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Strategische politische Kommunikation und ihre Resonanz in der Parteienpräferenz

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Politische Kommunikation ist ein wesentlicher Einflussfaktor des Wahlverhaltens. Geprägt durch unterschiedliche Akteure wie Medien, Parteien, Verbände und soziale Bewegungen haben sich Emotionen, Überzeugungen und Führungsqualitäten als rhetorische Instrumente etabliert, um den Wählerwillen zu lenken. Die deskriptive Arbeit realisiert mit dem ALLBUS 2018 Datensatz eine Strukturanalyse potentieller deutscher Wähler. Über Plenarprotokolle, Wahl- und Grundsatzprogramme werden textliche Daten politischer Kommunikation der Parteien des 19. Deutschen Bundestages exzerpiert. Hierbei werden Emotionen, Konnotationen und Valenz sowie kognitionspsychologische Überzeugungssysteme über den Operational Code-Ansatz und kognitions-, eigenschafts- und motivationspsychologische Führungscharakteristika politischer Entscheidungsträger über den Leadership Trait Assessment-Ansatz segregiert. Neun politische Milieus werden hinsichtlich ihrer demographischen Merkmale, Einstellungen und Verhalten differenziert und entlang der Dimensionen ‚Ressourcen‘ und ‚Dynamik‘ ausgestaltet. Die Kommunikationsmuster der Bundestagsparteien werden mit Wählerstruktur und politischen Präferenzen kontrastiert und gegeneinander abgegrenzt, sodass abschließend Implikationen und Konsequenzen für die Bundestagsparteien diskutiert werden können.
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Strategische politische Kommunikation
und ihre Resonanz in der Parteienpräferenz
Master-Thesis
Frank G. Dutine
FOM Hochschule für Oekonomie und Management
Politische Kommunikation ist ein wesentlicher Einflussfaktor des Wahlverhaltens. Geprägt
durch unterschiedliche Akteure wie Medien, Parteien, Verbände und soziale Bewegungen ha-
ben sich Emotionen, Überzeugungen und Führungsqualitäten als rhetorische Instrumente eta-
bliert, um den Wählerwillen zu lenken. Die deskriptive Arbeit realisiert mit dem ALLBUS
2018 Datensatz eine Strukturanalyse potentieller deutscher Wähler. Über Plenarprotokolle,
Wahl- und Grundsatzprogramme werden textliche Daten politischer Kommunikation der Par-
teien des 19. Deutschen Bundestages exzerpiert. Hierbei werden Emotionen, Konnotationen
und Valenz sowie kognitionspsychologische Überzeugungssysteme über den Operational Co-
de-Ansatz und kognitions-, eigenschafts- und motivationspsychologische Führungscharakteris-
tika politischer Entscheidungsträger über den Leadership Trait Assessment-Ansatz segregiert.
Neun politische Milieus werden hinsichtlich ihrer demographischen Merkmale, Einstellungen
und Verhalten dierenziert und entlang der Dimensionen ‚Ressourcen‘ und ‚Dynamik‘ aus-
gestaltet. Die Kommunikationsmuster der Bundestagsparteien werden mit Wählerstruktur und
politischen Präferenzen kontrastiert und gegeneinander abgegrenzt, sodass abschließend Im-
plikationen und Konsequenzen für die Bundestagsparteien diskutiert werden können.
Schlüsselwörter: Politische Psychologie, Kommunikation, Wahlverhalten, Emotionen,
Gesellschaftsanalyse, Demographie, Einstellungen, Verhalten, Überzeugungen,
Führungseigenschaften
6.0 % der 3477 Befragten der allgemeinen Bevölkerungs-
umfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2018 bekann-
ten sich dazu, ihre Stimme bei der vergangenen Bundestags-
wahl (BTW) 2017 der AfD gegeben zu haben. 6.4% dersel-
ben Gruppe äußerte, ihre Stimme bei der folgenden BTW
2021 der AfD geben zu wollen. Die ALLBUS-Studie erhebt
für sich den Anspruch „repräsentativ für die gesamtdeutsche
Bevölkerung“ zu sein (GESIS - Leibniz-Institut für Sozial-
wissenschaften, 2019, S. vii). Werden unter dieser Prämisse
jedoch die eektiven Wahlergebnisse (Deutscher Bundestag,
01.10.2021) der BTW 2017 und 2021 betrachtet, so ergibt
sich ein zweifelhaftes Bild. Die Partei erzielte in der Wahl
2017 mehr als doppelt so viele Zweitstimmen, als ihr in der
ALLBUS-Studie zugestanden wurden. Mit 12.6 % stellte sie
Zugunsten der Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das ge-
nerische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen
gleichermaßen alle Personen, die gleichberechtigt angesprochen
sind.
