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Die demokratische Resilienz der Ukraine und der Beitrag der lokalen Selbstverwaltungsbehörden

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Abstract

Die Ukraine hat während der großangelegten russischen Invasion seit dem 24. Februar 2022 eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit bewiesen. Diese bezeichnen wir als „demokratische Resilienz“, weil sie von demokratischen Mechanismen unterstützt wurde. Diese drückt sich nicht nur im Engagement der ukrainischen Bürger:innen aus, die der Invasion auf vielfältige Weise Widerstand leisten, sondern auch in der Aufrechterhaltung der Staatlichkeit und Demokratie inmitten des größten Krieges auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Basierend auf Umfragedaten beleuchtet der folgende Text, welchen maßgeblichen Anteil daran die kommunalen Selbstverwaltungsbehörden haben und wie sie eine auf Bürgerbeteiligung und Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren basierende demokratische Resilienz ermöglichen.
Ukraine-Analysen Nr. 287, 14.07.2023 11
ANALYSE
Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen
Resilienz der Ukraine
Von Oleksandra Keudel (Kyiv School of Economics), Oksana Huss (Universität Bologna)
DOI: 10.31205/UA.287.02
Zusammenfassung
Die Ukraine hat während der großangelegten russischen Invasion seit dem 24. Februar 2022 eine bemer-
kenswerte Widerstandsfähigkeit bewiesen. Diese bezeichnen wir als »demokratische Resilienz«, weil sie von
demokratischen Mechanismen unterstützt wurde. Diese drückt sich nicht nur im Engagement der ukraini-
schen Bürger:innen aus, die der Invasion auf vielfältige Weise Widerstand leisten, sondern auch in der Auf-
rechterhaltung der Staatlichkeit und Demokratie inmitten des größten Krieges auf europäischem Boden seit
dem Zweiten Weltkrieg. Basierend auf Umfragedaten beleuchtet der folgende Text, welchen maßgeblichen
Anteil daran die kommunalen Selbstverwaltungsbehörden haben und wie sie eine auf Bürgerbeteiligung und
Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren basierende demokratische Resilienz ermöglichen.
Dezentralisierungsreform als Grundstein
Die 2014 eingeleitete Dezentralisierungsreform führte zu tiefgreifenden Veränderungen in der territorialen Organisa-
tion der Ukraine und schuf den Rahmen und die Bedingungen für die heutige Widerstandsfähigkeit. Dank des Zusam-
menschlusses von tausenden kleinen Gemeinden, sog. »Hromadas«, zu größeren Verwaltungseinheiten (sog. »amalga-
mierte Gemeinden«) sowie der Erweiterung ihrer steuerlichen und politischen Autonomie, stärkte diese Reform die
kommunale Selbstverwaltung in der Ukraine maßgeblich. Die Reform ermöglichte den kommunalen Selbstverwal-
tungen der Hromadas, höhere Steuereinnahmen zu erzielen und öentliche Dienstleistungen nach lokalen Bedarfen
und Prioritäten zu erbringen. Durch die Dezentralisierungsreform erhielten die kommunalen Selbstverwaltungsbe-
hörden somit die benötigten Befugnisse und Ressourcen, um direkt auf die Bedürfnisse ihrer Bürger:innen einge-
hen zu können. Durch die größeren finanziellen Kapazitäten, z. B. den Zugri auf 60 Prozent der Lohnsteuer und
auf 100 Prozent der Einkommensteuer, stiegen die Einkünfte der Hromadas von 1.7 Mrd. Euro in 2020 auf 8.4 Mrd.
Euro in 2021. Das gab auch den Anstoß zu einer transparenteren, rechenschaftspflichtigen lokalen Verwaltung, die
zunehmend oen für die Kooperation mit Bürger:innen geworden ist.
