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Stępka, Maciej, 2023, "Migration und Sicherheit in der Europäischen Union in Krisenzeiten: Die Dynamik der Versicherheitlichung menschlicher Mobilität im politischen Denken von Bronisław Geremek", [in:] Europa und die Europäer. Perspektiven der polnischen Wissenschaft im 21. Jahrhundert, B. Gierat-Bieroń, J.J. Węc (eds.), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden

Authors:

Abstract

In this text, the securitisation of migration in the European Union, which has become one of the most important themes in academic and political debates in recent years, is juxtaposed with Bronisław Geremek’s values and views on security, migration and border protection. Bronisław Geremek strongly be- lieved in a liberal international order, human security, solidarity and the need to protect refugees and protecting borders without erecting walls and barriers to mobility. The analysis shows that the policy and discourse of the European Commission has largely diverged from the views propounded by Geremek, focusing mainly on security at the expense of mobility, humanitarianism and responsibility for refugees. The text also identifies some positive aspects in the development of the EU’s approach to migration, primarily related to the re- ception of refugees from Ukraine, which could represent an opportunity to develop a more humane approach to migration and asylum in the EU.
Europa und die Europäer
Im Gedenken an Bronisław Geremek
Herausgegeben von
Bożena Gierat-Bieroń und Janusz Józef Węc
Perspektiven der polnischen Wissenschaft
im 21. Jahrhundert
Harrassowitz
Harrassowitz Verlag
PG 2
Europa und die Europäer
Harrassowitz
2
POLEN IN DER
GEGENWART
Europa und die Europäer
POLEN IN DER GEGENWART
Schriftenreihe des Deutschen Polen-Instituts
Herausgegeben von
Peter Oliver Loew und Agnieszka Łada-Konefał
Band 2
2023
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
2023
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Europa und die Europäer
Perspektiven der polnischen Wissenschaft im 21. Jahrhundert
Im Gedenken an Bronisław Geremek
Herausgegeben von
Bożena Gierat-Bieroń und Janusz Józef Węc
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eI SSN 2 751-6245 eISBN 978-3-447-39397-3
DOI: 10.13173/2751-6237 DO I: 1 0.13173/9 7834 4712 0241
Umschlagsabbildung: Ewa Brejnakowska-Jończyk
Gutachter: Ordentlicher Prof. Dr. Janusz Ruszkowski (Universität Stettin)
Übersetzung aus dem Polnischen, Französischen und Englischen:
Maciej Kremer, Sabine Lipińska, Peter Oliver Loew und Piotr A. Owsiński
Redaktion: Gert Röhrborn
Die Monographie wurde finanziell von der Fakultät für Internationale und Politische Studien,
dem Institut für Europäische Studien, dem Institut für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen
der Jagiellonen-Universität in Krakau sowie von der Bronisław-Geremek-Stiftung unterstützt.
Inhalt
VII Vorwort
Bronisław Geremek – ein polnischer Staatsmann,
Europäer und Visionär
Teil I
Die Europäische Union und Polen in einer sich verändernden Welt
Bronisław Geremeks Beitrag zur Neuausrichtung der polnischen
Außenpolitik nach 1989
3 Henryk Szlajfer
Gesicherte Demokratie: die NATO und die Gemeinschaft
der Demokratien. Bronisław Geremek und seine Außenpolitik
23 Michel Foucher
Zwei Jahrzehnte Dialog (1989–2008)
35 Bogdan Koszel
Der Beitrag Bronisław Geremeks zum Wirken des Weimarer Dreiecks
57 Agnieszka Nitszke
Der Beitrag Bronisław Geremeks zur polnischen Außenpolitik
und Sicherheit: Polens NATO-Beitritt
85 Krzysztof Koźbiał
Bronisław Geremek als Außenminister über die deutsch-polnischen
Beziehungen. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
101 Józef M. Fiszer
Rolle und Aufgaben des Weimarer Dreiecks im Prozess
der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union
Teil II Debatte über die Zukunft der Europäischen Union:
Die auf die europäischen Krisen zurückzuführende Neudefinition
des zeitgenössischen Diskurses über Sicherheit, Werte
und kollektives Gedächtnis der EU
123 Janusz Józef Węc
Zu den Perspektiven der Reform der Gemeinsamen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik der Europäischen Union bis 2025
Strategische Autonomie der EU?
VI
153 Jan Barcz
»Europäische Krisen« und die strukturelle Weiterentwicklung
der Europäischen Union
173 Agnieszka Grzelak
Die Zukunft der Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit (rule of law)
in der Europäischen Union
191 Beata Ociepka
Werte an der Grenze Europas: Was haben wir aus der Migrationskrise
an der östlichen Grenze der Europäischen Union und dem Krieg
in der Ukraine gelernt?
209 Bożena Gierat-Bieroń
Kultureller Gemeinschaftsgeist Europas: von Bronisław Geremeks
historiosophischen Idealen zum kulturbildenden Metanarrativ
235 Maciej Jastrzębiec-Pyszyński
Ideen von Bronisław Geremek für eine zentrale europäische
Herausforderung: Rohstoffe, Energiewende und das Erproben
globaler Zusa mmenarbeit
257 Maciej Stępka
Migration und Sicherheit in der Europäischen Union in Krisenzeiten:
Die Dynamik der Versicherheitlichung menschlicher Mobilität
im politischen Denken von Bronisław Geremek
275 Bibliographie
289 Abkürzungsverzeichnis
291 Biogramme
VII
Prof. Dr. Bronisław Geremek war Historiker, ein hervorragender Kenner des
Mittelalters an der Universität Warschau und auch einer der wichtigsten Op-
po sitionellen in den Jahren 1980 bis 1989.1 Wegen seiner oppositionellen Tä-
tig keit war er in den Jahren 1981 und 1982 interniert, 1983 wurde er verhaftet
und danach aufgrund einer Amnestie freigelassen. 1989 nahm er an den Ge-
sprächen am Runden Tisch teil, die noch im selben Jahr zu den ersten teil-
weise freien Parlamentswahlen nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen führten.
Zwischen 1989 und 2001 war er Abgeordneter des Sejms, wo er die Rolle des
Fraktionsvorsitzender der Demokratischen Union (Unia Demokratyczna, UD,
1991–1994) und später der Freiheitsunion (Unia Wolności, UW, 1994–1997)
innehatte. Von 1997 bis 2000 bekleidete er das Amt des Außenministers der
Republik Polen. Seit 2004 (bis zu seinem tragischen Tod im Jahre 2008) war er
Abgeordneter zum Europäischen Parlament, wo er der Fraktion der Allianz der
Liberalen und Demokraten für Europa (Alliance of Liberals and Democrats for
Europe, ALDE) angehörte. 2005 wurde er mit dem Ehrendoktortitel der Jagiel-
lonen-Universität in Krakau ausgezeichnet.
Eine Inspirationsquelle für die wissenschaftliche Arbeit Geremeks als Mediävist
war die französische Historiographie und insbesondere die dortige historische
Annales-Schule, deren Bezeichnung sich vom Namen der 1929 von Marc Bloch
und Lucien Febvre gegründeten geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift
A. É, S, C ableitet. Diese Schule nutzte
in ihren Untersuchungen die Errungenschaften anderer Wissenschaftsdiszipli-
nen, wie etwa der Geographie, Ökonomie, Soziologie oder sogar Anthropologie.
Kontakt zu den Vertretern des Annales-Kreises nahm Geremek dadurch auf,
dass er am historischen Seminar von Prof. Dr. Marian Małowist im Institut für
Geschichte der Universität Warschau teilnahm sowie dank seinem Postgraduier-
tenstudium in Paris (1956–1958). Hier wurde seine Faszination für die Interdis-
ziplinarität wissenschaftlicher Arbeit geweckt. Das interdisziplinäre Vorgehen
ermöglichte es Geremek, die soziale Struktur des prämodernen Europas bes-
1 Seit 1950 war er auch Mitglied der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP, Polska
Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR), die er aus Protest gegen den Einmarsch der Trup-
pen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968 verließ.
Vorwort
Bronisław Geremek –
ein polnischer Staatsmann, Europäer und Visionär
DOI: 10.13173/9783447120241.VII
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VIII
ser zu verstehen. Zum Hauptgegenstand seiner Forschung machte er deswegen
»Arme, Menschen aus sozialen Randgruppen, Verbrecher, Notleidende, Bett-
ler, Prostituierte und Landstreicher«
2, die einen beträchtlichen Teil jener Ge-
sellschaft ausmachten und deren Schicksal in ernstzunehmenden historischen
Untersuchungen bis dahin unterrepräsentiert war. Zu seinen Hauptforschungs-
interessen gehörten überdies Europa als Zivilisation, europäische Identität sowie
die europäische Inte gra tion und Zivilgesellschaft. Seine historische Vorbildung
erleichterte ihm ganz ungemein sein späteres politisches Engagement – zunächst
für die Opposition und nach 1989 für die aufeinanderfolgenden Regierungen
Polens. Er selbst glaubte, dass der Historiker »die Reflexion eines Intellektuellen
und die Distanz eines in der Vergangenheit bewanderten Menschen in die Poli-
tik einbringt. In bestimmten Momenten ist das wichtig. Wichtig in den Zeiten
abrupter Veränderungen, wenn man ohnehin schon außer Atem ist. Es sind
gerade die Historiker, die uns aufs Neue Atem schöpfen und Distanz gewinnen
lassen«.3 Timothy Garton Ash zufolge war Geremek »der wohl bedeutendste
politische Architekt des ausgehandelten Endes des Kommunismus in Polen, das
dem Rest des kommunistischen Europas den Weg ebnete«.4
Geremek war auch ein leidenschaftlicher Anhänger und Befürworter des euro-
päischen Einigungsprozesses nach 1989. Bei der Suche nach Wegen zur Erschaf-
fung eines vereinten Europas knüpfte er an die Ideen französischer Integralisten
wie Jean Monnet, Robert Schuman und Jacques Delors an. Diese Vorgehens-
weise situierte ihn im Kreis der europäischen Föderalisten und der Europäer.
Für ihn bestand die Gründungsmission der Europäischen Union (EU) in der
Schaffung von Grundlagen und dem Bau von Fundamenten für eine dauerhafte
Friedensordnung in Europa, die eine Wiederholung der abscheulichen deutschen
Verbrechen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs unmöglich machen würden. Am
21. Mai 1998 wurde er in Aachen »[…] für einen ›außerordentlichen Beitrag zur
europäischen Einigung auf literarischem, wissenschaftlichem, wirtschaftlichem
und politischem Gebiet‹« 5 mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet. Als
erklärter Europäer betonte er stets den gegenseitigen Nutzen aus der EU-Erweite-
rung in Mitteleuropa – nicht nur für die EU, sondern auch für die Bewerberstaa-
2 Tomasz Wiślicz: Bronisław Geremek – historyk niemarginalny. In: Paweł Luty (Hrsg.): Bro-
nisław Geremek. Ojciec polskiego liberalizmu, Łódź 2010, S. 56.
