „zerschlagen“ (ebd., xi).
Die Form der intersektionalen Diskriminierung älterer Men-
schen, welche versuchen, ihre Interessen in die Sphäre der
Politik hineinzutragen, wird in der Ethnographie „Wohnen,
Alter und Protest“ anhand der Betrachtung von Protest- und
Netzwerkpraktiken zur Diskussion gestellt. Unter Einbezie-
hung von Judith Butlers Anmerkungen zu einer performati-
ven Theorie der Versammlung (2018) und den Ansätzen ei-
nes handlungstheoretischen Pragmatismus von John Dewey
(1991 [1927]) wird die praxeologische Formation politi-
schen Handelns älterer Akteursgruppen fokussiert, wobei
ihre körperlichen, räumlichen und materiellen Bedingungen
herausgearbeitet werden (Genz 2020: 38 ff.). Die Ethnogra-
phie des Protestes älterer Menschen bietet dabei einen mul-
timodalen Methodenzugang, der eine holistische Perspek-
tive auf die sozial-räumlichen Praktiken diverser Akteur:in-
nen eröffnet und darüber Machtverhältnisse und politische
Logiken gesellschaftlichen Miteinanders sichtbar werden
lässt.
In der Folge lassen sich Schnittfeld einer feministisch-kriti-
schen Sozialgeographie des Alter(n)s und interdisziplinären
Wohnforschung verschiedene Forschungs- und politische
Handlungsfelder ableiten, um bestehende und zukünftige
Herausforderungen in diesem Bereich adressieren: Die Hu-
mangeograph:innen Friederike Enßle und Ilse Helbrecht be-
tonen die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinander-
setzung mit dem Thema des Alter(n)s zur Schärfung einer
humangeographischen Perspektive (2018). Gemäß der Sozi-
ologin Silke van Dyk handelt es sich dabei um ein vielschich-
tiges und in theoretischer Hinsicht vernachlässigtes Thema,
das sich insbesondere durch „den komplexen Doppelcharak-
ter des Altseins und des Älterwerdens“ auszeichnet (2015,
6). Enßle und Helbrecht greifen diesen Dualismus ebenfalls
auf und stellen fest, dass das Alter(n) sowohl als Prozess als
auch als Kategorie verstanden werden kann (2018, 228 f.).
Darüber hinaus betrachten die Autor:innen das Alter(n) als
einen bedeutenden Einflussfaktor für soziale Ungleichheit.
Sie weisen auf die Forschungslücke hin, die in der Humange-
ographie und der Intersektionalitätsforschung im Hinblick
auf Fragen des Alter(n)s besteht, und schlagen vor, das Al-
ter(n) als zentrale Schlüsselkategorie zu betrachten, anhand
derer die Reproduktion sozialer Ungleichheit untersucht
werden kann. Gerade diese intersektionale Perspektive auf
Alter(n) und Wohnen, welche die sozial-räumlichen Erfah-
rungen, Bedürfnislagen und sozialen Identitäten älterer
Menschen in den Blick nimmt, wird u.a. in einem aktuellen
Forschungsprojekt zum Thema „Neue Wohnformen“ (vhw
Forschung, vhw Bundesverband für Wohnen und Stadtent-
wicklung) weiter beleuchtet. Die Forschung möchte dazu
beitragen, Ungleichheiten zu erkennen und Maßnahmen zu
entwickeln, um u.a. eine gerechtere intergenerationale
Wohnraumversorgung und -politik zu gewährleisten.
Die PESTEL-Studie zu „Wohnen im Alter“ (2023) fordert an-
gesichts der demographischen Entwicklungen und der aktu-
ellen Entwicklung der Wohnraumversorgung dringend Lö-
sungsansätze für die Zukunft. Neben der fehlenden Wohn-
raumversorgung gelten die stetig steigenden Wohn(ne-
ben)kosten und damit verbundene Belastungen oder verän-
derte Nachbarschaften als zentrale Herausforderungen. Da-
bei sind die Problemlagen im Themenfeld „Wohnen“ viel-
schichtig. Hier die verschiedenen in einander verschränkten
Dimensionen zu adressieren ist unabdingbar. Neben der
Wohnraumqualität und Wohnraumgestaltung und deren
Einfluss auf das Wohlbefinden älterer Menschen, ist auch die
Frage der Gemeinschaftsbildung zentral. Die soziale Wohn-
raumversorgung einer wachsenden alternden Bevölkerung
sollte nicht allein auf physische Aspekte wie Barrierefreiheit
fokussiert sein, sondern auch auf die Förderung von sozialer
Infrastruktur, Integration und Gemeinschaft setzen. Ein in-
tegratives Wohnumfeld, der Aufbau von nachbarschaftli-
chen Netzwerken und die Förderung der zwischenmenschli-
chen Interaktion können dazu beitragen, soziale Isolation im
Alter(n) zu reduzieren und das soziale Wohnumfeld stärken.
Das bedeutet auch die Diversität sozialer Identitäten im Al-
ter(n) mitzudenken und die Partizipation in Entscheidungs-
prozessen, die das Wohnumfeld betreffen, zu stärken. Zu-
künftige Forschungen könnten sich darauf konzentrieren,
wie ältere Menschen effektiv in städtische Planungsprozesse
| Feministische Geographien des Alter(n)s
27
und Entscheidungsfindungen einbezogen werden können.
Dabei sollte untersucht werden, wie partizipative Ansätze
entwickelt werden können, um die Stimmen und Bedürf-
nisse älterer Menschen zu berücksichtigen und ihnen eine
aktive Rolle bei der Gestaltung ihrer Lebensumgebung und
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und
diese zu fördern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die deutschspra-
chige kritisch-feministische Alternsgeographie eine wich-
tige Rolle dabei spielt, bestehende Machtstrukturen zu hin-
terfragen, und zu einer inklusiven Gesellschaft beizutragen.
Durch ihre Analyse von sozialen Ungleichheiten und diskri-
minierenden Altersbildern leistet sie einen wertvollen Bei-
trag zur Forschung und trägt zur Sensibilisierung für die
vielschichtigen Bedürfnisse und diversen sozialen Identitä-
ten älterer Menschen bei. Ziel sollte es sein, nicht nur wis-
senschaftliche Erkenntnisse zu generieren, sondern auch ge-
sellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Gerade die Brü-
cken zwischen Forschung und Praxis sind dabei zentral, um
aktuelle Problemlagen anzugehen – durch eine aktive Teil-
nahme und praxisorientierte Einmischung an politischen
und sozialen Diskursen für eine inklusive, altersgerechte Ge-
sellschaft. Denn gerade feministisch-kritisch informierte
Praktiken und Wissenszugänge können darauf abzielen „kri-
tisch Stellung zu beziehen, aktiv einzugreifen, verändernd zu
wirken“ (Schramm 2013: 220) und im Rahmen der eigenen
wissenschaftlichen Produktionspraktiken auch immer als
politisch Handelnde zu fungieren (Binder et al. 2013).