damit die größte Oppositionsfraktion im bundesdeutschen
Parlament. Und auch bei der jüngsten Wahl zum Deutschen
Bundestag 2021 lag die AfD mit 10.3 % immerhin noch 3.9
Prozentpunkte (PP) über den Prognosen. Auch im ALLBUS-
Datensatz 2016 zeichnet sich ein ähnliches Muster ab (GE-
SIS, 2017): Mit 1.2 PP Dierenz bekannten sich weniger
Versuchspersonen (VPN) zu einer Wahl der AfD, als diese
2013 mit 4.7 % der Zweitstimmen tatsächlich erreicht hat.
Und sogar 5.2 PP liegen zwischen Prognose und Wahlergeb-
nis für 2017.
Werden die Analysen mit der Partei Bündnis 90/Die Grü-
nen wiederholt, so werden Diskrepanzen zwischen Befra-
gung und Realität in die andere Richtung deutlich: So er-
zielte die Partei in der Wahl 2013 ein Ergebnis von 8.4%
wohingegen 15.6 % der Befragten angaben, diese gewählt zu
haben. Die Wahlabsicht für 2017 lag bei 12.6 %; das tatsäch-
liche Ergebnis mit 8.9 % aber 3.7 PP darunter. Hingegen äu-
ßerten 11.3 % die Bekenntnis, die Grünen 2017 gewählt zu
haben. Die Wahlabsicht für die Partei fiel 2021 mit 15.4 %
wiederum optimistischer aus, als das eektive Wahlergebnis
mit 14.8 %. Festgehalten werden kann, dass für die Grünen
augenscheinlich mehr Zustimmung geäußert wird, als sie in
2DUTINE
Wahlen tatsächlich erreicht. Für die AfD hingegen wird ten-
denziell weniger Zustimmung dokumentiert, als diese in den
Wahlen erzielt.
Theoretische Betrachtungen
Für die Entwicklung der Wahlergebnisse sind diverse
Erklärungen möglich, die an dieser Stelle nicht holistisch
diskutiert werden können. Auch lässt sich im Weiteren nicht
hinreichend erklären, weshalb die Parteien in den ALLBUS-
Befragungen regelmäßig (die Annahme ließ sich in der
aktuellen ALLBUS-Studie nicht konsekutiv überprüfen,
GESIS, 2022) über- bzw. unterbewertet werden. Exempla-
risch sei aber zu nennen, dass die mediale Berichterstattung
und deren Wirkung auf die öentliche Meinung hinsichtlich
des „Kampf[es] gegen die Klimakrise“ (Deutscher Bundes-
tag, 05.07.2018, 10.10.2018, 17.01.2019, 18.01.2019,
13.02.2019, 26.09.2019, 27.09.2019, 27.11.2019,
14.02.2020, 02.07.2020, 16.09.2020, 17.09.2020,
08.10.2020, 22.04.2021, 20.05.2021; Bündnis 90/Die
Grünen, 2017, 2021a, 2021b) zum Ansehen der Grünen
beitrug (Niedermayer, 2020; Probst, 2020). Ausreichend
mediale Aufmerksamkeit war dem Thema gewidmet (Adam
& Wahyuni, 2020; Kunelius & Roosvall, 2021; Taddicken &
Neverla, 2011; Taddicken & Wicke, 2019).
