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Affekträume: Gefühlvolle Begegnung von Menschen und Natur

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Abstract

Emotionen, Gefühle, affektive Dynamiken: Die Anthropologie der Emotionen hat sich als ein Forschungsfeld etabliert, in dem interdisziplinär gearbeitet wird und das transnational verankert ist. 27 Autor:innen aus Sozial- und Kulturanthropologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie, den Neurowissenschaften und der Theaterwissenschaft skizzieren die Genese sowie gegenwärtige Entwicklungen dieser Forschung. Dieses Buch ist eine Einladung an Sozial- und Kulturanthropolog:innen, affine und affizierte Kolleg:innen, sich weiterhin im Zentrum der interdisziplinären Emotions- und Affektforschung zu positionieren. Die hier versammelten Beiträge stellen disziplinäre Trennungen in Frage: insbesondere den gefu?hlten Gegensatz zwischen gesellschaftlich hegemonialen Disziplinen (Psychologie, Psychiatrie, Neurowissenschaften, Biologie) und den eher performativen, diskursiven und narrativen Affect Studies an den kritischen Rändern der Wissenschaft (Sozial- und Kulturanthropologie, Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaft, Linguistik, Performance Studies, Philosophie, Soziologie). Dieses Buch positioniert die Sozial- und Kulturanthropologie als interdisziplinäres Paradigma, das auf Sozial-, Geistes- und Kunstwissenschaften zuru?ckgreift und Naturwissenschaften nicht per se ausschließt. Die Autor:innen Christoph Antweiler, Marium Javaid Bajwa, Kathrin Bauer, Klaus Behnam Shad, Michael J. Casimir, Hansjörg Dilger, Eva-Maria Engelen, Leberecht Funk, Eric Anton Heuser, Manfred Holodynski, Heidi Keller, Doris Kolesch, Edward D. Lowe, Hans J. Markowitsch, Sighard Neckel, Julia Pauli, Martin Rössler, Victoria K. Sakti, Christian von Scheve, Michael Schnegg, Franziska Seise, Jan Slaby, Achim Stephan, Rosalie Stolz, Ferdiansyah Thajib, Mechthild von Vacano, Edda Willamowski
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Michael Schnegg
Aekträume: Gefühlvolle Begegnung
von Menschen und Natur
Ich wusste immer noch nicht, wie ich mich verhalten sollte, wenn die Elefanten kommen.
Charles, Dave und ich saßen gemeinsam vor der Hütte und tranken Tee, als wir ein verdächtiges
Geräusch in der Ferne hörten.1 Knack, knack, dann wieder lange nichts. Stell das Auto weg,
hatte Charles neulich gesagt, „die Elefanten erkennen es, das Weiß macht sie aggressiv.“ Als ich
nachfragte, hatte er mir erklärt, dass die Ranger während der Apartheitszeit aus weißen Autos
auf die Elefanten geschossen hatten. Und, dass Elefanten ein sehr gutes Erinnerungsvermögen
besitzen.
Charles und Dave sind Khoekhoegowab-sprechende Pastoralisten, die in der Farmsiedlung
(engl. cattle posts) rund zehn Kilometer außerhalb von Fransfontein, einer Gemeinde im Nord-
westen Namibias leben.2 Seit zwei Jahrzehnten forsche ich gemeinsam mit meiner Frau und
Kollegin Julia Pauli dort (Pauli 2019; Schnegg 2021, 2021, 2019). Die Ansiedlungen in der
ariden Landschaft bestehen aus bis zu 15 Haushalten, und zwischen den Orten liegen oft einige
Kilometer. Ein wesentlicher Grund für die Siedlungsstruktur ist die pastorale Viehhaltung.
Die Haushalte sind Teil eines multilokalen Arrangements, das den ländlichen Raum mit der
Gemeinde in Fransfontein und den urbanen Zentren verbindet (Schnegg, Pauli und Greiner
2013; Pauli 2020). Wenn Haushalte translokal zusammenarbeiten, tun sie das auch, um die
Vorteile der unterschiedlichen Regionen zu verbinden. In den Städten gibt es Lohnarbeit, in
Fransfontein eine Schule, und die Farmen sind der Ort, an dem nicht nur die Tiere, sondern
auch nicht-schulpichtige Kinder von ihren Großeltern versorgt werden können (Greiner 2011;
Schnegg 2009).
Die Farmsiedlungen sind zudem auch temporäre Rückzugssorte für Zeiten, in denen es
Probleme gibt. So war es auch bei meinen beiden Nachbarn Dave und Charles. Dave war gut
60 Jahre alt und hatte Anspruch auf eine staatliche Grundversorgung. Früher, wenn ihm diese
Pension ausgezahlt wurde, hatte Dave damit in Khorixas, der nächstgelegenen Stadt, gerne
getrunken und immer wieder Probleme mit den Nachbarn oder der Polizei bekommen. Um
dem aus dem Weg zu gehen, hat er vor einem Jahr beschlossen, hier in das Haus eines Ver-
wandten zu ziehen und sich um dessen Tiere zu kümmern. Mit Charles war es anders und doch
ähnlich zugleich. Er arbeitete als Aushilfslehrer, damit hatte er immer auch längere Phasen ohne
Anstellung zu überbrücken. Das war auf der Farm sehr viel einfacher und preiswerter. Zudem
1 Alle Namen sind Pseudonyme.
2 Khoekhoegowab ist eine Sprache der Khoe-Kwadi-Familie mit vier (primären) Klicklauten (ǂ, palatal;
ǁ, lateral; ǀ, dental; !, alveolar), die wie andere Konsonanten funktionieren. Die Khoe-Kwadi-Sprachen
gehören zu den südafrikanischen Nicht-Bantu-Sprachen mit Klick-Phonemen, die zwar keine sprachliche
Einheit bilden, aber üblicherweise unter dem Oberbegri Khoisan subsumiert werden (Güldemann und
Fehn 2014: 2).