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Antidiskriminierungsstelle des Bundes, URL:
7
Als transident bezeichnen sich Menschen, die sich nicht oder nicht nur mit
dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Interge-
schlechtlichkeit umfasst eine Variation von angeborenen körperlichen Ge-
schlechtsmerkmalen, die sich nicht nur als männlich oder nur als weiblich
einordnen lassen.
8
Die gay-liberation-Generation ist geprägt von einer politischen Bewegung,
die ihren Anfang am 28. Juni 1968 nach einem erneuten brutalen
https://www.antidiskriminierungs-
stelle.de/f0c30a1840f3485bd87be86a66bda397ce-
dad4de/5f4ba4a0-729b-9b5e-c13c-a8687ca1169d/tap2_iH-
diX2_dec/altersbilder_lang.pdf.
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stoff-Fachhandel, URL: https://www.bdb-bfh.de/meldungs-
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sammenhangs. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 24-50.
Queeres Altern
Räume für queeres Alter(n)
Stefanie Heiber, Rona Bird und Ralf Lottmann
Eine Personengruppe, die in Forschung und Praxis häufig
übersehen wird – wenngleich in den letzten Jahren die Auf-
merksamkeit zunimmt – sind ältere lesbische, schwule, bise-
xuelle, transidente und intergeschlechtliche
7
Personen (im
Folgenden LSBTI* genannt). Sowohl in den Einrichtungen
als auch in der (gerontologischen) Forschung sorgt ein mit-
unter heteronormativer Blick für Ausschlüsse und weiße
Flecken, die zulasten einer bedarfsgerechten Angebotsstruk-
tur gehen. Erst langsam geraten auch Ansprüche der LSBTI*
Senior*innen an pflegerische Versorgung und Wohnformen
in den Blick. Die sogenannte gay-liberation Generation
8
– ge-
übt im Kampf um eine gute Versorgung bei HIV/Aids – for-
dert dies als offen lebende Generation vermehrt ein. Zumal
eine Reihe soziodemographischer Merkmale eine erhöhte
Polizeieinsatz im Stonewall In, einer New Yorker Schwulenbar, nahm. Ho-
mosexuelle Frauen und Männer, Bisexuelle und trans Personen organisier-
ten sich für mehr Akzeptanz und die Durchsetzung von Rechten. Bezogen
auf die Situation in Deutschland ist eine der Errungenschaften in der Folge
dieser Bewegung z.B. die ersatzlose Streichung des §175 StGB im Jahre
1994, der bis dahin die Grundlage der Verfolgung schwuler Lebensweisen
darstellte.
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
28
Vulnerabilität und Abhängigkeit von formellen Leistungen
der Pflege und Altenhilfe gerade im höheren Alter begrün-
den (Lottmann, 2020). Bisher kann jedoch noch keine Rede
von einer ausreichenden bedarfsgerechten Versorgungs-
struktur sein. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung wird
das Thema LSBTI*, insbesondere mit dem Fokus Alter und
Pflege, noch häufig ausgeblendet – oft von den LSBTI*-Com-
munities selbst ebenso.
Impulse für die diversitätssensible Weiterentwicklung der
Altenhilfe und Pflege zu entwickeln, ist daher eines der An-
liegen des DFG Forschungsprojekts “PflewaK” der Hoch-
schule Magdeburg-Stendal. Im Projekt wird der Umgang mit
Pflegebedarf bei LSBTI* Senior*innen untersucht und da-
nach gefragt, welche Rolle die Unterstützung durch soziale
Netzwerke aus (Ex-) Partner*innen, Freund*innen etc.
spielt. Dazu werden Interviews mit LSBTI* Pflegebedürfti-
gen und ihren Angehörigen geführt. Dabei wird den Le-
benserfahrungen viel Raum gegeben, denn sie enthalten u.a.
Hinweise auf genutzte und ungenutzte Potentiale der sozia-
len Netzwerke und auf Resilienzen angesichts von Diskrimi-
nierungserfahrungen. Im vorliegenden Beitrag soll ein
Schwerpunkt auf queerfreundliche Räume des Alterns ge-
legt werden. Wie wichtig solche Räume sind, wird deutlich,
wenn die Lebenserfahrungen der heutigen LSBTI* Se-
nior*innen betrachtet werden.
Zur Situation älterer LSBTI*
Denn auch wenn sich in den letzten Jahren die rechtliche Si-
tuation von LSBTI* Personen verbessert hat, gesellschaftli-
che Diskurse sich zunehmend für die Vielfalt geschlechtli-
cher Identitäten und sexueller Orientierungen öffnen, sind
Erfahrungen von Kriminalisierung, Diskriminierung und Pa-
thologisierung auch aktuell noch prägend in den Biografien
älterer LSBTI*. Vor Liberalisierungsbewegungen ab dem
Ende der 1960er Jahre erlebten die jetzt älteren Generatio-
nen erzwungenes Verstecken und Verfolgung ihrer Lebens-
weisen. Die erfahrenen Repressionen wirken bis in die Ge-
genwart und führen statistisch gesehen zu einem schlechte-
ren körperlichen und psychischen Gesundheitszustand im
Alter (Fredriksen-Goldsen et al., 2014; Fredriksen-Goldsen
et al., 2015; Misoch, 2017). Das Minoritätenstressmodell
dient hier als Erklärungshorizont. Es postuliert, dass die
Häufung von Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfah-
rungen im Lebensverlauf von Angehörigen von Minderhei-
ten zu erhöhten psychischen und körperlichen Stressbelas-
tungen führen. Dies wiederum trägt zur Entwicklung vieler
Erkrankungen bei. Das betrifft auch sexuelle und geschlecht-
liche Minderheiten, in besonderem Maße diejenigen, die
Mehrfachdiskriminierung erfahren, wie schwule Männer mit
HIV/Aids (Drewes, 2016, S. 415–417; King, 2016, S. 95).
Insbesondere trans* und intergeschlechtliche Senior*innen
haben im Lebensverlauf, auch im Vergleich zu lesbischen,
schwulen und bisexuellen Personen, prägend negative Er-
fahrungen mit medizinischen Einrichtungen gemacht (Lott-
mann & Kollak, 2018, S. 61). Bisexuelle Personen werden in
der Gesundheitsforschung selten als eigenständige Gruppe
betrachtet, sondern häufig unter lesbischen und schwulen
Studienpopulationen subsumiert, wodurch die Sichtbarkeit
bisexueller Menschen besonders gering bleibt (Pöge et al.,
2020).