Die Verhängung des Kriegsrechts am 24.02.2022 als Reaktion auf die großangelegte russische Invasion hatte fun-
damentale Auswirkungen auf das mehrstufige Regierungssystem der Ukraine. Das Kriegsrecht setzte zahlreiche demo-
kratische Mechanismen außer Kraft bzw. schränkte sie massiv ein (siehe dazu auch Ukraine-Analysen 285). Dazu
gehören z. B. Wahlen, Proteste und Streiks. Für die Dauer des Kriegsrechts wurden regionale Militärverwaltungen
(RMA) anstelle der zivilen Staatsverwaltungen eingerichtet. Die RMA übernehmen seither die Organisation sozialer
Dienstleistungen und koordinieren, eng mit dem Militär, Evakuierungen und Verteidigungsmaßnahmen. Die Leiter
der RMA werden vom Präsidenten ernannt. Die Gemeindeoberhäupter erhielten zusätzliche Kompetenzen im Bereich
der Sicherheit. Sie können auf Sonderfonds zurückgreifen, um auf Notfälle in den Gemeinden zu reagieren. Auch
die Transparenz wurde eingeschränkt: Bestimmte Entwürfe von Kommunalverwaltungsgesetzen müssen nicht mehr
veröentlicht werden. Ebenso schränkte das Ministerkabinett der Ukraine (KMU) die Veröentlichung bestimmter
ozieller statistischer Daten ein. Obwohl die Beschränkungen später gelockert wurden, sind einige rechenschaftsre-
levante Daten, z. B. für Staatseinkäufe oder Gesetzesentwürfe immer noch nicht verfügbar. Zusammengenommen
können diese Änderungen zwar zu einer schnelleren und flexibleren Entscheidungsfindung führen, was im Kriegs-
fall unerlässlich ist, und sie lassen sich auch mit Sicherheitserwägungen rechtfertigen. Dennoch erhöhen diese Ände-
rungen letztlich den Ermessensspielraum der kommunalen Verwaltungen, was die Rechenschaftspflicht im mehrstu-
figen ukrainischen Regierungssystem, die durch die Dezentralisierungsreform erreicht wurde, wieder schwächt und
daher problematisch sein kann.
Eine Umfrage unter ukrainischen kommunalen Selbstverwaltungsbehörden zu Kriegszeiten
Im Folgenden berichten wir über ausgewählte Ergebnisse einer Umfrage unter Kommunalverwaltungen ukrainischer
Gemeinden (Hromadas), die zwischen dem 30. August 20. September 2022 durchgeführt wurde. Die Umfrage
wurde vom Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats (CoE-Kongress) und dem Verband der ukraini-
schen Städte in Auftrag gegeben. Die Stichprobe umfasste 241 Gemeinden, was 17 Prozent aller Hromadas in der
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Ukraine entspricht. Die Ergebnisse der Umfrage spiegeln vor allem die Praktiken und Einstellungen von Gemein-
den mit bis zu 50.000 Einwohner:innen wider (sowohl städtischen als auch ländlichen Typs), wozu 86 Prozent aller
untersuchten Gemeinden gehören. Von diesen befanden sich 192 außerhalb von Kampfgebieten, 12 waren zum Zeit-
punkt der Befragung von der russischen Besatzung befreit worden. Zusätzlich zur quantitativen Umfrage wurden
sieben qualitative Interviews und zwei Fokusgruppen mit öentlichen Bediensteten aus städtischen und ländlichen
Gemeinden, auf lokaler und regionaler Ebene und in Gemeinden mit unterschiedlicher Sicherheitslage (außer besetz-
ten Gemeinden), geführt.
Lokale Behörden als Akteure der demokratischen Resilienz
Der konventionelle Ansatz zur Beurteilung der Widerstandsfähigkeit eines Landes gegen einen militärischen Angri
von außen sowie mangelndes Wissen über die Ukraine hat fälschlicherweise – viele Expert:innen und Politiker:innen
dazu verleitet, die militärische Niederlage bzw. den Staatszerfall der Ukraine innerhalb weniger Tage nach Beginn des
russischen Angriskrieg vorherzusagen. Der konventionelle Ansatz beschränkt die Analyse der Widerstandsfähigkeit
eines Staates auf militärische Faktoren wie die Anzahl der Soldat:innen und militärische Ausrüstung. Entgegen vie-
len Erwartungen haben jedoch nicht nur die quantitativ und qualitativ unterlegenen Streitkräfte der Ukraine eek-
tiv gekämpft, sondern auch die Gemeinden und ihre lokalen Behörden haben sich aktiv gegen die Invasion zur Wehr
gesetzt, indem sie die mit der russischen Invasion verbundenen Krisen bewältigten. Dabei haben sie eine demokratische
Resilienz bewiesen, die von demokratischen Mechanismen der Kommunikation und der Zusammenarbeit mit der
Gesellschaft unterstützt wurde. Diese Resilienz hat auch dazu beigetragen, dass die Ukraine trotz der großangelegten
Invasion ihre Staatlichkeit aufrechterhalten konnte.