3 Adam Michnik: Wcielenia Bronisława Geremka. In: Bronisław Geremek: Głos w Europie.
Übersetzung aus dem Französischen: Agnieszka Rasińska-Bóbr, Fundacja Jeana Monneta
na rzecz Europy i Ośrodek Badań Europejskich, Kraków 2010, S. 20.
4 Ebenda, S. 25.
5 Magdalena Pasikowska-Schnass: Bronisław Geremek: Auf der Suche nach dem ver-
einten Europa. In: Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments. Briefing vom
14.12.2021, https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2021/698820/
EPRS_BRI(2021)698820_DE.pdf, S. 2 (12.12.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.VII
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IX
ten. Er vertrat die Ansicht, dass sich Polens EU-Beitritt sowohl auf wirtschaftli-
che als auch demokratische Transformationen stützen sollte, wodurch ein für alle
Mal alle Versuchungen zum Aufbau eines autoritären Systems ausgeschlossen
sein würden. Bereits während der im polnischen Parlament stattfindenden De-
batte über die polnische Außenpolitik im Mai 1994 be zeichnete Geremek Polens
EU- und NATO-Beitritt als die zwei Hauptziele der strategischen polnischen
Auslands- und Sicherheitspolitik, die als Garantien der ökonomischen und mi-
litärischen Sicherheit Polens zu betrachten seien. Als polnischer Außenminister
beteiligte er sich an den mit dem EU- und NATO-Beitritt Polens zusammenhän-
genden diplomatischen Verhandlungen. Am 31. März 1998 fiel ihm die Ehre zu,
die Verhandlungen über den EU-Beitritt Polens zu eröffnen. Am 12. März 1999
überreichte er in der Truman-Bibliothek in Independence, einer Satellitenstadt
von Kansas City (Missouri), der US-Administration in Anwesenheit der ameri-
kanischen Außenministerin Madeleine Albright sowie im Beisein der tschechi-
schen und ungarischen Außenminister Jan Kavan und János Martonyi die Bei-
trittserklärung Polens zur NATO. Dies war der erste Schritt, mit dem sich Polen,
Tschechien und Ungarn »auf den Weg machte[n], das einstige Zwischeneuropa
zwischen dem Westen und Russland zu verlassen […]«.6 Am Tag des NATO-
Beitritts von Polen gingen die politischen Träume seines Lebens in Erfüllung.7
Als 1991 das Weimarer Dreieck als Forum des Meinungsaustausches zwischen
Polen, Deutschland und Frankreich ins Leben gerufen wurde, nahm er es als
einen Mechanismus wahr, der in der Zukunft potenziell den Prozess der Inte-
gra tion Polens in die EU unterstützen konnte. Er betrachtete dieses Forum als
guten Schritt in Richtung der deutsch-polnischen Aussöhnung. In dem 1991 ge-
gründeten Visegrád-Dreieck (Polen, Tschechoslowakei und Ungarn) sah er eine
Plattform für die Zusammenarbeit, die das Ziel verfolgte, das Streben dieser Staa-
ten nach dem EU- und NATO-Beitritt zu synchronisieren und in Zukunft eine
gemeinsame Vision der Ostpolitik der gesamten EU, auch gegenüber Russland, zu
definieren.8 Im Jahre 2000 erarbeitete Geremek eine neue Strategie für die Russ-
landpolitik Polens, die die friedliche Lösung von Streitfragen in den polnisch-rus-
sischen Beziehungen unter Berücksichtigung der Förderung von demokratischen
Bestrebungen in Russland und in allen postsowjetischen Staaten vorsah. Zu Be-
ginn des 21. Jahrhunderts setzte sich Geremek auch für strukturelle Reformen in
der EU ein. Im Jahre 2001 wurde er Mitglied eines zur Zeit des belgischen Vor-
sitzes im Rat der Europäischen Union gegründeten Konvents, der die Erklärung
von Laeken zur Zukunft Europas (14. Dezember 2001) erarbeitete 9 und dadurch
6 Ebenda, S. 6.
7 Vgl. Michnik: Wcielenia Bronisława Geremka, S. 15.
8 Vgl. Pasikowska-Schnass: Bronisław Geremek, S. 4.
9 Ebenda, S. 7.
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X
dem Europäischen Konvent (2002–2003) und danach den Beratungen der Re-
gierungskonferenz (2003–2004) den Weg zur Debatte über die Zukunft Europas
ebnete. Das Ergebnis der Konferenz war der am 29. Oktober 2004 in Rom unter-
zeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE).
Von Geremek wurde »Europa als ›offener Kontinent‹ wahrgenommen, dessen
fundamentales Prinzip die Achtung der Menschenrechte sowie der Grundlagen
der Markwirtschaft ist. Auf diesem Kontinent solle es das Problem der Grenzen
überhaupt nicht mehr geben«. Ihm zufolge »mussten die gemeinsamen demo-
kratischen Werte die Basis der europäischen Gemeinschaft bilden. Dazu gehö-
ren ›polis‹, Zivilgesellschaft, Toleranz, nationale und kulturelle Vielfalt, Offen-
heit«.10 Für Geremek war die europäische Inte gra tion ein beachtlicher Erfolg
und zugleich »eine der wenigen positiven Leistungen in der eher traurigen –
oder sogar finsteren – Bilanz des 20. Jahrhunderts«.11 Die Europäische Union
sah er wiederum als internationale Organisation mit einem gemeinsamen Markt
und einer gemeinsamen Währung, aber ohne politische Dimension. Aus diesem
Grund unterstrich er, dass »sich die Inte gra tion nicht auf die Schaffung eines
gemeinsamen Marktes oder auf die Einführung einer gemeinsamen Währung
beschränken darf. Ihre Bürger sollten sie vielmehr als politische Gemeinschaft
wahrnehmen«.12 Nach Geremeks Vorstellungen sollte die EU somit eine inter-
nationale Organisation mit soliden axiologischen Grundlagen sein. Darüber
hinaus sollte sie mit einer übernationalen Außen- und Sicherheitspolitik, mit
europäischen Schnellen Eingreiftruppen (European Union‘s Rapid Reaction
Force) mit einer Einsatzkapazität von 70 000–100 000 Soldaten sowie mit stär-
keren Kompetenzen der supranationalen Institutionen ausgestattet sein, um eine
bedeutende Rolle auf der internationalen Bühne spielen und den dauerhaften
Frieden auf dem europäischen Kontinent sichern zu können.13 Eine solche Euro-
päische Union sollte ausschließlich dem Frieden, nicht aber dem Krieg oder der
Expansion dienen. Sie sollte mehr sein als nur eine normative Großmacht, dabei
aber zugleich ausschließlich ein Verteidigungsbündnis bleiben. Geremek sah die
EU in den Jahren 2020–2030 als eine »Föderation der miteinander eng verbun-
denen Völker«, die als etwas Größeres zu betrachten sei als nur als »eine deprimie-
rende Alternative eines um eine Freihandelszone erweiterten Völkerbundes«.14
10 Vgl. Michnik: Wcielenia Bronisława Geremka, S. 21.
11 Bronisław Geremek: Unia Europejska i jej kryzysy. In: Geremek: Głos w Europie, S. 36.
12 Ebenda, S. 46.
13 Vgl. Europ a czynnik pokoju. Wy wiad Philippe’a Nicoleta z Bronis ławem Geremkiem, 6paź-
dziernika 2006 r., Lozanna. In: Geremek: Głos w Europie, S. 52; Bronisław Geremek: Stwo-
rzyliśmy Europę, musimy stworzyć Europejczyków. In: Geremek, Głos w Europie, S. 90.
14 Bronisław Geremek: Integracja europejska po rozszerzeniu: obawy i wyzwania. In: Gere-
mek, Głos w Europie, S. 95.
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XI
Der vorliegende, aus zwei Teilen bestehende Sammelband ist einerseits dem poli-
tischen Denken Bronisław Geremeks sowie seinem Beitrag zur Neuorientierung
der polnischen Außenpolitik nach 1989 gewidmet, andererseits der gegenwär-
tigen Debatte über die Zukunft der EU (Aufbau der EU, ihre Werte, ihre kul-
turelle Identität, ihr kollektives Gedächtnis und grüne Transformation). Solch
einen zweigleisigen Ansatz hielten wir nicht nur deshalb für begründet, weil das
Konzept der europäischen Inte gra tion in der politischen Vorstellung Geremeks
einen langfristigen, mindestens bis in die dritte Dekade des 21. Jahrhunderts
reichenden Prozess darstellte, sondern auch mit Blick auf schwierige Lage, in
der sich die EU in den letzten Jahren wegen der Anhäufung zahlreicher Krisen
befindet: Eurokrise (2010–2018), Flüchtlingskrise (2015–2016 und 2022), geo-
politische Krise wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine (seit 2022) sowie
der als Brexit bezeichnete Austritt des Vereinigten Königreichs (2016–2020) aus
der Europäischen Union.