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konnte er sich dort um die Tiere kümmern und so seine in Fransfontein lebende Familie zu-
mindest notdürftig versorgen.
Wir waren für den Besuch der Elefanten gewappnet. Die letzten Wochen über hatten viele
Gemeinden in der Umgebung davon berichtet, dass sie wieder in der Gegend seien (siehe auch
Schnegg und Kiaka 2018). Um uns vorzubereiten, hatten wir in den vergangenen Tagen Haufen
aus vertrocknetem Ziegendung aufgeschüttet. Der Dung stammte aus dem Kraal, in dem die
Ziegen über Nacht schlafen, und ist zusätzlich noch mit deren Urin durchtränkt. Sobald wir das
Knacken der Bäume in der Nähe hörten, begannen wir, die Haufen zu entzünden. In wenigen
Minuten entfaltete sich ein fürchterlicher Gestank. Dung, Urin, ein stechender Geruch, der
die ganze Nacht in der Luft lag. Während der Vorbereitungen hatte ich Charles gefragt, wieso
wir nicht, wie andere Gemeinden, Bleche weiß anmalen und Zäune aus alten Getränkedosen
errichten würden. Während meiner Interviews hatte ich immer wieder gehört, dass weiße Farbe
Elefanten bei Nacht abschrecken würde, ebenso wie der Krach, der entsteht, wenn die Elefanten
in die für sie kaum sichtbaren Zäune laufen. Der Gestank allerdings, so Charles, der wirke am
besten. Im Fernsehen habe er gesehen, dass die Menschen in Kenia Chili verbrennen würden.
Während wir uns auf die Ankunft vorbereiten, ertönte ein Schuss. „Was war das?, fragte
ich. Das war mein Onkel, der hat doch ein Gewehr. Wenn die Elefanten kommen, dann
schießt er in die Luft. Das vertreibt sie auch. In der Vergangenheit haben die Mitarbeiter aus
dem Ministerium für Naturschutz (MAWF) die Elefanten mit Gewehren vertrieben. Das waren
oft so viele, fuhr Charles fort, „dass die Tiere ganz aggressiv geworden sind. Sie haben sie aber
in erster Linie von den kommerziellen Farmen vertrieben, von dort, wo die Weißen wohnen.
Hierher, in die ‚homelands, kamen sie nicht so oft. Hier waren wir dann allein mit den Tieren,
die sonst niemand haben wollte.
Das Geräusch der brechenden Äste und Bäume nahm zu und näherte sich uns, und ich
fragte mich, weshalb die Elefanten das tun. Nur so? Aus Freude, wie das Trompeten? Nein, er-
klärte Dave. In den Baumkronen wuchsen Panzen, die die Babys besonders gerne fraßen. Da
sie aber nicht darankämen, brachen die Mütter die Äste ab oder stießen ganze Bäume um. Wie
so oft in den letzten Wochen würde sich auch morgen wieder eine Schneise durch die Gegend
ziehen. Umgestoßene Bäume, abgebrochene Äste, die Spuren würden noch lange für Gespräche
sorgen. „Hier waren sie also auch.“ „Schau, wie stark sie sind.
Langsam wurde es dunkel, und wir wussten, dass es keine gute Idee wäre, einem Elefanten
nachts zwischen den Häusern zu begegnen. Erst vor wenigen Monaten war ein Mann aus Frans-
fontein von einem Elefanten getötet worden, als er nachts nach Hause ging. Die Umstände
blieben ungeklärt, der Mann hatte getrunken und die Tiere womöglich gereizt. Sicher war aber,
dass das Ministerium die 200 Euro, die es der Familie des Toten laut Gesetz als Entschädigung
zahlen musste, nicht gezahlt hatte. Als ich mit einer Verwandten des Verstorbenen darüber
sprach, sagte sie, man solle den Minister auf seiner privaten Farm mit all den Tieren einsperren.
Nur eine Nacht. Dann würde er lernen, dass seine Vorstellung von Naturschutz auch heißt, dass
man mit wilden Tieren zusammenleben muss.
Die Hütten in den Farmsiedlungen sind aus Ästen gebaut, die mit einer Mischung aus Sand
und Kuhdung verputzt werden, die Dächer mit Wellblech bedeckt. Die Hütten schützen vor
Sonne, Regen und Wind. Vor Elefanten schützen sie allerdings nur bedingt. Ich hatte Angst,
als ich aus meinem aus Maschendraht gefertigten Fenster in die Dunkelheit blickte. War es
sicher mit der Taschenlampe zu leuchten oder würde das die Tiere anlocken oder sogar aggressiv
machen? Als ich den Lichtkegel von Daves Lampe sah, war mir klar, was seine Antwort war.
