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Emotionale und soziale Geografien in der polnischen Literatur:
Räume der Reflexion und der Transformation
Emotionales und soziales Lernen durch literarische Bildung: Entwicklung und Erprobung von Materialien
für Schule, Universität, Weiterbildung und selbstverantwortliches Lernen in transformativen Projekten
No. 4: Der frühe Verlust der Eltern als Thema in Jakub Małeckis Roman „Rost“ (Rdza)
Joachim Bröcher, Europa-Universität Flensburg, Website
Der Autor
Jakub Małecki, geboren 1982 in Koło, Polen; studierte an der Wirtschaftsuniversität in Po-
sen; lebt in Warschau; zahlreiche Romanveröffentlichungen; mehrere Literaturpreise; Re-
nate Schmidgall übersetzt seine Texte ins Deutsche.
Das Buch
Die Eltern des siebenjährigen Szymek sterben bei einem Autounfall, worauf seine Groß-
mutter Tosia ihn zu sich nimmt. Zum einen entfaltet sich im Dorf Cholny nun das Leben
des Jungen, unter anderem seine ambivalenten Erfahrungen mit Gleichaltrigen, seine teils
kritischen Schulerfahrungen oder die erste Liebe. Das Ganze wird verschränkt mit Rück-
blicken zu Großmutter Tosias eigener, teils traumatischer, Kindheit. Dabei tauchen dunkle
Dinge aus der Vergangenheit auf, die mit dem Überfall der Deutschen auf Polen 1939 und
der deutschen Besatzungszeit (bis 1945) zu tun haben. In generationenübergreifender Per-
spektive wird gezeigt, wie leicht Negativität und Gewalt Raum gewinnen können, dass Hu-
manität immer wieder aufs Neue durch die Menschen errungen werden muss und dass dies
auch, in Ansätzen zumindest, gelingen kann. Die polnische Ausgabe ist 2017 bzw. 2021 er-
schienen im Verlag Wydawnictwo SQN in Krakau, unter dem Titel
Rdza
. Die deutsche
Ausgabe ist erschienen im Verlag Secession, Zürich, unter dem Titel
Rost
, übersetzt von
Renate Schmidgall.
Kontext und Ziel
In Weiterentwicklung der
Lebensweltorientierten Didaktik
(Bröcher, 1997, 2022) und auf-
bauend auf früheren deutsch-polnischen Projekten (Bröcher und Toczyski, 2021; Toczyski
und Broecher, 2021; Toczyski, Broecher und Painter, 2022), soll exemplarisch die polni-
sche Literatur in ihrer Bedeutung für die pädagogische Arbeit mit emotionalen und sozialen
Themen erschlossen werden, stellvertretend für andere und weitere Sprachen und Literatu-
ren, die im multikulturellen Deutschland der Gegenwart und anderen Migrationsgesell-
schaften, etwa den USA, eine Rolle spielen. Kennzeichen der Lebensweltorientierten Di-
daktik ist traditionsbedingt der subjektzentrierte pädagogische Zugang, durch die Fokussie-
rung auf Lebensthemen und Daseinstechniken der jungen Menschen, eben in ihren diversen
Lebensräumen
, nun ergänzt durch das Konzept der
emotionalen und sozialen Geografien
sowie um Konzepte aus dem Bereich
Social and Emotional Development through Literacy
Education
. Im nächsten Schritt geht es um das Schaffen von Übergängen in sach– und wis-
senschaftsorientierte Lernprozesse, etwa in den Bereichen Sprache, Literatur, Soziologie,
Philosophie, Psychologie, Geschichte oder Politik. Natürlich müssen literarische Texte al-
tersgemäß und je nach Zielgruppe und Situation ausgewählt und aufbereitet werden. Oft-
mals sind handlungsorientierte, fächerübergreifende oder kreativ-schöpferische Aneignungs
– und Auseinandersetzungsformen denkbar und möglich. Die Poster dieser Serie sollen in
der nächsten Zeit in Schulen, Universitäten, in der Weiterbildung und in
transformativen
Projekten
, wo selbstverantwortlich gelernt wird, jenseits von Institutionen (Broecher und
Painter, 2023), erprobt werden. Ein einzelnes Poster hat nicht den Anspruch, die inhaltliche
Komplexität oder die formale Besonderheit eines Werkes in seiner Gesamtheit zu erfassen.
Ich greife stets Einzelthemen heraus, die mir bedeutsam erscheinen. Kooperationspart-
ner_innen beim Projekt: Janet F. Painter, Lenoir-Rhyne University, Hickory, NC, USA;
Karolina Walkowska, Berlin und Piotr Toczyski, Maria Grzegorzewska Universität, War-
schau. Laufzeit des Projekts: 1.1.2020 - 31.12.2030.
