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Naturmuseen können es besser:
Einfache Analysen und Visua li -
sie rungen von Sammlungsdaten
zur besseren Sichtbarkeit ihrer
wissenschaft lichen Bedeutung
Claudio Bozzuto und Hannes Geisser
Mitteilungen der Thurgauischen Naturforschenden Gesellschaft
12 Seiten • 4 Abbildungen • 1 Anhang • Frauenfeld 2023
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Zusammenfassung
Während der letzten 20 Jahre haben viele Studien den Wert von naturhistorischen
Sammlungen für die evolutionsbiologische und ökologische Forschung betont. Zu-
dem bieten diese Sammlungen unschätzbare Einsichten zum Verständnis der ak-
tuellen Biodiversitätskrise. Parallel hierzu stellt ihre Digitalisierung eine dringende
globale Herausforderung dar. Zwar haben diverse Initiativen bereits beeindruckende
Resultate erzielt, aber die Mehrzahl von regionalen Sammlungsdaten ist weiterhin
nur auf Anfrage erhältlich. Als Ansporn für Naturmuseen, ihre Daten aktiver und on-
line schneller verfügbar zu machen, fasst der vorliegende Artikel einige vorgängig
publizierte, forschungsrelevante räumlich-zeitliche Analysen und Visualisierungen
von Sammlungsdaten zusammen. Auf einer grundlegenderen Ebene zeigt der Arti-
kel weiter, dass die Notwendigkeit der Digitalisierung und Visualisierung von Samm-
lungsdaten sich vom Kernauftrag eines Naturmuseums ableitet: einen nachhaltigen
Umgang mit allen Lebensformen auf dem Planeten unterstützen.
Les musées d'histoire naturelle peuvent faire mieux : des analyses et des
visualisations simples des données des collections pour une meilleure
visibilité de leur importance scientifique
Au cours des 20 dernières années, de nombreuses études ont souligné la valeur des
collections d’histoire naturelle pour la recherche en biologie de l’évolution et en éco-
logie. De plus, ces collections offrent des perspectives inestimables pour comprendre
la crise actuelle de la biodiversité. Parallèlement, leur numérisation constitue un défi
mondial urgent. Certes, diverses initiatives ont déjà obtenu des résultats impression-
nants, mais la majorité des données de collections régionales ne sont toujours dis-
ponibles que sur demande. Afin d’inciter les musées d’histoire naturelle à rendre leurs
données plus activement et plus rapidement disponibles en ligne, le présent article
résume quelques analyses et visualisations spatio-temporelles des données de col-
lection publiées précédemment et pertinentes pour la recherche. A un niveau plus
fondamental, l’article montre également que la nécessité de la numérisation et de la
visualisation des données de collection découle de la mission principale d’un musée
d’histoire naturelle : soutenir une gestion durable de toutes les formes de vie sur terre.
Natural history museums can do better: Simple analyses and visualisations of
collection data for a better visibility of their scientific significance
Over the last two decades, many studies have emphasized the value of natural history
collections for ecological and evolutionary research. Furthermore, with the current
biodiversity crisis worsening by the day, these specimens offer invaluable insights to
better understand past and current environmental changes. In parallel, the digitiza-
tion of collections continues being an on-going and pressing endeavor at the global
scale. Despite several global digitization efforts being impressive, many regional data
collections continue being only available by request. As an incentive for natural his-
tory museums to more actively and rapidly share their data, we here summarize pre-
viously published, simple spatio-temporal analyses and visualizations of collection
data helpful to display NHC data in a research-oriented way. More fundamentally, we
argue that the effort to digitize collections and visualize these data in a research-orien-
ted way is dictated by the museum’s core purpose of informing the stewardship of life
on Earth.
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1 Einleitung
Gesamthaft lagern in Schweizer Naturmuseen schätzungsweise über 60 Millionen
Objekte (SCNAT 2019). Aufgrund des in Fachkreisen anerkannten wissenschaftli-
chen Nutzens von Museumssammlungen (z. B. Graham et al. 2004, Bakker et al.