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Aekträume: Gefühlvolle Begegnung von Menschen und Natur
Während ich dastand, meinte ich die Schatten von einem Elefanten auf mein Haus zukommen
zu sehen. Hatte ich wirklich keine Lebensmittel im Haus, die sie anlocken könnten? Im Auto,
das ich abseits geparkt hatte? Da lagen doch noch einige Bananen, allerdings ist das ja abge-
dichtet, sodass der Geruch nicht nach draußen dringen würde. Nach draußen, wo der Geruch
von verkohltem Ziegenkot zwischen den Hütten stand. Möglicherweise hätten Blechdosen ja
doch geholfen.
Während der Stunden, die ich in meiner Hütte wartete, hörte ich immer wieder Mag-
dalenas Hund bellen. Hatte sie nicht gesagt, dass sie ihn in die Hütte nehmen würde, damit er
die Elefanten nicht erschreckt? Und Magdalenas Kind? Irgendwann wurde es wieder still. Die
Herde schien in Richtung Wasserstelle zu gehen. Sie hatten Durst.
Gefühlvolle Begegnung
Dieser Bericht ist voller menschlicher Emotionen. Langeweile bedingt durch das Warten und
Ausharren, Angst, Ekel über den Gestank. Aber auch gefüllt mit Gefühlen, die wir den Elefan-
ten unterstellen, wie Freude, das Angewidert-Sein oder Durst. Spätestens seit den frühen Arbei-
ten der „Culture and Personality-Schule sind Emotionen ein wichtiges ema der Ethnologie
(Benedict 2005). Genau wie jede Gesellschaft eigene Verwandtschafts- oder Wirtschaftssysteme
hat, vertrat die Schule – mit ihren prominentesten Vertreterinnen Margarete Mead und Ruth
Benedict – den Ansatz, dass auch das Spektrum der erlebbaren Emotionen kulturspezisch ist.
Emotionen wurden als ethnologisches Spezialthema betrachtet, und Aufgabe der Ethnologie
sollte sein, diese kulturvergleichend zu beschreiben und zu theoretisieren (Röttger-Rössler 2002;
Lutz 1986; Beatty 2014).
In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Be-
handlung dieses emas nicht weitreichend genug ist. Wieso? Der lateinische Begriemovere,
aus dem sich Emotion ableitet, legt nahe, dass es sich um einen Prozess handelt, bei dem der
Mensch sich die Welt fühlend erschließt. Als ein Mittel, das der Mensch zur Welterschließung
nutzt, unterliegen Emotionen damit auch seiner Kontrolle. Somit ist er für seine Angst, seine
Verliebtheit etc. selbst verantwortlich. In den oben genannten Beispielen von Gefühlen ist es
aber so, dass die Entitäten der Welt uns zunächst ansprechen, uns azieren, was dann bei uns zu
einer emotionalen und oft unkontrollierten Regung führt. Um das Pathische und Azierende
in den Blick zu bekommen, hat sich in den letzten Jahren der Begri des Aektes durchgesetzt
(Slaby und von Scheve 2019; Rutherford 2016). Was ist damit gemeint? In der Form, wie er in
der Aektliteratur verwendet wird, wurde der Begri im 17. Jahrhundert von Baruch Spinoza,
einem niederländischen Philosophen portugiesisch-sephardischer Herkunft, geprägt. Gilles
Deleuze, Felix Guattari und ihr Übersetzer Brian Massumi haben den Begri dann seit den
1980er Jahren in den Sozialwissenschaften etabliert. Spinoza vertrat die Auassung, dass es nur
eine Substanz gibt und dass alle Entitäten Modikationen dieser Substanz sind. Er spricht von
dieser Substanz auch als „Gott“ oder „Natur. Wie werden diese Entitäten dann unterscheid-
bar? Für Spinoza sind alle Entitäten in ein Netz aektiver Beziehungen eingebunden, und das
Azieren und Aziert-Werden bestimmt, was eine Entität ist. Damit entwickelte Spinoza eine
relationale Ontologie, in der alle Entitäten durch die Eindrücke und die Spuren, die sie bei
Begegnungen mit anderen Entitäten hinterlassen, geformt werden (Slaby und Mühlho 2019).
Kurzum sind Aekte in Spinozas Worten „aections of the body by which the bodys power of
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acting is increased or diminished, aided or restrained, and at the same time, the ideas of these
aections“ (Curley und Spinoza 2020:154).
Der Vorteil einer durch Spinoza inspirierten relationalen Ontologie des Fühlens besteht
darin, dass sie das Gefühl aus der Spezialabteilung einer „Ethnologie der Emotionen“ heraus-
holt. In dieser Lesart sind Emotionen ein zeitlich gefasster und reektierter Moment, in dem
ich das, was mich aziert, in Konzepte oder Worte fassen kann (von Scheve und Slaby 2019,
43; Röttger-Rössler 2018; Massumi 2002). Aekte, im Gegenzug, sind immer da. Wir werden
immer aziert, sowohl dann, wenn wir das realisieren, als auch dann, wenn nicht. Wenn dem
so ist, muss das Aektive zur Grundlage des Verständnisses von Gesellschaft werden. Das ist ein
wesentlicher Punkt des Aective Turn, den wir in den letzten Jahren in der Ethnologie und den
benachbarten Wissenschaften beobachten können und zu dem der von Röttger-Rössler geleitete
Sonderforschungsbereich „Aective Societies“ einen so zentralen Beitrag leistet (Slaby und von
Scheve 2019).
