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Botanische Gärten und Kolonialismus
Positionspapier:
Botanische Gärten, Pflanzensammlungen und
Kolonialismus
Weltweit gibt es ca. 2500 Botanische
Gärten, von denen die weitaus meisten im
Globalen Norden liegen. In den dortigen
Botanischen Gärten stammt ein großer Teil
der lebenden Pflanzen und Herbarbelege
aus dem Globalen Süden, was umgekehrt
keineswegs der Fall ist. Diese ungleiche
Verteilung der Sammlungen lässt sich direkt
auf die Geschichte der Botanischen Gärten
zurückführen, die – wie die der westlichen
Wissenschaft insgesamt – eng mit dem
Kolonialismus verbunden ist. An der
Aufarbeitung dieses kolonialen Erbes der
Botanischen Gärten möchte sich der
Verband Botanischer Gärten e.V. aktiv und
in transparenter, konstruktiver und
verantwortungsvoller Weise beteiligen.
Gefunden, gesammelt, geraubt – wie kamen die Pflanzen in die Botanischen
Gärten?
Die Geschichte der Botanischen Gärten in Deutschland und Europa ist untrennbar mit dem
Kolonialismus und der europäischen Expansion verbunden. Die Kolonien mussten
pflanzliche Nahrungs- und Genussmittel sowie Rohstoffe für die fortschreitende
Industrialisierung Europas liefern. Die entsprechenden Nutzpflanzen wurden systematisch
zwischen den einzelnen Kolonien ausgetauscht, oft unter Beteiligung Botanischer Gärten.
Diese machten mit dem Ausstellen tropischer Nutzpflanzen in ihren Gewächshäusern
zugleich Werbung für die vermeintlich unverzichtbaren „Schutzgebiete“. Zierpflanzen aus
den Kolonien wurden in großem Maßstab von europäischen Handelsgärtnereien vermarktet
und in Botanischen Gärten der Öffentlichkeit präsentiert. Um die Nutzung und Ausbeutung
der kolonisierten Gebiete zu bewerben und das Narrativ der unbekannten, „unzivilisierten“
Welt außerhalb Europas zu unterstreichen, stellten Botanische Gärten zuweilen „exotische“
Pflanzen für Kolonialausstellungen bereit, in deren Kontext auch Menschen aus den
Kolonien zur Schau gestellt wurden. Dies trug nicht zuletzt zu dem tief verankerten
strukturellen Rassismus bei, der sich bis heute durch alle Gesellschaftsschichten zieht und
die Lebensrealität Betroffener beeinflusst.
In den Kolonien selbst legten die Europäer ebenfalls Botanische Gärten an, wo
Anbauversuche mit Nutzpflanzen wie Kaffee, Kautschuk und Sisal durchgeführt wurden. Die
Ergebnisse legten den Grundstein für Plantagenkulturen weltweit. Die Arbeit in den Gärten
und auf den Plantagen wurde von einheimischen Menschen unter oft grausamen
Bedingungen geleistet, bis hin zur Sklaverei. Diese systematische Ausbeutung von
Menschen, Rohstoffen und Natur hat den Industrienationen letztlich zu enormem Reichtum
verholfen, von dem der Globale Norden bis heute profitiert.
Die Herrschaftsform des Kolonialismus ist
gekennzeichnet durch die Inanspruchnahme fremder
Territorien, motiviert von wirtschaftlichen,
machtpolitischen und strategischen Zielen. Um diese zu
erreichen, werden die kolonisierten Gesellschaften
politisch unterdrückt und wirtschaftlich ausgebeutet. Aus
der ideologischen Überzeugung einer weißen
„Überlegenheit“ wird ihre kulturelle, intellektuelle und
religiöse Selbstbestimmung stark eingeschränkt oder
sogar unmöglich gemacht – bis hin zur gezielten
Ausrottung ganzer Ethnien. Auch wenn die meisten
vormaligen Kolonien heute selbständige Staaten sind,
prägen die in Jahrhunderten des Kolonialismus
entstandenen Strukturen die heutige Weltordnung; die
durch den Kolonialismus hervorgerufene Ungleichheit
durchdringt nach wie vor verschiedenste Bereiche von
Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft.
