Content uploaded by Joachim Broecher
Author content
All content in this area was uploaded by Joachim Broecher on Jul 27, 2023
Content may be subject to copyright.
Emotionale und soziale Geografien in der polnischen Literatur:
Räume der Reflexion und der Transformation
Emotionales und soziales Lernen durch literarische Bildung: Entwicklung und Erprobung von Materialien
für Schule, Universität, Weiterbildung und selbstverantwortliches Lernen in transformativen Projekten
No. 3: Die Symbolik des Hauses und des Wassers in Olga Tokarczuks Roman „Taghaus, Nachthaus“ (Dom dzienny, dom nocny)
Joachim Bröcher, Europa-Universität Flensburg, Website
Die Autorin
Olga Nawoja Tokarczuk, geboren 1962 in Sulechów, Polen; ihre Eltern arbeiteten als Lehrerin
bzw. Lehrer, sie stammen aus den polnischen Ostgebieten und gelangten durch Zwangsumsied-
lung nach Schlesien, Westpolen; Olga Tokarczuk studierte Psychologie an der Universität War-
schau; sie arbeitete eine Zeitlang pädagogisch mit Jugendlichen mit Förderbedarf in der emotio-
nalen und sozialen Entwicklung, auch beratend mit Lehrer_innen; ihr literarisches Werk ist um-
fangreich und vielschichtig; zahlreiche Romanveröffentlichungen und Literaturpreise, darunter
der Nobelpreis für Literatur (2018), Gründung der Olga-Tokarczuk-Stiftung in Breslau.
Das Buch
Die in
Dom dzienny, dom nocny
versammelten Texte bilden im herkömmlichen Sinne keinen
Roman; eher handelt es sich um eine Mischung von Erzählung, philosophischer Betrachtung
und Selbsterkundung, etwa durch das Aufschreiben von Träumen; es wird mehr frei montiert
und variiert, als dass konsequent, einem bestimmten Aufbau folgend, eine Geschichte fortent-
wickelt würde. Im Zentrum steht der Ort Nowa Roda, im schlesischen Riesengebirge gelegen,
wo sich, historisch betrachtet, die Grenzen oftmals verschoben haben, wo die Sprachen wech-
selten, wo Häuser verlassen und neu bezogen wurden. Eine wichtige Bezugsperson für die Er-
zählerin ist bei alldem Marta, die Perückenmacherin… Die hier verwendete polnische Ausgabe
ist 2005 unter dem Titel
Dom dzienny, dom nocny
bei Wydawnictwo Literackie, in Krakau, er-
schienen. Das Buch erschien jedoch zuerst 1999 im Verlag Ruta, Walbrzych. Die hier verwende-
te deutsche Ausgabe ist 2019 bei Kampa, Zürich erschienen, unter dem Titel
Taghaus, Nacht-
haus
. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Esther Kinsky.
Kontext und Ziel
In Weiterentwicklung der
Lebensweltorientierten Didaktik
(Bröcher, 1997, 2022) und aufbauend
auf früheren deutsch-polnischen Projekten (Bröcher und Toczyski, 2021; Toczyski und Broe-
cher, 2021; Toczyski, Broecher und Painter, 2022), soll exemplarisch die polnische Literatur in
ihrer Bedeutung für die pädagogische Arbeit mit emotionalen und sozialen Themen erschlossen
werden, stellvertretend für andere und weitere Sprachen und Literaturen, die im multikulturellen
Deutschland der Gegenwart und anderen Migrationsgesellschaften, etwa den USA, eine Rolle
spielen. Kennzeichen der Lebensweltorientierten Didaktik ist traditionsbedingt der subjektzen-
trierte pädagogische Zugang, durch die Fokussierung auf Lebensthemen und Daseinstechniken
der jungen Menschen, eben in ihren diversen
Lebensräumen
, nun ergänzt durch das Konzept der
emotionalen und sozialen Geografien
sowie um Konzepte aus dem Bereich
Social and Emotio-
nal Development through Literacy Education
. Im nächsten Schritt geht es um das Schaffen von
Übergängen in sach– und wissenschaftsorientierte Lernprozesse, etwa in den Bereichen Spra-
che, Literatur, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Geschichte oder Politik. Natürlich müssen
literarische Texte altersgemäß und je nach Zielgruppe und Situation ausgewählt und aufbereitet
werden. Oftmals sind handlungsorientierte, fächerübergreifende oder kreativ-schöpferische An-
eignungs– und Auseinandersetzungsformen denkbar und möglich. Die Poster dieser Serie sollen
in der nächsten Zeit in Schulen, Universitäten, in der Weiterbildung und in
transformativen Pro-
jekten
, wo selbstverantwortlich gelernt wird, jenseits von Institutionen (Broecher und Painter,
2023), erprobt werden. Ein einzelnes Poster hat nicht den Anspruch, die inhaltliche Komplexität
oder die formale Besonderheit eines Werkes in seiner Gesamtheit zu erfassen. Ich greife stets
Einzelthemen heraus, die mir bedeutsam erscheinen. Kooperationspartner_innen beim Projekt:
Janet F. Painter, Lenoir-Rhyne University, Hickory, NC, USA; Karolina Walkowska, Berlin und
Piotr Toczyski, Maria Grzegorzewska Universität, Warschau. Laufzeit des Projekts: 1.1.2020 -
31.12.2030.