Ziel dieses Beitrages ist es, ein Modell des „Aektraumes“ zu entwickeln, das für die Ana-
lyse von Mensch-Umwelt-Interaktionen geeignet ist. Das Modell wird unterschiedliche Prozesse
des Aektiven unterscheiden und sie so einer ethnographischen Analyse zugänglich machen.
Dabei handelt es sich um Aektbeziehungen, Atmospren und Stimmungen. Dabei werde ich
den Begri Aekt für die dyadische Ebene dieser Interaktionen verwenden. Aekte sind etwa
das Knacken der Bäume, der Schatten der Elefanten, das Bellen des Hundes und vieles mehr,
das mich in einer Situation leiblich aziert. Ein Aekt kann etwas auslösen, das man als Emo-
tion bezeichnet, muss er aber nicht. Das Gefühl, zu wissen oder nicht zu wissen, wie ich mich
zu verhalten habe, die Vertrautheit mit einer Situation, die ich schon mal erlebt habe und die ich
mir ausmalen kann. Die Sicherheit, die mir mein Glaube an Gott gibt. Das sind auch Ergebnisse
des Aziert-Werdens, die nicht bewusst reektiert werden und Teil des In-der-Welt-Seins sind
(Colombetti 2014). Aber nicht nur Menschen werden in dieser Form aziert, sondern auch der
Hund wird aziert, die Elefanten werden aziert, und viele andere Lebewesen stehen in wech-
selseitigen Aektbeziehungen; als Teil einer vernetzten mehr-als-menschlichen Welt azieren sie
und werden aziert (Schnegg und Breyer 2022).
Diese Beschreibungen und die ersten Analysen deuten bereits an, dass es beim Azieren
um mehr als dyadische Beziehungen geht. Es geht auch um ein Dazwischen, das wir in der
Gruppe und in einer Situation aufbauen. Das führt mich zu einer weiteren Ebene des Aekti-
ven, den Atmospren.
Der Morgen danach
Am Morgen fanden sich viele Bewohner bei der Wasserstelle ein. Wir hatten gehört, wie lan-
ge die Elefanten dageblieben waren, und wussten, dass dies kein gutes Zeichen sein konn-
te. Ich ging zur Wasserstelle, als ich die ersten Stimmen von dort vernahm. Charles, Dave
und Magdalena sowie eine Reihe weiterer Menschen standen vor der zerstörten Pumpe. Sie
unterhielten sich. Je näher ich kam, desto deutlicher wurde mir, was passiert war und was für
eine Atmospre herrschte. Sichtlich entsetzt schauten die Umherstehenden auf die zerstörte
Pumpe, die niedergerissene Windmühle, den zerbrochenen Wassertank. Sie gingen zwischen
der Infrastruktur hin und her und bestätigten sich in ihrem Entsetzen über die schier un-
endliche Kraft, die hier gewirkt hatte, und was das für sie bedeutete. Charles nahm einen
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Aekträume: Gefühlvolle Begegnung von Menschen und Natur
Teil der zerstörten Pumpe fragend in die Hand. „Die Pumpe, setzte er an, konnte aber
den Satz nicht beenden. Niedergeschlagenheit, Honungslosigkeit, Ungläubigkeit. All das lag
in der Luft. Während ich am Morgen noch eine gewisse Aufregung gespürt hatte, war es
diese kollektive Betroenheit, die mich überkam, als ich in die Mitte der Gruppe trat. In den
Gesprächen, die zögerlich entstanden, ging es darum, was man denn nun machen könne.
Alles war zerstört, und es würde Monate, möglicherweise Jahre, dauern, bis sie ihren Tieren
hier wieder Wasser geben könnten. In der Zwischenzeit blieb nur der Gang zu den Nachbar-
gemeinden, was in der Regel mit Konikten verbunden war. Wasser muss gepumpt werden,
und das kostet Geld.
Die Mitarbeiter:innen des Ministeriums würden sich nicht kümmern, stellte Dave resig-
niert fest. Die, so sagte er, fuhren nur in die Herero-Gemeinden (eine andere ethnische Gruppe
in der multiethnischen Region Fransfontein), in denen ihre Verwandten wohnten. „Und Char-
lotte, fuhr er fort, „die eigentlich Damara, also eine von ‚uns‘ ist, kümmert sich nur um ihre
eigene Farm.“ In der bedrückten Atmosphäre fand ich nur schwer meinen Platz. Ich war jetzt
Außenseiter. Auch wenn ich einige Tiere besitze und daher ebenfalls auf das Wasser angewiesen
bin, so war meine Abhängigkeit kaum mit der meiner Nachbarn vergleichbar. Ich bin Ethnologe
und arbeite an der Universität. Das ist allen bekannt.