In unserer Stichprobe von Kommunalverwaltungen in 241 Hromadas hielten zwei Drittel ihren normalen Betrieb
trotz der umfassenden Invasion aufrecht. 28 Prozent haben ihren Betrieb nie eingestellt, und 43 Prozent kehrten inner-
halb von zwei Wochen nach Beginn der großangelegten Invasion bzw. ihrer Befreiung durch die ukrainische Armee
zum normalen Betrieb zurück. Darüber hinaus berichteten zwei der 12 befreiten Gemeinden in unserer Stichprobe,
dass sie ihre Tätigkeit nie eingestellt haben, was bedeutet, dass die lokalen Behörden auch hrend der Besetzung
funktionsfähig waren. Dies bezieht sich nur auf die Exekutivfunktionen und betrit die Bereitstellung von humani-
tärer Hilfe oder die Organisation von Evakuierungen.
Alle Gemeinden außerhalb der Kampfzone und diejenigen, die befreit wurden, bieten Verwaltungsdienste an, und
die meisten (72 Prozent) erbringen alle Dienstleistungen. Die Dienstleistungen werden oine über die administra-
tiven Dienstleistungszentren und ihre Zweigstellen sowie über die zentrale staatliche E-Services-App »Diia« erbracht.
Trotz weitflächiger Zerstörungen vor allem in Frontgebieten bieten die Hromadas weiterhin soziale Dienstleistun-
gen an. Im Bildungsbereich zum Beispiel waren nach Angaben des KSE-Instituts bis zum 1. September mindestens
1.270 Schulen und 786 Kindergärten zerstört oder beschädigt. Dennoch begannen 12.924 Schulen ihr Schuljahr zum
1. September 2022, 60 Prozent davon mit Präsenzunterricht, während der Rest online ging, so ein Bericht des ukrai-
nischen Bildungsministeriums.
Nach einem konventionellen Sicherheitsverständnis stellt ein größerer Entscheidungsspielraum der Exekutive eine
natürliche Reaktion eines sich im Krieg befindenden Staates dar, da man davon ausgeht, dass dies seine Handlungsfä-
higkeit verbessert. Im Gegensatz dazu zeigen die Umfrageergebnisse, dass die Selbstverwaltungen bei der Bewältigung
der kriegsbedingten Krisen ihre Entscheidungen in kollegialen Gremien (Exekutivausschuss und Hromada-Rat) fäl-
len, was ihre Entscheidungsfindung legitimiert. Die meisten Hromadas halten ihre Ratssitzungen in Präsenz ab oder
haben Regelungen für die hybride Teilnahme für Ratsmitglieder etabliert, die an der Front kämpfen.
Eine Meinungsumfrage der Ilko-Kutscheriw-Stiftung für Demokratische Initiativen (DIF), die im gleichen Zeit-
raum wie unsere Befragung durchgeführt wurde, deutet darauf hin, dass die Bürger:innen die Bemühungen der kom-
munalen Selbstverwaltungsbehörden registrieren. Hinter den staatlichen Institutionen, die für die Landesverteidigung
und Sicherheit zuständig sind, genießen die Kommunalbehörden das größte Vertrauen der ukrainischen Öentlichkeit:
63 Prozent der Ukrainer:innen vertrauen den Bürgermeister:innen und 60 Prozent den Räten, so die repräsentative
DIF-Umfrage von September 2022. Ein solch hohes öentliches Vertrauen zeigt, dass die Öentlichkeit das Engage-
ment der Kommunalverwaltungen für ihre Gemeinden und ihre Aufgaben als Vertreter der Gemeinschaft und Erbrin-
ger öentlicher Dienstleistungen anerkennt. Dieses Vertrauen ist wiederum entscheidend für die Aufrechterhaltung
des sozialen Zusammenhalts angesichts der russischen Invasion.
»Kooperative Regierungsführung« als Reaktion auf kriegsbedingte Krisen
Die Verwaltungspraktiken der ukrainischen Kommunalbehörden stellen die gängigen Vorstellungen von den Bezie-
hungen zwischen Bürger:innen und Staat in Ländern im Krieg in Frage. Demnach beschränkt sich die Rolle der Zivi-
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list:innen auf die von (potenziellen) Opfern, die geschützt werden müssen. Obwohl der Schutz nach wie vor von ent-
scheidender Bedeutung ist, neigen die ukrainischen Selbstverwaltungen dazu, bei der Lösung von kriegsbedingten
Krisen mit nichtstaatlichen Akteuren zusammenzuarbeiten. Die Selbstverwaltungsbehörden behandeln daher zivil-
gesellschaftliche Akteur:innen als potenzielle Partner:innen und erheben ihre Rolle von bloßen Subjekten oder Ser-
viceempfänger zu aktiven Akteur:innen.