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Botanische Gärten und Kolonialismus
Eurozentrische Wissenschaft und Wissensaneignung
Neben Saatgut und Setzlingen zur Kultivierung lebender Pflanzen gelangten auch Millionen
von gepressten und getrockneten Pflanzenproben aus dem Globalen Süden in die Herbarien
und die Botanischen Gärten Europas. Diese auf zahlreichen Expeditionen gesammelten
Herbarbelege dienten vor allem dem wissenschaftlichen Interesse der europäischen
Pflanzensystematiker, die sich den immensen, erst durch die kolonialen Machtverhältnisse
ermöglichten Zustrom von Untersuchungsmaterial zunutze machten. Sie ordneten die
Pflanzenfunde taxonomisch ein und beschrieben ihnen bislang unbekannte Arten als neu für
die Wissenschaft. Informationen zur Nutzung stammten dabei in der Regel von der lokalen
Bevölkerung, die Urheber*innen der angeeigneten Informationen wurden jedoch nur in den
seltensten Fällen in den Publikationen genannt. Die wissenschaftliche Benennung erfolgte
mit Latein in einer europäischen Gelehrtensprache und ehrte häufig die europäischen
Sammler*innen, wissenschaftliche Kolleg*innen, Geldgeber*innen oder Personen in
Machtpositionen – die oft bekannten indigenen Namen hatten dabei meist keine Relevanz.
Diese Art der wissenschaftlichen Arbeitsweise und der Aneignung außereuropäischen
Wissens dauert vielfach bis heute fort. Die kritische Auseinandersetzung damit hat erst in
jüngster Zeit begonnen und hinterfragt verstärkt auch die Rolle der westlichen Wissenschaft
als alleingültige Weltanschauung. Deren enge historische Verbindung mit dem Kolonialismus
hat unter anderem dazu geführt, dass alternative, außereuropäische Sichtweisen auf die
Natur ignoriert, unterdrückt oder gar vollständig eliminiert wurden.
Position und Handlungsmöglichkeiten
Der Verband Botanischer Gärten e.V. sieht sich in der Verantwortung, den kolonialen
Kontext Botanischer Gärten in Geschichte und Gegenwart kritisch aufzuarbeiten. Dazu muss
die Rolle Botanischer Gärten im Kolonialismus und seinen bis heute andauernden Strukturen
betrachtet und in die Forschung sowie die Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit eingebunden
werden. Der verantwortungsbewusste Umgang mit den Folgen des Kolonialismus erfordert
dabei Transparenz, die Teilhabe der Öffentlichkeit und einen selbstkritisch reflektierenden
Blick auf die eigene Arbeits- und Denkweise. Um den notwendigen Perspektivwechsel zu
vollziehen, müssen vor allem der intensive Austausch und die Zusammenarbeit auf
Augenhöhe mit Menschen und Institutionen aus dem Globalen Süden zum Standard werden.
Schon heute pflegen viele Botanische Gärten des Globalen Nordens enge Kooperationen mit
Botanischen Gärten, Universitäten und Naturschutzorganisationen im Globalen Süden.
Sowohl in der Grundlagenforschung als auch im Artenschutz und bei der nachhaltigen
Nutzung der Pflanzenvielfalt sind solche Kooperationen mittlerweile zur Grundvoraussetzung
für ein erfolgreiches Arbeiten geworden. Auf Sammelexkursionen wird die Pflanzenvielfalt
gemeinsam erfasst, die Ergebnisse werden im Anschluss gemeinsam publiziert; bei
gegenseitigen Gastaufenthalten lernen die Partner*innen über- und voneinander.
Kooperationen dieser Art sollten jedoch weitaus häufiger und selbstverständlicher werden
und alle Arbeitsbereiche Botanischer Gärten umfassen. Sie müssen verstärkt den Ausbau
der Infrastrukturen an Botanischen Gärten im Globalen Süden unterstützen.
Nach Jahrhunderten des Sammelns und dem häufigen Verlust von Aufzeichnungen zur
Herkunft der Pflanzenzugänge gestaltet sich die Provenienzforschung zu schon lange in
Botanischen Gärten kultivierten Pflanzen meist äußerst schwierig. Viele Herbarbelege und
handschriftliche Aufzeichnungen liegen jedoch noch unaufgearbeitet in Magazinen und
Archiven und können als Grundlage für zukünftige Forschungsprojekte zur Provenienz der
Sammlungsbestände dienen. Heute sind Botanische Gärten internationalen Abkommen wie
der Konvention über die Biologische Vielfalt und dem Nagoya-Protokoll verpflichtet. Sie
dokumentieren dementsprechend alle verfügbaren Sammeldaten zu ihren Beständen in
Datenbanken und stellen durch Weitergabe dieser Informationen sicher, dass die
Herkunftsländer im Falle einer Nutzung der genetischen Ressourcen am Gewinn beteiligt
werden können. Durch Online-Datenbanken machen zudem immer mehr Botanische Gärten
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Botanische Gärten und Kolonialismus
ihre Bestände transparent, und in Einzelfällen wurden bereits Provenienzen größerer
Sammlungsbestände rekonstruiert. Um ein größtmögliches Maß an Transparenz zu
erreichen, müssen die Bemühungen in dieser Richtung jedoch signifikant ausgebaut werden.