So alarmierend die Daten auch sind, die bisher vorliegenden
Studien zur Lebenssituation älterer LSBTI* sind teilweise in
einer Form uneinheitlich, die auf bislang kaum erforschte
Resilienzen schließen lassen. Diese Resilienzen scheinen in
enger Verbindung mit informeller Unterstützung durch so-
ziale Netzwerke zu stehen, die über den Lebensverlauf hin-
weg gestaltet wurden. Die sozialen Netzwerke von LSBTI*
weisen einige Besonderheiten im Vergleich zu Heterosexu-
ellen auf. Die Herkunftsfamilie fällt als Unterstützungsres-
source öfter aus oder hat verglichen mit Heterosexuellen
weniger Relevanz (Heaphy et al., 2004, S. 891). LSBTI* Se-
nior*innen sind zudem mit höherer Wahrscheinlichkeit kin-
derlos und alleinlebend (White & Gendron, 2016). Freund-
schaftliche Netzwerke bzw. Wahlfamilien (Hughes &
Kentlyn, 2011, S. 437; Heaphy, 2009, S. 129) werden statt-
dessen als Rückgrat der sozialen Unterstützung verstanden
(Brennan-Ing et al., 2014, S. 44). Wobei bisher noch fraglich
ist, wie belastbar die wahlfamilialen Strukturen im (hohen)
Alter tatsächlich sind. Dennoch: in der Versorgung älterer
LSBTI* sind Wahlfamilien zentrale Größen, die als vermit-
telnde Instanzen zwischen Pflegebedürftigen und formalen
Angeboten eingebunden werden sollten, um Ängste abzu-
bauen.
Befürchtungen im Alter
Denn die Diskriminierungserfahrungen sorgen für Befürch-
tungen bei den Älteren, dass sich Stigmatisierung und Ableh-
nung in den Einrichtungen von Pflege und Altenhilfe fort-
setzt. Wie verbreitet Ängste vor homophoben Reaktionen
noch sind, haben mehrere Studien offengelegt (z.B. Brauk-
mann & Schmauch, 2007; Gardner et al., 2014; Schröder &
Scheffler, 2015). Gerlach und Szillat (2017) berichten für
schwule Männer je nach Einrichtungsart zwischen 50,7%
und 81,3% Ablehnung, bei Brauckmann und Schmauch
(2007) für ältere Lesben sogar 96%. Nach Bochow (2005)
befürchten ältere schwule Männer in der stationären Pflege,
ihre sexuelle Orientierung und Lebensweise verstecken zu
müssen (siehe ebenso Vries & Croghan, 2014). Trans* und
inter* Personen, die häufig überaus belastende Erfahrungen
mit medizinischen Einrichtungen in ihren Lebensverläufen
| Feministische Geographien des Alter(n)s
29
gemacht haben (Lottmann & Kollak, 2018, S. 61), haben zum
Teil starke Vorbehalte in Bezug auf die Inanspruchnahme
von Pflegeleistungen. Insbesondere trifft dies auf den statio-
nären Kontext zu, wo sie z.B. befürchten, sich immer wieder
erklären zu müssen oder gezwungen zu werden, im Geburts-
geschlecht zu leben (Latham & Barrett, 2015; Waling et al.,
2020).
Die Angst vor (erneuter) Diskriminierung in einer Lebenssi-
tuation, in der Abhängigkeit von Hilfe besteht, hat insgesamt
eine geringere Inanspruchnahme von Gesundheits- und Pfle-
geleistungen zur Folge (Waling et al., 2019, 2020). Verstärkt
werden diese Diskriminierungsbefürchtungen durch
Ängste, die das Alter im Allgemeinen betreffen: z.B. Befürch-
tungen, Entscheidungsfreiheiten und Unabhängigkeiten zu
verlieren, nicht auf Hilfe anderer zurückgreifen zu können
oder in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten (Hughes,
2009; Wight et al., 2012; Witten, 2014, 2015). So können
komplexe körperliche und psychosoziale Belastungssituati-
onen entstehen, die die Bewältigung des Alterns mit Pflege-
bedarf erschweren. Initiativen aus den LSBTI* Communities
selbst, z.B. aus den Niederlanden kommend, stellen daher
folgerichtig seit einigen Jahren interessante Impulse für die
Weiterentwicklung von Regelangeboten dar, von der letzt-
lich nicht nur LSBTI* Senior*innen profitieren können. Im
Folgenden sollen Ansätze queerfreundlicher Pflege und Al-
tenhilfe vorgestellt werden.
Queeres Alter(n) im geschützten Raum
Wie müssen Räume/Orte sein, in denen es sich für LSBTI*
Senior*innen “gut” und sicher altern lässt? Vor dem Hinter-
grund dieser Frage soll exemplarisch das Mehrgeneratio-
nenwohnprojekt der Berliner Schwulenberatung „Lebensort
Vielfalt“ (im Folgenden LoV abgekürzt) vorgestellt werden.
Der LoV verbindet Wohnen, Betreuung und Pflege für
schwule Männer und lesbische sowie heterosexuelle Frauen.
Das Projekt beantwortet mit einem spezifischen Angebots-
mix und fundierten queeren Lebensweltkenntnissen Versor-
gungslücken für LSBTI* Senior*innen. Durch das For-
schungsprojekt Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und
Selbstbestimmung im Alter (GLESA) (Lottmann, 2016) wurde
das Projekt LoV wissenschaftlich begleitet. Damit wurde
erstmals der Blick der Forschung auf Lebensweisen älterer
LSBTI* in Deutschland gerichtet. Befragt wurden sowohl
schwule und lesbische Bewohner*innen als auch Fachkräfte
in unterschiedlichen Funktionen innerhalb der Schwulenbe-
ratung und des Wohnprojektes. Nur einige zentrale Aspekte
sollen hier beispielhaft aufgeführt werden.
Community, Nachbarschaft, Netzwerke
In den Befragungen wurde das Bedürfnis nach Sichtbarkeit
im Alter sowohl in der LSBTI*-Community als auch in der Ge-
sellschaft insgesamt, verbunden mit dem Wunsch, auch im
Alter den eigenen Lebensstil offen leben zu können, sehr
deutlich. Die vielfältige Angebotsstruktur im LoV umfasst
daher auch die Anbindung an die Community. Unterstützung
durch Nachbar*innen, durch die Pflegekräfte sowie soziale
und psychologische Fachkräfte ist niedrigschwellig verfüg-
bar. Die Konzeption als Mehrgenerationenhaus soll einer be-
obachteten Altershomogenität in den sozialen Netzwerken
von schwulen und lesbischen Senior*innen (Misoch, 2017),
die negative Folgen für die Verfügbarkeit von Unterstützung
hat, entgegen wirken. Ein neuralgischer Punkt im Wohnpro-
jekt ist jedoch die konzeptionelle Zusammensetzung der Be-
wohnenden: 20% jüngere schwule Männer, 20% ältere les-
bische, bisexuelle und heterosexuelle Frauen, 60% ältere
schwule Männer leben hier. Aus Sicht der Frauen birgt allein
die zahlenmäßige Dominanz der Männer Risiken des Aus-
schlusses (Lottmann 2016, 99, 102 und 104). Auch der An-
teil von 20% jüngeren Bewohner*innen lässt sich im Hin-
blick auf intergenerationellen Austausch hinterfragen. Hier
gibt es noch Potential für mehr Anerkennung von Vielfalt,
der auch bei der Übertragung auf andere Einrichtungen zu
berücksichtigen wäre.