Viele ukrainische Kommunalverwaltungen praktizieren eine kooperative Regierungsführung. Darunter versteht man
einen netzwerkbasierten Regierungsmodus, welcher anderen Akteuren wie Unternehmen, NGOs, Interessengruppen
etc. ermöglicht, mit Ressourcen und (lokalem) Wissen zu Lösungen beizutragen. Dazu gehört auch die Nutzung von
nationalen und internationalen Peer-Netzwerken, um knappe Ressourcen zu finden, Informationen zu verbreiten und
voneinander zu lernen, wie man sich in einer Krise anpassen kann. Viele Kommunen haben bereits vor der großen
Invasion Elemente der kooperativen Regierungsführung eingeführt. Die ukrainischen Städte Ternopil, Winnyzja und
Chmelnyzkyj erhielten beispielsweise weltweite Anerkennung für ihre Initiativen zum öentlichen Engagement und
wurden 2021 mit dem OGP Local Award ausgezeichnet.
Bereits etablierte partizipatorische Praktiken erleichterten wahrscheinlich die Zusammenarbeit mit verschiedenen
Interessengruppen bei der Bewältigung der kriegsbedingten Krisen. Fast jede zweite befragte Kommunalverwaltung
bezeichnete öentliche Anhörungen und Konsultationen als »sehr hilfreich«. Für ein Drittel ist ein sog. Beteiligungs-
haushalt hilfreich auch wenn 2022 keine Hromada einen neuen Beteiligungshaushalt auflegte. Darüber hinaus
haben einige Hromadas ihre bereits bestehenden Mechanismen für die Beteiligung der Öentlichkeit an die kriegs-
bedingten Herausforderungen angepasst. So begannen beispielsweise der Jugendrat von Ternopil und das Zentrum
für soziale Dienste »Rodynne Kolo« (»Familienkreis«) in der Hromada Biljajiwka bei Odesa, die humanitäre Hilfe
zu koordinieren. Diese Ergebnisse zeigen, dass eine oene Kommunikation mit den Beteiligten von Vorteil ist, da sie
Fähigkeiten vermittelt und eine Kultur der Zusammenarbeit fördert, die die humanitäre Nothilfe unterstützen kann.
Mit der flächendeckenden Invasion vertieften und erweiterten die ukrainischen Kommunalbehörden die koope-
rative Regierungsführung. Die meisten befreiten Gemeinden und Gemeinden außerhalb der Kampfzone (160 von
204 oder 78 Prozent) haben nach dem 24. Februar 2022 zusätzliche Initiativen zur Information und Einbindung der
Öentlichkeit ergrien. Im Vergleich zu 2021 erkennen mehr Hromadas, dass öentliches Engagement ihnen hel-
fen kann, die Krisen und den Ressourcenmangel zu bewältigen (siehe Grafik 1 unten). Fast alle Befragten gaben die
Koordinierung der Hilfen (92 Prozent) und die Versorgung gefährdeter sozialer Gruppen (91 Prozent) als Hauptziele
ihres öentlichen Engagements an.
Darüber hinaus ist die Zahl der Behörden, die mit ihrem öentlichen Engagement externe Ressourcen gewinnen
wollten, deutlich gestiegen (+33 Prozentpunkte im Vergleich zu 2021). Zum Beispiel organisierten mehrere Gemein-
den außerhalb der Kampfgebiete Lebensmittel und Ausrüstung für von Kampfhandlungen und Okkupation betrof-
fene Gemeinden, und die lokalen Behörden koordinierten diese Unterstützung.
Angesichts der hohen Sicherheitsbedrohung ist es naheliegend, dass sich die lokalen Behörden, sofern sie arbeiten
können, auf die Erbringung grundlegender Dienstleistungen konzentrieren. Die ukrainischen kommunalen Selbstver-
waltungen engagieren sich aber auch für ein funktionierendes Gemeinwesen und kümmern sich um die Beziehungen
zu den Gemeindemitgliedern, wobei die emen Vertrauen und Integrität besondere Berücksichtigung finden. Die
Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung ist für die meisten befragten Behörden (87 Prozent) nach wie vor eines der
Hauptziele für die Einführung von Initiativen zur Bürgerbeteiligung. Die kommunalen Selbstverwaltungen scheinen
sich für den Zusammenhalt der Gemeinschaft verantwortlich zu fühlen (88 Prozent) sowie für Aspekte des Wohlbe-
findens der Bevölkerung, wie die Verringerung von emotionalem Druck (85 Prozent).