2020) könnte die Forschung von einer quantitativen Aufbereitung und Analyse von
Sammlungsdaten in Naturmuseen stark profitieren. Forschende aus den Bereichen
Evolutionsbiologie, Klima- und Umweltwandel, Ökologie oder Naturschutzbiologie –
um nur einige zu nennen – erhalten durch die potenzielle Datenfülle ganz neue Mög-
lichkeiten, Prozesse und Veränderungen in Raum und Zeit zu analysieren. Dies könnte
nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der aktuellen Biodiversitäts-
krise liefern (z. B. Meineke et al. 2019). Ein Grund für die Eignung von Sammlungs-
daten zum Verständnis und zur Entwicklung von Gegenmassnahmen und zur Be-
kämpfung der Biodiversitätskrise ist das zeitliche Ausmass: Viele Sammlungen
überspannen (weit) mehr als ein Jahrhundert, und dies erlaubt Umweltzustände vor
mit denjenigen nach dem Einsetzen von einschneidenden anthropogenen Verände-
rungen zu vergleichen (z. B. Laussmann et al. 2021).
Bis heute sind jedoch viele der Sammlungsbelege noch nicht einmal digital erschlos-
sen und daher weder bekannt, noch sind sie für Forschungszwecke ausserhalb der
Museen verfügbar. Um diesen Missstand zu beheben, wurde 2018 in der Schweiz
unter Federführung der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften SCNAT
und des Verbands der naturwissenschaftlichen Museen und Sammlungen der
Schweiz und Liechtenstein musnatcoll.ch ein Projekt gestartet, welches das wert-
volle Wissen in den Sammlungen der Schweizer Naturmuseen koordiniert zutage
fördern soll (SCNAT 2019). Die geplante Digitalisierungsoffensive ist ein bedeuten-
der Schritt in die richtige Richtung. Nur: Wie lässt es sich verhindern, dass die Samm-
lungsdaten nicht auf einem Datenfriedhof zu liegen kommen – wie dies offenbar in
anderen Fachgebieten der Fall zu sein scheint (O’Dohoghue et al. 2018, Praz 2022).
Was können Naturmuseen dazu beitragen, dass ihre Sammlungsdaten in der Wis-
senschaftswelt wahrgenommen werden und Eingang finden in Anwendungsstudien
und Forschungsprojekte? Und wie verschaffen sich die Museen selber einen Über-
blick über das bereits Vorhandene, um ihre eigenen Sammlungen in Zukunft gezielt
weiterzuentwickeln? Mit Blick auf diese Fragen haben wir ein Projekt realisiert, das
sowohl Denkanstösse als auch konkrete und einfach umsetzbare Ideen liefert; die
entsprechende Originalpublikation (Bozzuto & Geisser 2022) steht auf der Plattform
ReserachGate zur Verfügung (QR-Code mit Link auf die Originalpublikation neben-
stehend). Im vorliegenden Artikel besprechen wir ausgewählte Beispiele daraus und
erörtern die Wichtigkeit und Dringlichkeit solcher Analysen und Visualisierungen.
2 Alles Unkenrufe? Ein Augenschein
Die Rolle von Naturmuseum «to deploy their vast research collections, systematics
expertise, and knowledge of the planet’s biodiversity to inform the stewardship of life
on Earth» (Krishtalka & Humphrey 2000, S. 611) wurde über die letzten 30 Jahre wie-
derholt in Erinnerung gerufen (z. B. Alberch 1993, Krishtalka & Humphrey 2000, Mei-
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neke & Daru 2021). Dies trifft auch auf die Digitalisierung von Sammlungsdaten zu.
Zwar startete der Prozess bereits in den 1970er-Jahren, aber Anfang unseres Jahr-
tausends waren erst 5 bis 10 % aller Sammlungsbelege weltweit digitalisiert (Gra-
ham et al. 2004). In der Schweiz sind es heute schätzungsweise 17 % (SCNAT 2019).
Ein weiterer Grund, dass Sammlungsdaten noch viel zu selten für an gewandte Stu-
dien und Forschungsprojekte benutzt werden, liegt in der Verfügbarkeit der (digi-
tali sier ten) Daten. Nur allzu oft müssen Forschende beispielsweise für regional aus-
gerichtete Projekte relevante Naturmuseen einzeln kontaktieren, welche dann die
Daten in Form von digitalen Tabellen zur Verfügung stellen. Danach folgt ein nicht
unbeträchtlicher Arbeitsaufwand, um die Daten zu homogenisieren, um die Frage
zu beantworten, ob diese Daten überhaupt für die Forschungsfrage hilfreich sind.