Enttabuisierung, Akzeptanz, Lebensweltkenntnisse
Dennoch: Die Befragten berichten, den LoV als geschützten
Raum zu erleben, in dem das Miteinander von Akzeptanz
und Offenheit geprägt ist. Kenntnisse zu den Lebenswelten
von älteren LSBTI* Personen sind für die Befragten Grund-
lage guter Pflege. Im LoV ist ein Teil des Betreuungs- und
Pflegepersonals selbst LSBTI*. Für Träger von Regelangebo-
ten der Altenhilfe und Pflege kann queeres Personal eine
entscheidende Ressource sein, um sich für die Bedarfe von
LSBTI* zu öffnen. Auch die Enttabuisierung gelebter Sexua-
lität im Alter kann im LoV als beispielhaft bezeichnet wer-
den. Nicht selten besteht diesbezüglich in Regelangeboten
noch Nachholbedarf. Der offene Umgang mit Sexualität und
Begehren sollte daher Teil beruflicher Bildung von Fachper-
sonal sein, wovon auch heterosexuelle Senior*innen profi-
tieren. (Lottmann & Kollak, 2018, S. 56–58)
Teilhabe – auch mit Pflegebedarf
Bewohnende mit Pflegebedarf werden sehr grundsätzlich in
Angebote des LoV eingebunden und sollen auch bei zuneh-
mender Einschränkung “dabeibleiben”. Die Pflege-WG wird
von Befragten als Alternative zu herkömmlichen Pflegeein-
richtungen empfunden, in der individualisierte Pflege in ei-
nem als familiär erlebten Setting verwirklicht wird. Dadurch
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
30
wird der LoV als Ort erlebt, an dem man „gut“ alt werden
kann und auch bei Krankheit und Pflegebedarf unkompli-
ziert Unterstützung erfährt. Insbesondere vor dem Hinter-
grund der von den älteren und hochaltrigen (vor allem
schwulen) Bewohnenden berichteten altersdiskriminieren-
den Erfahrungen – auch aus der LSBTI* Community selbst –
wird der LoV als von Anerkennung des Soseins geprägter
Raum empfunden (Lottmann, 2016, S. 95).
Die Erfahrungen aus dem Projekt zeigen, wie gewinnbrin-
gend ein raumsensibler Fokus für die queerfreundliche
Pflege und Altenhilfe sein kann. Kenntnisse über die Spezifik
queerer Lebenserfahrungen, die in verschiedenen sozialen
und physischen Räumen gemacht wurden, bilden die schon
fast selbstverständliche Basis solcher Ansätze, auch Biogra-
fiearbeit genannt. Räume des queeren Alterns künftig kon-
sequent inklusiv zu gestalten, z.B. indem allen Lebens- und
Liebensweisen Raum gegeben wird, der Anschluss an die
LSBTI* Communities und Begegnungen zwischen den Gene-
rationen ermöglicht werden, indem immer wieder gefragt
wird, ob tatsächlich alle, unabhängig vom jeweiligen Pflege-
bedarf und den daraus resultierenden Einschränkungen,
teilhaben können, sind nur einige drängende Aufgaben, um
queersensible Pflege und Altenhilfe zu verwirklichen.
Da eine flächendeckende Etablierung von Projekten wie den
LoV außerhalb von Ballungsgebieten aufgrund der hohen
Voraussetzungen fraglich ist (Lottmann, 2016, S. 108),
braucht es weitere Ansätze, um Räume zu öffnen, in denen
LSBTI* in Würde altern können.
Regeleinrichtungen öffnen für LSBTI*
Auf Einrichtungsebene gibt es mittlerweile mit dem Quali-
tätssiegel Lebensort Vielfalt® und dem Pink Passkey® bzw.
„Roze Loper“, einem niederländischen Zertifikat und Audit-
verfahren, strukturierte Prozesse, um Regelangebote für
LSBTI* zu öffnen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Zerti-
fizierung ist bei beiden Qualitätssiegeln ein belegbarer Orga-
nisatonsentwicklungsprozess, der vom Leitbild über Diver-
sitätskonzepte, bis hin zur öffentlichen Darstellung und der
Berücksichtigung von LSBTI* Bedarfen in allen Kernprozes-
sen reicht. Neben formal zu erfüllenden Anforderungen be-
deutet dies, einen Lernprozess der Sensibilisierung der Fol-
gen von heteronormativer Stigmatisierung und der Öffnung
für bisher übersehene Lebenswelten zu durchlaufen. Es
braucht starke Verantwortungsübernahme auf der Entschei-
der*innenebene von Einrichtungen und Zeit für die Umstel-
lungsprozesse. Angesichts der angespannten Situation in
Pflegeeinrichtungen, allein durch den Personalmangel, feh-
len häufig die Argumente für die Umsetzung einer solchen
Zertifizierung. Dies jedoch in einen Gesamtzusammenhang
gesellschaftlicher Veränderungen durch zunehmende
Vielfalt der Lebensverläufe auch in Pflegeeinrichtungen zu
stellen und unter Berücksichtigung, dass auch Mitarbeitende
in den Einrichtungen von kulturellen Öffnungsprozessen
profitieren, kann ein anderes Licht auf die nötigen Anstren-
gungen werfen. Am Beispiel der Öffnung für LSBTI* Se-
nior*innen würde so eine biografie- und diversitätsorien-
tierte Altenhilfe verdeutlicht werden, die sich auf weitere
Vielfaltsdimensionen übertragen ließe.
Queeres Alter(n) in der Nachbarschaft
Damit der geschützte Raum nicht an der Haustür endet, son-
dern sich auch Nachbarschaften und Sozialräume den Le-
benswelten von LSBTI* Senior*innen öffnen, ist die beson-
dere Initiative von Kommunen gefragt. Denn Kommunen
spielen für die Daseinsvorsorge eine zentrale Rolle. Hier
werden Versorgungslandschaften strukturiert und staatli-
che Leistungen organisiert. Für gelingendes Altern, vor al-
lem mit Pflegebedarf, braucht es nicht selten einen Mix aus
informellen Hilfen von Angehörigen, Nachbarschaft, Freun-
deskreisen, Ehrenamt und professionellen Diensten. Diesen
Hilfe-Mix zu fördern, ist kommunale Aufgabe (Klie, 2018, 38)
und wird umso dringender, als sich die Verfügbarkeit infor-
meller sozialer Unterstützung und die Gestalt sozialer Netz-
werke, z.B. mit sich transformierenden Lebens- und Fami-
lienformen (Stichwort Wahlfamilie), ändert.
