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Praxis Schulpsychologie · Ausgabe 35 · Juli 2023
Psychosoziale Belastungen von Schüler*innen in Deutschland
Warum wir ein Versorgungsmonitoring brauchen
Angesichts multipler gesellschaftlicher Krisen steigt die psy-
chische Belastung von Kindern und Jugendlichen. Dies führt zu
einem erhöhten Bedarf an psychosozialer Versorgung.
Kindheit und Jugend sind zentrale Entwicklungsabschnitte für
lebenslange psychische Gesundheit: Etwa die Hälfte aller psy-
chischen Störungen nimmt ihren Anfang vor der Pubertät, etwa
drei Viertel vor dem 25.Lebensjahr. Es ist gut belegt, dass die
psychische Belastung von Schüler*innen in den letzten Jahren
angesichts multipler gesellschaftlicher Krisen, wie der COVID-19-
Pandemie, dem Krieg in der Ukraine, der Klimakrise sowie Infla-
tion und Armut noch weiter angestiegen ist. Aktuelle bundes-
weite Daten aus dem Herbst 2022 im Rahmen der COPSY-Studie
weisen darauf hin, dass eine*r von vier Schüler*innen sich als kli-
nisch bedeutsam psychisch belastet beschreibt. Gleichzeitig trifft
der dadurch erhöhte Bedarf an psychosozialer Unterstützung auf
ein seit Jahren unzureichendes Versorgungsangebot.
Die psychosoziale Versorgung von Kindern und
Jugendlichen an Schulen
Psychische Belastungen wirken sich neben vielen weiteren Ent-
wicklungsbereichen insbesondere negativ auf die schulische
Leistungsfähigkeit, den späteren Berufsabschluss und somit den
weiteren Bildungsweg von Heranwachsenden aus. Aufgrund der
komplexen Wechselwirkungen zwischen Bildung und psychischer
Gesundheit sollte das Handlungsfeld der psychosozialen Versor-
gung in Schulen eine zentrale Rolle einnehmen.
Psychosoziale Versorgung an Schulen heißt, sowohl psychische
sowie soziale Probleme frühzeitig zu identifizieren und geeignete
Unterstützungs- und Interventionsangebote anzubieten, als auch
im Sinne der primären Prävention psychischen Belastungen vor-
zubeugen. Schule als bedeutsamer Lebens- und Erfahrungsraum
von Kindern und Jugendlichen bietet dafür optimale Vorausset-
zungen. Zum einen verbringen Heranwachsende einen großen
Teil ihrer Zeit in Bildungseinrichtungen. Zum anderen bieten kon-
tinuierliche Beziehungen zwischen Heranwachsenden und Lehr-
kräften eine optimale Grundlage zur Erkennung von psychischen
und sozialen Herausforderungen. Dabei zeigt sich, dass über Prä-
ventionsangebote an Schulen besonders Kinder und Jugendliche
aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status erreicht
werden können, die häufig nicht den Weg in das psychosoziale
Versorgungssystem finden, aber ein hohes Risiko für psychische
Belastungen tragen.
Versorgungsstrukturen im Schulkontext bestehen aus Schul-
system-internen Angeboten wie Beratungsmöglichkeiten durch
dafür ausgebildete pädagogische Fachkräfte sowie Schulsozial-
arbeit. Zusätzlich bilden die Bereiche Schulpsychologischer Dienst,
Kinder- und Jugendhilfe, ambulante oder stationäre Therapieset-
tings sowie Präventionsangebote externer Kooperationspartner
Schulsystem-externe Versorgungsstrukturen. Aufgrund der föde-
ralen Struktur des deutschen Bildungssystems existieren jedoch
große bundeslandspezifische Unterschiede in der Verfügbarkeit
und Implementierung verschiedener psychosozialer Unterstüt-
zungsangebote. Dies erschwert eine Analyse der aktuellen bun-
desweiten Versorgungslage.