Das vorliegende Buch ist die Frucht eines am 6. April 2022 unter der Schirm-
herrschaft der Jagiellonen-Universität in Krakau in Zusammenarbeit mit der
Bronisław-Geremek-Stiftung (Fundacja Centrum im. Prof. Bronisława Ge-
remka) und Team Europe veranstalteten wissenschaftlichen Seminars, das im
Rahmen des anlässlich seines 90. Geburtstages vom Senat der Republik Polen
ausgerufenen Bronisław-Geremek-Jahrs abgehalten und vom Rektor der Jagiel-
lonen-Universität in Krakau Prof. Dr. Jacek Popiel sowie dem Dekan der Fakul-
tät für Internationale und Politische Studien Univ-Prof. Dr. habil. Paweł Laidler
eröffnet wurde. Es handelt sich um die erste Veröffentlichung in Europa, die
sowohl das politische Denken von Geremek als auch dessen Einfluss auf die
gegenwärtige Debatte über die Zukunft der EU analysiert. Das interdisziplinäre
Kollegium der Autor:innen des Buches bilden Vertreterinnen und Vertreter aus
Geschichtswissenschaft, Politologie, Rechtswissenschaft und Europastudien so-
wie aus Diplomatie und EU-Beamtenapparat aus Polen und dem Ausland, die
allesamt anerkannte Expert:innen im Bereich des Systems und des Rechts der
Europäischen Union und der EU-Politiken sowie auf dem Gebiet des europäi-
schen Inte gra tionsprozesses im weitesten Sinne sind. Überdies ist dieses Buch
auch ein Beitrag zur »Konferenz zur Zukunft Europas«, einer der größten öf-
fentlichen Debatten in der Geschichte der EU, die vom 9. Mai 2021 bis zum
9. Mai 2022 in allen Sprachen der Mitgliedstaaten durchgeführt wurde.
Krakau, den 1. Februar 2023 Janusz Józef Węc
Bożena Gierat-Bieroń
Aus dem Polnischen von Piotr A. Owsiński
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Teil I
Die Europäische Union und Polen
in einer sich verändernden Welt
Bronisław Geremeks Beitrag zur Neuausrichtung
der polnischen Außenpolitik nach 1989
Zwei Jahrzehnte Dialog (19892008)
Henryk Szlajfer, Polnische Akademie der Wissenschaften (emeritus)
Insured Democracy: NATO and the Community of Democracies
On Minister Bronisław Geremek and his foreign policy
Bronisław Geremek never used the phrase “insured democracy”, but his un-
derstanding of Poland’s foreign policy was focused on the implementation of
two fundamental goals: domestic security and strengthening of the democratic
political order. The parallel implementation of both goals was conditioned by
the place Poland would occupy in Europe and the Atlantic world: in the institu-
tions of European cooperation and integration and in NATO. Membership in
both of these structures at the time when Geremek took up the post of minister
(Oct. 31, 1997) was not, despite the decisions of the Madrid “summit” opening
the way to negotiations, a foregone conclusion. Many factors spoke against
Polish membership. The war in the Balkans (Kosovo) was increasingly consu-
ming Washington’s attention. Agreements reached with Russia in 1997 by the
US and NATO did not inhibit Russian activity aimed at impairing the NATO
enlargement project (“political membership”).
In the world at that time, an important element of the international order was
the “democratic agenda”. The so-called “democratisation wave”, initiated in
the 1980s mainly in Latin America and reaching its climax in Eastern Europe
at the turn of the 1990s, was seen, also by Geremek, as one of the important
insurances of the still feeble Polish democracy. He saw participation in the
international initiative for the promotion of democratic values, institutions and
procedures as an important part of the domestic political agenda. The global-
ly conceived project of Secretary of State Madeleine Albright and Bronisław
Geremek’s Community of Democracies was not just an emotional response,
but also the result of a cool-headed political analysis. A meeting of 107 fo-
reign ministers in Warsaw in 2000 would end with the establishment of the
“Community of Democracies”. However, it would soon dissolve in the heat of
the fighting in Iraq and Afghanistan.
Gesicherte Demokratie:
die NATO und die Gemeinschaft der Demokratien
Bronisław Geremek und seine Außenpolitik
DOI: 10.13173/9783447120241.003
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5
1 Von Małowists Seminar in die Politik
Bevor Bronisław Geremek das Amt des Außenministers zu bekleiden begann,
war er eine der führenden Persönlichkeiten der demokratischen Opposition.
Außerdem gehörte er schon damals zum Kreis der anerkanntesten Historiker.
Allerdings schreibe ich dies nicht ohne eine gewisse Sorge: Denn die Tatsache,
in einer Zeit Historiker zu sein, in der viele Absolventen historischer Fakultäten
der schlimmsten Regierungsmannschaft nach 1989 angehören, regt eher nicht
zu positiven Reflexionen an. An dieser Stelle meine ich also tatsächlich »Histo-
riker« und nicht »Besitzer eines Hochschulabschlusses«.
Geremek war Historiker und einer der Stars der durch das Seminar von Prof.
Dr. Marian Małowist von der Universität Warschau geformten Gelehrten.1 So-
wohl der Hochmeister selbst – wie Małowist von seinen Schülern bezeichnet
wurde – als auch Benedykt Zientara, Antoni Mączak, Henryk Samsonowicz,
Jan Kieniewicz, Michał Tymowski, Jan Szemiński (die Namensliste ist lang)
und gerade auch Geremek führten die polnische Sozial- und Wirtschaftsge-
schichte in internationale Bahnen. Als polnische Historiker befassten sie sich
nicht nur mit der polnischen, sondern auch mit der Weltgeschichte. Geremek,
den Fernand Braudel für »den begabtesten Nachwuchshistoriker« 2 hielt, schrieb
seine Dissertation (1960) zum ema des Handwerks und Arbeitsmarktes im
mittelalterlichen Paris. Nach einigen Jahren »verließ« er aber die Wirtschafts ge-
schich te und befasste sich nach seiner Habilitation (1972) mit den sozialen Rand-
gruppen des mittelalterlichen Paris, die ihm eine relevante Exemplifikation des
Problems des »Fremden« und der sozialen Ausgrenzung zu sein schienen. Trotz
des Interessenwechsels und der Abkehr von der Wirtschaftsgeschichte stand er
damals weiter unter dem unmittelbaren Einfluss von Marian Małowist.3 Nach
der Verhängung des Kriegsrechts geriet die ematik der Habilitation in den
Augen der Gewaltherrscher zum Vorwurf – Geremek, das »antisozialistische
Element«, beschäftigte sich sogar mit der »Perversion«. Die Krönung der wissen-
schaftlichen Tätigkeit des Historikers Geremek war die Stelle als Lehrstuhlin-
haber am Collège de France (Titulaire de la chaire Internationale du Collège de
France), die er im Studienjahr 1992/1993 antrat.
Die Verschränkung von Geschichte und Politik in der öffentlichen Tätigkeit
Geremeks war gewissermaßen natürlich. Aber mit der Einschränkung, dass
das Wort natürlich die Umstände, unter denen es zu solch einer Verschränkung
1 Tomasz Siewierski: Marian Małowist ikrąg jego uczniów. Zdziejów historiografii gospo-
darczej wPolsce, Warszawa 2016.
2 Vgl. ebenda, S. 63.
3 Vgl. ebenda, S. 179.
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6
kam, nicht genau zum Ausdruck bringt. Die Zugehörigkeit zu einer Opposi-
tionspartei sui generis war im autoritären System des »späten Kommunismus«
darauf zurückzuführen, dass man zu einer unterdrückten Gruppe gehörte,
deren Mitglieder die Gefängnisse – und nicht die Flure des Parlamentsgebäu-
des – füllten. Solch ein hartes Schicksal traf Prof. Karol Modzelewski (der so wie
Geremek Mediävist war). Und auch Geremek blieb davon nicht verschont. Als
er im Jahre 1978 die oppositionell gesinnte Gesellschaft der Wissenschaftskurse
(Towarzystwo Kursów Naukowych, TKN) gründete, der auch sein Lehrer Ma-
rian Małowist – der »Hochmeister« – angehörte, erscheint sein gelehrter Beitrag
über die Literatur als wichtige historische Quelle. Darin findet sich die folgende
Feststellung: »Historiographic work, i. e. creativity, intended to record accounts
of past events, is evidence of the weakness of the collective structure that is a
moment to preserve and cultivate memory«.4 Diese sich auf das wissenschaftli-
che Vorgehen eines Historikers beziehende Behauptung, die später auch auf die
Politik übertragen wurde, bekommt eine zusätzliche Dimension: »Politik ohne
Geschichte ist eine dumme Politik. Geschichte bedeutet das, woran die Völker
gemeinsam teilgenommen haben und worauf sie sich berufen können«.5 Um
präzise zu sein, war das weder ein Aufruf zu einer staatlichen »Geschichtspoli-
tik« noch ein Appell zu einer Indoktrination, wie sie von verbissenen, nationalis-
tisch und ethnozentrisch eingestellten Historikern betrieben wird. Er reagierte
entschieden, als man hinter seinem Rücken den Versuch unternahm, die diplo-
matischen Vertretungen zur Verbreitung einer solch primitiven, als Geschichte
verkleideten Propaganda zu nutzen.
Er zögerte auch nicht, nach einem der bürokratisierten Diplomatie fremden, »pro-
fessoralen« Instrumentarium zu greifen. Gleich nach den Parlamentswahlen in
Deutschland im Jahre 1998 kam der neue deutsche, zweifelsohne zum Kreis der
wichtigen und schillernden Persönlichkeiten gehörende Außenminister Joschka
Fischer nach Warschau. Fischer reiste damals als Minister und Vizekanzler über
Warschau nach Paris und London. Er hatte Geremek bereits früher kennen ge-
lernt. Das normalerweise für alle langweilige und anstrengende Abendessen im
Przeździecki-Palast (Foksal) gestaltete Geremek ganz bewusst in ein Seminar
um. »Herr Minister«, sagte er zu Fischer, »es ist sinnlos, die Zeit mit Toasten zu
verlieren. Stattdessen schlage ich vor, dass Herr Redakteur Adam Michnik zu-
4 Bronisław Geremek: Narratives, Conventions and Sources – Literary Work in Research
into Medieval Culture, in: Derselbe On the Middle Ages, Selection of articles by Hanna
Zaremska, Warszawa 2017, S. 626–647, hier S. 629.
5 Vgl. Bronisław Geremek: Europa naprawdę nie ma granic. Nieznane wystąpienie. In:
Gazeta Wyborcz a. MaGazy n Wolna Sobota vom 25.Juli 2015, S. 1. Autorisierte Äußerun-
gen Bronisław Geremeks während des Seminars zu den deutsch-ukrainischen Beziehun-
gen vom 15.Mai 2004, Warszawa, Collegium Invisibile (aus der Sammlung von Łukasz
Adamski).
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7
nächst erklärt, wie wir in Warschau über Russland denken«. Nach dem Auftritt
von Michnik wandte er sich an mich: »Herr Botschafter, erklären Sie bitte Herrn
Minister Fischer, warum wir in Warschau die NATO lieben«. Das Seminar dau-
erte lang und Geremek fand in Fischer einen hervorragenden Partner.
Als Historiker und Politiker war er schließlich imstande, die Bedeutung eines
symbolischen Moments wertzuschätzen. Nicht einmal die schwierigste Vergan-
genheit sollte das Denken an den darauffolgenden Tag bremsen. Als er 1998 in
Aachen den Internationalen Karlspreis zu Aachen entgegennahm,6 wusste er,
dass er dort bei seinem Auftritt Französisch sprechen durfte. Letzten Endes soll-
te er ja in der von »Charlemagne« errichteten Hauptstadt die Ansprache halten.