Katalysatoren des Wahlverhaltens
Unterdessen kann erheblicher Einfluss der medialen Be-
richterstattung auf die öentliche Meinung und damit das
Zustandekommen systematischer Abweichungen angenom-
men werden (Fuhse, 2003; Lippmann, 2018; Valentino &
Nardis, 2013, S. 559). Umso mehr, als dass politisches Inter-
esse und Parteiidentifikation einen Konjunkturrückgang er-
lebt und den Weg für mögliche Einflüsse der Medien eb-
net (Korte & Weidenfeld, 2001, S. 10). Als Bestandteil po-
litischer Systeme nehmen Massenmedien die Rolle als In-
formationsvermittler zwischen Politik und Bevölkerung ein.
Journalisten treten als eigenständige (m. E. politische, Has-
sell et al., 2020) Akteure auf und nehmen sowohl Einfluss
auf die politische Agenda, als auch die Deutungsrahmen
(Agenda Setting,Priming und Framing; Drentwett, 2009;
Entman, 1993; Iyengar & Kinder, 1987; Jandura, 2011; Prin-
zen, 2010). Nach Schärdel (2017, S. 100) hat eine Medien-
berichtsanalyse ergeben, dass nahezu 70 % der Aussagen
über die AfD negativ wertende Zuschreibungen enthalten;
„vor allem Kritik, was bisherige Forschungsergebnisse über
einen negativen Grundtenor der Berichterstattung über die
AfD bestätigt“. Die gerade unter Journalisten viel kritisier-
te (Ophoven, 30.01.2020; Watson, 28.10.2018) Studie von
Lünenborg und Berghofer aus dem Jahr 2010 hingegen kon-
statiert eine ausgeprägte Parteipräferenz von Journalisten für
die Grünen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Erhebung
von Weischenberg et al. aus dem Jahr 2006: Demnach präfe-
rierten 36 % (46% aller Journalisten mit Parteipräferenz) die
Partei (Weigel, 30.01.2017). Entsprechend Rössler (2009,
S. 108) führt Medienwirkung u. a. zur „Zuweisung von Sta-
tus, Prestige und Prominenz“ und der „Erzeugung von Norm-
konformität durch mediale Publizität“ (vgl. auch Lazarsfeld
& Merton, 1948). Unter Berücksichtigung der Theorie der
sozialen Identität (Tajfel, 1981; Tajfel et al., 2001; Tajfel
& Turner, 2004) sowie der Konformitätsthese (Asch, 1955,
1961; Asch & Guetzkow, 2003) kann angenommen wer-
den: Kommt es zu einer sog. ‚negativen sozialen Identität‘,
orientieren sich Angehörige der öentlichen Outgroup an
positiv besetzten Alternativgruppen. Mithin begünstigt der
normative Einfluss, von der tatsächlichen Wahlentscheidung
i. S. sozialer Erwünschtheit abzuweichen (Deutsch & Gerard,
1955). Die Analysen von Pickel (2019, S. 157 f.) stützen die-
se Argumentation, da mehr als 60 % der AfD-Wähler bekun-
deten, „sie hätten ‚nur‘ aus Enttäuschung für die AfD ge-
stimmt, würden sich aber nicht mit der Partei identifizieren“.