Gestern war das noch anders. In der angespannten Atmosphäre des Wartens war ich ein-
begrien, wie alle anderen auch. Als Otto, ein weiteres Gemeindemitglied, mir gegenüber am
nächsten Morgen scherzend und ernsthaft zugleich kommentierte, dass diejenigen von uns, die
nicht beten könnten, es gestern Nacht gelernt hätten, da wusste ich, wovon er sprach. Wir saßen
alle in unseren Hütten, an einem Ort. Gegen Elefanten helfen Geld und ein Auto wenig. Die
Situation hatte mich in ähnlicher Weise aziert wie ihn. Und er wusste das.
Die Beschreibungen deuten auf eine Ebene des Aektiven, die mit den dyadischen Bezie-
hungen nur unzureichend erklärt werden kann. Hier geht es um die Netzwerke, die Summe der
aektiven Beziehungen, die sich in einer räumlich und zeitlich begrenzten Situation bilden. Und
es geht auch um ein Mehr, das sich zwischen die Knoten dieser Netze legt. Ein Dazwischen, das
in der Luft liegtund transzendiert. Ich werde für diese Ebene des situativen Dazwischen den
Begri der Atmospre verwenden (Riedel 2019; Slaby 2019). Wie in der (deutschsprachigen)
Soziologie (Gugutzer 2020; Albrecht 2017; Julmi 2017; Pfaller und Wiesse 2018) wird der Be-
griauch in der ethnologischen Literatur zunehmend genutzt (etwa Bens 2018; Wellgraf 2017;
Schroer und Schmitt 2018; Eisenlohr 2018; Stewart 2011; Riedel 2019; Bens 2022). In der fä-
cherübergreifenden Diskussion ist er dabei insbesondere mit den Arbeiten der Phänomenologen
Hermann Schmitz und Gernot Böhme verbunden (Schmitz 2016; Schmitz, Müllan und Slaby
2011; Schmitz 1974; Böhme 2017).
Schmitz hat gezeigt, dass die Vorstellung von Emotionen als eine im Menschen liegen-
de und sich entwickelnde Kraft ein kulturspezisches Konstrukt ist. Als solches ist es für die
phänomenologische Analyse irreführend. Schmitz plädiert im Gegenzug dafür, dass Gefühle
sehr viel besser als „räumlich ergossene Atmosphären“ zu verstehen sind. Damit haben sie ei-
nen besonderen ontologischen Status, den Schmitz mit dem Begri des Halbdings umschreibt
(Schmitz 2016). Damit will er ausdrücken, dass Atmospren im Raum liegen und uns von
dort azieren, d.h. angehen. Ob und wie wir sie aufnehmen (können), hängt mit unseren Dis-
positionen zusammen und damit, inwieweit unser Leib diese Beziehungen zu den Atmospren
ermöglicht und zulässt.
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In meinen Augen besteht der Vorteil für die ethnologische Analyse darin, dass bei Schmitz
jede Situation eine Atmosphäre hat. Damit sind fast alle Beobachtungen, die wir als Ethno-
log:innen machen, auch Beobachtungen von Atmosphären. Das hat eine gewisse Plausibilität.
In vielen bekannten ethnographischen Szenen werden diese auch als Atmosphären benannt, so
etwa bei Geertz, wenn er bei der Beschreibung seiner Ankunft und der Situation vor dem Hah-
nenkampf anmerkt, wie unangebracht es gewesen sei, sich jemandem „in such an atmosphere
zu nähern (Geertz 1973: 413).
Vor dem Hintergrund dieser Allgegenwärtigkeit des Atmosphärischen im ethnographischen
Erleben und Beschreiben ist es erstaunlich, wie spät der Begri explizit theoretisiert worden ist.
Damit meine ich, dass wir keine eorien davon haben, wie Atmosphären menschliches Han-
deln ermöglichen oder verhindern. Dazu einen Beitrag zu leisten, sollte Aufgabe der Ethnologie
werden.
Schuld
Die Stimmung kippt, die Atmosphäre schlägt um. Nachdem wir einige Zeit so dagestanden
und den Schaden betrachtet hatten, kam das Gespräch immer stärker auf das ema, wer an
der Situation Schuld trug. Klar, die Elefanten, deren Werk liegt ja vor uns. Aber wieso waren sie
überhaupt hier und wer ist eigentlich dafür verantwortlich, die Probleme, die sie verursachen,
zu lösen? Charles wiederholte in diesem Moment, dass es alles anders laufen würde, wenn sie
hier nicht Khoekhoegowab (die Sprache der Damara), sondern Otjiherero sprechen würden. Ein
unter Khoekhoegowab-Sprechenden häug zu hörender Vorwurf ist, dass die Damara von den
anderen ethnischen Gruppen benachteiligt werden und dass dies der Grund für ihre vergleichs-
weise schlechte ökonomische Stellung ist.
Der Vorwurf ist Ausdruck einer angespannten ethnischen Stimmung im unabhängigen
Namibia. Während die ethnische Zugehörigkeit bei der Vergabe staatlicher Aufträge und Leis-
tungen keine Rolle spielen soll (außer bei speziell auf die Überwindung von Benachteiligungen
ausgerichteten Politiken), sind sich die Mitglieder der kleineren ethnischen Gruppen einig, dass
das im Alltag anders ist.