Allerdings wusste er ebenfalls, dass es geboten war, sich am Krönungsort der
späteren deutschen Könige auch der deutschen Sprache zu bedienen. Erschwert
wurde ihm dies jedoch durch seine Erinnerungen: die grauenhaften Erfahrun-
gen eines jüdischen Jungen aus der Zeit der Nazi-Besatzung, der von einem
edelmütigen Polen gerettet worden war. Darüber sprach er nicht viel, denn das
seien, wie er sagte, in rationellen Kategorien nur schwer zu akzeptierende Erfah-
rungen.7 In Aachen sprach er folglich in der Sprache Heinrich Heines, obwohl
er der französischen Kultur überaus zugeneigt war.
Aber um mich kurz zu fassen, hier nur noch ein paar Worte über Geremek, des-
sen Lehrerin aus Fraustadt (Wschowa), wo er nach 1945 aufwuchs, Folgendes
feststellte: »Broneczek zeichnete sich durch Höflichkeit und Intelligenz aus«.8
Für bare Münze konnten jedoch nur die Naiven die Nachricht nehmen, dass
man dann, wenn man Prof. Geremek auf der Treppe des Parlaments antraf,
nicht wusste, ob er gerade den Sejm betrat oder ihn verließ. Auf das Angebot,
unter einem Schirm Schutz vor dem Regen zu suchen, pflegte er zu antworten,
dass er »zwischen den Tropfen hindurchhuschen« würde. Diejenigen, die seine
guten Manieren sowie seine rhetorische Finesse mit fehlender Entschlossen-
heit ver wechselten, waren schwer im Irrtum. Er war ein Mensch des Dialogs,
aber nicht des Kompromisses um jeden Preis. Und er scheute sich nicht, dies
auch unter Beweis zu stellen. Vielleicht wurde er deswegen nicht zum UN-
Hochkommissar für Menschenrechte gewählt. Nach der Erfahrung mit der
ehe maligen Präsidentin Irlands Mary Robinson wollten die Großmächte keinen
selbst ständigen und politisch bedeutenden Kandidaten mehr auf diesem Posten
sehen. Also wurde damals ein geschätzter hoher Uno-Beamter mit dem Amt des
Kommissars betraut.
6 Roman Herzog erhielt diesen Preis im Jahre 1997.
7 Piotr Bojarski, Włodzimierz Nowak: Bronisław Geremek ucieka z get ta. Chudy chłopak w
czterech swetrach. Gazeta Wyborcza. D y ForMat vom 21.Juli 2008, S. 2.
8 Ebenda.
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8
Lassen Sie uns nun aber zum wichtigsten ema übergehen, also zu den Über-
legungen über Geremek als den Minister, der die Sicherung der polnischen De-
mokratie für seine wichtigste Aufgabe hielt.
2 Auf dem Weg zum NATO-Beitritt
Geremek gebrauchte niemals den Ausdruck »gesicherte Demokratie«. Vielmehr
berief er sich auf eine andere, in der Sache jedoch ähnliche Formulierung. Als er
als Außenminister im Jahre 1998 seine erste Erklärung im Sejm abgab, begann
er mit der Behauptung, dass wir uns bereits in der letzten Phase der »Bemü-
hungen um die institutionelle Bestätigung und Versicherung der Ergebnisse der
demokratischen Revolution aus dem Jahre 1989« befinden, was den NATO-
Beitritt Polens betreffe. In Wirklichkeit war sein Verständnis der »versicherten
Demokratie« breiter: Ihm ging es nicht nur um die politische, militärische und
ökonomische Sicherheit des Staates, sondern auch um eine axiologische, in einer
Verstärkung des demokratischen politischen Systems zum Vorschein kommen-
de Ordnung. Die parallele Verwirklichung der beiden Ziele bestimmte den Platz
Polens in der atlantischen Welt und in Europa: in der NATO sowie in den Ins-
titutionen der europäischen Zusammenarbeit und Inte gra tion. Nicht neben der
NATO und der EU, sondern innerhalb dieser Organisationen werde es möglich
sein, die Position Polens aufzubauen.
Die Mitgliedschaft Polens in diesen beiden institutionell ausgebauten Strukturen
war zu der Zeit, als Geremek das Amt des Außenministers antrat (31. Oktober
1997), weiterhin eine Frage aktueller Verhandlungen und noch keine beschlosse-
ne Tatsache. Im Kontext dieser beiden Ziele verwies Geremek auf den Moment
der Fortsetzung sowie auf die wichtigsten, bereits von den früheren Solidarność-
Regierungen getroffenen Entscheidungen – auch unter seiner Mitwirkung, als er
als Fraktionsvorsitzender der des Bürgerkomitees (Obywatelski Klub Parlamentar-
ny, OKP) und langjähriger Vorsitzender des Parlamentsausschusses für auswärtige
Angelegenheiten tätig war. Entscheidend sei also die Konsequenz des Handelns,
aber auch ein gewisses Gefühl für die Si tua tion. Der Außenminister der Vereinig-
ten Staaten James A. Baker III., der 1990 die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in
Bezug auf Deutschland (und dadurch auch die für Polen günstige Regelung der
deutsch-polnischen Grenze) einleitete, erwähnte, dass die rasche Akzeptanz der
Zwei-plus-Vier-Initiative ein Beispiel der Diplomatie war, »in which I was remin-
ded forcefully that, as location is to real estate, timing is to statecraft«.9
9 James A. Baker III: The Politics of Diplomacy. Revolution, War and Peace 1989–1992,
New York 1995, S. 195. Mehr zum »polnischen Aspekt« jener Verhandlungen: Henryk
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9
Geremek war sich als Politiker und Historiker dessen bewusst, dass das Zeit-
fenster für die Realisierung der auch dank der eigenen großen Anstrengungen
der Polen herbeigeführten Chance nicht ewig geöffnet bleiben würde. Diese
Chance konnte nämlich nicht nur infolge äußeren Drucks, sondern auch durch
innenpolitische Entwicklungen vertan werden. Dabei hatte er die bittere Nie-
derlage in den Wahlen von 1993 (nur vier Jahre nach der Revolution von 1989)
vor Augen, als die einstigen politischen und ideologischen Widersacher an die
Macht gelangten, die sich noch 1993 von der NATO losgesagt hatten. Später
– das heißt im Jahre 1994 – griffen sie den ehemaligen Solidarność-Außen-
minister Krzysztof Skubiszewski frontal an, ohne dabei den ihn unterstützen-
den Minister Geremek und die Regierung zu schonen. Als er im Namen des
außer ordentlichen, sich aus den Mitgliedern der Allianz der Demokratischen
Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD) sowie der Polnischen Volkspar-
tei (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL) zusammensetzenden Unterausschusses
für die Beurteilung des diplomatischen Apparats seine Meinung über die von
ihm geprüften Akten referierte, beschrieb der Berichterstatter die neue Diplo-
matie als Verschwörung von Vertretern mehr oder weniger namhafter Adels-
geschlechter oder gewöhnlichster, sich um die eigenen Interessen ihrer Familien
kümmernder Menschen bzw. kleiner Cliquen. In den inoffiziellen Gesprächen
bediente man sich jedoch eines verständlicheren Ausdrucks – es handelte sich
um eine Verschwörung von »Aristokraten und Juden«.10 1991 oder 1993 von
einem Konsens in der Außenpolitik zu sprechen, hieß, sicher einer Fiktion zu
bedienen. Was aber die NATO betraf… Bezüglich dieser Frage kam es mehr
als zehn Jahre später zu einem interessanten Meinungsaustausch zwischen den
drei ehemaligen Außenministern. Als sich Geremek zu seinem Treffen mit einer
US-amerikanischen Delegation äußerte, die Ende 1993 zu Gesprächen über
das vom US-Verteidigungsminister vorgeschlagene Programm Partnership for
Peace nach Polen gereist war, berichtete er über eine Feststellung des damaligen
SLD-Chefs Aleksander Kwaśniewski:
Herr Geremek hat die Wahlen verloren. Ich habe sie wiederum gewonnen,
denn wir haben unterschiedliche Standpunkte zur NATO vertreten. Wir wa-
ren gegen den NATO-Beitritt, sie waren dafür, aber sie haben keine Ant-
wort von den USA bekommen. Die Wahlen haben stattgefunden […] und ich
möchte die amerikanische Delegation darüber in Kenntnis setzen, dass mei-
ne Gruppierung den NATO-Beitritt Polens unterstützen wird.
Szlajfer: Wobec Stanów Zjednoczonych: minister Krzysztof Skubiszewski, czyli lekcja ra-
cji stanu. Kilka refleksji. In: Agnieszka Bieńczyk-Missala, Roman Kuźniar (Hrsg.): Dziedzic-
two Krzysztofa Skubiszewskiego w polityce zagranicznej RP, Warszawa 2020.
10 Henryk Szlajfer: Dwa światy: 1989–2019. Polska polityka zagraniczna czasu rewolucji i
czasu niepewności, rocznik StrateGiczny 25 (2019/20), S. 475.
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10
Włodzimierz Cimoszewicz versuchte die äußerst aufrichtige Äußerung von
Kwaśniewski abzumildern:
An dem vor einem Augenblick erwähnten Treffen habe ich nicht teilgenom-
men und kenne die Feststellung Aleksander Kwaśniewskis nicht. Ich möchte
aber etwas betonen. Zwischen 1990 und 1992 hatte mein politisches Mi-
lieu Zweifel an der Notwendigkeit von Polens NATO-Beitritt. Ich erinnere
mich jedoch nicht daran, dass das Problem der polnischen NATO-Mitglied-
schaft im Wahlprogramm von 1993 besonders akzentuiert behandelt wor-
den wäre.
Andrzej Olechowski pointierte wiederum: »Es ist eine Tatsache, dass das Postu-
lat einer NATO-Mitgliedschaft Polens von der Arbeitsunion (Unia Pracy, UP)
ins Regierungsprogramm eingebracht wurde, die jedoch später gar nicht der
Regierungskoalition beigetreten ist«.11
Im Herbst 1997, als Geremek das Amt des Außenministers antrat, war dieser
innerstaatliche Streit um die NATO schon Geschichte. Aber der Erfolg des ge-
lungenen Abschlusses der bereits andauernden Verhandlungen verlangte Konse-
quenz im Handeln und auch die Berücksichtigung eines Spielraums für den Fall
eines unkalkulierbaren Verhaltens seitens der SLD-Opposition und vor allem
wegen des externen Widerstands seitens der künftigen Verbündeten. Trotz der
in Madrid getroffenen Entscheidung, Polen zu den Verhandlungen einzuladen,
war die polnische NATO-Mitgliedschaft beim Amtsantritt Geremeks noch kei-
ne ausgemachte Sache. Die Mitgliedsländer, darunter auch ein Teil der amerika-
nischen Eliten (ganz zu schweigen von den europäischen), waren 1997 nicht fest
entschlossen, die begonnenen Verhandlungen relativ schnell und erfolgreich zu
beenden. Viele Umstände sprachen gegen die polnische NATO-Mitgliedschaft.