Die Korruptionsbekämpfung scheint eine geringere Priorität zu haben. Allerdings ist der Wert im Vergleich zur
Basiserhebung von 2021 deutlich gestiegen: von 47 Prozent im Jahr 2021 auf 68 Prozent im Jahr 2022. Dies ist umso
bemerkenswerter, als durch das Kriegsrecht viele Anforderungen an Rechenschaftspflichten und Transparenz aufgeho-
ben wurden. In Mykolajiw und Charkiw nutzen die lokalen Behörden beispielsweise Customer-Relationship-Manage-
ment-Programme (CRM), um die humanitäre Hilfe zu verfolgen und Missbrauch zu verhindern.
Viele Hromadas beziehen die Öentlichkeit in die Lösung kritischer Probleme mit ein, zum Beispiel bei der Ver-
sorgung der Binnengeflüchteten mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs (51 Prozent) und der Unter-
bringung (23 Prozent), gefolgt von der Versorgung der Einwohner:innen mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen
Bedarfs (13 Prozent) (die Befragten konnten nur eine Option auswählen). Auf die Frage nach der Einbindung von
Interessengruppen in die Lösung der oben genannten kritischen Probleme gaben mehr Gemeinden als im Jahr 2021
an, Interessengruppen auf verschiedenen Ebenen einzubeziehen (siehe Grafik 2 und Tabelle 1 unten).
Die Kommunalbehörden scheinen den praktischen Nutzen einer Partnerschaft mit Interessengruppen bei der Umset-
zung von Lösungen für kriegsbedingte Probleme zu schätzen. Mehr Kommunen als im Jahr 2021 geben an, Interessen-
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gruppen als Ausführende oder zur Koordination in die Umsetzung politischer Entscheidungen einzubeziehen (bis zu
+30 Prozent, je nach Interessengruppe), wobei Unternehmer:innen (+30 Prozent) und Einwohner:innen (+27 Prozent)
den größten Zuwachs verzeichnen. Mehr Kommunalbehörden geben auch an, dass sie für ihre Entscheidungsfindung
Feedback von Unternehmer:innen einholen, gefolgt von Bürger:innen und NGOs (bis zu +25 Prozentpunkte, je nach
Interessengruppe). Dies deutet darauf hin, dass mehr Kommunen externe Stakeholder als Quelle hilfreicher Infor-
mationen oder Ressourcen wahrnehmen, was eine Grundlage für zukünftige kooperative Regierungsführung schat.
Schlussfolgerung
Die lokalen Behörden in der Ukraine bilden angesichts der großangelegten russischen Invasion das Rückgrat der
demokratischen Resilienz. Durch die kontinuierliche Arbeit der kommunalen Behörden unter großem Sicherheits-
risiko konnten die öentlichen Dienstleistungen für die Bürger:innen bedarfsgerecht erbracht werden. Sie wurden
zu legitimen Zentren für die Bewältigung von Herausforderungen und die Koordinierung von Ressourcen im Ein-
klang mit dem lokalen Kontext. Darüber hinaus gab es nur sehr wenige Kollaborationsfälle unter den Gemeindevor-
steher:innen. Beides weist auf die nachhaltige Bedeutung der Dezentralisierungsreform hin, die die politische Auto-
rität und die Steuerautonomie der Gemeinden gestärkt und die Ezienz erhöht hat.
Das Beispiel der Ukraine zeigt die Mechanismen der demokratischen Resilienz, die auf Bürgerbeteiligung und koope-
rative Regierungsführung zurückgreift. Der Beitrag der kommunalen Selbstverwaltungen zur Resilienz der Ukraine
stellt das herkömmliche, auf rein militärische Aspekte bedachte Sicherheitsdenken, in Frage. Stattdessen unterstrei-
chen die Ergebnisse die Bedeutung einer kooperativen Regierungsführung für die Bewältigung von komplexen Kri-
sen. Zu den neuen Denkansätzen für die nationale Sicherheit gehören (stärker horizontale) netzwerkbasierte, anstatt
vertikaler hierarchiebasierter Beziehungen zwischen Bürger:innen und Staat sowie eine partnerschaftsorientierte statt
einer kundenorientierten Philosophie.