Lasst uns nach Khorixas fahren, sagte Charles, „zum Ministerium. Wenn wir da nie-
manden treen, weil die Leute wieder in der Stadt herumhängen und sich amüsieren, dann
gehen wir gleich zu Achim, dem Mann von der Zeitung. Der wird uns zuhören.“ Die anderen
stimmten ein. In der Entrüstung drückte sich ein Unbehagen über, eventuell auch Neid auf
die sich herausbildende Mittelschicht aus. Das sind oft Menschen, die als Mitarbeitende der
Ministerien eine feste Anstellung und damit auch ein festes Gehalt haben. Das Gespräch klang
ähnlich schnell wieder ab, wie es aufgekommen ist. Die Fahrt nach Khorixas scheiterte schon
daran, dass niemand Diesel oder Geld hatte (bzw. zur Verfügung stellen wollte), um ein Auto
zu betanken.
In der Diskussion kommt noch ein zweites spannungsgeladenes ema hoch, von dem be-
reits weiter oben die Rede war. „Wer kam eigentlich auf die Idee, dass wir wieder mit den wilden
Tieren zusammenleben müssen? Das waren doch die Leute vom WWF, diese weiße Frau, erin-
nert ihr Euch noch? Die hat uns gesagt, wie schlimm es sei, wenn wir die Tiere unseren Kindern
nur noch im Bilderbuch zeigen könnten. So schlimm nde ich das gar nicht, sagte Magdalena.
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Das wäre doch besser als jetzt, wo wir die Tiere zwar sehen, aber so viele Probleme haben, dass
wir kein Essen für unsere Kinder kaufen können, weil wir den Schaden hier bezahlen müssen.
Die Niedergeschlagenheit und später auch die Aggressivität der Atmosphäre werden somit
auch von einer generellen Stimmung getragen, die sich dadurch auszeichnet, dass man sich
benachteiligt und zurückgelassen fühlt. Zum einen von denen in der Stadt, denen mit Arbeit,
der heranwachsenden Mittelschicht. Aber auch von den ehemaligen Kolonialherren und ihren
Institutionen, etwa dem Naturschutz, die auch nur ihr eigenes Interesse im Blick haben. Die
Verzweiung, die ich eingangs beschrieben habe, schlägt auch deswegen in eine Konfrontation
um, da sie auf einen Gegensatz zwischen „unsund „denen“ rekurrieren kann, der als eine sehr
viel grundlegendere Stimmung des Nicht-beachtet-Werdens in der Gemeinschaft verankert ist.
Ich werde diese aektiven Grundhaltungen, die anders als Atmosphären nicht situativ, d.h.
räumlich und zeitlich gebunden sind, als Stimmungen bezeichnen. Stimmungen zeichnen eine
Grundhaltung einer Epoche und einer Region aus. So sprechen wir in Deutschland von der
bleiernen Zeit, um die Stimmung der Nachkriegsjahre zu beschreiben, und der „Wendestim-
mung“ vor dem Zerfall der DDR. Mit der weiten räumlichen und zeitlichen Denition schließe
ich mich einer Verwendung an, die unlängst von Borneman und Ghassem-Fachandi (2017)
vorgeschlagen wurde und die die Autoren so eektiv für die Analyse der „Willkommenskultur
in Deutschland verwendet haben (Borneman und Ghassem-Fachandi 2017).
Aekträume
In den letzten Jahren haben Philosophen eine Reihe sehr produktiver Versuche unternommen,
die Komplexität aektiver Konstellationen zu beschreiben. Dazu zählen aective arrangements
(Slaby, Mühlho und Wüschner 2017) und situated aectivity (Colombetti und Krueger 2015).
Diese Vorschläge verschmelzen oft mit Elementen dessen, was ich hier als Aektbeziehungen,
Atmospren und Stimmungen diskutiert habe. Sie haben sich als geeignete Analysewerkzeu-
ge herausgestellt, um konkrete, meist kleinräumige Situationen zu analysieren, wie etwa den
Arbeitsplatz (Mühlho 2019). Diese Konzepte sind in meinen Augen jedoch weniger gut ge-
eignet, die Verbindungen mit gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen in den Blick zu be-
kommen. Diese Einbettung in das Politische, die in Gesellschaftskritik münden kann, ist für
die Ethnologie aber zentral.
Ich plädiere deswegen dafür, die Begrie grundsätzlich voneinander zu trennen und sie
als Skalen zu begreifen, mit denen man das Aektive auf unterschiedlichen Ebenen beschrei-
ben kann. Skalen verstehe ich dabei als verschieden klein- oder großteilige Maßstäbe, einem
Maßband gleich, mit dem man Länge wahlweise in Zentimetern, Dezimetern oder Metern
beschreiben kann. Für das Gesamtphänomen des Aektiven schlage ich den BegriAekt-
raum vor. Betrachten wir die Konzepte von Aektbeziehungen, Atmospren und Stimmungen,
so unterscheiden sich diese drei Skalen entlang von drei Dimensionen: der Anzahl der Entitäten,
Raum und Zeit. Dabei lässt sich sagen, dass von dyadischen Aektbeziehungen über Atmosphä-
ren hin zu Stimmungen die Zahl der Entitäten sowie die zeitliche und räumliche Ausdehnung
zunehmen. Aektive Beziehungen involvieren wenige Einheiten, und die Beziehung ist zeitlich
und räumlich eng gefasst. Das ist bei einer Stimmung anders, die sich über viele Einheiten,
einen großen Raum und eine lange Zeit erstrecken kann. Die Atmosphäre liegt dazwischen.