Trotz des deutlich erhöhten Bedarfs an psychosozialer Versorgung
als Folge multipler gesellschaftlicher Krisen schätzt gleichzeitig die
Mehrheit einer repräsentativen Stichprobe von Lehrkräften den
Umfang psychosozialer Angebote im September 2021 als gleich-
bleibend ein (Robert Bosch Stiftung, 2021). Nur eine Minderheit
gab ein erhöhtes Angebot seit der Pandemie an. 28Prozent der
Lehrkräfte berichteten sogar, dass es aktuell kein Beratungs-
angebot von ausgebildeten Fachkräften gebe und 23Prozent
schilderten das Fehlen von Angeboten durch Schulsozialarbeit.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich im Schulbarometer von April2022
ab. Darin gaben nur ca. zwei Drittel der 1.055 befragten Schul-
leitungen an, über Angebote der Schulsozialarbeit zu verfügen,
und nur 35Prozent schilderten verfügbare Angebote der Schul-
psychologie. Von diesen berichteten wiederum nur ca. die Hälfte,
dass die verfügbaren Angebote den Bedarf abdecken (Robert
Bosch Stiftung, 2023).
Besonders mangelnde Kapazitäten der Schulpsychologie sind
insofern bedeutsam, als dass die Schulpsychologie aufgrund ihres
breiten Kompetenz- und Tätigkeitsbereiches gesundheits- und
entwicklungsfördernd arbeitet und zur Stärkung und Weiterent-
wicklung der Gesundheit und Persönlichkeit von Heranwachsen-
den auf verschiedenen Ebenen beiträgt. Im internationalen Ver-
gleich zeigt sich, dass hinsichtlich geschätzter schulpsychologischer
Kapazitäten Handlungsbedarf besteht (Jimerson etal., 2009).
Die psychischen Belastungen von Schüler*innen sind in den letzten
Jahren weiter angestiegen
© Drazen Zigic – Freepik
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Praxis Schulpsychologie · Ausgabe 35 · Juli 2023
Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass der tatsächliche Bedarf
durch aktuelle Unterstützungsangebote nicht abgedeckt und die
Versorgungslage an Schulen als unzureichend eingeschätzt wer-
den kann. Umfassendere und genauere Daten, die die aktuelle
bundesweite Versorgungslage von psychisch belasteten Kindern
und Jugendlichen an Schulen abbilden, fehlen jedoch bislang.
Die ambulante psychotherapeutische
Versorgung von Kindern und Jugendlichen
Neben der niedrigschwelligen psychosozialen Versorgung und
Prävention an Schulen ist die psychotherapeutische Versorgung
von Schüler*innen wichtig, wenn psychische Belastungen zu psy-
chischen Störungen mit Krankheitswert werden. Dabei zeigt sich,
ähnlich wie bei den schulischen Versorgungsangeboten, eine ver-
gleichbar schlechte Situation: Bereits vor der Pandemie erhielten
weniger als zehnProzent aller psychisch erkrankten Kinder und
Jugendlichen eine Richtlinien-Psychotherapie, 50Prozent keiner-
lei fachspezifische Versorgung (Rabe-Menssen et al., 2021).
Der zentrale Grund für den eklatanten Mangel an adäquater
psychotherapeutischer Versorgung ist die bundesweit stark be-
schränkte Verfügbarkeit von Psychotherapieplätzen, welche zu
enormen und sehr belastenden Wartezeiten führt. Eine Befra-
gung von 324Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut*innen
im Mai bis Juli 2021 (Plötner etal., 2022) ergab, dass Kinder und
Jugendliche bereits vor der Pandemie im Durchschnitt 5,8Wochen
auf ein Erstgespräch und 14,4Wochen auf einen Psychothe-
rapieplatz warten mussten. In der Pandemie verdoppelten sich
diese Wartezeiten nahezu, obwohl zwei Drittel der befragten
Therapeut*innen angaben, ihre Behandlungsstunden noch weiter
erhöht zu haben. Im Verhältnis zur Lebensspanne eines Kindes
stellen diese Wartezeiten eine unzumutbare Belastung dar, welche
das Risiko von Chronifizierung psychischer Störungen, Entwick-
lungsdefiziten und dadurch beschränkter gesellschaftlicher Teil-
habe verstärkt.