Mit Blick auf die Zukunft sind die lokalen Behörden in der Ukraine fähige Partner für nationale Behörden und
internationale Akteure im Wiederaufbauprozess. Die internationale Gemeinschaft, z. B. die OECD, betont die Bedeu-
tung einer transparenten und rechenschaftspflichtigen Verwendung der Wiederaufbaumittel für die Infrastruktur. Die
lokalen Behörden verfügen über die Instrumente, um die Bedürfnisse ihrer Einwohner:innen zu ermitteln und auf-
grund ihrer Nähe zu den Bürger:innen sind sie auch gut in der Lage, von der aktiven ukrainischen Zivilgesellschaft
zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Schließlich machen diese Ergebnisse deutlich, dass selbst die beeindruckendsten Beispiele von zivilgesellschaftli-
cher Mobilisierung Institutionen erfordern, die dieses Engagement erleichtern und kanalisieren, um die Anstrengun-
Grak 1: Der Zweck von Iniaven, die Öentlichkeit über den Krieg zu informieren und zu mobilisieren (in %)
82
48
64
50
0
65
68
74
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83
85
87
88
91
92
0 %20 %40 %60 %80 %100 %
Einbeziehung unterschiedlicher Meinungen
Korruptionsbekämpfung
Einbindung der Betroffenen zur Problemlösung
Koordination von Freiwilligen
Gewinnung externer Ressourcen
Abbau von emotionalem Druck und Angst
Stärkung des Vertrauens in die Kommunalverwaltungen
Stärkung des gemeinschaftlichen Zusammenhalts
Erfüllung der Bedürfnisse gefährdeter sozialer Gruppen
Koordination von Angebot und Nachfrage für Hilfen (z. B. für
Armee, Binnenflüchtlinge)
2022 2021
Frage: Zu welchem Zweck hat die Kommunalverwaltung Ihrer Gemeinde nach dem 24.02.2022 Iniaven zur Informaon und/oder Beteiligung von Bür-
gern oder Unternehmen eingeführt? Wählen Sie, was ein der Haupt- oder der Nebenzweck war oder nicht relevant war. Die Abbildung zeigt nur »Haupt-
zweck«-Antworten.
Ukraine-Analysen Nr. 287, 14.07.2023 15
gen zu verstärken. Die Dezentralisierungsreform schuf einerseits Anreize und Opportunitäten für die lokalen Behör-
den, ihre Bürger:innen einzubeziehen, und andererseits nstige Bedingungen für die Bürger:innen, um die lokale
Umverteilung der öentlichen Ressourcen zu beeinflussen. Aus diesem Grund ist die nachhaltige Unterstützung und
Stärkung der Dezentralisierung in der Ukraine von entscheidender Bedeutung, insbesondere unter Kriegsbedingun-
gen und für den künftigen Wiederauf bau nach dem Krieg.
Bei diesem Text handelt es sich um eine übersetzte und gekürzte Fassung des Artikels »National Security in Local Hands? How Local
Authorities Contribute to Ukraine’s Resilience.«, veröentlicht am 25. Januar 2023 als PONARS Eurasia Policy Memo 825, https://
www.ponarseurasia.org/national-security-in-local-hands-how-local-authorities-contribute-to-ukraines-resilience/.
Über die Autorinnen:
Dr. Oleksandra Keudel ist Dozentin (Assistant Professor) an der Kyiv School of Economics. Sie forscht zur partizipa-
tiven Demokratie, Anti-Korruption, Wirtschaftspolitik und lokalen Selbstverwaltung in der Ukraine. Sie hat an der
Freien Universität Berlin promoviert und Forschungsaufenthalte an der George Washington University und der New
York University absolviert. Sie ist auch als Beraterin für internationale Organisationen wie UNESCO und den Euro-
parat tätig. Sie ist Autorin des Buches »How Patronal Networks Shape Opportunities for Local Citizen Participation
in a Hybrid Regime. A Comparative Analysis of Five Cities in Ukraine«.
Dr. Oksana Huss ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt BIT-ACT der Universität Bologna und
Dozentin am Forschungs- und Bildungszentrum für Korruptionsbekämpfung in der Ukraine (ACREC). In ihrer For-
schung konzentriert sie sich schwerpunktmäßig auf (Anti-)Korruption und Open Government, sowie digitale Techno-
logien und lokale Selbstverwaltung. Oksana Huss hat am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duis-
burg-Essen promoviert und mehrere Forschungsstipendien in Kanada, Frankreich, den Niederlanden und Schweden
absolviert. Sie war als Beraterin für europäische und internationale Organisationen wie den Europarat, die EU, die
UNESCO und das UNODC tätig. Darüber hinaus ist Oksana Huss Mitbegründerin eines Interdisziplinären Kor-
ruptionsforschungsnetzwerks (ICRNetwork) und Autorin des Buches »How Corruption and Anti-Corruption Policies
Sustain Hybrid Regimes: Strategies of Political Domination under Ukraine’s Presidents in 1994-2014«.