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Durch diese Trennung werden Prozesse voneinander abgrenzbar, was für die Beschreibung
und den Vergleich hilfreich ist. Darüber hinaus lassen sich Dynamiken zwischen den Skalen
beschreiben. So lässt sich etwa fragen, welche dyadischen Aektbeziehungen zu welchen At-
mosphären beitragen, wie Atmosphären Stimmungen beeinussen und wie allgemeinere Stim-
mungen wiederum das konkrete Erleben eines Aziert-Werdens ermöglichen und legitimieren.
Diese Dynamiken können auch in die umgekehrte Richtung erfragt werden.
Dabei ist mir wichtig, dass die drei Konzepte nicht als Ebenen im Sinne von Mikro, Meso,
Makro verstanden werden. Sie stellen vielmehr Verbindungen in einem System – dem Aekt-
raum –dar, das ich als Dreieck begreifen möchte. Die Beziehungen sind nicht gerichtet, sondern
wechselseitig. Dieses Modell deute ich in Abbildung 1 an. Betrachten wir das Dreieck im Uhr-
zeigersinn und beginnen mit der kleinsten Skala, den Aektbeziehungen.
Dyadische Aektbeziehungen Atmosphären: An dem hier beispielhaft diskutierten ethno-
graphischen Fall kann man gut nachvollziehen, wie mehrere dyadische Aektbeziehungen in
einer Situation ein Netzwerk bilden. Schuss – ich, Elefant – Hund, Wasser –Elefant. An dem
Abend, aber auch an dem Morgen danach baut die Atmosphäre auf diesen gemeinsam erlebten
Beziehungen auf. Sie geht aber auch darüber hinaus. Das Dazwischen, das, was „in der Luft
liegt, lässt sich nicht auf die Entitäten und Beziehungen reduzieren, zwischen denen es liegt. At-
mosphären bekommen dann eine Eigenständigkeit. In der so geschaenen Atmosphäre werden
aber auch konkrete aektive Beziehungen in einer bestimmten Form bedeutsam. Der Schatten,
den ich aus meinem Fenster sehe, der Schuss in der Ferne – beides würde anders wirken, wenn
wir uns nicht in genau dieser Situation und in dieser Atmosphäre benden würden.
Atmosphären – Stimmungen: Über die Beziehungen von Atmosphären und Stimmungen habe
ich schon gesprochen. Es zeigt sich sehr deutlich, dass die konkrete Atmosphäre in der Situation
durch eine allgemeine Stimmung geprägt ist. Das grundlegende Gefühl des Abgehängt-Seins
Abb. 1 Modell eines Aektraums
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durch die Entwicklungen seit der Unabhängigkeit, die Vorteilsnahme ethnischer Gruppen und
der urbanen Mittelklasse, all das trägt dazu bei, dass sich viele Bewohner in den von mir be-
schriebenen Gemeinden nicht gehört, nicht geachtet fühlen. Diese Grundstimmung charakte-
risiert eine in vielerlei Hinsicht marginalisierte Region und ist wahrscheinlich auch in anderen
Teilen der Welt anzutreen, in denen radikale Veränderungen Lebenswelten neu strukturiert
haben. Ein Vergleich mit einigen Gegenden in den neuen Bundesländern, dem Rust Belt in den
USA und anderen Regionen drängt sich hier auf.
Aber es geht auch in die andere Richtung – entgegen dem Uhrzeigersinn in der Abbil-
dung. Während diese hier gemeinsam erlebte Situation nicht so sehr zu einem Umschwung der
Stimmung in der Region oder in Namibia beigetragen hat, so hat eine Berichterstattung über
vergleichbare Ereignisse ein großes mediales und gesellschaftliches Echo ausgelöst. In einem
Fall, bei dem im Jahr 2018 unweit von Fransfontein 16 Tiere von einem Leoparden gerissen
worden sind, hat die Berichterstattung in den Medien dazu beigetragen, dass in Namibia ein
Ungerechtigkeitsgefühl entstanden ist, welches sich in der Stimmung ausdrückt, dass diese
Ignoranz staatlicher Stellen so nicht mehr haltbar ist.3 Das war auch ein Auslöser dafür, dass die
zu zahlenden Kompensationsbeträge merklich angehoben wurden und dass diese inzwischen
auch häug ausgezahlt werden.