Wähler und Wahlverhalten
Da sich das Wahlverhalten seit den 80er Jahren „eman-
zipiert“ hat, so Roth und Wüst (2007), lassen sich Partei-
verbundenheit und Wahlverhalten nicht mehr auf ein Krite-
rium limitieren. Stattdessen werden mehrere Faktoren zum
Wahlverhalten systematisiert, wobei sich die Kategorisie-
rung wie folgt gestaltet. Tabelle A1 verdeutlicht dabei die
Unterschiede der Klassifikation anhand der korrespondieren-
den ALLBUS-Variablen (GESIS, 2019, S. 67 f., S. 554 .,
S. 142 .). Wobei früher die großen und stabilen Gruppen
von Stammwählern mit starker Parteipräferenz wahlentschei-
dend waren, sind es heute dramatische Ereignisse; auch wenn
immer noch viele Menschen in bestimmten sozialen Milieus
verankert sind und bestimmte Parteien bevorzugen (Korte &
Weidenfeld, 2001, S. 10). Protestwähler zeigen im Gegensatz
zu Wechselwählern zwar starke Parteiidentifikation, sind je-
doch mit den Leistungen ihrer Partei unzufrieden. Nichtwäh-
ler bedeuten Mobilisierungspotential für alle Parteien, wo-
bei insbesondere unterschieden werden muss: Grundsätzli-
che Nichtwähler gehen aus Überzeugung nicht wählen. Sie
sind in der Regel „schlecht integriert, haben weniger sozia-
le Kontakte, einen vergleichsweise niedrigen sozialen Sta-
tus und ein niedriges Bildungsniveau“ (Roth & Wüst, 2007,
S. 399). Konjunkturelle Nichtwähler charakterisieren sich
durch wenig Parteienbindung und geringes politisches Inter-
esse; ihre Partizipation ist sporadisch, sie bieten aber hohes
Mobilisierungspotential im Wahlkampf (Roth & Wüst, 2007;
Wüst & Roth, 2005). Bekennende Nichtwähler zeigen starke
Parteiverbundenheit, drücken aber ihre Unzufriedenheit mit
dieser durch Nichtwahl aus (Homann-Jaberg & Roth, 1994;
Roth & Wüst, 2007). Für den beobachtbaren Rückgang der
Wahlbeteiligung (Die Bundeswahlleiterin, 27.10.2021) ma-
chen Roth und Wüst (2007, S. 396) u. a. soziale Individuali-
sierung und die Kommunikationsstruktur der Medien verant-
wortlich.
STRATEGISCHE POLITISCHE KOMMUNIKATION 3
Strategische politische Kommunikation
Mittler politischer Kommunikation sind nicht allein die
Massenmedien, wenngleich ihre Berichterstattung tiefgrei-
fende Konsequenzen für Charakteristik, Organisation und
Ziele politischer Prozesse, Akteure und Institutionen haben
kann (Axford & Huggins, 2001, S. viii). An politischer Inter-
essenartikulation und -aggregation beteiligen sich verschie-
dene Akteure: Verbände, soziale Bewegungen und schließ-
lich Parteien. Letztere stehen in der Maximierung von Wäh-
lerstimmen in einem starken Konkurrenzverhältnis zuein-
ander (Bentele, 1998, S. 130 .; Donges & Jarren, 2022a,
S. 121 .; Jun, 2022, S. 128; Pfetsch, 1996, S. 282). Neben
der reinen Umsetzung von Politik (Entscheidungspolitik) ist
unterdessen die Wirkung von Parteien auf potentielle Wäh-
ler von Interesse. Unter anderem fallen Sprache, Gestik, Mi-
mik und Symbolpolitik in die sog. Darstellungspolitik (Korte
& Richter, 2022, S. 149). Sie gewinnt aufgrund der abneh-
menden Traditionsverbundenheit zu Parteien gerade im Hin-
blick auf die Wahlforschung zunehmend an Relevanz (Korte
& Schoofs, 2019; Prinzen, 2010, S. 482). Es wird angenom-
men, dass Darstellungsmerkmale i. S. d. Wahlwerbung indi-
rekt wirken und durch Einstellungen, Gefühle oder Wissen
Präferenzen und Wahlentscheidungen beeinflussen (Ridout
& Holland, 2017). Somit hat sich die jüngere Forschung ver-
mehrt Strategien gewidmet, die emotionale Inhalte untersu-
chen (Holtz-Bacha, 2022, S. 164) und damit eine ‚emotio-
nale Wende‘ eingeleitet (Bleiker & Hutchinson, 2008; Craw-
ford, 2000, 2009; González-Hidalgo & Zografos, 2020; Ho-
fer, 2013; Mercer, 2006; Wolf, 2012).