Lesetipps:
Darkovich, Andrii (2023). A year of experience: Governance processes and the territorial communities’ (hroma-
das’) resilience to wartime challenges. Vox:Uk r aine.
Huss, O. (2022). What Makes Ukraine Resilient in the Asymmetric War? KHK/GCR21, 4(1).
Huss, O., & Keudel, O. (2023). Survey on the needs and priorities of local authorities in Ukraine: e provision of
services in times of war and post-war recovery. Congress of Local and Regional Authorities of the Council of Europe.
Romanova, V. (2022). Ukraine’s resilience to Russia’s military invasion in the context of the decentralisation reform.
Stefan Batory Foundation.
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Grak 2: Engagement der Stakeholder bei der Lösung krischer Probleme nach Beteiligungsgrad (in %)
01020304050607080
Die kommunale Selbstverwaltung hat diesen Stakeholder proaktiv
über das Thema informiert
Dieser Stakeholder hat die kommunale Selbstverwaltung aktiv auf
die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, sich mit ihm zu diesem
Thema zu beraten
Die kommunale Selbstverwaltung hat aus eigener Initiative
Lösungsvorschläge von diesem Stakeholder eingeholt
Die kommunale Selbstverwaltung und dieser Stakeholder tauschten
sich systematisch über mögliche Lösungen aus (mehr als zwei
schriftliche oder mündliche Gespräche)
Das Feedback dieses Stakeholders hat die endgültige Entscheidung
maßgeblich beeinflusst
Dieser Stakeholder war an der Umsetzung der Entscheidung als
Ausführender oder Koordinator beteiligt
InformationBeratungDialog
Zusammen-
arbeit
Einwohner:in Unternehmer:in NGOs Binnenflüchtlinge Experte:in Keiner von ihnen
01020304050607080
Die kommunale Selbstverwaltung hat diesen Stakeholder proaktiv
über das Thema informiert
Dieser Stakeholder hat die kommunale Selbstverwaltung aktiv auf
die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, sich mit ihm zu diesem
Thema zu beraten
Die kommunale Selbstverwaltung hat aus eigener Initiative
Lösungsvorschläge von diesem Stakeholder eingeholt
Die kommunale Selbstverwaltung und dieser Stakeholder tauschten
sich systematisch über mögliche Lösungen aus (mehr als zwei
schriftliche oder mündliche Gespräche)
Das Feedback dieses Stakeholders hat die endgültige Entscheidung
maßgeblich beeinflusst
Dieser Stakeholder war an der Umsetzung der Entscheidung als
Ausführender oder Koordinator beteiligt
InformationBeratungDialog
Zusammen-
arbeit
Einwohner:in Unternehmer:in NGOs Binnenflüchtlinge Experte:in Keiner von ihnen
Die kommunale Selbstverwaltung hat diesen Stakeholder proaktiv
über das Thema informiert
Dieser Stakeholder hat die kommunale Selbstverwaltung aktiv auf die
Notwendigkeit aufmerksam gemacht, sich mit ihm zu diesem Thema
zu beraten
Die kommunale Selbstverwaltung hat aus eigener Initiative
sungsvorschläge von diesem Stakeholder eingeholt
Die kommunale Selbstverwaltung und dieser Stakeholder tauschten
sich systematisch über mögliche Lösungen aus (mehr als zwei
schriftliche oder mündliche Gespräche)
Das Feedback dieses Stakeholders hat die endgültige Entscheidung
maßgeblich beeinflusst
Dieser Stakeholder war an der Umsetzung der Entscheidung als
Ausführender oder Koordinator beteiligt
InformationBeratungDialog
Zusammen-
arbeit
Einwohner:in Unternehmer:in NGOs Binnenflüchtlinge Experte:in Keiner von ihnen
2021
2022
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Tabelle 1: Engagement der Stakeholder bei der Lösung krischer Probleme nach Beteiligungsgrad
2022 Einwoh-
ner:in
Unter-
nehmer:in
NGOs Binnen-
üchtlinge
Experte:in Keiner von
ihnen
Infor-
maon
Die kommunale Selbstverwaltung
hat diesen St akeholder proak v
über das Thema informiert
69 47 26 24 6 2
Beratung
Dieser Stakeholder hat die kom-
munale Selbstverwaltung akv auf
die Notwendigkeit aufmerksam
gemacht, sich mit ihm zu diesem
Thema zu beraten
29 21 21 31 8 23
Die kommunale Selbstverwaltung
hat aus eigener Iniave Lösungs-
vorschläge von diesem Stake-
holder eingeholt
49 31 23 30 9 15
Dialog
Die kommunale Selbstver-
waltung und dieser Stakeholder
tauschten sich systemasch über
mögliche Lösungen aus (mehr als
zwei schriliche oder mündliche
Gespräche)
37 38 28 24 11 24
Das Feedback dieses St akeholders