Stimmungen – dyadische Aektbeziehungen: Ganz ähnliches lässt sich über die Silvesternacht
in Köln sagen, die in den Analysen von Borneman und Ghassem-Fachandi (2017) eine zentrale
Rolle einnimmt. Auch hier haben Ereignisse und ihre mediale Inszenierung –in dem Fall mit
aktiver Unterstützung durch die rechte Presse und Szene –dazu beigetragen, dass die Stimmung
gegenüber Einwandernden sich geändert hat. Dass die sich ändernde Stimmung konkrete Aus-
wirkungen auf das Handeln der Akteure hatte, steht außer Frage. Stimmungen bestimmen
damit also auch, was uns wie azieren kann und darf. Was vorstellbar und legitimiert ist. Das
Beispiel Migration legt nahe, dass und wie Aektbeziehungen Stimmungen erzeugen. Das in-
zwischen fast ikonographische Sele der damaligen deutschen Bundeskanzlerin mit einem syri-
schen Migranten, der am Strand liegende ertrunkene syrische Flüchtlingsjunge Alan Kurdi, die
Gräber in Butscha. Diese Bilder azieren in ungeheurem Maße und haben dazu beigetragen,
dass sich die Stimmungen hinsichtlich bestimmter emen gewandelt haben.
Durch diese Einbindung unterschiedlicher aektiver Ebenen wird eine Verbindung zu
übergeordneten gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen möglich. Es wird analysierbar, wie
Regime, wie der Markt, der Krieg, die Nachkriegszeit, die Unabhängigkeit, die Herausbildung
von ethnischen Gruppen und Klassengrenzen, soziale Bewegungen, wie der Umwelt- oder der
Tierschutz und vieles mehr dazu beitragen, wie die gesellschaftliche Stimmung ist. Ohne die-
se Ereignisse würden konkrete Stimmungen zu einer bestimmten Zeit nicht existieren. Diese
Stimmungen tragen auch dazu bei, wie wir im Konkreten aziert werden und wie wir dies
rationalisieren. Das Modell des Aektraums ermöglicht eine politische Analyse und Kritik, die
in meinen Augen zukunftsweisend für die Aektforschung ist. Wir können und müssen fragen,
wie diese Ereignisse und Regime unser In-der-Welt-Sein verändern und wie sich das auf unsere
Beziehung zur Welt auswirkt. Da diese Ereignisse gestaltbar sind, ist auch der Aektraum teil-
3 https://www.namibian.com.na/173233/archive-read/Khorixas-farmer-scared-after-losing-16-livestock
(abgerufen am 20.07.2022)
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Michael Schnegg
weise Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses. Damit önet sich eine Tür für die
gesellschaftliche Kritik, die der Ethnologie der Emotionen früher nicht zur Verfügung stand.
Das Modell erlaubt es aber nicht nur zu fragen, wie sich diese Strukturen auf den Aekt-
raum auswirken, sondern auch, welche Auswirkungen der Aektraum hat. Etwa auf Handlun-
gen, wie beispielsweise, dass ich meine Vorräte vernichte und mein Auto umstelle oder Charles
Vorschlag, dass man jetzt nach Khorixas fahren und sich beschweren solle. Dabei geht es prin-
zipiell um die Frage, welche Handlungen Aekträume ermöglichen und welche sie erschweren
oder verhindern. Zu diesen Auswirkungen zählen aber auch konkret Emotionen, die man als
temporäre und bewusst reektierte Momente des Aziert-Werdens betrachten kann, wie Birgitt
Röttger Rössler so überzeugend argumentiert hat (Röttger-Rössler 2018).
Schluss
Das Ziel der ethnologischen Aekttheorie sollte in meinen Augen sein, geeignete Konzepte
zu entwickeln, die es erlauben, das Aektive zu „mainstreamen“ und es damit neben dem Ko-
gnitiven und dem Sozialen als eine dritte Kategorie der Interaktion zwischen den Entitäten
der Welt zu etablieren. Um das zu tun, brauchen wir Konzepte, die über die grundlegenden
philosophischen Erkenntnisse von Spinoza und seiner relationalen Ontologie hinausgehen und
es erlauben, Situationen und Prozesse zu fassen und vergleichbar zu machen. Diese Konzepte
sollten es auch ermöglichen, die Dynamiken zwischen den Prozessen in den Blick zu nehmen.
Aekte, Atmosphären und Stimmungen lassen sich dabei als drei ineinander verochtene Pro-
zesse beschreiben, die auf unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Skalen operieren. Durch
die Verschränkung, die ich als Dreieck theoretisiere, wird nicht nur deutlich, wie sie sich gegen-
seitig beeinussen, sondern auch, welche historischen und politischen Rahmenbedingungen sie
strukturieren, auf welche sie wiederum wirken und welchen Aektraum sie schaen.
Danksagung
Ich danke Julia Pauli, Inga Sievert, Robert Pultke, Jonas Bens und Edward Lowe für die
anregenden Diskussionen zu den hier behandelten emen und die konstruktive Kritik des
Manuskriptes. Ohne die Unterstützung der Menschen in Namibia, bei denen ich seit rund
20 Jahren forsche, hätte diese Arbeit nicht stattnden können. Die Forschung wurde durch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als Teil der Exzellenzinitiative – EXC 2037
CLICCS – Climate, Climatic Change, and Society“ – Project Number: 390683824, durch das
DFG-Projekt „Wetterwissen“ (423280253) und durch das DFG-Projekt „Lokale Institutionen
in globalisierten Gesellschaften (LINGS)“ (154113741) nanziert.
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