Führende Naturmuseen und globale Dateninitiativen haben in den letzten Jahren
verschiedene Digitalisierungsoffensiven gestartet. Wie sieht es also mit den Online-
Angeboten beispielsweise von GBIF (Global Biodiversity Information Facility)
oder den Naturmuseen in Berlin, London oder Paris aus? Es steht ausser Frage, die
Datenfülle ist überwältigend [1]. Einen schnellen Überblick betreffend Eignung der
Daten für die eigene Forschungsfrage gewinnt man hingegen kaum: Lange Listen
von Objektdaten und Weltkarten mit Pins – auch nach einer Datenfilterung – sind
keine hilf reichen Mittel, um beispielsweise ökologisch relevante Aspekte für die
eigene (regionale) Fragestellung intuitiv zu erfassen oder um zu neuen Denkansät-
zen inspiriert zu werden. Das Problem ist auch aus anderen Fachbereichen bekannt
(O’Donoghue et al. 2018, S. 276): Ziel der Visualisierung von Daten sollte es sein,
«[to] amplify congnition and accelerate discovery and communication». Naturmuseen
und globale Dateninitiativen müssten sich darum vermehrt bemühen, ihre verfüg-
baren Sammlungsdaten anwenderfreundlich zu präsentieren. Mit Bezug auf ver-
schiedene Anwendungsbereiche sollten sie relevante Voranalysen und Visualisie-
rungen zur Verfügung stellen, welche bereits online wichtige Fragen beantworten
oder zu neuen anregen. Natürlich ist es unmöglich, alle denkbaren Fragen, die For-
schende an Sammlungsdaten stellen könnten, von vornherein zu kennen. Es ist aber
nicht zuletzt im Interesse der Naturmuseen, der Forschergemeinschaft durch eine
entsprechende Aufbereitung und Visualisierung ihrer Sammlungsdaten deren Poten-
zial für aktuelle Fragestellungen aufzuzeigen und sie damit zur Nutzung der Daten
zu motivieren.
3 Als Beispiel die Schmetterlingssammlung des Naturmuseums
Thurgau
Die Sammlung des Naturmuseums Thurgau wurde 1859 durch die Thurgauische
Natur forschende Gesellschaft begründet und umfasst heute rund 115’000 Objekte.
Über 90 % der Sammlungsbelege sind digital inventarisiert. Damit ist dieses einzig-
artige Naturarchiv für die Forschung zugänglich. Entsprechend wird es von Forschen-
den aus der Schweiz auch regelmässig genutzt (z. B. Bozzuto 2020, Widmer et al.
[1] GBIF: https://www.gbif.org; Museum für Naturkunde Berlin: https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de;
Natural History Museum: https://www.nhm.ac.uk; Muséum national d’histoire naturelle: https://www.mnhn.fr/fr
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2021, Scheidegger 2017). Innerhalb der Museumssammlung ist die Schmetterlings-
sammlung mit rund 22’000 Belegen, vornehmlich aus dem Kanton Thurgau und der
Schweiz, einer der bedeutendsten Bereiche (Abbildung 1 und Anhang1). Für unser
Projekt haben wir beispielhaft diesen Sammlungsteil bearbeitet, der unter anderem
zu Forschungsfragen der Biodiversität von Bedeutung ist (z. B. Wagner et al. 2021).
Zusammenfassend schlagen wir in unserer Publikation (Bozzuto & Geisser 2022) for-
schungsrelevante Ideen zur Analyse und Visualisierung von drei Aspekten einer
Sammlung – oder von der vom Benutzenden online getroffenen Auswahl – vor: die
zeitliche Entwicklung und die Diversität der Sammlungsbelege sowie deren räumli-
che Verteilung. Im Folgenden möchten wir beispielhaft die letzten zwei Punkte
grafisch erläutern.
3.1 Räumliche Diversität abbilden
Im Vergleich zu den gängigen (Welt-)Karten mit Pins, welche Fundorte signalisieren
(siehe oben), erlaubt Abbildung 2 bereits forschungsrelevante Einsichten auf die
Sammlungsdaten. Für den Nordwesten des Kantons Thurgau zeigt die Karte flächen-
deckende Polygone, und jedes davon ist um einen einzelnen Fundort konstruiert.
Weiter sind die Polygone gefärbt: Dunkelgrün bedeutet eine tiefe Diversität der
Abbildung 1: Die Insektensammlungen ist mit knapp 50’000 Belegen der grösste Bereich der Samm-
lung des Naturmuseums Thurgau und wissenschaftlich besonders wertvoll. Rund die Hälfte davon,
rund 22’000 Belege, sind Schmetterlinge (Lepidoptera). Sie stammen zu einem grossen Teil aus dem
Kanton Thurgau. Foto: Eliane Huber.