Hilfe- und Unterstützungsformate außerhalb von Verwandt-
schaftsverhältnissen stellen einen wesentlichen aber kaum
beforschten Bestandteil des Hilfe-Mixes dar (Vogel & Tesch-
Römer, 2017, S. 253–254). Verschiedentlich wurde zudem
festgestellt, dass informelle Hilfestrukturen, wenngleich in
§8 SGB XI festgeschrieben, nur unzureichend in professio-
nelle Hilfen eingebunden werden (z.B. Besselmann et al.,
2017, S. 1–2; Heerdt & Besselmann, 2019, S. 1). Es braucht
daher nicht nur eine sinnvolle Abstimmung der jeweiligen
informellen und professionellen Sorgearbeitenden (Heerdt,
2022, S. 22). Insbesondere für LSBTI* Senior*innen gilt es
auch, die Diversität von persönlichen Hilfenetzen zu würdi-
gen – nicht nur in den Einrichtungen der Pflege, sondern
auch in Angeboten der Altenhilfe im Sozialraum.
Gelingt dieser Hilfe-Mix, kann das entstehen, was auch als
Caring Community (Klein, 2018; Schulz-Nieswandt, 2018)
oder sorgende Gemeinschaft (BMFSFJ, 2016; Institut für So-
zialarbeit und Sozialpädagogik e. V [ISS], 2014) bezeichnet
wird.
Eine ‚Sorgende Gemeinschaft‘ ist das gelingende Zusammen-
spiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen
der Zivilgesellschaft und professionellen Dienstleistern in
der Bewältigung der mit dem demografischen Wandel ver-
bundenen Aufgaben (ISS, 2014, S. 4).
| Feministische Geographien des Alter(n)s
31
Caring bedeutet Anteilnahme, gegenseitige Wahrnehmung
und Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Im ge-
meinschaftlichen Organisieren der Care-Aufgaben verwirk-
licht sich die Community (Zängl, 2023, S. 11). Caring Commu-
nities sind jedoch nicht dazu da, die Care-Krise zu lösen. Ihr
Potential liegt in der Entfaltung sozialer Integration und Ein-
bindung (Uphoff & Zängl, 2023, S. 164). Damit Caring Com-
munities nicht zum Lückenbüßer für sozialstaatliche Ver-
säumnisse werden, muss sich ein Verständnis von ausschlie-
ßenden Machtverhältnissen und Diskriminierungsmecha-
nismen, von Ungleichheitsdimensionen in einem Sozial-
raum, von Dimensionen der Teilhabe und echter, nicht nur
Schein-Partizipation in diesen Communities entwickeln
(Zängl, 2023, S. 5–6). Insbesondere der kritische Blick auf
stereotype Verteilung von Care-Aufgaben zwischen Ge-
schlechtern sollte geschärft werden. Im Sinne einer ge-
schlechtergerechten Umverteilung von Care Aufgaben (Fe-
derici, 2012) könnten Caring Communities dann als Kontext
gemeinschaftlicher Anstrengungen in dieser Hinsicht begrif-
fen werden.
Heerdt (2022) sieht - im Bereich der Sorge um Pflegebedürf-
tige - mit den durch Pflegekassen und Krankenkassen einzu-
richtenden Pflegestützpunkten eine „Gestaltungsgrundlage
für die Entwicklung lokaler, vernetzter Sorgestrukturen“ (S.
42) im Sinne von Caring Communities. In Untersuchungen
konnte bereits gezeigt werden, dass Pflegestützpunkte auch
für Personen, die nur über ein gering ausgeprägtes persönli-
ches oder gar kein Netzwerk verfügen oder hochgradig Pfle-
gebedürftige neue Netzwerkstrukturen und Hilfepotentiale
erschlossen werden konnten (Heerdt & Köhler, 2020). Hie-
ran ließe sich im Sinne einer bedarfsgerechten Versorgung
von LSBTI* Senior*innen anschließen.
Fazit
Im Hinblick auf die Sichtbarkeit, Einbindung und flächende-
ckende bedarfsgerechte Versorgung von pflege- und betreu-
ungsbedürftigen LSBTI* können, wo integrative Projekte
wie der LoV oder zertifizierte Einrichtungen fehlen, Caring
Communities mit steuernden, moderierenden Schnittstellen
interessante Perspektiven aufzeigen. Diese Schnittstellen
(z.B. Pflegestützpunkte) können als Multiplikation für die
Berücksichtigung von LSBTI* Lebenswelten und Interessen-
vertretung fungieren. Aus Sicht von LSBTI* Senior*innen er-
scheint es sinnvoll, von diesen Schnittstellen aus auch Ver-
trauensarbeit in die Angebote eines Sozialraums zu leisten,
Verbindungen in die LSBTI* Communities aufzubauen, inter-
generationelle Kontakte und Begegnungen zu ermöglichen.
Dabei sind die LSBTI* Communities ebenfalls in der Bring-
schuld, ihr Potenzial einzubringen und intergenerationale
Solidarität zu zeigen – ein wichtiger Beitrag, um der
Altersdiskriminierung entgegenzuwirken. Insbesondere
wenn es um Sichtbarkeit und Akzeptanz von Alter(n) in all
seiner Vielfalt, um selbstbestimmtes, diskriminierungsfreies
Leben mit Pflegebedarf geht, können sozialräumlich organi-
sierte Initiativen wie Caring Communities vieles dazu beitra-
gen, Nachbarschaften inklusiver zu gestalten und sichere
Räume für queeres Altern zu öffnen.
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| Feministische Geographien des Alter(n)s
33
Eingeschränkte Solidarität. Ein intersektionaler Blick
auf Klassenverhältnisse in queeren Alterswohnprojek-
ten
Noah Marschner
Queeres Altern als Klassenfrage
“I’m definitely not going into a nursing home.
You know, I just will not do that. I’ll pop off before I go
there.”
Max Prima, ageing Drag Queen (SBS The Feed 11.6.2019: 00:03)
Altern ist für queere Menschen eine besondere Herausforde-
rung. Aufgrund gesellschaftlicher Diskriminierung haben
Personen aus der LGBTQIA*-Community im Schnitt weniger
Kontakt zu ihrer Ursprungsfamilie und seltener Kinder als
cis und hetero Menschen – beide gesellschaftlichen Gruppen
übernehmen sonst oft Pflegeaufgaben. Sie tragen als Teil des
sozialen Netzwerks alternder Menschen so zur Gewährleis-
tung guter Pflegequalität und sozialer Betreuung bei (Lott-
mann/Castro Varela 2016). Auch in Altenpflegeeinrichtun-
gen erfahren queere Bewohner*innen immer wieder Diskri-
minierung – sie berichten beispielsweise von abwertenden
Kommentaren anderer Bewohner*innen, verstecken ihre se-
xuelle Orientierung aus Angst, schlechtere Pflege zu erhal-
ten, oder beklagen, dass Privatsphäre für die Zeit mit gleich-
geschlechtlichen Partner*innen fehlt (Westwood 2016:
157ff.). Biografisch wird diese Angst durch die Erinnerungen
an homofeindliche Gesetze wie den Paragraphen 175 noch
verstärkt – der Umzug in das institutionalisierte Setting ei-
ner Altenpflegeeinrichtung kann dann sogar retraumatisie-
rend wirken (Pulver 2015: 304ff.). Trans* Personen fürchten
zudem, dass ihre Geschlechtsidentität in Pflegeeinrichtun-
gen nicht akzeptiert und ihr Geschlechtsausdruck einge-
schränkt wird (Knauer 2016: 157).