Warum die polnische Literatur?
Erstens
war die von 1569 bis 1795 bestehende polnisch-litauische Adelsrepublik, die
Rzeczpos-
polita
, ein pulsierender Vielvölkerstaat von enormen Ausmaßen, wodurch sich Erkenntnisse für
das heutige multikulturelle Deutschland ergeben könnten.
Zweitens
verschwand Polen durch die
Eroberungspolitik Preußens, Österreich-Ungarns und Russlands im Zuge von drei Teilungen
(1772, 1793, 1795) für 123 Jahre (bis 1918) vollständig von der Landkarte und überlebte als Na-
tion vor allem auch durch seine Literatur.
Drittens
: Die Deutschen haben 1939 beim Überfall
auf Polen und während der nachfolgenden Besatzungszeit (bis 1941 Besetzung des westlichen
Teils Polens und nach der Kriegserklärung gegen Russland auch des östlichen Teils) versucht,
die polnische Intelligenz vollständig zu vernichten. Professor_innen wurden verhaftet und inter-
niert, Lehrer_innen erschossen und in polnischen Schulen wurde eine radikale Germanisie-
rungspolitik betrieben.
Viertens
: 1945 verschob die Sowjetunion, die bis 1941 den östlichen Teil
von Polen besetzt hielt, den kompletten polnischen Staat nach Westen, was Vertreibungen und
Umsiedlungen mit sich brachte. Auch in der nun folgenden, bis 1989 andauernden, kommuni-
stisch-stalinistischen Zeit war es für die polnische Intelligenz kaum möglich, sich frei zu entfal-
ten. Die Literatur lebte daher teils im Untergrund, teils im Exil fort.
Fünftens
: Das heutige Polen
erscheint zerrissen zwischen europäischer Offenheit und nationaler Abschottung, ein Prozess der
nun, nach Jahrzehnten nahezu grenzenloser Offenheit, auch in Deutschland beginnt. Die polni-
sche Literatur hat durch die genannten besonderen historischen Hintergründe immer schon einen
sehr stark politischen und gesellschaftlichen Charakter gehabt, viel stärker als es in Deutschland
der Fall war und ist. Natürlich geht es bei alldem auch um Emotionen und die Lebensthemen
der Menschen, um die Räume, in denen sie leben, um die emotionalen und sozialen Geografien
eben, denn diese sind intensiv mit den historischen, politischen und gesellschaftlichen Ereignis-
sen verflochten. Wir haben also etliche Gründe die polnische Literatur zu lesen und aus den
Werken polnischer Autor_innen zu lernen, um emotionales und soziales Lernen voranzubringen
und unser Verständnis alles Humanen und Gesellschaftlichen zu vertiefen und zu erweitern.
Theoretischer Rahmen
Bilczewski, T., Bill, S. and Popiel, M. (Eds.) (2022).
The Routledge world companion to Polish
literature.
Milton Park, Abingdon, Oxon: Routledge.
Bröcher, J. (2022).
Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit sogenannten „verhaltens-
auffälligen“ Jugendlichen auf der Basis ihrer (alltags-)ästhetischen Produktionen
(2. korr. und
ergänzte Aufl.). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Open Access, Download.