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Abbildung 3: Der ausgewählte Kartenausschnitt des Kantons Thurgau zeigt die analysierten Fundorte als weisse
Punkte, und die gefärbten Linien verbinden benachbarte Fundorte. Hellere Linienfarben widerspiegeln eine höhere
Ähnlichkeit in der Artzusammensetzung (Farbskala rechts). Verbindungen mit sehr tiefen Ähnlichkeitswerten sind nicht
abgebildet.
Abbildung 2: Der ausgewählte Kartenausschnitt des Kantons Thurgau zeigt die analysierten Fundorte als weisse Punkte
(der rote Punkt ist die Stadt Frauenfeld), um welche herum flächendeckend Polygone gezeichnet sind. Die Farbe eines
Polygons widerspiegelt die Vielfalt der Sammlungsobjekte mit entsprechendem Fundort (siehe Farbskala rechts).
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Schmetterlingsgemeinschaft (gemessen mit Hill-Zahlen), gelb hingegen bedeutet
eine hohe. Bereits eine solche Onlinedarstellung könnte helfen, die Sammlungs-
daten schnell einzuschätzen: Be züglich räumlicher Vielfalt sind Regionen mit klei-
nen, hellen, angrenzenden Poly gonen vorteilhaft. Für diese Fundorte weist die Samm-
lung demzufolge eine hohe Diversität auf, und die Sammlungsbelege sind räumlich
dicht repräsentiert – beides spiegelt potenziell die Diversität im Feld wider (Bozzuto
& Geisser 2022 und Re ferenzen darin).
Eine weitere nutzbringende Möglichkeit ist der Vergleich der Diversität von verschie-
denen Sammlungen, von verschiedenen Regionen, oder einer anderweitig vom Be-
nutzenden online getroffenen Auswahl. Abbildung 3 knüpft von der Idee her an Ab-
bildung 2 an, wobei dieses Mal benachbarte Fundorte bezüglich der Vielfalt der
Schmetterling-Lebensgemeinschaften verglichen werden: Je heller eine Verbindung
zwischen zwei Fundorten ist, desto höher ist die Ähnlichkeit ihrer Diversität. Ob eine
hohe oder tiefe Gemeinsamkeit erwünscht ist, hängt von der Fragestellung ab: Soll
ein möglichst grosses homogenes Netzwerk ausschlaggebend sein, oder sind kon-
trastierende Fundorte erwünscht, um beispielsweise eine veränderte Landnutzung
zu untersuchen?
3.2 Diversität von Regionen oder Sammlungen vergleichen
Abbildung 4 schliesslich zeigt den Vergleich von vier Schmetterlingssammlungen
von vier Museen hinsichtlich Ähnlichkeit der Artenzusammensetzung, Fundorte und
Fundjahre (die Sammlung des Naturmuseums Thurgau wurde für diesen Zweck zu-
fällig auf vier Museumssammlungen aufgeteilt). Online könnte der Benutzende auch
verschiedene Regionen o. ä. miteinander vergleichen. Die Grösse der Kreise wider-
spiegelt im Beispiel die Grösse der Sammlungen und die gefärbten Verbindungen
zwischen den Sammlungen spiegeln die entsprechende Ähnlichkeit wider (Lesebei-
spiel s. Legende zu Abbildung 4).
Abbildung 4: Die analysierte Schmetterlingssammlung ist virtuell in vier unterschiedlich grosse Sammlungen (Kreis-
grössen der Ecken) aufgeteilt worden. Jede gefärbte paarweise Verbindung zwischen Sammlungen widerspiegelt die
Ähnlichkeit der Art- (links), Fundort- (mitte) und Fundjahr-Zusammensetzung (rechts), wo hellere Farben eine höhere
Ähnlichkeit anzeigen (Farbskala rechts). Je nach Fragestellung können beim Vergleich von Sammlungen oder von gan-
zen Regio nen hohe Werte (z. B. homogene, räumliche Ausdehnung) oder tiefe Werte (z. B. komplementäre
Artzusammen setzung) von Interesse sein.