hat die endgülge Entscheidung
maßgeblich beeinusst
49 36 30 26 11 12
Zu-
sammen-
arbeit
Dieser Stakeholder war an der
Umsetzung der Entscheidung als
Ausführender oder Koordinator
beteiligt
44 34 29 8 620
Dierenz der Ergebnisse von 2022 zu denen
von 2021
Einwoh-
ner:in
Unter-
nehmer:in
NGOs Binnen-
üchtlinge
Experte:in Keiner von
ihnen
Infor-
maon
Die kommunale Selbstverwaltung
hat diesen St akeholder proak v
über das Thema informiert
−7 25 −3 −21 −9
Beratung
Dieser Stakeholder hat die kom-
munale Selbstverwaltung akv auf
die Notwendigkeit aufmerksam
gemacht, sich mit ihm zu diesem
Thema zu beraten
−30 11 −3 −4 4
Die kommunale Selbstverwaltung
hat aus eigener Iniave Lösungs-
vorschläge von diesem Stake-
holder eingeholt
−11 17 2 −20 −6
Dialog
Die kommunale Selbstver-
waltung und dieser Stakeholder
tauschten sich systemasch über
mögliche Lösungen aus (mehr als
zwei schriliche oder mündliche
Gespräche)
−30 23 8 −17 7
Das Feedback dieses St akeholders
hat die endgülge Entscheidung
maßgeblich beeinusst
12 25 18 −21 −21
Zu-
sammen-
arbeit
Dieser Stakeholder war an der
Umsetzung der Entscheidung als
Ausführender oder Koordinator
beteiligt
27 30 18 −17 −34
Anmerkung zu Grak 2 und Tabelle 1: n = 160 (befreite Gemeinden und Gemeinden außerhalb der Kampfgebiete, die be stägten, dass sie Iniaven zur
Informaon und Beteiligung der Öentlichkeit durchführen). Die Formen der Beteiligung sind nach dem Grad der Bürgerbeteiligung gemäß dem Kongress
des Europarats gruppiert. Die Zahlen im Tabellenteil »D ierenz der Ergebnisse von 2022 zu denen von 2021« zeigen die Veränderung in Prozentpunkten
(p.p.) im Vergleich zur Basiserhebung von 2021 (in der Erhebung von 2021 gab es die Kategorie »Binnenflüchtlinge« nicht). Blau unterlegte Tabellenzellen
kennzeichnen die wichgsten Veränderungen. Frage: Geben Sie an, welche Akteure wie an der Lösung des Problems beteiligt waren, das Sie in der vorhe-
rigen Frage genannt haben? Es konnten mehrere Akteure ausgewählt werden.
... For instance, the research by Datti and Kuppusamy (2023) discusses the role of digital resilience in national economic strategies but does not address the unique digital infrastructure challenges or cybersecurity threats faced by these countries. Keudel and Huss (2023) analyze Ukraine's resilience through the lens of democratic processes. They discuss how local governance has played a pivotal role in sustaining democracy and statehood during the war, emphasizing the engagement of citizens and cooperation with non-state actors. ...
Article
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This study examines the digital resilience of the Bucharest Nine, an Eastern European NATO alliance, and Ukraine amidst the challenges of digital transformation. It aims to identify factors influencing their ability to manage cyber threats, digital divides, and socio-economic disparities resulting from rapid digitalization. Using a mixed-methods approach, integrating quantitative analysis and qualitative insights, the research computes an index of digital resilience based on cybersecurity measures, digital infrastructure quality, and socio-economic impacts. Findings reveal varying resilience levels, with some countries demonstrating robust cyber defenses and advanced digital infrastructures, while others lag due to weaker capacities and socio-economic constraints. Comprehensive policy frameworks and inclusive digital strategies are emphasized as critical for enhancing resilience. However, the study’s focus on the Bucharest Nine and Ukraine may limit broader regional representation, and reliance on available data and potential biases in self-reported indices may affect comprehensiveness. Nonetheless, the insights can inform policymakers in developing targeted strategies to bolster digital resilience, emphasizing cybersecurity, bridging the digital divide, and promoting digital literacy and participation. This research contributes to understanding digital resilience by offering a comparative analysis of often overlooked geopolitical regions, combining various indicators to provide a holistic view of their digital landscapes.
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