Emotionen prägen Aufmerksamkeit, Entscheidungsfin-
dung, Einstellungen und Handeln in der politischen Sphä-
re (Kümpel & Unkel, 2022, S. 509; Valentino & Nardis,
2013, S. 166). Sie beeinflussen Präferenzen und politikbezo-
gene Einstellungen (Brader, 2005; Valentino & Nardis, 2013,
S. 183). In ihrer Theorie der aektiven Intelligenz argumen-
tieren Marcus et al. (2000), dass Gewohnheit und Vernunft
(vgl. Rational-Choice-Ansatz, Downs, 1957) von Emotio-
nen kontrolliert werden, die Einfluss auf Parteiidentifikation,
symbolische Politik und Kampagnen ausüben. Groenendyk
(2011, S. 455) beschreibt Emotionen gar als ‚fehlendes
Puzzle-Teil‘ in der politischen Verhaltensforschung. Dabei
ist sowohl das politische Geschehen als auch das Wahlver-
halten vorwiegend kognitiv geprägt: Wähler beschaen sich
Informationen über Kandidaten und Themen, werten diese
aus und vergleichen sie mit ihren Präferenzen, um die ge-
eignetsten Repräsentanten zu ermitteln. Zwar ist das Denken
der Kern der Annahmen eines mündigen und kompetenten
demokratischen Bürgers; nichtsdestoweniger kann die Be-
deutung von Emotionen das Verständnis, wie sich Wäh-
ler fühlen in der politischen Psychologie nicht ignoriert
werden, um zu verstehen, wie Prozesse des Entscheidungs-
handelns funktionieren (Kahneman & Klein, 2009, S. 515;
Redlawsk & Habegger, 2020, S. 108). So wies C. Chang
(2001) die Beurteilung politischer Kandidaten im Zusam-
menhang mit Emotionen nach, wodurch davon auszugehen
ist, dass diese in der parteipolitischen Kommunikation einen
beachtlichen Stellenwert einnehmen können. Infolgedessen
postuliert O. Feldman (2022, S. 266), dass „politisch ver-
sierte Kommunikatoren ihre Diskurse mit der Absicht [füh-
ren], [...] Einstellungen und Vorstellungen der Bürger auf
sich selbst und ihre Gegner, auf politische Institutionen und
den politischen Prozess zu lenken und die öentliche Debatte
zu beeinflussen“. Er nimmt weiterhin an, dass durch gezielte
emotionale Appelle die öentliche Unterstützung für politi-
sche Führer gestärkt werden kann (ebd. S. 267). Emotionen
in der Politolinguistik manifestieren sich in Wörtern, Texten,
Diskursen und Bildern (einen umfassenden Überblick liefern
Donalis et al., 2016). In Übereinstimmung mit Redlawsk &
Habegger betont Herrmanns (1995, S. 138), dass „es in der
lexikalischen Semantik nicht allein auf Kognitionen, sondern
ebenso auf Emotionen und auf Intentionen ankommt“. Sie
flankieren und limitieren insbesondere Entscheidungen, die
zu komplex, zu unsicher oder möglicherweise nicht wichtig
genug sind, um sie im Rahmen von rationalen Prozessen zu
lösen oder lösen zu können (Gigerenzer et al., 2000; Gige-
renzer & Selten, 2002; Gross Stein, 2016, S. 137; Kahneman
& Klein, 2009, S. 515; Kahneman, 2012, S. 137 .; Petty &
Cacioppo, 1986; Redlawsk & Habegger, 2020, S. 108f.).