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4 Der Kernauftrag von Naturmuseen: Version 2.0
Wie eingangs erläutert, ist die Datenverfügbarkeit für Forschende, die an naturkund-
lichen Sammlungsdaten interessiert sind, bis heute unbefriedigend. Viele Samm-
lungen warten noch auf ihre Digitalisierung, und nicht wenige der bereits digitali-
sierten Daten sind nur auf Anfrage an das jeweilige Museum erhältlich.
Datenvisualisierungen, wie sie in diesem Beitrag angesprochen wurden, lassen sich
auch nach längerer Suche selbst auf Webseiten der weltweit grössten Naturmuseen
nicht finden. Stellt sich die Frage, warum dies so ist. Denn mit Blick auf heute drän-
gende Fragen wie die Auswirkungen des Klimawandels oder den weltweiten Verlust
der Biodiversität sollte es im Interesse der Naturmuseen liegen, ihre umfangreichen
Samm lungsdaten nicht nur möglichst bald zu digitalisieren und online zu stellen,
sondern sie darüber hinaus auch auf eine forschungsorientierte Weise aufzuarbei-
ten (Meineke et al. 2019).
In unserer Studie (Bozzuto & Geisser 2022) schlagen wir Analysen und Visualisie-
rungen vor, die interessierten Forschenden eine schnelle Bewertung der Eignung
von Sammlungsdaten für ihre jeweilige Fragestellung ermöglichen. Aber nicht nur
Forschende, auch Mitarbeitende der öffentlichen Hand (z. B. Gemeinden, Kantone)
oder von Umweltbüros könnten dank solcher Analysen und Visualisierungen Samm-
lungsdaten vermehrt in Projekte und Beurteilungen miteinbeziehen. Darüber hinaus
sind die gezeigten Analysen und Visualisierungen auch für die Museen selber von
Nutzen, beispielsweise um den Status quo der eigenen Sammlung zu charakteri-
sieren, die künftige Sammlungsentwicklung gezielt zu lenken oder den Wert der
Sammlungen zu belegen (Krishtalka & Humphrey 2000, SPNHC 2018). Nebenbei be-
merkt: Obwohl sich unsere Studie auf Daten aus naturkundlichen Sammlungen kon-
zen trierte, sind die Methoden allgemein genug, um auch digitalisierte kulturhisto-
rische Sammlungen mit ihren Kulturgüterobjekten in ähnlicher Weise zu analysieren
und zu visualisieren.
Ein häufig gehörtes Problem im Zusammenhang mit der Online-Verfügbarkeit von
Sammlungsdaten ist die Datenqualität. Gerade historische Belege aus vergangenen
Jahrhunderten sind oftmals nicht georeferenziert oder es liegen – wenn überhaupt–
nur wenige Metadaten vor. Es ist verständlich, dass die Sammlungsverantwortlichen
nach «perfekten Daten» streben (Krishtalka & Humphrey 2000). Dennoch können–
sofern klar kommuniziert und entsprechend gekennzeichnet – auch «unvollkommene»
Daten nützlich sein, um eine wissenschaftliche Frage mit den entsprechenden sta-
tistischen Methoden zu untersuchen. Letztendlich wissen die an Sammlungsdaten
interessierten Forschenden selber am besten, welche Art von Daten sich für ihre Fra
-
gestellungen eignen. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben zudem statistische
Methoden für einen korrekten Umgang mit «nicht perfekten» Sammlungs daten ent-
wickelt (z. B. Daru et al. 2018, Meineke & Daru 2021, Ward 2012).
