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Emotionale und soziale Geografien in der polnischen Literatur:
Räume der Reflexion und der Transformation
Emotionales und soziales Lernen durch literarische Bildung: Entwicklung und Erprobung von Materialien
für Schule, Universität, Weiterbildung und selbstverantwortliches Lernen in transformativen Projekten
No. 9: Soziale Marginalisierung des Sohnes einer alleinerziehenden Hebamme im Gymnasium von Thorn, im preußisch besetzten Polen, im
19. Jahrhundert, in Stanisław Przybyszewskis „Erinnerungen an das literarische Berlin“ (Moi współcześni – Wśród obcych)
Joachim Bröcher, Europa-Universität Flensburg, Website
Der Autor
Stanisław Przybyszewski, geboren 1868 in Lojewo, Kujawien, damals zu Preußen ge-
hörend; gestorben 1927 in Jaronty, bei Inowrocław, Kujawien, inzwischen wieder zu
Polen gehörend. Przybyszewski war Sohn eines Dorfschullehrers, besuchte zunächst
das deutsche Gymnasium in Thorn (heute Toruń); nach Schwierigkeiten Wechsel zum
Gymnasium in Wongrowitz; Architekturstudium in Berlin, nur kurz, dann Wechsel in
die Medizin; am meisten interessierte ihn die Psychiatrie; 1893 wurde er wegen seines
Engagements als Redakteur für die Arbeiterbewegung der Universität verwiesen; Be-
ginn eines Bohème-Lebens in Berlin; Austausch mit Persönlichkeiten aus Literatur,
Kunst und Philosophie; Interessen an der Philosophie Nietzsches und an Satanismus;
1894 – 1898 zwischen Berlin und Norwegen gependelt, danach wechselnde Lebensor-
te, Krakau, wo er zwei Jahre lang die Zeitschrift
Życie
(Leben) herausgab, schließlich
Warschau, München und 1919 wieder zurück nach Polen; wiederum wechselnde Orte
und Tätigkeiten. Przybyszewski hatte sechs Kinder aus drei Beziehungen; er verfasste
ein komplexes, für seine Zeit sehr innovatives und teils provokatives literarisches
Werk.
Das Buch
Die polnische Originalfassung von Stanisław Przybyszewskis Lebenserinnerungen ist
erschienen unter dem Titel
Moi współcześni
(meine Zeitgenossen) –
Wśród obcych
(Unter Fremden), im Instytut Wydawniczy, Bibljoteka Polska, in Warschau, 1926. Eine
deutsche Übersetzung erschien mit dem Titel
Ferne komme ich her… Erinnerungen an
Berlin und Krakau
, aufgeteilt in ein erstes Buch:
Unter Fremden
, und ein zweites
Buch:
Unter Landsleuten
, im Verlag Gustav Kiepenheuer, in Leipzig und Weimar,
1985. Von mir verwendet wurde die etwas gekürzte Version aus dem Winkler Verlag,
München, 1965. Diese ist dort erschienen unter dem Titel
Erinnerungen an das literari-
sche Berlin
, ins Deutsche übersetzt von Klaus Staemmler.
Kontext und Ziel
In Weiterentwicklung der
Lebensweltorientierten Didaktik
(Bröcher, 1997, 2022) und
aufbauend auf früheren deutsch-polnischen Projekten (Bröcher und Toczyski, 2021;
Toczyski und Broecher, 2021; Toczyski, Broecher und Painter, 2022), soll exempla-
risch die polnische Literatur in ihrer Bedeutung für die pädagogische Arbeit mit emo-
tionalen und sozialen Themen erschlossen werden, stellvertretend für andere und wei-
tere Sprachen und Literaturen, die im multikulturellen Deutschland der Gegenwart und
anderen Migrationsgesellschaften, etwa den USA, eine Rolle spielen. Kennzeichen der
Lebensweltorientierten Didaktik ist traditionsbedingt der subjektzentrierte pädagogi-
sche Zugang, durch die Fokussierung auf Lebensthemen und Daseinstechniken der
jungen Menschen, eben in ihren diversen
Lebensräumen
, nun ergänzt durch das Kon-
zept der
emotionalen und sozialen Geografien
sowie um Konzepte aus dem Bereich
Social and Emotional Development through Literacy Education
. Im nächsten Schritt
geht es um das Schaffen von Übergängen in sach– und wissenschaftsorientierte Lern-
prozesse, etwa in den Bereichen Sprache, Literatur, Soziologie, Philosophie, Psycholo-
gie, Geschichte oder Politik. Natürlich müssen literarische Texte altersgemäß und je
nach Zielgruppe und Situation ausgewählt und aufbereitet werden. Oftmals sind hand-
lungsorientierte, fächerübergreifende oder kreativ-schöpferische Aneignungs– und
Auseinandersetzungsformen denkbar und möglich. Die Poster dieser Serie sollen in der
nächsten Zeit in Schulen, Universitäten, in der Weiterbildung und in
transformativen
Projekten
, wo selbstverantwortlich gelernt wird, jenseits von Institutionen (Broecher
und Painter, 2023), erprobt werden. Ein einzelnes Poster hat nicht den Anspruch, die
inhaltliche Komplexität oder die formale Besonderheit eines Werkes in seiner Gesamt-
heit zu erfassen. Ich greife stets Einzelthemen heraus, die mir bedeutsam erscheinen.