Neben Wählern und politischen Akteuren wirken aekti-
ve und kognitive Heuristiken als Orientierungshilfe auch auf
die Politiker selbst. Und bergen dabei das Risiko kogniti-
ver Verzerrungen in der Entscheidungspolitik (Levy, 2013,
S. 302). Im Hinblick auf die Persönlichkeit des Führungs-
personals werden zwei psychologische Ansätze internatio-
naler Beziehungen näher beleuchtet: Der kognitionspsy-
chologisch ausgerichtete Operational Code-Ansatz (OPC)
und der kognitions-, eigenschafts- und motivationspsycho-
logische Leadership Trait Assessment-Ansatz (LTA, Frank,
2022, S. 386). Beide Modelle analysieren spezifische Per-
sönlichkeitsausprägungen individueller Entscheidungsträger
als zentralen Erklärungsfaktor (außen-)politischen Entschei-
dungshandelns, wobei OPC Überzeugungen und Überzeu-
gungssysteme und LTA Typen von Führungspersönlichkeiten
und ihre Führungsstile dierenziert (ebd., S. 386 f.). Grun-
dannahme des OPC ist, dass komplexitätsreduzierende, in-
dividuelle Überzeugungssysteme kognitive Beschränkungen
politischer Entscheider begünstigen. Diese Überzeugungen
setzen Normen, Standards und Richtlinien, die die Wahl der
Strategie und Taktik des Akteurs sowie seine Strukturierung
und Abwägung alternativer Handlungsoptionen beeinflussen
(A. L. George, 1969, S. 191). Der OPC-Ansatz nach George
unterscheidet dabei einerseits fünf philosophische Überzeu-
gungen, die beschreiben, wie der Akteur die politische Um-
welt wahrnimmt, und andererseits fünf instrumentelle Über-
zeugungen, welche Einblick in die interne Welt und den
Umgang mit anderen Akteuren bzw. Aufschluss zu bevor-
4DUTINE
zugten Strategien der Politics-Dimension geben (M. Scha-
fer & Walker, 2006a, S. 4; Walker, 2011, S. 6). Der Nexus
zwischen Überzeugung und Handlung ist schließlich über
die Theorie der kognitiven Konsistenz zu erklären, nach der
kognitive Dissonanzen zwischen Einstellung und Verhalten
vermieden werden (Brummer & Oppermann, 2018, S. 198;
Festinger, 1957). Während der OPC-Ansatz ausnahmslos po-
litische Überzeugungen betrachtet, widmet sich der LTA-
Ansatz einem mehrdimensionalen Persönlichkeitsmodell aus
Kognition, Disposition und Motivation (Frank, 2022, S. 396).
Durch sieben Persönlichkeitsvariablen wird der Führungs-
stil eines politischen Repräsentanten bestimmt. Beide Mo-
delle haben sich mittlerweile als maßgebliche kognitionspsy-
chologische Ansätze in der Außenpolitikforschung etabliert
(Walker et al., 2011). Der Verfasser ist unterdessen der An-
sicht, dass ihre Aussagekraft nicht auf internationale Bezie-
hungen limitiert ist (vgl. Frank, 2022, S. 397), sondern auch
auf andere Politikfelder und die Beziehung zu Wählern aus-
geweitet werden kann. Ein besseres Verständnis für Überzeu-
gungen und Werte eines politischen Kandidaten kann dazu
führen, ihn zu wählen oder abzulehnen. Auch könnten Wäh-
ler ihre Entscheidungen auf Grundlage der politischen Stra-
tegien und Maßnahmen treen, die von politischen Akteuren
auf Basis ihres Operational Codes vorgeschlagen werden.
Im Falle des Leadership Trait Assessment-Ansatzes kann die
Wahrnehmung der Persönlichkeitsmerkmale und Führungs-
eigenschaften von politischen Kandidaten das Wahlverhal-
ten beeinflussen. Verfügt ein politischer Kandidat über posi-
tiv (in Abhängigkeit des Wählers) besetzte Führungseigen-
schaften, ist seine Wahl wahrscheinlicher, als dies bei wahr-
genommenen Führungsschwächen der Fall ist. Daher sind
beide Ansätze im Hinblick auf die Analyse strategischer po-
litischer Kommunikation und deren Resonanz in der Partei-
enpräferenz wertvolle Modelle.
Forschungsfragen
Ob die Daten der ALLBUS-Studien tatsächlich ein reprä-
sentatives Bild der deutschen Bevölkerung zeichnen,kann im
Folgenden nicht geklärt werden. Unter der ausformulierten
Grundannahme, dass Antworten i. S. sozialer Erwünschtheit
abgegeben wurden, die sich auf Basis von politischer Kom-
munikation ergeben, stellen sich grundlegende Fragen für
diese Arbeit: An welchen Kriterien unabhängig ihres expli-
ziten Parteibekenntnisses lassen sich (typische) Wähler ei-
ner bestimmten Partei identifizieren? Wer sind diese Wähler?