Die in diesem Beitrag angesprochenen Analysen und Visualisierungen verstehen wir
als Denkanstoss. Ziel sollte es letztendlich sein, solche Visualisierungen online und
interaktiv abrufbar zu machen. So könnten Forschende selber mit den Sammlungs-
daten entsprechende Visualisierungen durchführen und sie auf die Tauglichkeit für
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ihre Forschungsfragen hin überprüfen oder gewinnen Inspiration für erweiterte Frage-
stellungen. Werkzeuge, um Webanwendungen für interaktive Datenvisualisierungen
einzurichten, stehen bereits heute vielfältig zur Verfügung (siehe Hinweise in Boz-
zuto & Geisser 2022). Nicht zuletzt hat die Covid-19-Pandemie die Einrichtung zahl-
reicher zuverlässiger Webseiten angeregt, die epidemiebezogene Informationen und
Metriken auf der Grundlage verschiedener Datenströme zusammenfassen und be-
rechnen – einige erfolgreiche Webseiten wurden sogar von Privatpersonen oder For-
schenden in kürzester Zeit erstellt. Dennoch bleibt die Frage, wer solche Analysen
für Sammlungsdaten aus Naturmuseen umsetzt, bzw. entsprechende Webanwen-
dungen programmiert. Das benötigte Fachwissen dürfte in den wenigsten Museen
vorhanden sein. Es sind daher Partnerschaften gefragt. Partnerschaften mit exter-
nen Spezialistinnen und Spezialisten, wie sie das Naturmuseum Thurgau für diese
Studie eingegangen ist. Aber auch Partnerschaften unter den Naturmuseen, die ihre
Daten gemeinsam digitalisieren und in der hier aufgezeigten Art und Weise bereit-
stellen. Wichtig wären auch Kooperationen von Naturmuseen aus einer Region, die
gemeinsam Fördermittel für solche Sammlungsprojekte generieren. Regionale Ko-
operationen böten zudem den Vorteil, dass die kooperierenden Naturmuseen ihre
Sammlungen in Zukunft vermehrt koordiniert und aufeinander abgestimmt weiter-
entwickeln könnten. Schliesslich besteht auch die Möglichkeit, die eigenen digitali-
sierten Sammlungsdaten einer globalen Dateninitiative wie GBIF zur Verfügung zu
stellen, verbunden mit der Aufforderung, die Daten für Forschende und andere An-
wender gewinnbringend darzustellen.
Vor über 20 Jahren begannen Krishtalka & Humphrey (2000, S. 611) ihren Beitrag
mit einem Weckruf: «As natural history museums prepare to enter the twenty-first
century, much of their core still sits in the 1800s. Despite enormous expansion in col-
lections and exhibits during the past 100 years, many museums still resemble Victo-
rian cabinets of natural history. Many still behave as isolated island endemics under-
going genetic drift, eschewing the hybrid vigor and collaborative power of a community».
Glücklicherweise ist die Situation heute (ein wenig) anders. Dennoch: Naturmuseen
können es (noch) besser machen. Vor allem kleine bis mittelgrosse Museen mit
ihren regional ausgerichteten Sammlungen sollten keine falsche Bescheidenheit an
den Tag legen und auf die Initiative der grossen Institutionen warten. Gerade regio-
nale Daten sind von besonderer Bedeutung für das Verständnis globaler Verände-
rungen wie den Klimawandel oder den Verlust der Biodiversität (Pillotto et al. 2020,
Büttner et al. 2022). Naturmuseen sollten in Zukunft ihre Sammlungsdaten mit For-
schenden und anderen interessierten Personen öffentlich teilen, und zwar über Ta-
bellen oder das blosse Darstellen von Sammlungsfundorten auf einer Google-Map-
Karte hinausgehend. Nur so wecken sie bei Forschenden auch das Interesse und
die Motivation, mit den Sammlungsdaten vermehrt zu arbeiten, dies vor allem mit
Blick auf die He rausforderungen des Klimawandels und der Biodiversitätskrise im
Anthropozän.
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Adresse der Autoren:
Claudio Bozzuto
Wildlife Analysis GmbH
Oetlisbergstrasse 38
8053 Zürich
bozzuto@wildlifeanalysis.ch
www.wildlifeanalysis.ch
Hannes Geisser
Naturmuseum Thurgau
Freie Strasse 24
8510 Frauenfeld
hannes.geisser@tg.ch
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Anhang 1
Übersicht über die Lepidopteren-Sammlung des Naturmuseums Thurgau. Für die gesamte Samm-
lung und die sieben Familien, die in diese Studie einbezogen wurden, zeigt die Tabel le (von links
nach rechts): die Anzahl der Exemplare, den Anteil der in der Schweiz bzw. im Kanton Thurgau ge-
sammelten Exemplare (in Prozent, gerundet) und den Anteil der georeferenzierten Exemplare, die
in der Schweiz gesammelt wurden (in Prozent, gerundet).
Anzahl
Belege
Anteil Belege
Schweiz
(%)
Anteil Belege
Kanton Thurgau
(%)
Anteil
georeferenzierter
Belege Schweiz
(%)
Schmetterlinge (Leidoptera) 22’130 94 51 57
Tagfalter 4’221 88 31 33
Papilionidae 206 84 19 20
Pieridae 566 89 43 39
Nymphalidae 1’138 83 36 33
Satyridae 911 91 22 31
Lycaenidae 1’017 92 27 33
Hesperiidae 383 90 37 41