Kooperationspartner_innen beim Projekt: Janet F. Painter, Lenoir-Rhyne University,
Hickory, NC, USA; Karolina Walkowska, Berlin und Piotr Toczyski, Maria Grze-
gorzewska Universität, Warschau. Laufzeit des Projekts: 1.1.2020 - 31.12.2030.
Warum die polnische Literatur?
Erstens
war die von 1569 bis 1795 bestehende polnisch-litauische Adelsrepublik, die
Rzeczpospolita
, ein pulsierender Vielvölkerstaat von enormen Ausmaßen, wodurch
sich Erkenntnisse für das heutige multikulturelle Deutschland ergeben könnten.
Zwei-
tens
verschwand Polen durch die Eroberungspolitik Preußens, Österreich-Ungarns und
Russlands im Zuge von drei Teilungen (1772, 1793, 1795) für 123 Jahre (bis 1918)
vollständig von der Landkarte und überlebte als Nation vor allem auch durch seine Li-
teratur.
Drittens
: Die Deutschen haben 1939 beim Überfall auf Polen und während der
nachfolgenden Besatzungszeit (bis 1941 Besetzung des westlichen Teils Polens und
nach der Kriegserklärung gegen Russland auch des östlichen Teils) versucht, die polni-
sche Intelligenz vollständig zu vernichten. Professor_innen wurden verhaftet und inter-
niert, Lehrer_innen erschossen und in polnischen Schulen wurde eine radikale Germa-
nisierungspolitik betrieben.
Viertens
: 1945 verschob die Sowjetunion, die bis 1941 den
östlichen Teil von Polen besetzt hielt, den kompletten polnischen Staat nach Westen,
was Vertreibungen und Umsiedlungen mit sich brachte. Auch in der nun folgenden, bis
1989 andauernden, kommunistisch-stalinistischen Zeit war es für die polnische Intelli-
genz kaum möglich, sich frei zu entfalten. Die Literatur lebte daher teils im Unter-
grund, teils im Exil fort.
Fünftens
: Das heutige Polen erscheint zerrissen zwischen eu-
ropäischer Offenheit und nationaler Abschottung, ein Prozess der nun, nach Jahrzehn-
ten nahezu grenzenloser Offenheit, auch in Deutschland beginnt. Die polnische Litera-
tur hat durch die genannten besonderen historischen Hintergründe immer schon einen
sehr stark politischen und gesellschaftlichen Charakter gehabt, viel stärker als es in
Deutschland der Fall war und ist. Natürlich geht es bei alldem auch um Emotionen und
die Lebensthemen der Menschen, um die Räume, in denen sie leben, um die emotiona-
len und sozialen Geografien eben, denn diese sind intensiv mit den historischen, politi-
schen und gesellschaftlichen Ereignissen verflochten. Wir haben also etliche Gründe
die polnische Literatur zu lesen und aus den Werken polnischer Autor_innen zu lernen,
um emotionales und soziales Lernen voranzubringen und unser Verständnis alles Hu-
manen und Gesellschaftlichen zu vertiefen und zu erweitern.
Theoretischer Rahmen
Bilczewski, T., Bill, S., and Popiel, M. (Eds.) (2022).
The Routledge world com-
panion to Polish literature.
Milton Park, Abingdon, Oxon: Routledge.
Bröcher, J. (2022).
Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit sogenannten „verhaltens-
auffälligen“ Jugendlichen auf der Basis ihrer (alltags-)ästhetischen Produktionen
(2.
korr. und ergänzte Aufl.). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Open Access, Down-
load.
Broecher, J. and Painter, J. F. (2023). Transformative community projects in East Ger-
many's rural spaces: Exploring more sustainable forms of learning, working, and
living.
Frontiers in Sociology, Vol. 8
, 1164293, https://doi.org/10.3389/fsoc.2023.1164
293, Download.
Bröcher, J. und Toczyski, P. (2021). Europäische Lernräume: Pädagogischer Aus-
tausch zwischen Polen und Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges. In J. Bröcher,
Anders lernen, arbeiten und leben. Für eine Transformation von Pädagogik und Ge-
sellschaft
(S. 223-238). Bielefeld: transcript, Open Access, Download.
Davidson, J., Bondi, L., and Smith, M. (2017).
Emotional geographies
(first release:
Ashgate Publ., 2005). London, New York: Routledge.
Skórczewski, D. and Polakowska, A. (2020).