Die Balkankriege und insbesondere die Eskalation des Kosovo-Konflikts nah-
men die Aufmerksamkeit Washingtons in zunehmendem Maße in Anspruch.
Die in der ersten Hälfte des Jahres 1997 geschlossenen Abkommen der USA
und dann der NATO mit Russland hemmten keineswegs die russischen Ak-
tivitäten, die auf eine Vereitelung des Projekts der NATO-Osterweiterung ab-
zielten. Konkret ging es um die vom russischen Außenminister und späteren
Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow unterstützte Idee einer »politischen
Mitgliedschaft« Polens, Tschechiens und Ungarns. Gegen Ende der »Ära Jelzin«
waren die polnisch-russischen Beziehungen ohnehin nicht besonders gut. Zu-
gleich ruhte der noch vom früheren Minister Dariusz Rosati (SLD) ausgehan-
delte Vorsitz Polens in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE) seit Januar 1998 auf Geremeks Schultern. Zwar hatte die OSZE
11 Polska i świat (zapis dyskusji), Fundacja im. Stefana Batorego, Warszawa 2007, S. 16,
19–20.
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11
damals eine etwas größere Bedeutung als heute, aber der OSZE-Vorsitz verkom-
plizierte die polnische Politik. Die Kombination der Rolle des internationalen
Schlichters mit den Ver handlungen bezüglich eines schnellen NATO-Beitritts
Polens (mit Russland als Widersacher) stellte nicht unbedingt eine Quadratur
des Kreises dar, aber sie ver langte doch besondere Verhandlungsfertigkeiten. In
diesem Sinn übernahm Geremek zur rechten Zeit das Amt des Außenministers.
Positiv beurteilte er in seinem Exposé von 1998 die im Rahmen der OSZE ge-
führten Verhandlungen über die Veränderungen im Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa (Con ventional Forces in Europe Treaty, CFE), die eine
wirksamere Kontrolle über die Dislokation der wichtigen Elemente des Verteidi-
gungspotenzials ermög lichten. Dabei betonte er gleichzeitig (mit dem Gedanken
an den NATO-Beitritt), dass die »neuen Vertragsregelungen […] die Fähigkeit
des Bündnisses für die Ausübung von Art. 5 keinesfalls blockieren dürften. […]
Sie dürfen auch die nationalen Verteidigungskräfte nicht schwächen«.12 Dieser
Vorbehalt betraf in direkt die Bemerkung in der 1997 unterzeichneten NATO-
Russland-Grundakte:
Die NATO und Russland sind der Auffassung, dass ein wichtiges Ziel der
KSE-Vertragsanpassung in einer deutlichen, mit den legitimen Verteidi-
gungserfordernissen jedes Vertragsstaats vereinbaren Verringerung des
Gesamtumfangs der durch den Vertrag begrenzten Ausrüstungen, die im
Anwendungsgebiet des Vertrags erlaubt sind, besteht.13
Zu Beginn des Jahres 1999 wurde von einem Teil des militärischen Apparates
der USA schließlich der verzweifelte Versuch unternommen, die Entscheidung
über die NATO-Erweiterung zu verzögern (oder sie gar zu blockieren). Vielmehr
verlangten die Verhandlungen über den NATO- und EU-Beitritt jetzt nach
Strategien, dank denen die interne Kompatibilität mit den beiden Institutionen
gewährleistet werden konnte. Im Fall der NATO verlief dies nicht reibungslos,
was die amerikanischen Gegner einer NATO-Erweiterung übertrieben hervor-
hoben. Zwar war es keine der Aufgaben des Außenministers, diese Barrieren zu
durchbrechen, aber der Politiker Geremek konnte sich dieser Herausforderung
wiederum auch nicht entziehen. Auf jeden Fall war es für ihn offensichtlich,
12 Bronisław Geremek: Informacja Ministra Spraw Zagranicznych o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski, przedstawiona na 13. posiedzeniu Sejmu RP III Kaden-
cji, 5 marca 1998, S. 159.
13 Grundak te über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der
Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation, 27.Mai 1997, In: Bul-
letin der Bundesregierung vom 3.Juni 1997, https://www.bundesregierung.de/breg-de/
service/bulletin/grundakte-ueber-gegenseitige-beziehungen-zusammenarbeit-und-
sicherheit-zwischen-der-nordatlantikvertrags-organisation-und-der-russischen-foedera-
tion-1--803640/, S. 1-23 (23.03.2023).
DOI: 10.13173/9783447120241.003
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12
dass »die polnische Mitgliedschaft in der NATO und der EU-Beitritt Polens als
kommunizierende Röhren zu betrachten sind und somit eine große nationale
Angelegenheit sind. Anders kann es auch gar nicht sein. An der Schwelle zum
7. Jahrhundert v. Chr. schrieb Archilochos: ›Der Fuchs kennt viele verschiede ne
Sachen, der Igel aber nur die wichtigste‹. In unserem Handeln wollen wir zwei-
fellos dem Igel-Modell näher als dem des Fuchses sein«.14
In der Truman-Bibliothek in Independence unterzeichnete Geremek am
12. März 1999 im Beisein der US-Außenministerin Madeleine Albright sowie
in Gegenwart der tschechischen und ungarischen Minister die Beitrittserklä-
rung Polens zur NATO. Dies war – wie er auch selbst mehrmals betonte – jener
Moment, an dem seine Träume von einem sicheren, in den atlantischen Struk-
turen an seinem Platz in Europa verankerten Polen in Erfüllung gingen. Dieser
Teil der Aufgabe, dem polnischen Staat einen Platz innerhalb der Strukturen
der NATO zu gewährleisten, wurde umgesetzt. In den nächsten Jahren sollten
die Anstrengungen wiederum darauf gerichtet sein, dieser Mitgliedschaft eine
konkrete Dimension zu verleihen, also um Veränderungen in der polnischen
Armee sowie um die Präsenz der NATO auf dem erweiterten Vertragsgebiet,
sodass Art. 5 des Vertrags konkret mit Inhalt gefüllt werden konnte und die von
eodore Roosevelt bestimmten Bedingungen – »Let us speak courteously, deal
fairly, and keep ourselves armed and ready« – erfüllbar waren. Nichtsdestotrotz
hielten sich die Regierungen der USA sowie der europäischen Verbündeten bis
2014 – das heißt bis zur russischen Annektierung der Krim – konsequent an die
1997 mit Russland getroffene Vereinbarung zur Begrenzung der militärischen
Macht der NATO an der Ostflanke:
Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorher-
sehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Auf-
gaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität,
Inte gra tion und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätz-
lich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.15
Ein ungeplantes Ergebnis von Putins Politik sollte dann die schrittweise Elimi-
nierung dieser Begrenzungen sein. Der russische Angriff auf die Ukraine am
24. Februar 2022 beschleunigte nur diesen Prozess. Geremek strebte aber im
Jahre 1999 ebenfalls nach der Realisierung des 1998 von ihm angekündigten
Plans, dem zufolge die Beziehungen mit den USA nach dem NATO-Beitritt
14 Kontynuacja i nowa dynamika. Wypowiedź Ministra Spraw Zagranicznych Bronisława
Geremka na spotkaniu z korpusem dyplomatycznym 12 listopada 1997, Warszawa (Ko-
pie in der Sammlung des Autors).
15 G rundakte, S. 20.
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13
Polens einen »vollauf, tatsächlich und formal bündnisstiftenden und auf regio-
naler Ebene privilegierten Charakter haben«.16
In den schwärzesten Träumen malte sich jedoch niemand – auch Geremek
nicht – aus, dass die polnische Glaubwürdigkeit 20 Jahre nach dem NATO-
Beitritt Polens in Frage gestellt werden würde. Wie weit das 1999 erreichte Er-
gebnis von der seit 2015 in Polen regierenden Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość,
dt. Recht und Gerechtigkeit) erschüttert wurde, zeugt u. a. der 2019 von zwei
Veteranen der amerikanischen Diplomatie sowie der Streitkräfte verfasste Be-
richt über die Si tua tion und die Zukunft der NATO. General Douglas Lute und
Botschafter Nicholas Burns, hochrangige Mitarbeiter der US-Präsidenten G.W.
Bush und Barack Obama, stellten fest:
NATO is struggling to confront a potentially cancerous threat from within.
Three allied governments – Poland, Hungary and Turkey – have under-
mined their own democracies in varying degrees by suppressing free speech
and a free press and limiting the independence of the courts.As NATO is,
first and foremost, an alliance of democracies, the actions of these govern-
ments threaten the core values – democracy, individual liberty and the rule
of law – to which each ally is committed in the North Atlantic Treaty.17
Dies war eines der vielen Anzeichen der Beunruhigung wegen der Si tua tion in
Polen und wegen seines Platzes innerhalb der NATO-Struktur. Angesichts der
für einen gemeinsamen Standpunkt und ein kohärentes Handeln der NATO des-
truktiven Schritte des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, dessen Politik sich
durch eine geradezu transaktionsbezogene Herangehensweise an die Frage der
Sicherheit der atlantischen Welt kennzeichnete, führte die Innenpolitik der PiS de
facto dazu, die Glaubwürdigkeit der Bündnisgarantie in Frage zu stellen.18 Um es
noch einmal zu betonen – es ist gewissermaßen ein Nebeneffekt des aggressiven
Kriegs, der der Ukraine am 24. Februar 2022 von Putins Russland aufgezwun-
gen wurde, ist, dass die polnische Politik aus der Marginalisierung, in die sie von
der PiS-Regierung hineinmanövriert wurde, herausgeholt wird. Es war vor allem
das polnische Volk, das – sozusagen als größte Nichtregierungsorganisation in
Polen – eine Antwort auf die Ankunft von Millionen ukrainischer Geflüchteter,
Frauen und Kinder, gab. In diesem kritischen Moment ersetzte das Volk staat-
16 Bronisław Geremek: Informacja Ministra Spraw Zagranicznych o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski, przedstawiona na 13. posiedzeniu Sejmu RP III Kaden-
cji, 5 marca 1998, S. 166.
17 Douglas Lute, Nicholas. Burns: NATO at Seventy. An Alliance in Crisis, Harvard Kenne-
dy School Belfer Center for Science and International Affairs, Cambridge, MA, February
2019, S. 4.
18 Szlajfer: Dwa światy, S. 488-490.
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14
liches Handeln. Fast über Nacht wurde das weder vollends demokratische noch
vollends autoritäre Polen zu einem relevanten Element der amerikanischen Poli-
tik in Osteuropa. Die Parteiführer und Aktivisten konnten erleichtert aufatmen
und mit stolz geschwellter Brust dastehen. Alles in allem – nichts Neues in der
amerikanischen Strategie des internationalen Handelns angesichts einer Gefahr.