Aus diesen Gründen übernehmen oft Freund*innenkreise
die Pflege und treten als soziales Netz an die Stelle familiärer
oder institutioneller Unterstützung (Knauer 2016: 151). Zu-
dem entwickeln queere Communities aktuell vermehrt
Wohnprojekte, die sich spezifisch an alte queere Menschen
richten. Sie sollen ein würdevolles Altern unter Anerken-
nung der Sexualität und Geschlechtsidentität ermöglichen –
besonders wenn gleichaltrige Freund*innenkreise Pflege-
aufgaben nicht (mehr) ausreichend stemmen können (ebd.:
159).
Doch auch solche Projekte sind von Ausschlüssen durchzo-
gen. Zugang zu Wohnraum und Pflege ist in einer kapitalisti-
schen Gesellschaft entlang von Klasse ungleich verteilt. Auch
innerhalb queerer Wohnprojekte besteht die Gefahr, z.B.
über hohe Mieten Ausschlüsse für armutsbetroffene Men-
schen zu schaffen. Daneben prägen kulturelles und soziales
Kapital nach Pierre Bourdieu (2012 [1983]) den Zugang zu
Netzwerken und Informationen über queeres Wohnen im
Alter. In diesem Essay gehe ich deshalb der Frage nach, in-
wiefern queere Alterswohnprojekte solidarische Antworten
auf ökonomische Ungleichheit, Klassismus und Diskriminie-
rung innerhalb der queeren Community bieten.
Dabei folge ich einem intersektionalen Ansatz, der beson-
ders die Interaktion von Klasse mit anderen Differenzkate-
gorien, wie Geschlecht, race, Behinderung und Wohnort ein-
bezieht. Diese intersektionale Perspektive ist wichtig, weil
Diskriminierung auch in der LGBTQIA*-Community einen
Unterschied im Zugang zu finanziellen Ressourcen und der
Betroffenheit von Armut macht. Queere Frauen und Trans*-
Menschen im Allgemeinen sind z.B. häufiger von Armut be-
troffen als bisexuelle oder schwule Cis-Männer (Gorman-
Murray et al. 2022: 8). Ähnliches gilt für Menschen, die von
Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit betroffen sind
(Anacker 2020: 67). Ich stelle die These auf, dass queere Al-
terswohnprojekte Räume für queere Sorgebeziehungen
schaffen und dadurch Potenzial für einen solidarischen Um-
gang mit Klassen-Verhältnissen bieten. Queere Sorgebezie-
hungen verstehe ich dabei als Care-Arbeit beinhaltende Be-
ziehungen, in denen außerhalb heteronormativer Familien-
strukturen Sorgearbeit auf Community-Ebene kollektiv(er)
getragen wird (vgl. dazu Laufenberg 2012). In ihrer jetzigen
Form gehen die betrachteten Projekte aufgrund gesamtge-
sellschaftlicher kapitalistischer Strukturen bisher aber zu
wenig auf Fragen von Klassismus und Ungleichheit ein. Im
Fazit zeige ich deshalb emanzipatorische Veränderungs-
möglichkeiten für queere Alterswohnprojekte auf.
Gegen die Privatisierung queeren Alterns
Den Wunsch, zuhause alt zu werden, äußern viele Menschen
in der queeren Community. Er ist geprägt von der Angst,
dass in Pflegeeinrichtungen zum Beispiel Besuche für gleich-
geschlechtliche Partner*innen erschwert werden oder die
Möglichkeit, entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität
zu leben, für Trans*-Personen eingeschränkt wird (SBS The
Feed 11.6.2019). Mit guter Pflege zuhause altern zu können
ist allerdings auch und gerade in der LGBTQIA*-Community
ein großes Privileg: Mietwohnungen können derzeit nur
schwer barrierearm umgebaut werden. Geringe Renten –
auch aufgrund von Diskriminierung im Berufsleben – ma-
chen private Pflege in der eigenen Wohnung für viele unbe-
zahlbar. Die ebenfalls alternden queeren Freund*innen ha-
ben eventuell zunehmend nicht mehr die Kapazitäten oder
die Kraft, selbst Pflegeaufgaben zu übernehmen. Hinzu
kommt, dass queere Menschen auf dem Wohnungsmarkt
Diskriminierung erfahren und überdurchschnittlich häufig
von Armut und Wohnungslosigkeit betroffen sind (Boggs et
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
34
al. 2017: 1540). Im Alter wird dies zu einer doppelten Belas-
tung, da auch alte Menschen überproportional in Armut le-
ben. Gleichzeitig ist der Umzug ins Pflegeheim ebenfalls
teuer – die individuell zu tragenden Kosten für stationäre
Pflege beliefen sich im Januar 2022 auf durchschnittlich
2.200€ pro Monat (Pestel Institut gGmbH 2023: 21f.).
Das alles macht gutes Altern im eigenen Zuhause – ebenso
wie gutes Altern in gegenwärtigen Altenpflegeeinrichtungen
– zu einem Wunschtraum, der im von Ungleichheit gepräg-
ten Kapitalismus nur wenigen queeren Menschen zugäng-
lich ist. Es ist ein zutiefst nachvollziehbarer Traum. Und den-
noch: als reiche queere (oder auch hetero cis Person) finan-
ziell abgesichert zuhause zu altern, ohne gesellschaftliche
Veränderungen anzustreben, bleibt eine individualistische
Lösung. Dem Anspruch einer solidarischen und emanzipato-
rischen Politik wird dieser Rückzug ins Private nicht gerecht
– dafür braucht es kollektive Kämpfe um würdevolles Altern
mit guter Pflege sowie eine Anerkennung queerer Lebensre-
alitäten. Die Privatisierung (queeren) Alterns erhält hinge-
gen Klassismus und Ungleichheit aufrecht. Klassismus be-
schreibt dabei die strukturelle Diskriminierung von Men-
schen aufgrund ihrer Klassenposition und richtet sich bei-
spielsweise gegen einkommensarme, erwerbslose und woh-
nungslose Menschen (Seeck 2022: 12). Klassismus rechtfer-
tigt Ausbeutung im Kapitalismus und ist wirkmächtig, weil
er auf ungleich verteiltes ökonomisches, kulturelles und so-
ziales Kapital aufbaut. Neben finanziellen Ressourcen (öko-
nomischem Kapital) zeigt sich Ungleichheit dabei bezüglich
des Zugangs zu kulturellem Kapital, d.h. gesellschaftlich an-
erkanntem Wissen und kulturellen Präferenzen, und zu so-
zialem Kapital, dem Zugang zu einflussreichen Personen und
Netzwerken (Bourdieu 2012 [1983]: 231ff.).