Zusammenfassung und Ausblick
Insgesamt wird deutlich, dass Kinder und Jugendliche aktuell
ein enormes Ausmaß an psychischer Belastung erleben, jedoch
sowohl Präventionsangebote an Schulen als auch ambulante Ver-
sorgungsstrukturen im Bereich der Psychotherapie kaum verfüg-
bar sind.
Die Gründe für die schlechte Versorgungsituation sind vielfältig
und betreffen neben einer nicht ausreichenden gesellschaftlichen
sowie politischen Priorisierung des Wohls von Kindern und Ju-
gendlichen das Fehlen von systematischen Daten. So existieren
bundesweit weder aktuelle repräsentative Daten über die Häu-
figkeit von psychischen Erkrankungen in der Gruppe der Kinder
und Jugendlichen, noch werden Versorgungsangebote in der
Prävention, Wartezeiten auf eine psychotherapeutische Behand-
lung oder Versorgungsbarrieren systematisch und kontinuierlich
erfasst. Dieser eklatante Mangel an Daten trägt unter anderem
dazu bei, dass bisher keine eigene Bedarfsplanung im Bereich der
ambulanten Psychotherapie für Kinder und Jugendliche existiert.
Auch im Bereich von Schulen führen fehlende Daten dazu, dass
psychosoziale Angebote nicht bedarfsgerecht geplant werden und
als Folge unzureichend umgesetzt sind. Eine zentrale politische
Maßnahme zur dringend notwendigen Verbesserung der psycho-
sozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen ist daher das
Schaffen eines bundesweiten Monitorings, welches sowohl eine
adäquate Planung als auch eine kontinuierliche Kontrolle und da-
mit eine Verbesserung der Versorgungssituation erlaubt.
FAZIT
Die gestiegene psychische Belastung von Kindern und Jugend-
lichen in Deutschland kann nur unzureichend aufgefangen
werden. Gleichzeitig fehlen repräsentative und bundesweite
Daten zur Erfassung des psychosozialen Versorgungsangebots.
Kristin Wolf, Judith Bauch & Prof. Dr. Julian Schmitz
Abteilung für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie,
Universität Leipzig
Literatur:
Robert Bosch Stiftung (2021). Das Deutsche Schulbarometer Spezial:
Zweite Folgebefragung. Ergebnisse einer Befragung von Lehrerinnen und
Lehrern an allgemeinbildenden Schulen im Auftrag der Robert Bosch
Stiftung in Kooperation mit der ZEIT. Durchgeführt von forsa Politik- und
Sozialforschung GmbH. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.
Robert Bosch Stiftung (2023). Das Deutsche Schulbarometer: Aktuelle
Herausforderungen aus Sicht von Schulleitungen. Ergebnisse einer Be-
fragung von Schulleitungen allgemein- und berufsbildender Schulen.
Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.
Jimerson, S. R., Stewart, K., Skokut, M., Cardenas, S. & Ma lone, H. (2009).
How many school psychologists are there in each country of the world?
International estimates of school psychologists and school psychologist-
to-student ratios. School Psychology International, 30(6), 555–567.
Plötner, M., Moldt, K., In-Albon, T. & Schmitz, J. (2022). Einfluss der
COVID-19-Pandemie auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung
von Kindern und Jugendlichen. Die Psychotherapie, 67(6), 469–477.
https://doi.org/10.1007/s00278-022-00604-y
Rabe-Menssen, C., Dazer, A. & Maaß, E. (2021). Report Psychotherapie
2021 (2. Auflage Mai 2021).
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