Und lassen sie sich kategorisieren? Mit welchen Emotionen,
Überzeugungen und Führungsstilen lassen sie sich beeinflus-
sen? Und wie kommuniziert eine politische Partei zielgerich-
tet, um ihr Wählerpotential zu mobilisieren? Wer sind ihre
politischen Gegner? Und wie grenzt sie sich von diesen kom-
munikativ ab? Das Erkenntnisinteresse vorliegender Arbeit
liegt daher in den folgenden Forschungsfragen begründet:
FF1: Welche demographischen, einstellungs- und verhal-
tensbasierten Strukturen liegen in der deutschen Be-
völkerung vor? Welche politischen Milieus können
daraus abgeleitet werden?
FF2: Welche Kommunikationsmuster nutzen die Parteien
des Deutschen Bundestages im Parteienwettbewerb
und zur Wählermobilisierung? Wo bestehen Gemein-
samkeiten? Wo unterscheiden sie sich?
FF3: Wie gestaltet sich das Wahlverhalten der politischen
Milieus? Wo liegen parteiliche Präferenzen? Wo be-
stehen Aversionen?
FF4: Wie lassen sich gesellschaftliche Milieus durch politi-
sche Kommunikation beeinflussen? Wo bestehen Ge-
meinsamkeiten? Wo sind Unterschiede?
Die vorwiegend deskriptiv orientierte Arbeit hat sich
zum Ziel gesetzt, eine möglichst umfassende Untersu-
chung verschiedener Emotionen, Überzeugungen und Füh-
rungsverhalten der Parteien und ihrer Politiker vorzu-
nehmen. Gleichzeitig werden die Daten dem ALLBUS
2018 Datensatz gegenübergestellt, dessen Befragte anhand
sozio-demographischer, einstellungs- und verhaltensbezoge-
ner Merkmale in politische Milieus gruppiert und auf kom-
munikative Einflussfaktoren hin analysiert werden. Die Er-
kenntnisse werden abschließend aggregiert und als Implika-
tionen für die Parteien ausführlich diskutiert.
Methodik
Die folgenden Absätze widmen sich dem geplanten Vor-
gehen. Beschrieben werden das Forschungsdesign, die Aus-
wahl der Daten, wie diese erhoben wurden und welche Ver-
fahren in der Datenauswertung zur Beantwortung der For-
schungsfragen in Betracht gezogen werden.
Forschungsdesign
Politik und Kommunikation werden in verschiedenen wis-
senschaftlichen Disziplinen unter theoretisch diversen Para-
digmen erforscht. So sind analytische, perspektivische und
normative Annahmen zu dierenzieren (Donges & Jarren,
2022b, S. 2). Vorliegende Arbeit verfolgt einen deskripti-
ven Ansatz, der untersucht, wie sich politische Kommuni-
kation gestaltet. Das Ex-post-facto-Design erhebt zwei ab-
strakte Datenkomplexe, die über das Merkmal der Wahl-
absicht konkateniert werden. Der erste Komplex ermit-
telt sozio-demographische, einstellungs- und verhaltensori-
entierte Merkmale wahlberechtigter Deutscher, die zum Be-
fragungszeitpunkt 2018 in Privathaushalten lebten und das
18. Lebensjahr vollendet hatten. Mittels einer Clusteranaly-
se werden Ähnlichkeiten in politische Milieus transferiert.
Der zweite Datenkomplex erhebt Äußerungen von Bundes-
tagsfraktionen und derer Akteure anhand von Plenarproto-
kollen, Wahl- und Grundsatzprogrammen. Angesichts der
STRATEGISCHE POLITISCHE KOMMUNIKATION 5
Auswahl aller Bundestagsfraktionen kann der inhaltsanaly-
tische Teil als Vollerhebung betrachtet werden. Mithin las-
sen sich die Forschungsfragen, welche demographischen,
einstellungs- und verhaltensbasierten Strukturen in der deut-
schen Bevölkerung vorliegen und wie sich diese unter den
Wählern verschiedener Parteien manifestieren, beantworten.