Polish literature and national identity. A
postcolonial perspective
. Rochester, NY: University of Rochester Press.
Toczyski, P. i Broecher, J. (2021). Niemiecko-polskie doświadczenie, spotkanie, kon-
takt i dialog w europeizacyjnej pedagogice Andrzeja Jaczewskiego i Karla-Josefa
Klugego.
Kwartalnik Pedagogiczny, 66
(1), 124-152, Open Access, Download.
Toczyski, P., Broecher, J., and Painter, J. F. (2022). Pioneers of German-Polish in-
clusive exchange: Jaczewski’s and Kluge’s Europeanization in education despite the
Iron Curtain.
Prospects: Comparative Journal of Curriculum, Learning, and As-
sessment, 52
(3-4), 567-583, Open Access, Download.
Trojanowska, T., Niżyńska, J., Czapłiński, P., and Polakowska, A. (Eds.) (2019).
Being
Poland: A new history of Polish literature and culture since 1918.
Toronto: Uni-
versity of Toronto Press.
Tussey, J. and Haas, L. (Eds.) (2021).
Handbook of research on supporting social and
emotional development through literacy education
. Hershey, PA: IGI Global u.a.m.
Soziale Marginalisierung des Sohnes einer alleinerziehenden Hebamme,
im Gymnasium von Thorn, im 19. Jahrhundert, im preußisch besetzten Polen,
in Stanisław Przybyszewskis „Erinnerungen an das literarische Berlin“
(Moi współcześni – Wśród obcych)
In derselben Klasse quälte sich der uneheliche Sohn einer Hebamme, die ihn in
blinder Mutterliebe in dieses aristokratisch-plutokratische Gymnasium schickte.
Der uneheliche Sohn einer Hebamme! Ich war mir nicht genau im Klaren darüber,
mit welcher Schande mein Kamerad abgestempelt war, aber ich hatte schon lange
bemerkt, dass meine sechzig Mitschüler ihn mieden wie die Pest; also machte ich
mich gerade deshalb an ihn heran.
Der Klassenlehrer fühlte sich von ihm offenbar aufs Höchste geniert, er bemühte
sich sogar, ihm das Gymnasium zu verleiden, damit er möglichst schnell abging.
Das prächtigste pädagogische Hilfsmittel war damals in Preußen die körperliche
Züchtigung und bei jedem Stocken: ein Schlag ins Gesicht. Dieses Hilfsmittel er-
probte der Klassenlehrer am häufigsten an dem unehelichen Sohn der Hebamme.
Schon lange hatte mich das empört, und mit immer größerer Sympathie begann ich
zu meinem fünf Bänke entfernten Kameraden hinüber zu blicken.
Zu Beginn des Schuljahres hatte der Professor gefragt: „Dein Name?“ „Gdyka“.
„Dein Vater?“ „Ich bin ein uneheliches Kind, ich habe also keinen Vater.“ Heute
noch spüre ich, wie die Klasse den Atem anhielt. Es war, als wäre der Blitz plötz-
lich in die Klasse eingeschlagen. Totenstille trat ein.
Einen Moment maßen sich die Augen des Jungen mit denen des Professors, doch
nur einen Moment lang. Der Junge war trotzig, aber mit Feuer übergossen – der
Professor lächelte spöttisch. „Deine Mutter?“ fragte er. „Hebamme.“ Die Span-
nung, die Unruhe, das Staunen, die für eine Weile die Seelen der Jungen allzu fest
gefangen gehalten hatten, mündeten jetzt in ein brüllendes Gelächter.
Nur ich lachte nicht – gewiss waren schon auf dem Dorfe die Wörter ehelich - un-
ehelich an mein Ohr gedrungen, ich hatte gesehen, mit welcher Verachtung solche
Kinder behandelt wurden, konnte mir also nicht vorstellen, ein Kind werde sich zu
dieser furchtbaren Schande bekennen. Ich bezweifle, ob mir je etwas so imponiert
hat wie dieses trotzige Bekenntnis eines Kindes, dass es ein uneheliches Kind sei
(59 f.).
Impulse zur Reflexion
Wie lässt sich das beschreiben, was hier von Przybyszewski erinnert und in seinen
autobiografischen Reflexionen niedergeschrieben worden ist?
Versuchen Sie sich in einer soziologischen und psychodynamischen Analyse des Ge-
schehens, in Bezug auf das Verhalten des Lehrers und der Mitschüler, ebenso bezo-
gen auf die sozialen Verhältnisse im Preußen des 19. Jahrhunderts. Zu welchen Er-
gebnissen kommen Sie?
Welche Emotionen löst so etwas bei Ihnen aus?
Welche gesellschaftlichen Schlussfolgerungen und Konsequenzen lassen sich ablei-
ten, auch für die Gegenwart unserer eigenen Gesellschaft und zukünftige Gesell-
schaften, inklusive ihrer Bildungssysteme?
veröffentlicht am 4. August 2023