Broecher, J. and Painter, J. F. (2023). Transformative community projects in East Germany's
rural spaces: Exploring more sustainable forms of learning, working, and living.
Frontiers in So-
ciology, Vol. 8,
1164293, https://doi.org/10.3389/fsoc.2023.1164293, Download.
Bröcher, J. und Toczyski, P. (2021). Europäische Lernräume: Pädagogischer Austausch zwi-
schen Polen und Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges. In J. Bröcher,
Anders lernen, arbeiten
und leben. Für eine Transformation von Pädagogik und Gesellschaft
(S. 223-238). Bielefeld:
transcript, Open Access, Download.
Davidson, J., Bondi, L., and Smith, M. (2017).
Emotional geographies
(first release: Ashgate
Publ., 2005). London, New York: Routledge.
Skórczewski, D. and Polakowska, A. (2020).
Polish literature and national identity. A postcolo-
nial perspective.
Rochester, NY: University of Rochester Press.
Theoretischer Rahmen (Fortsetzung)
Toczyski, P. i Broecher, J. (2021). Niemiecko-polskie doświadczenie, spotkanie, kontakt i dia-
log w europeizacyjnej pedagogice Andrzeja Jaczewskiego i Karla-Josefa Klugego.
Kwartalnik
Pedagogiczny, 66
(1), 124-152, Open Access, Download.
Toczyski, P., Broecher, J., and Painter, J. F. (2022). Pioneers of German-Polish inclusive
exchange: Jaczewski’s and Kluge’s Europeanization in education despite the Iron Curtain.
Prospects: Comparative Journal of Curriculum, Learning, and Assessment, 52
(3-4), 567-583,
Open Access, Download.
Trojanowska, T., Niżyńska, J., Czapłiński, P., and Polakowska, A. (Eds.) (2019). Being
Poland:
A new history of Polish literature and culture since 1918.
Toronto: University of Toronto Press.
Tussey, J. and Haas, L. (Eds.) (2021).
Handbook of research on supporting social and emotio-
nal development through literacy education
. Hershey, PA: IGI Global u.a.m.
Die Symbolik des Hauses und des Wassers in Olga Tokarczuks Roman
„Taghaus, Nachthaus“ (Dom dzienny, dom nocny)
Am Nachmittag fiel wieder ein mit Schnee vermischter Regen. Das Wasser sammelte sich auf
der lehmigen Erde, es bildete kleine Bäche und Rinnsale und verschwand irgendwo unter der
Hauswand. Ein unentwegtes Rauschen machte uns Sorgen, und wir stiegen mit einer Kerze in
den Keller hinab. Über die steinernen Stufen ergoss sich ein regelrechter Bach, spülte über den
Steinfußboden und floss dann tiefer unten wieder hinaus. Wir erkannten, dass das Haus auf ei-
nem Bachlauf stand, es war unvorsichtigerweise über fließendem unterirdischem Wasser ge-
baut, und jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Es blieb uns keine Wahl, wir mussten uns an
das dumpfe, unablässige Geräusch und die unruhigen Träume gewöhnen (9).
Po południu znowu zaczynał padać śnieg z deszcem. Woda zbierała się na glinastej ziemi,
tworzyła strużki i strumyki i płynęła z góry prosto na dom, wsiąkała w ściany i znikała gdzieś
pod murem. Ze świeczką zeszliśmy do piwnicy, zaniepokojeni nieustannym szmerem. Po ka-
miennych schodach płynął cały potok, przemywał kamienną podłogę i wypływał niżej, od
strony stawu. Zrozumieliśmy, że dom stoi na rzece, że zbudowano go nieopatrznie na
płynącej podziemnej wodzie i teraz nic już się z tym nie da zrobić. Można się jedynie
przyzwyczaić do ponurego, wiecznego szumu wody, do niespokojnych snów (9).
Marta kam nicht dazu, mir alles zu erklären. Denn es war die Zeit, in der man sich mit dem
Wasser befassen musste, das aus den Bergen herabgeströmt kam, man musste es in Rinnsalen
um die Häuser leiten, damit es nicht die Fundamente unterspülte. Man musste die Ufer des
Teichs befestigen, damit sie nicht in einer Überschwemmungsnacht endgültig vom Wasser zer-
stört wurden. Oder man musste die durchnässten Hosen und Schuhe trocknen (95 f.).