3 Demokratische Agenda
Die in den 1970er Jahren in Südeuropa (Portugal, Spanien) eingeleitete Demo-
kratisierungswelle, die im darauffolgenden Jahrzehnt vor allem Lateinamerika
erreichte, um schließlich in den 1980er und 1990er Jahren nach Osteuropa zu
gelangen, wurde auch von Geremek als eine der wichtigen Sicherungen der noch
fragilen Demokratien wahrgenommen, zu denen auch die polnische Demokra-
tie gehörte. Die Beteiligung an der Verbreitung der demokratischen Werte, In-
stitutionen und Prozeduren – also im wahrsten Sinne des Wortes an einem glo-
balen Projekt – erkannte er als gewichtiges Element in der inneren politischen
Agenda. Hierbei betonte er das Wesen der Zugehörigkeit zu Europa:
Europa hat wirklich keine Grenzen. Wie kann man die Grenzen Europas
bestimmen? Kann man sagen, dass 3 Prozent der Türkei europäisch sind
und der Rest schon den asiatischen Steppen gehört? Im Grunde genommen
bestimmt jede Generation die Grenzen Europas. Eine Grenze soll jedoch
eindeutig sein: die axiologische Grenze, die Grenze des Wertesystems, die
Grenze der Regeln in der politischen Praxis. Dies sind die Kopenhagener
Kriterien. Dies ist die Frage: Was ist mit der Demokratie, mit dem Rechts-
staat, mit der Freiheit, mit der Achtung und dem Schutz von Minderheiten?19
Es verwundert also wenig, dass er in seiner Rede vor dem diplomatischen Korps
gleich nach seinem Amtsantritt sagte:
Ich möchte mehr Aufmerksamkeit auf die menschliche Dimension unserer
Außenpolitik richten. Es liegt keine rhetorische Emphase in der Feststellung,
dass Polens Weg in die NATO und in die EU – und noch breiter gesehen–
zum Erreichen einer dauerhaften Autorität und eines Ansehens in der Re gion
sowie in der Welt immer über Straßburg führt, das heißt über den Sitz des
Europarates und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.20
19 Geremek: Europa naprawdę nie ma granic, S. 2.
20 Kontynuacja i nowa dynamika. Wypowiedź Ministra Spraw Zagranicznych Bronisława
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15
Mehr als zwei Jahre später setzte er diesen Gedankengang in seiner Regierungs-
erklärung fort:
Die Verwirklichung der polnischen Interessen verlangt auch, über den Tel-
lerrand hinauszuschauen, in eine weite Zukunft zu blicken und uns für den
Bau von Fundamenten einer internationalen Ordnung einzusetzen, die un-
seren langfristigen Interessen entspricht.
Die demokratische Agenda war ein Teil dieser Perspektive. Die polnische Au-
ßenpolitik, so betonte er, ziehe ihre Kraft daraus, dass Werten wie Freiheit,
Gerechtigkeit, Menschenwürde und menschlicher Solidarität Bedeutung bei-
gemessen wird: »Bei aller Achtung vor Realismus und Pragmatismus betrachte
ich diese Werte als handlungsleitend«.21
Die so umrissene Agenda setzte gleichzeitig voraus, dass demokratische Wah-
len, sofern sie allgemein sind, im Grunde genommen die beste Absicherung der
als Interessen von Staat, nationaler Gemeinschaft und Individuen verstandenen
polnischen Staatsräson sind. Es war eine Zeit des Optimismus, trotz des Tian’an-
men-Massakers in Peking (1989), trotz des Bosnienkrieges und trotz der Vernich-
tungskriege in manchen Teilen Afrikas (vor allem in Ruanda 1994). Es klingt
wie eine düstere Groteske, aber man konnte neben diesem Übermaß an Unglück
den Eindruck gewinnen, dass die demokratische Ordnung als Sammlung von
Institutionen und Wertesystemen im Aufschwung begriffen war. Allerdings war
dies nicht mit dem häufig falsch interpretierten »Ende der Geschichte« zu ver-
wechseln. Ganz im Gegenteil! Es schien, als ob wir die Zeugen des Anfangs der
wahren Geschichte seien, die sich diesmal auf die menschlichen Bedürfnisse so-
wie auf die Freiheit von Armut und Bedrängnis konzentrieren würde.
In diesem Kontext erblickte das gemeinsame und global angelegte, im Laufe
der Arbeitsvorbereitungen als Towards a Community of Democracies bezeichnete
Projekt der damaligen US-Außenministerin Albright und Geremeks das Licht
der Welt. Die amerikanisch-polnische Idee verwandelte sich in eine breitere In-
itiative. An ihrer Vorbereitung beteiligten sich auch Chile, Tschechien, Indien,
Südkorea und Mali. Die Teilnahme Indiens war besonders bedeutsam: Diese
Tatsache entkräftete nämlich die Argumente seitens der Kritiker, die behaupte-
ten, es habe sich dabei um eine rein amerikanische Unternehmung gehandelt.
Eine ähnliche Bedeutung hatte auch die aktive Teilnahme des südafrikanischen
Außenministers an der Konferenz. Die Idee, den einst auf allen Kontinenten
initiierten Demokratisierungswellen neue Impulse zu verleihen, schien eine po-
21 Bronisław Geremek: Informacja Ministra Spraw Zagranicznych o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski, przedstawiona na 78. posiedzeniu Sejmu RP III Kaden-
cji, 9 maja 2000. In: Exposé Ministrów Spraw Zagranicznych 1990–2013, Warszawa
2013, S. 223–224.
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16
sitive Antwort zu sein, die sowohl auf Werten als auch auf pragmatischen Vor-
aussetzungen basierte. Es handelte sich um die Schaffung einer gemeinsamen
Grundlage für den Dialog und für die Zusammenarbeit zwischen den »reifen
Demokratien« und den sog. fragile democracies oder emerging democracies.
Unter den 107 Außenministern und Staatssekretären war auch ein Vertreter
Russlands anzutreffen. Schließlich wurde ebenfalls der Versuch unternommen,
die Diskussionen von Regierungsvertretern auf Außenminister-Ebene durch
Gespräche zwischen mehreren Hundert Vertretern von Nichtregierungsorgani-
sationen aus aller Welt zu begleiten.
Einige Wochen vor dem Beginn der Konferenz berichtete Geremek in seinem
Exposé: »Hier im Gebäude des polnischen Parlaments, das die Traditionen der
polnischen Demokratie repräsentiert, findet am 26. und 27. Juni die erste inter-
nationale Konferenz von weltweiter Bedeutung über die Demokratie statt«.22
Die Abgeordneten reagierten mit Gleichgültigkeit auf diese Nachricht. Anders
als Sejmmarschall Maciej Płażyński – ein politischer Gegner Geremeks –, der
sich für die Konferenzinitiative aussprach, war Alicja Grześkowiak, die da-
mals dem Oberhaus des polnischen Parlaments als Senatsmarschall vorstand,
aus fraglichen Gründen nicht damit einverstanden, den Konferenzteilnehmern
einen Teil der Räume des Senatsgebäudes zur Verfügung zu stellen, weil sie
seine »Würde« schützen wollte. Dies war kein gutes Omen, aber das sollte sich
erst in der Zukunft zeigen, als die inneren Bedrohungen für die polnische De-
mokratie an der Tagesordnung standen. Im Jahre 2000 wurde die Möglichkeit
des Verfolgens und der Erweiterung der demokratischen Agenda als natürliche
Schwächung – wie man es beurteilte – des Lagers der »Freiheitsfeinde« wahrge-
nommen. In seiner die Konferenz eröffnenden Ansprache stellte Geremek fest:
»Democracy today is not, by and large, under threat from external enemies.
ese still exist but they are on the defensive. If anything, it is they who are
›threatened‹ by democracy. [] ere is no sign of any serious totalitarian alter-
native looming on the horizon«. In Einklang damit stand auch die Feststellung
von Joschka Fischer: »Never before in history has democracy been so widespread
as it is today. And there is a good chance that this trend will continue«. Zugleich
fügte er aber hinzu: »Triumphalism on the glorious progress of democracy all
over the world is inappropriate«. Ebenso vorsichtig wählte Uno-Generalsekre-
tärs Kofi Annan seine Worte: »this last year alone has witnessed a troubling
number of cases where democratic rule has been subverted, or maintained in
name only, while in reality authoritarian government has taken over«.23
22 Ebenda, S. 224.
23 Alle Zitate stammen aus Towards a Community of Democracies, Warsaw, Poland 26–27
VI 2000 (Dokumente). in: the PoliSh Quarte rly oF international aFFairS 9 (2000), H. 2 (Bei-
lage), S. 13, 28, 41.
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17
Trotz der Komplikationen, die durch den Zerfall der Koalition aus AWS (Akcja
Wyborcza Solidarność, dt. Wahlaktion Solidarność) und UW (Unia Wolności,
dt. Freiheitsunion) und den Rücktritt der Regierung von Jerzy Buzek ausgelöst
wurden, waren nicht nur die Organisation der Konferenz, sondern auch deren
Rang und Verlauf ein Erfolg von Geremek. Dank der hervorragenden Zusam-
menarbeit der beiden Politiker wurde vereinbart, dass Minister Geremek erst
einige Tage später – also erst nach der Konferenz – zurücktreten würde, damit
keine zusätzlichen Schwierigkeiten entstünden. Somit leitete er die Begegnung
von 107 Außenministern und mehreren Ehrengästen (darunter Kofi Annan und
die ehemaligen Präsidenten Argentiniens und Brasiliens), die die Community
of Democracies ins Leben riefen und die Warsaw Declaration annahmen. Die
Erklärung konkretisierte die Aufgaben im Zusammenhang mit der Verbreitung
und Stärkung der demokratischen Agenda in enger Zusammenarbeit mit Nicht-
regierungsorganisationen.