Genaue Kenntnisse zu den Provenienzen der Sammlungen Botanischer Gärten sind auch
Voraussetzung für Diskussionen über potenzielle Restitutionen. Unabhängig von einer
physischen Restitution können Herbarbelege durch Digitalisierung weltweit frei zugänglich
gemacht werden, so dass sie auch und gerade Kolleg*innen in den Herkunftsländern virtuell
zur Verfügung stehen. Während dies für sogenannte Typusbelege schon weitgehend
geschehen ist, muss ein Großteil der verbleibenden Belege jedoch noch durch gezielte,
großangelegte Digitalisierungsprojekte verfügbar gemacht werden.
Im Gegensatz zu den meisten Museumsobjekten sind lebende Pflanzen in fast allen Fällen
reproduzierbar, können also durch Saatgut, Stecklinge o.ä. vermehrt werden. Dies bietet ein
enormes Potenzial für den internationalen Artenschutz: Pflanzen in den Botanischen Gärten
des Globalen Nordens, die an ihren Naturstandorten im Globalen Süden gefährdet oder gar
ausgestorben sind, können dort durch gezielte Wiederansiedlung vor dem endgültigen
Aussterben bewahrt werden. Der Zugang zu Lebendmaterial in den Sammlungen des
Globalen Nordens muss für Institutionen des Globalen Südens jedoch erheblich verbessert
werden, und Kooperationen in diesem Bereich müssen deutlich zahlreicher werden.
Wissenschaftliche Pflanzennamen garantieren Eindeutigkeit in der Fachkommunikation und
reflektieren die Verwandtschaftsverhältnisse der Arten. Während sie damit im
wissenschaftlichen Bereich unverzichtbar sind, dürfen die botanischen Namen nicht darüber
hinwegtäuschen, dass viele Pflanzen schon lange vor der vermeintlichen „Entdeckung“ durch
die Europäer von der indigenen Bevölkerung gekannt, benannt und genutzt wurden. Da dies
den Besucher*innen Botanischer Gärten bisher nur in den seltensten Fällen ersichtlich ist,
sollte ein zeitgemäß angepasstes Informations- und Bildungsangebot die jahrhundertelange
Praxis der Pflanzenbenennung erläutern und zugleich hinterfragen. Zudem sollten, wo immer
möglich, bei wissenschaftlichen Neubeschreibungen von Arten ganz explizit indigene Namen
aufgegriffen werden.
Sammlungen lebender Pflanzen waren und sind die Grundlage der Arbeit Botanischer
Gärten. Was oft mit der Zurschaustellung „exotischer“ Pflanzenvielfalt als koloniale
Machtgeste begonnen hat, dient heute der Forschung und Lehre, Bildung und
Erholung, dem Gartenbau und Artenschutz. Es geht um Erhaltung statt Aneignung,
um Kooperation statt Herrschaft und um Wege, auf diesem Planeten gemeinsam und
nachhaltig zu leben. Für dieses Miteinander ist noch viel zu tun, und ganz am Anfang
muss die verantwortungsbewusste und transparente Aufarbeitung der
Kolonialgeschichte stehen. Der Verband Botanischer Gärten stellt sich dieser
Verantwortung und freut sich über konstruktive, kreative und kritische Mitarbeit.
Diese Erklärung (Stand 1/2023) ist das Diskussionsergebnis einer Arbeitsgruppe von Kustodinnen und Kustoden
im Verband Botanischer Gärten e.V. (VBG). Wir haben uns mit den postkolonialen Bezügen unserer
Sammlungen, unserer Geschichte und unserem Selbstverständnis kritisch auseinandergesetzt. Unterstützt
wurden wir von Runa Hoffmann, Masterstudentin im Botanischen Garten Berlin, Alexandra Straka,
Masterstudentin im Botanischen Garten Potsdam und Demba Sanoh, Historiker, Berlin.
Es arbeiteten mit: Botanischer Garten Berlin: Dr. Nils Köster, Botanische Gärten Bonn: Dr. Conny Löhne,
Palmengarten der Stadt Frankfurt: Dr. Marco Schmidt; Botanischer Garten Potsdam: Dr. Michael Burkart;
Botanischer Garten Tübingen: Dr. Alexandra Kehl; Tropengewächshaus Witzenhausen/Kassel: Marina Hethke;
Sukkulenten-Sammlung Zürich: Dr. Felix Merklinger.