Warum die polnische Literatur?
Erstens
war die von 1569 bis 1795 bestehende polnisch-litauische Adelsrepublik, die
Rzeczpospolita
, ein pulsierender Vielvölkerstaat von enormen Ausmaßen, wodurch sich Er-
kenntnisse für das heutige multikulturelle Deutschland ergeben könnten.
Zweitens
ver-
schwand Polen durch die Eroberungspolitik Preußens, Österreich-Ungarns und Russlands
im Zuge von drei Teilungen (1772, 1793, 1795) für 123 Jahre (bis 1918) vollständig von
der Landkarte und überlebte als Nation vor allem auch durch seine Literatur.
Drittens
: Die
Deutschen haben 1939 beim Überfall auf Polen und während der nachfolgenden Besat-
zungszeit (bis 1941 Besetzung des westlichen Teils Polens und nach der Kriegserklärung
gegen Russland auch des östlichen Teils) versucht, die polnische Intelligenz vollständig zu
vernichten. Professor_innen wurden verhaftet und interniert, Lehrer_innen erschossen und
in polnischen Schulen wurde eine radikale Germanisierungspolitik betrieben.
Viertens
:
1945 verschob die Sowjetunion, die bis 1941 den östlichen Teil von Polen besetzt hielt, den
kompletten polnischen Staat nach Westen, was Vertreibungen und Umsiedlungen mit sich
brachte. Auch in der nun folgenden, bis 1989 andauernden, kommunistisch-stalinistischen
Zeit war es für die polnische Intelligenz kaum möglich, sich frei zu entfalten. Die Literatur
lebte daher teils im Untergrund, teils im Exil fort.
Fünftens
: Das heutige Polen erscheint
zerrissen zwischen europäischer Offenheit und nationaler Abschottung, ein Prozess der
nun, nach Jahrzehnten nahezu grenzenloser Offenheit, auch in Deutschland beginnt. Die
polnische Literatur hat durch die genannten besonderen historischen Hintergründe immer
schon einen sehr stark politischen und gesellschaftlichen Charakter gehabt, viel stärker als
es in Deutschland der Fall war und ist. Natürlich geht es bei alldem auch um Emotionen
und die Lebensthemen der Menschen, um die Räume, in denen sie leben, um die emotiona-
len und sozialen Geografien eben, denn diese sind intensiv mit den historischen, politischen
und gesellschaftlichen Ereignissen verflochten. Wir haben also etliche Gründe die polni-
sche Literatur zu lesen und aus den Werken polnischer Autor_innen zu lernen, um emotio-
nales und soziales Lernen voranzubringen und unser Verständnis alles Humanen und Ge-
sellschaftlichen zu vertiefen und zu erweitern.
Theoretischer Rahmen
Bilczewski, T., Bill, S. and Popiel, M. (Eds.) (2022).
The Routledge world companion to
Polish literature.
Milton Park, Abingdon, Oxon: Routledge.
Bröcher, J. (2022).
Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit sogenannten „verhaltens-
auffälligen“ Jugendlichen auf der Basis ihrer (alltags-)ästhetischen Produktionen
(2. korr.
und ergänzte Aufl.). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Open Access, Download.
Broecher, J. and Painter, J. F. (2023). Transformative community projects in East German-
y's rural spaces: Exploring more sustainable forms of learning, working, and living.
Fron-
tiers in Sociology, Vol. 8,
1164293, https://doi.org/10.3389/fsoc.2023.1164293, Download.
Bröcher, J. und Toczyski, P. (2021). Europäische Lernräume: Pädagogischer Austausch
zwischen Polen und Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges. In J. Bröcher,
Anders lernen,
arbeiten und leben. Für eine Transformation von Pädagogik und Gesellschaft
(S. 223-238).
Bielefeld: transcript, Open Access, Download.
Theoretischer Rahmen (Fortsetzung)
Davidson, J., Bondi, L., and Smith, M. (2017).
Emotional geographies
(first release: Ash-
gate Publ., 2005). London, New York: Routledge.
Skrczewski, D. and Polakowska, A. (2020).
Polish literature and national identity. A post-
colonial perspective
. Rochester, NY: University of Rochester Press.
Toczyski, P. i Broecher, J. (2021). Niemiecko-polskie doświadczenie, spotkanie, kontakt i
dialog w europeizacyjnej pedagogice Andrzeja Jaczewskiego i Karla-Josefa Klugego.