Es ging nicht ohne Probleme ab, die der französische Außenminister Hubert
Védrine bereitete: Es war nämlich nur die französische Delegation, die die War-
saw Declaration nicht unterzeichnete. Paradoxerweise verschaffte Védrine der
Kon ferenz dank dieser Entscheidung eine globale PR. Dieser gegen die USA
gerichtete polemische Schritt resultierte aus der falschen Annahme, dass es die
Absicht der Konferenz gewesen sei, ein einziges Modell der Demokratie sowie
die Mittel zu deren Erreichung aufzuzwingen. Védrine sagte:
The West must echew any behaviour which could create the impression it is
using the general aspiration to democracy and respect for human rights[]
for the purpose of advancing political, economic or cultural influences or
dominance just as the fruitful principle of free trade is exploited for the
same ends.24
Ohne den Namen des französischen Ministers zu nennen, antwortete Madeleine
Albright darauf: »We did not come to Warsaw to impose democracy […]. Dicta-
tors impose; democracy is chosen. Nor is democracy a religion […]«.25 Die Com-
mu nity of Democracies bewährte sich nicht als eine Idee, die imstande gewesen
wäre, die politische Vorstellungskraft in Gang zu setzen. Über ihren schnellen
Nie der gang entschieden die islamistischen Terroristen sowie die ameri ka nische
24 Ebenda, S. 36.
25 Ebenda, S. 46. Hierbei sei anzumerken, dass Geremek offenbar annahm (oder wusste?),
dass Minister Hubert Védrine während der geplanten Konferenz für Probleme sorgen
konnte. Einige Tage vor der Konferenz ließ er mich den Minister anrufen, um ihm zu sig-
nalisieren, dass er lieber nicht kommen solle. Dank eines Zufalls gelang es mir tatsächlich,
Védrine diesen Ratschlag in einem persönlichen Gespräch mitzuteilen. Danach kam es
dann so, wie bereits geschildert.
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Antwort auf die Terroranschläge am 11. September 2001. Die in den Hinter-
grund gedrängte demokratische Agenda wurde zu einem der Opfer der Kämpfe
im Irak und in Afghanistan.26 Hinzu kamen weitere Faktoren. An dieser Stelle
meine ich einerseits die rasche Evolution der russischen Politik, die ihren Höhe-
punkt – wie es uns erschien – im Jahre 2014 in Form der Annexion der Krim
erreichte, sowie andererseits die Abkehr von der liberalen Demokratie, wie sie in
vielen Ländern, darunter auch in Polen (nach 2015) und in Ungarn, stattfindet.
Als Joe Biden am Ende des Jahres 2021 auf die Idee kam, der demokratischen
Agenda einen neuen Impuls zu geben (Summit for Democracy), war sie von der
nächsten Bedrohung seitens Russlands überschattet. Im Kontext der gemein-
samen Initiative von Geremek und Albright (1999–2000) sprach die bis zu-
letzt bestehende Ungewissheit, ob der polnische Präsident tatsächlich zu dieser
Gipfelkonferenz eingeladen werden würde, Bände über die bitteren Früchte der
Politik der PiS und über das Ausmaß des Rückgangs der Demokratie in Polen.
Ungarn, Kuba, Venezuela, China und Nordkorea erhielten keine Einladung.
4 Ukraine, Polen, Deutschland
Im Handeln Geremeks, das auf eine Sicherung der polnischen Interessen und
das Schaffen von für die Konsolidierung der demokratischen Ordnung günsti-
gen Bedingungen gerichtet war, hatte die Ukraine stets einen besonderen und
exponierten Stellenwert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war – wenn wir da-
bei die russische Enklave des Kaliningrader Gebietes unberücksichtigt lassen –
die Ukraine das größte Nachbarland Polens entlang der gesamten südlichen und
östlichen Grenze. Sie spielte zudem eine Schlüsselrolle bei der Beschränkung der
Möglichkeit eines Wiederaufbaus des imperialen Russlands, worüber aber an
dieser Stelle nicht mehr gesagt werden soll. In den Überlegungen von Geremek
stellte sie somit weder einen Gegenstand prometheischer Maßnahmen noch eine
Verkörperung der Jagiellonischen Idee dar. Vielmehr war sie in seinen Augen ein
potenziell starker Partner, der die Chance hatte, sich an einer Neudefinition der
Beziehungen an der Grenze mit Russland zu beteiligen.
Bereits in seiner ersten öffentlichen Rede als Minister stellte er den Wert der Be-
ziehungen mit der Ukraine in den Vordergrund und verwies auf die Umstände,
26 In den Folgejahren tauchte die modifizierte Initiative der Community of Democracies wäh-
rend der Gespräche zum Thema des Projektes »Demokratie-Konzert« in den USA auf.
Ivo Daalder, James Lindsay: Democracies of the world, unite. In: the aMerican intereSt 2
(2007) H. 3 (Januar – Februar), S. 5-19; James M. Lindsay: The case for a concert of de-
mocracies. In: ethicS & int ernational aFFairS 23 (2009), H . 1, S. 5 11.
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die das Überleben des ukrainischen Staates ermöglichen. Als Historiker war er
sich auch des nicht besonders ermutigenden Erbes der polnisch-ukrainischen Be-
ziehungen bewusst: »Mit der Ukraine haben wir nichts erreicht. Aus dem polni-
schen Blickwinkel war die polnische Politik seit dem 17. Jahrhundert eine erfolg-
lose Politik. Sie war auch erfolglos gegenüber unseren nächsten Nachbarn«.27
Bereits einige Tagen nach seinem Amtsantritt erklärte er den in Warschau ak-
kreditierten Botschaftern, dass »die unaufhörliche Stärkung der internationalen
Position der Ukraine samt deren demokratischer Orientierung und Stabilität«
zu den »heute ebenso wie gestern wichtigen«
28 zentralen Aufgaben der polni-
schen Politik gehörte. Einige Monate später verstärkte er diese Botschaft in einer
Rede im Sejm noch weiter:
Die unabhängige Ukraine besitzt eine strategische Schlüsselbedeutung für
Polen sowie für seine Sicherheit und die Stabilität in der Region. Deswegen
haben die beiden Staaten ein Interesse an der Aufrechterhaltung privile-
gierter Beziehungen mit der Ukraine, was überdies die Verstärkung der
euro päischen Sicherheit begünstigt.29
Vielleicht war diese polnische Stimme im damaligen Europa nicht unbedingt
isoliert, aber sie traf sicherlich nicht auf breiteren Widerhall und mutete wohl
eher wie ein polnisches Steckenpferd an. Dies sollte sich schon bald zeigen, als
im Jahre 2004 im Verlaufe der als Reaktion auf die Wahlfälschungen des von
Russland unterstützten Präsidentschaftsanwärters Wiktor Janukowytsch ausge-
brochenen Orangenen Revolution in Kiew unter Mitwirkung von Aleksander
Kwaśniewski ein Kompromiss ausgehandelt wurde, der den Weg zur Wieder-
holung der Stichwahl für das Präsidentenamt öffnete.30 Es wäre durchaus eine
27 Geremek: Europa naprawdę nie ma granic, S. 2.
28 Kontynuacja i nowa dynamika. Wypowiedź Ministra Spraw Zagranicznych Bronisława
Geremka na spotkaniu z korpusem dyplomatycznym (Kopie in der Sammlung des Autors).
29 Bronisław Geremek: Informacja Ministra Spraw Zagranicznych o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski, przedstawiona na 13. Posiedzeniu Sejmu RP III Kaden-
cji, 5 marca 1998, S. 170.
30 Tomasz Stępniewski: Miejsce Ukrainy w polit yce wschodniej Polski po 2004 roku. In: SPra-
Wy M DzynaroDoWe 71 (2018), H. 3, S. 173–193. Dazu eine kurze Reflexion: Nach dem
Abschluss des Kompromisses fuhr ich auf Anweisung von Minister Adam D. Rotfeld nach
Brüssel, um dort vorzuschlagen, den Punkt »Ukraine« auf die Tagesordnung von COREPER
(des Ausschusses der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten, AStV) zu setzen. Zugleich
sollte ich – als Mitglied der die »Verhandlungen führenden« Gruppe in Kiew – den west-
lichen Politikern Informationen über den Ablauf der Ereignisse übermitteln, die zum Kom-
promiss geführt hatten. Dieses Geschehen, das wir aus unserer Perspektive als Ereignis von
epochaler Bedeutung beurteilten, wurde von der Mehrheit meiner Brüsseler Gesprächs-
partner aus dem »alten« Europa geradezu leichtsinnig, in jedem Fall aber nicht allzu ver-
antwortungsvoll wahrgenommen.
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Übertreibung, zur damaligen Zeit von einer konsequenten Politik Europas oder
Amerikas gegenüber der Ukraine zu sprechen. Schon wenige Monate vor den
revolutionären Ereignissen auf dem Majdan-Platz (2004) hatte sich Geremek,
damals bereits Europaabgeordneter, zum ema der Ukraine geäußert. Trotz
der Enttäuschung angesichts der zur Regierungszeit des Präsidenten Leonid
Kutschma zu langsam voranschreitenden Veränderungen am Dnjepr – die in
manchen Bereichen sogar als Rückschritt wahrgenommen werde mussten – hat-
te Geremek keinen Zweifel: »Es ist völlig klar, dass wer auch immer aus Polen
über die Ukraine spricht, stets ein Interesse an der Ukraine hat«.31 Diese Äuße-
rungen bezogen sich – mehr als ein Jahrzehnt nach der Gründung des unabhän-
gigen ukrainischen Staates – auf Überlegungen zur deutschen Politik gegenüber
Kiew. Er fragte:
Kann man sagen, dass Deutschland Polen und die Ukraine auf dieselbe Art
und Weise behandelt? Ich wäre mir da nicht so sicher. Es scheint mir,
Deutschland würdige die Bedeutung Polens, aber die Bedeutung der Uk-
raine schätzt es nicht hoch genug ein. […] Deutschland weiß mehr von Est-
land oder Lettland, aber sehr wenig über die Ukraine. Deutschland sieht
weder eine politische Rolle noch einen Platz für die Ukraine in Europa.
Ist dies auf unterschiedliche Betrachtungsweisen Europas, des historischen Er-
bes oder der Beziehungen mit Russland zurückzuführen? Sicherlich, aber Gere-
mek fügte zugleich hinzu: »Es gibt so etwas wie eine emotionale Nachbarschaft.
Ein bisschen kommt sie momentan im Verhältnis Kiews mit Warschau, mit
Berlin vor. Aber nicht im Verhältnis Berlins mit Kiew«. Dann schlussfolgerte er:
Wenn wir […] die Deutschen dazu überreden wollen, sich für die Ukraine zu
interessieren und mehr über die Ukraine zu wissen, dann müssen wir ihnen
ihr Eigeninteresse daran aufzeigen […]. Für mich ist es wichtig zu beobach-
ten, welche Beziehungen zwischen der Ukraine und Deutschland bestehen,
weil das für die Ukraine, für Europa und für Polen von Bedeutung ist.