Queere Alterswohnprojekte haben das Potenzial, diese
Strukturen zu verändern. Sie schaffen Räume für queere Sor-
gebeziehungen und machen zugleich die Räume sichtbar, in
denen diese Sorge stattfindet – z.B. durch Öffentlichkeitsar-
beit der Wohnprojekte oder durch das Anbieten von Veran-
staltungen in den Projekt-Räumlichkeiten. Damit bringen sie
queeres Altern aus der Unsichtbarkeit und der privaten
Sphäre heraus. Sie ermöglichen queeren Menschen, außer-
halb des informellen Bekanntenkreises Räume für ein wür-
devolles Altern zu finden. Diese stärkere Kollektivierung
queeren Alterns hat das Potenzial bestehende Ungleichhei-
ten aufzubrechen. Zum Beispiel erfahren queere Menschen
ohne großes soziales Netzwerk leichter von akzeptierenden
Wohnformen im Alter. Beratungsstellen können auf die
Wohnprojekte verweisen und der Zugang kann entlang von
Dringlichkeit und Bedarfen verhandelt werden, statt sozia-
les Kapital vorauszusetzen. Auch ökonomische Ungleichheit
lässt sich beispielsweise mit Hilfe von Fördergeldern für
Pflegeeinrichtungen oder den sozialen Wohnungsbau ten-
denziell abmildern.
Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zeigen sichtbare queere
Alterswohnprojekte darüber hinaus den akuten Verände-
rungsbedarf in bestehenden, nicht queer-sensiblen Alten-
und Pflegeeinrichtungen auf. Sie schaffen damit die Voraus-
setzung, Diskriminierungsstrukturen auch in der allgemei-
nen Altenpflege aufzubrechen. Im besten Fall tragen die Pro-
jekte so indirekt dazu bei, ein akzeptierendes Wohnumfeld
im Alter für alle queeren Menschen zu schaffen – auch für
jene, die keinen Zugang zu spezifisch queeren Wohnorten
haben.
Altern für reiche, weiße schwule Männer aus der Stadt
Queere Alterswohnprojekte in ihrer jetzigen Form als die so-
lidarische Antwort auf Queerfeindlichkeit in der Altenpflege
und auf intersektionale Ungleichheit in der LGBTQIA*-Com-
munity zu sehen, wäre allerdings verkürzt und machtblind.
Das liegt zum einen an intersektionalen Ausschlüssen inner-
halb der Wohnprojekte, zum anderen an ihrem unausweich-
lichen Eingebundensein in kapitalistischen Verhältnissen,
was bestimmte Kompromisse auf Kosten besonders benach-
teiligter Gruppen hervorbringt. Die Ausschlüsse sind dabei
historisch gewachsen und mit ökonomischen Verhältnissen
verwoben. Die Solidarität bleibt hier tendenziell auf be-
stimmte Gruppen begrenzt.
Schon bei der Betrachtung der konkreten finanziellen Res-
sourcen, die es braucht, um in queere Alterswohnprojekte
einzuziehen, fallen Ungerechtigkeiten auf. Neu entstehende
Wohnprojekte müssen Wohnraum innerhalb eines mehr-
heitlich kapitalistisch und spekulativ geprägten Immobilien-
markts erwerben. Das treibt die Entstehungskosten in die
Höhe und führt zu Dilemmata, was die Mietkosten angeht.
Beispielhaft ist hier der Lebensort Vielfalt, ein queeres Mehr-
generationen-Wohnprojekt in Berlin, das einen Fokus auf
Pflege und Unterstützung für alte queere Menschen legt.
Zwar besteht ein 2015 neu geplantes Hausprojekt des Leben-
sort Vielfalt zu einem Drittel aus Sozialbau-geförderten
Wohnungen mit für Berlin geringen Mieten ab 6.50€ pro qm.
Da die Kosten allerdings durch die Förderung nicht ausrei-
chend gedeckt seien, werden die restlichen zwei Drittel der
Wohnungen für hohe Quadratmeterpreise von 13€ bis
17,80€ angeboten – Preise, die sich vermutlich die meisten
queeren Menschen in Berlin nicht leisten können. Besonders
anzumerken ist, dass die drei im Projekt geplanten rollstuhl-
gerechten Wohnungen außerhalb der Pflege-WGs zu den
teuersten gehören sollen (Schwulenberatung Berlin o.J.c).
Hier zeigt sich, wie ein kapitalistisch organisierter Woh-
nungsmarkt zugleich ableistisch wirkt – denn während es
insgesamt zu wenig barrierearmen Wohnraum gibt und
| Feministische Geographien des Alter(n)s
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gerade diese Wohnungen sehr teuer sind, sind behinderte
Menschen besonders häufig von Armut betroffen (Anacker
2020: 67ff.).
Ein Lösungsansatz für diese Ausschlüsse ist die Zusammen-
arbeit mit Genossenschaften oder städtischen Institutionen.
Solche etablierten Akteur*innen können z.B. Immobilien
verwenden, die sie bereits besitzen. So kann die Abhängig-
keit vom kapitalistisch organisierten Immobilienmarkt in
Einzelfällen reduziert werden. Diese Strategie verfolgt unter
anderem der Verein queerAltern in Zürich. Er kooperiert mit
der städtischen Stiftung Alterswohnnungen, die explizit „al-
tersgerechte Wohnungen zu günstigen Mietzinsen“ (SAW
o.J.) anbietet. Eine solche Kooperation ist aus einer Klassen-
Perspektive sinnvoll, um akzeptierende Wohnumfelder ge-
rade für alte queere Menschen mit wenig Geld zu schaffen.
Doch auch die Zusammenarbeit mit städtischen Akteur*in-
nen ist in Herrschaftsverhältnisse eingebunden. So müssen
Menschen, die im neu geplanten Projekt von queerAltern ein-
ziehen, seit mindestens zwei Jahren in Zürich gelebt und dort
Steuern gezahlt haben – Raum für queere Geflüchtete oder
Menschen vom Land ist dort nicht (queerAltern o.J.). Auch
für wohnungslose Menschen ohne Meldeadresse ist ein Ein-
zug nicht möglich. Bestimmte ungleiche Klassen-Verhält-
nisse bleiben also bestehen. Zudem zeigt sich hier die Ver-
wobenheit von Rassismus und Klassismus. Geflüchtete Men-
schen sind besonders häufig von Armut betroffen, z.B. weil
ihre Berufsabschlüsse nicht anerkannt werden oder auf-
grund von Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem
ist Pflege durch Angehörige für sie gleich doppelt erschwert
– einerseits durch mögliche Stigmatisierung wegen des eige-
nen Queer-Seins, wenn z.B. die Verfolgung aufgrund der se-
xuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität der Flucht-
grund war, und anderseits, weil Familienstrukturen durch
die Flucht häufig räumlich getrennt sind. Statt den besonde-
ren Bedarf queerer Geflüchteter anzuerkennen, werden hier
bestehende rassistische Strukturen institutionell reprodu-
ziert und verstärkt.