Darüber hinaus gibt eine Sentiment- und Emotionsanaly-
se der parteipolitischen Einlassungen Aufschluss über deren
Kommunikationsmuster, welche um Führungskommunikati-
on und Operational Codes erweitert werden. Schließlich las-
sen sich über das Kriterium der Wahlpräferenz Rückschlüsse
auf die Merkmale der Wählerschaft ziehen, sodass in An-
lehnung an Lasswell (1948) sowie Bürklin und Klein (1998)
tendenziell festgestellt werden kann, wen eine politische Par-
tei wie ansprechen muss, mit der Wirkung, ihn als Wähler zu
mobilisieren.
Datenauswahl
Nachfolgend wird die Auswahl der Daten beschrieben,
die für die Analyse in Betracht gezogen wurden. Dabei wird
dediziert auf die quantitativen Daten aus dem ALLBUS-
Datensatz sowie die qualitativen Daten aus Plenarprotokol-
len, Wahl- und Grundsatzprogrammen der Fraktionen einge-
gangen.
Individualdatenauswahl ALLBUS 2018
Die ALLBUS-Studie in der Version 2.0.0 (Studiennum-
mer ZA5270) beinhaltet 3477 Datensätze in 708 Variablen.
Die Trendstudie wird i.d.R. alle zwei Jahre als Zufallss-
tichprobe in der deutschen Bevölkerung durchgeführt. Ziel
ist die Beobachtung von Einstellungen, Verhalten und dem
sozialen Wandel. Schwerpunkte der Erhebung aus 2018 lie-
gen auf politischen Einstellungen und politischer Partizipa-
tion. Neben weiteren Themen wie Mediennutzung, sozialer
Ungleichheit, Sozialkapital, Nationalstolz und Rechtsextre-
mismus sowie Einstellungen zur deutschen Wiedervereini-
gung sind Module des International Social Survey Program-
me (ISSP) enthalten (GESIS, 2019). Die Daten wurden zwi-
schen April bis September 2018 im Bundesgebiet erhoben.
Die Durchführung erfolgte durch Kantar Public, München.
Als Modi wurden selbstausgefüllte Fragebögen (PAPI, CA-
WI), persönlich-mündliche Befragungen mit standardisier-
tem Frageprogramm (CAPI) sowie zwei CASI Zusatzbefra-
gungen im Rahmen des ISSP angewandt (GESIS, 2019). Da
standardisierte Skalen eingesetzt, klare Anweisungen gege-
ben und geschlossene Antwortformate verwendet werden, ist
hohe Durchführungs- und Auswertungsobjektivität anzuneh-
men (Rammstedt, 2004, S. 24).
Für vorliegende Studie wird eine Selektion der Variablen
vorgenommen. Zunächst werden die Identifikationsvariablen
(za_nr bis version sowie xs11) entfernt. Weiterhin wer-
den die ISSP Module „Soziale Netzwerke II“ und „Religi-
on IV“ aufgrund des Splitverfahrens deselektiert (I000 bis
J039); die ISSP-Demographie (S01 bis S15_2) bleibt er-
halten. Von der Analyse ausgeschlossen werden außerdem
die Paradaten zum ISSP-Interview, zur Online-Rekrutierung
und zum ALLBUS-Interview (ISSP_C bis xs07) sowie
zu Erreichbarkeit und Angaben zum Interviewer (xr06
bis xi05). Erhalten bleiben die subjektiven Interviewerein-
schätzungen (xr14 bis xh04). Für die Studie stehen mithin
525 Variablen zur Verfügung.
Dokumentenauswahl zur Inhaltsanalyse
Für die Auswahl der qualitativen Daten ist die Mög-
lichkeit der direkten Zuordnung zu einer Partei entschei-
dend. Gewährleistet werden soll ein konkreter Wortlaut der
Partei und deren Repräsentanten. Ferner wird die direkte
Erreichbarkeit der Adressaten der politischen Kommunika-
tion berücksichtigt. Somit wird indirekte Kommunikation
über mediale Kanäle vernachlässigt. Die Datenauswahl be-
schränkt sich daher einerseits auf endgültige Plenarprotokol-
le des Deutschen Bundestages. Andererseits werden Wahl-
und Kurzwahlprogramme sowie Grundsatzprogramme und
vereinzelt andere Dokumente der direkten Wähleransp