Nie zdążyła mi powiedzieć wszystkiego. Potem przyszedł czas zajmowania się płynącą z gór
wodą, kierowania jej strumyczkami poza domy, żeby nie podmywała fundamentów.
Wzmacniania brzegów stawu, zanim w noc powodzi woda zniszczy je raz na zawsze. Albo
suszenia przemoczonych butów i spodni (98).
Das Wasser floss von den Bergen herab durchs Haus, und da konnte auch die Keramikdrainage
nichts ausrichten. Doch er gab die Hoffnung nicht auf, dass man mit harter Arbeit und Einfalls-
reichtum alle Probleme würde meistern können… die Perückenmacherin im Nachbarhaus gab
ihm den Rat, sich nicht länger mit den Drainagerohren abzugeben und das Wasser einfach
durchs Haus fließen zu lassen. Sollte es ruhig im Frühling durch den Keller strömen und dann
über die Steintreppe nach unten. Sieh zu, dass es einen Ausgang hat, sagte sie. Bohre Öffnun-
gen in die Fundamente, dann kann es in den Teich abfließen (164).
Woda płynęła z gór przez dom i nie pomagały ceramiczne dreny. Ale wierzył mimo wszy-
stko, że ciężką pracą i zmyślnością można sobie poradzić ze wszystkim… a ich sąsiadka, pe-
rukarka, poradziła mu, żeby dał sobie spokój z drenami i puścił wodę przez dom, niech
płynie każdej wiosny przez piwnice, niech spływa po kamiennych schodach w dół. Zrób jej
ujście, mówiła, wykuj w fundamentach otwory, niech spływa do stawu (167).
Die Menschen sind innen wie Häuser. Sie haben Treppen, große Dielen, Flure, die immer zu
schwach beleuchtet sind, sodass man die Türen zu den Räumen nicht zählen kann, Zimmer-
fluchten, feuchte Kammern, gekachelte glitschige Badezimmer mit gusseisernen Wannen,
Treppengeländer, die straff sind wie Adern, Korridorknoten, Treppenabsatzgelenke, Gästezim-
mer, Durchgangszimmer, Durchzugszimmer, in die plötzlich ein Strom warmer Luft fährt,
Schlupfwinkel, Biegungen und Verstecke, Vorratskammern, in denen man die Vorräte verges-
sen hat (181).
Ludzie są w środku zbudowany jak domy—mają klatki schodowe, obszerne halle, sienie
zawsze oświetlone zbyt słabo, tak że nie można zliczyć drzwi do pokojów, amfilady po-
mieszczeń, wilgotne komory, wykaflowane śluzowate łazienki z żeliwnymi wannami,
schody z poręnczami naprężonymi jak żyły, węzły korytarzy, przeguby półpięter, pokoje
gościnne, pokoje przechodnie, pokoje przewiewne, w które wpada nagle prąd ciepłego
powietrza, schowki, załomy i skrytki, spiżarnie, w których zampomniano o zapasach
(186 f.)
Impulse zur Reflexion:
Olga Tokarczuk arbeitet in
Taghaus, Nachthaus
teils mit symbolischen Bezügen. Das Haus
ließe sich als Symbolisierung nicht nur des Körpers, sondern der Person insgesamt be-
trachten. Das Wasser könnte dagegen als Symbolisierung alles Emotionalen, aber mehr
noch des
Unbewussten
betrachtet werden, d.h. all dessen, was uns von unserem geistigen
und emotionalen Leben, aber auch unseren körperlichen Bedürfnissen, Lebensthemen und
Lebenskonflikten nicht direkt zugänglich ist. Gehen Sie da mit? Was sind Ihre eigenen
Deutungen und Auslegungen zu den oben stehenden Beschreibungen?
Gehen Sie die zitierten Passagen einmal Wort für Wort durch. Welche Bedeutungen lassen
sich in diesen Beschreibungen erkennen?
Geben Ihnen solche Textpassagen evtl. die Inspiration zu eigenem kreativ-schöpferischem
Arbeiten? Wie könnte das aussehen?
veröffentlicht am 27. Juli 2023