Kwartalnik Pedagogiczny, 66
(1), 124-152, Open Access, Download.
Toczyski, P., Broecher, J., and Painter, J. F. (2022). Pioneers of German-Polish inclusive
exchange: Jaczewski’s and Kluge’s Europeanization in education despite the Iron Curtain.
Prospects: Comparative Journal of Curriculum, Learning, and Assessment, 52
(3-4), 567-
583, Open Access, Download.
Trojanowska, T., Niżyńska, J., Czapłiński, P., and Polakowska, A. (Eds.) (2019). Being
Poland: A new history of Polish literature and culture since 1918.
Toronto: University of
Toronto Press.
Tussey, J. and Haas, L. (Eds.) (2021).
Handbook of research on supporting social and
emotional development through literacy education
. Hershey, PA: IGI Global u.a.m.
Der frühe Verlust der Eltern als Thema in Jakub Małeckis
Roman „Rost“ (Rdza)
Von der Beerdigung wusste er fast nichts mehr. Nur einmal fragte er wo die El-
tern seien… Dann weinte er nur noch, schrie, stieß Großmutter weg, trat um
sich, riss aus… jemand hielt ihn fest an den Händen, Onkel, Tanten, Nachbarn,
alle beugten sich über ihn, legten ihm die Hände auf den Kopf, drückten, küs-
sten ihn… lieber Szymek (16).
Z pogrzebu nie pamiętał prawie nic. Tylko raz zapetał, gdzie są rodzice... a
potem już tylko płakał, krzyczał, odpychał babcię, kopał, wyrywał się... ktoś
go mocno trzymał za ręce, wujkowie, ciotki, sąsiedzi, wszyscy pochylali się
nad nim, dłonie na głowie, przytulanie, całowanie... kochany Szymuś (14).
„Du musst jetzt ganz tapfer sein“, sagte sie nur (18)
Musisz być teraz bardzo odważny - powiedziała tylko (15)
Es kam auch vor, dass er keine Kraft mehr hatte und sich fühlte, als gäbe es ihn
gar nicht mehr: Er saß vor dem Haus oder in seinem Zimmer, das eigentlich gar
nicht sein Zimmer war, denn sein Zimmer war zusammen mit seinen Eltern und
allem anderen verschwunden; er saß also in seinem-nicht-seinem Zimmer im
Haus der Großmutter, starrte zum Fenster hinaus oder auf den Teppich oder ein-
fach vor sich hin und verschwand; doch bald begriff er, dass er für längere Zeit
so nicht verschwinden konnte (18 f.)
Bywało też, że nie miał już siły i czuł, jakby w ogle go nie było: siedział
przed domem albo w swoim pokoju, ktry przecież wcale nie był jego, bo
jego pokj zniknął razem z rodzicami i ze wzystkim innym, więc siedział w
swoim – nie swoim pokoju w domu babci, patrzył za okno, patrzył na dywan
albo po prosto przed siebie i znikał, ale szybko zrozumiał, że na długo tak
zniknąć się nie da (16).
Von einigen belauschten Gesprächen wusste Szymek schon, was geschehen
war. Er wusste, dass seine Eltern, aus Warschau kommend, kurz von der Ab-
fahrt von der Hauptstraße aus unbekannten Gründen gegen einen Baum gefah-
ren waren. Er wusste: eine Tragödie… (27)
Z wielu podsłuchanych rozmw Szymek wiedział już wtedy, co się stało. Wie-
dział, że wracając z Warszawy, rodzice uderzyli w drzewo tuż przed zjazdem
z Trasy i że nie wiadomo dlaczego. Wiedział, że to wielka tragedia... (23)
Impulse zur Reflexion:
Was ist hier die Thematik?
Was ist im Leben des siebenjährigen Szymek geschehen?
Wie reagiert der Junge auf das Ereignis?
Was sind seine Emotionen und was sind seine Verhaltensweisen?
Wie geht sein soziales Umfeld mit der Situation um?
Was genau tun die Erwachsenen?
Welche Rolle hat nun die Großmutter?
Hatten Sie in ihrem persönlichen Leben in irgendeiner Form Berührung mit einer solchen
Thematik?
Wie lässt sich ein Kind in einer solchen Situation angemessen unterstützen und emotional
auffangen?
Wäre es nicht besser, Kinder würden in Zukunft in größeren sozialen Einheiten aufwach-
sen, wie sie etwa in Zusammenhang mit den transformativen Communities (vgl. Broecher
und Painter, 2023) beschrieben werden, um die emotionalen Risiken solcher Tragödien
immerhin abzumildern?
veröffentlicht am 27. Juli 2023