Weitere Ausschlüsse aufgrund von Migrationserfahrung und
Klasse zeigen sich auf Projektebene. Beispielsweise setzt der
Lebensort Vielfalt Deutsch als gut gesprochene Sprache vo-
raus: Die Seite, auf der die Bewerbung auf einen Platz durch-
geführt werden kann, ist nur auf Deutsch verfügbar. Implizit
wird bei der Bewerbung auch das Wissen um bestimmte, in-
transparente Codes und Normen von Gemeinschaft voraus-
gesetzt. In der Bewerbung wird z.B. gefragt: „Wie wollen sie
sich in die Gemeinschaft einbringen?“ (Schwulenberatung
Berlin o.J.a). Diese Frage ist einerseits für ein gemeinschaft-
liches, solidarisches Zusammenleben höchst relevant. Sie
setzt andererseits ein bestimmtes Vorwissen beziehungs-
weise ähnliche Vorstellungen voraus, was für die Organisa-
tor*innen des Projekts Gemeinschaft ausmacht. Hier finden
sich somit auch innerhalb der institutionalisierten Wohn-
projekte wieder informelle und vergleichsweise intranspa-
rente Strukturen und Netzwerke, wobei der Zugang durch
soziales und kulturelles Kapital vermittelt ist. Auch das ist
eine Form von Klassismus.
Nicht nur Rassismus, sondern auch der Wohnort interagiert
mit Klassenverhältnissen. Queere Alterswohnprojekte gibt
es aktuell fast ausschließlich in Großstädten und auch dort
existieren bisher nur sehr wenige Projekte. Auch außerhalb
des deutschsprachigen Raums finden sich vor allem Infor-
mationen zu Projekten in Großstädten, z.B. in New York City
und Melbourne (PBS News Hour 10.10.2021; SBS The Feed
11.6.2019). Diese Verteilung ist historisch nachvollziehbar:
In großen Städten sind queere Communities stärker sichtbar
als auf dem Land und haben in der Vergangenheit weit mehr
autonome Strukturen entwickelt – das wiederum zieht
queere Menschen vom Land vermehrt in den urbanen Raum.
Zugleich ist Wohnraum in Städten durchschnittlich teurer
und das Leben in der Stadt damit auch eine Klassenfrage.
Selbst dort, wo die Mieten in den Projekten selbst nicht allzu
hoch sind, sind städtische Wohnprojekte für Menschen, die
zuvor im ländlichen Raum gelebt haben, weniger zugänglich.
Der Einzug in ein queer-sensibleres Wohnumfeld geht für sie
mit einer Entwurzelung aus bestehenden sozialen Beziehun-
gen einher. Das kann die Entscheidung für den Umzug er-
schweren und verringert womöglich das Wohlbefinden da-
nach. Im Fall des Projekts in Zürich sind Menschen, die au-
ßerhalb der Stadt leben, sogar explizit ausgeschlossen. Der
Zugang zu queeren Alterswohnprojekten ist somit auch re-
gional ungleich verteilt.
Gewachsene Strukturen prägen auch den Umgang mit Ge-
schlechterverhältnissen in queeren Alterswohnprojekten.
Klasse und Geschlecht sind dabei eng verzahnt. So ist bei-
spielsweise der Lebensort Vielfalt aus der Schwulenberatung
Berlin heraus entstanden und weiterhin überproportional
für Cis-Männer zugänglich. In einem bestehenden Wohnpro-
jekt wohnen zu 80% schwule Männer und nur zu 20% lesbi-
sche Frauen. Über Bewohner*innen jenseits der binären Ge-
schlechterordnung oder darüber, ob die Menschen cis oder
trans sind, werden keine Angaben gemacht. Auch im neue-
ren Projekt sollen 30 Wohnungen für schwule Senioren, aber
nur 17 für lesbische Seniorinnen und sieben für ältere
Trans*Inter Menschen entstehen, wobei unklar ist, wie mit
überlappenden Identitäten umgegangen wird (Schwulenbe-
ratung Berlin o.J.). Dass Cis-Männer hier Privilegien genie-
ßen liegt daran, wie eng Kapitalismus und Patriarchat zu-
sammenhängen. Frauen liebende Frauen sowie trans* Per-
sonen aller Geschlechter sind häufiger von Altersarmut be-
troffen und haben im Patriarchat weniger ökonomisches
und kulturelles Kapital, um Häuser zu kaufen und Wohnpro-
jekte zu finanzieren (Anacker 2020: 62; Gorman-Murray et
Feministisches Geo-RundMail Nr. 94 | August 2023
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al. 2022: 8). Gleichzeitig ist es gerade deshalb für sie schwie-
riger, gut versorgt zuhause zu altern. Dass bestehende Al-
terswohnprojekte Solidarität tendenziell stärker innerhalb
der eigenen, privilegierten Gruppe wohlhabender, weißer,
nicht behinderter, städtischer, schwuler Männer leben, ist
somit ungerecht und zeigt, wie sich bestehende intersektio-
nale Ausschlüsse reproduzieren. Erste generationsübergrei-
fende Wohnprojekte explizit für Frauen/Lesben, wie z.B. der
Verein Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen e.V.
(RuT) gerade eines plant, können auch als Reaktion auf diese
intersektionalen Ausschlüsse verstanden werden. Der Ver-
ein versteht das Projekt explizit als „politisches Signal für die
Sichtbarkeit und Wertschätzung von Frauen/Lesben“ (RuT
o.J.a) und beschreibt es als „Europas erstes Zentrum für les-
bische und queere Frauen“ (RuT o.J.b).
Ansatzpunkte für solidarisches queeres Altern
„I feel so happy when I wake up. And I haven’t felt like
this in a long time. […] I come downstairs at three o’
clock in the morning just to check my mail. That’s how
safe I feel. It makes me happy when I see somebody like
me, it’s refreshing. I’m home.”
Dedra Nottingham, Bewohnerin des Stonewall House, einer queer-inklusiven
Altenpflegeeinrichtung in New York City (PBS News Hour 10.10.2021: 7:01)
Auf queeres Altern spezialisierte Wohnprojekte reproduzie-
ren also auf mehreren Ebenen Ausschlüsse entlang von
Klasse. Diese Ausschlüsse sind intersektional mit vielen an-
deren Unterdrückungsverhältnissen verwoben – zum Bei-
spiel mit Sexismus, Rassismus und Ableismus sowie mit dem
geographischen Wohnort. Trotzdem liegt in der Grundidee
queerer Altenpflegeeinrichtungen großes Potenzial für soli-
darische Antworten auf ungerechte Klassenverhältnisse.
Transparent und inklusiv gestaltete queere Alterswohnpro-
jekte entprivatisieren und kollektivieren Unterstützung für
alte queere Menschen. Mit dieser Kollektivierung queeren
sie zugleich Sorgebeziehungen im Allgemeinen. Sie haben
dadurch das Potenzial, die fatalen Folgen ungerecht verteil-
ten ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals im Al-
ter abzufedern. Inwiefern sie dieses Potenzial verwirklichen,
hängt davon ab, wie sie mit ihrer kapitalistischen und ander-
weitig strukturell diskriminierenden Umgebung umgehen.
Werden beispielsweise solidarische Finanzkonzepte ent-
worfen, um Mieten gering zu