Geremek wäre mit der deutschen Antwort auf die gegenwärtigen, vom russi-
schen Aggressor ausgelösten Verheerungen der Ukraine nicht zufrieden gewe-
sen. Ich denke jedoch, er hätte den Versuch eines Kurswechsels in der deut-
schen »Ostpolitik« bemerkt, die die im Verlaufe der letzten 50 Jahre gestaltete
politische DNA Deutschlands darstellt. Ihm wären ebenfalls die Elemente der
kritischen Reflexion in der öffentlichen Debatte der Deutschen aufgefallen. Er
hätte wahrscheinlich hinzugefügt:
31 Geremek: Europa naprawdę nie ma granic, S. 2. Alle weiteren Zitate im vorliegenden
Unterkapitel entstammen diesem Text.
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Eine Garantie auf Beständigkeit kann es nicht geben. Mit dem guten Willen
einiger Politiker halten die Taten nicht Schritt. Wir haben es also lediglich mit
einem Versprechen zu tun. Aber daran muss weiter gearbeitet werden, ob-
wohl die Zeit knapp ist. Die politische (Selbst-)Blamage Deutschlands liegt
weder im Interesse Europas noch im polnischen Sicherheitsinteresse. Und
für die Ukraine ist sie nicht hilfreich.
Über Frankreich – das heißt über »diesen fortwährend sentimentalen Nach-
barn« Polens – hätte sich Geremek wohl schärfer geäußert. Wie er auch im Jah-
re 2000 nicht zögerte, dem französischen Minister, der übrigens sein Freund
war, klar mitzuteilen, er solle nicht kommen. Geremek liebte Frankreich, dessen
Kultur und Wissenschaft, und vielleicht reagierte er auch deshalb so vehement.
Gleichzeitig schmiedete er Pläne für die Einrichtung eines riesigen deutsch-pol-
nisch-französischen Zentrums für Kultur, Wissenschaft und Dialog im War-
schauer Stadtteil Powiśle, das auch die neue Rolle Polens hätte dokumentieren
können. Wer erinnert sich heute noch daran? Wer möchte sich daran erinnern?
***
Die russische Annexion der Krim im Jahre 2014 war ein ignoriertes Vorzeichen.
Als deren Folge haben wir heute einen Krieg in Europa, der dank den Ukrainern
(räumlich) auf ihren Staat begrenzt bleibt. Das ist eine neue Epoche, die sowohl
für die NATO als auch für die Europäische Union eine Herausforderung dar-
stellt. Bei der EU tritt nicht nur der innere Widerspruch zwischen ihrer gegen-
wärtigen institutionellen Gestalt und ihren geopolitischen Interessen zutage,32
sondern es zeigt sich zugleich ein Mangel an Kongruenz: in der Union, die sich
in erster Linie mittels ökonomischer und politischer Kategorien definiert, ver-
bleiben mit der anstehenden NATO-Erweiterung um Finnland und Schweden
weiterhin vier (Österreich, Irland, Malta und Zypern) der 27 EU-Mitglieder
außerhalb der NATO. In dieser neuen Ära, die durch Krieg, politische Konfron-
tation und wirtschaftliche Schwächung gekennzeichnet ist, kann die liberale
Demokratie zur leichten Beute werden. Es dürfte nicht sonderlich schwerfallen,
sich ein hybrides System vorzustellen, das Elemente der Demokratie mit Frei-
heitsbegrenzungen verbinden und an ihre Stelle treten würde. Hätte sich Gere-
mek unter diesen neuen Bedingungen zurechtgefunden? Die Antwort auf diese
Frage erhalten wir nicht mehr.
Aus dem Polnischen von Piotr A. Owsiński
32 Joschka Fisch er: How the EU Must Change. In: Proje ct Syndicate vom 23.Mai 2022, h t t p s : //
www.project-syndicate.org/commentary/eu-russias-war-in-ukraine-new-geopolitical-
environment-by-joschka-fischer-2022-05?barrier=accesspaylog, S. 1–3 (12.12.2022).
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Zwei Jahrzehnte Dialog (19892008)
Michel Foucher, Institut national du service public in Paris
Two decades of dialogue (1989–2008)
I had the great privilege of having an intense oral and written dialogue with
Bronislaw Geremek between 1989 and 2008 – traces of which have been
preserved since 1991, both in Warsaw and Krakow as well as Paris, Lyon
and Madrid, in his successive official capacities: as advisor to Solidarity, as
Sejm deputy, as foreign minister and finally as MEP. He was always a curious
thinker who cared about putting facts into perspective. I admired his ability to
put his knowledge - acquired as a Polish historian trained in France – at the
service of his political, and later, diplomatic activities. He was a long-term
thinker, which enabled him to interpret the huge changes that took place in
Europe from 1989 onwards, in order to act in the best interest of Poland and
its European allies. He was a visionary. I remember that he told me several
times that the European continent was made up of nation states and the nations
were a valuable framework for the exercise of democracy, and that Russia was
“something else” – an empire. I had invited him to Spain for a conversation
with Felipe Gonzalez, then Prime Minister, to exchange ideas about the con-
cept of political transition from dictatorship to democracy. We shared lectures
on the newly forming Europe at the College of Europe in Natolin. His were
about history, mine about political geography; both in French. He and I were
active in keeping the Weimar Triangle alive, as a space for French- German-
Polish dialogue about consolidating the processes of reconciliation. To me, he
will always be a man marked by Conrad’s spirit of adventure, Camus’ moral
reflection and Stendhal’s view of man.
Zwei Jahrzehnte Dialog (1989–2008)
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25
1 Danzig und Warschau 1989
Am 1. Mai 1989 empfing mich Lech Wałęsa in Danzig zu einer Unterhaltung,
gefolgt von einem Mittagessen in der Pfarrei der Brigittenkirche. Es ist der erste
»1. Mai« in der Freiheit, wo in der Hauptstraße der Hansestadt nur wenig zahl-
reiche Aktivisten der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) und die
Vertreter der Solidarność konfliktfrei defilieren. Der Geist des »runden Tisches«
ist sehr präsent. Gegenstand dieses Treffens ist es, den sozusagen inoffiziellen
oder zumindest den heikelsten Teil des bevorstehenden Besuchs des französi-
schen Staatspräsidenten in Polen vorzubereiten, der am 14. Juni stattfinden soll,
zwischen den beiden Wahlgängen zum Abgeordnetenhaus und zum polnischen
Senat, die gerade wiedergeschaffen worden sind.
Auf die meisten meiner präzisen Fragen entgegnet Lech Wałęsa: »Besprechen
Sie das mit Geremek«, dem politisch engagierten und frankophonen Historiker,
der ein einflussreicher diplomatischer Berater der Solidarność ist. Nur nicht auf
eine Frage nach der Weise, wie man ihm zufolge »Jalta hinter sich lassen« könne:
Könnte man sich das nach einer realistischen Evolution vorstellen, also schritt-
weise? Er erwidert: »Ich lebe nicht auf dem Mond, sondern in Polen.«
Der Austausch setzt sich also am nächsten Tag in Warschau mit Bronisław Ge-
remek fort, der seine ewige Pfeife im Mund hält und mich mit seinem freund-
schaftlichen und schelmischen Lachen empfängt, mit Bogdan Lis, dem Mit-
gründer des überbetrieblichen Streikkomitees, aus dem dann die Solidarność
entstand, mit Zbigniew Romaszewski sowie mit Adam Michnik in seinem Büro
in der Tageszeitung G W. Die Arbeit der einflussreichen Berater
der Solidarność ist kollektiver Natur.
Von diesem Eintauchen in Danzig vermerke ich das Folgende in meinen beiden
Berichten, die ich am 25. Mai an das Außenministerium sowie an die diplomati-
sche Gruppe im Präsidialamt sende und in denen ich Polen im osteuropäischen
Kontext und als Element der französischen Politik behandele: Dass die Wahl
– die nur ein Drittel der Abgeordnetensitze für die Solidarność vorsah – ein
wahrer Erdrutsch werden würde, der die Staatsmacht dazu verpflichten werde,
sich mit dem großen christlichen Intellektuellen, Journalisten und führenden
Oppositionspolitiker Tadeusz Mazowiecki zu arrangieren, der zum ersten nicht-
kom munistischen Regierungschef in einem Land des sowjetischen Blocks wer-
den würde.
Dem diplomatischen Protokoll zufolge hätte der Besuch von François Mitterand
in Danzig, in der Hochburg der demokratischen Bewegung, die kommunisti-
schen Machthaber schockieren können. Der französische Präsident rettete sei-
nem polnischen Gegenüber, Wojciech Jaruzelski, das Gesicht, indem er in seiner
Gesellschaft am 15. Juni ein Blumengebinde am Fuß des Denkmals auf der
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26
Westerplatte im Norden von Danzig niederlegte, dem Ort, an dem am 1. Sep-
tember 1939 der erste deutsche Angriff des Zweiten Weltkriegs stattgefunden
hatte. Es war eine Hommage an die polnische Nation, die für ihn ebenso wie für
de Gaulle das Regime transzendierte. Er sollte anschließend mit Wałęsa zu Mit-
tag essen, um sich am nächsten Tag nach Auschwitz und Birkenau zu begeben.
Dieser Besuch ist ein Erfolg und eine klare Botschaft der Unterstützung durch
Frankreich für die friedliche politische Revolution, die sich soeben abspielt. Ge-
remek war eine große Stütze für den Erfolg dieses ersten Präsidentenbesuchs.
2 Warschau 1992
Bekanntlich wäre die deutsche Wiedervereinigung nicht zustande gekom-
men, hätte sich die Regierung von Helmut Kohl nicht für die Anerkennung
der Oder-Neiße-Grenze eingesetzt. François Mitterands wünschte dies als eine
Vorbedingung; Helmut Kohl entgegnete ihm, unter dem Druck der »Vertriebe-
nen und Aussiedler« sowie von eo Waigel stehend, dass es erst das vereinig te
Deutschland sein werde, das dies vornehmen werde. In diesem Kontext schlug
mir Bruno Frappat, Chefredakteur der französischen Tageszeitung L M
vor, einen Artikel mit dem Titel Geopolitik. Polen und seine Grenzen (Géopoli-
tique. La Pologne face à ses frontières) abzufassen.1 Darin hob ich zwei Heraus-
forderungen hervor. Zunächst einmal die Notwendigkeit, dass die deutschen
Ver triebenen aus Schlesien und Pommern (1945), die in den christlichen Par-
teien (CDU/CSU) von Helmut Kohl einflussreich waren, diese für sie schmerz-
liche Grenze nicht mehr als provisorisch ansehen sollten, und zwar im Namen
der Aufrechterhaltung des Friedens und der Stabilität, und des Weiteren, dass sie
ihre Repräsentationen und mentalen Karten in Bezug auf diese ab dem 13. Jahr-
hundert germanisierten Gegenden endgültig vergessen müssten: »Einige Worte
des Staatsmannes genügten, um zu bewirken, dass diese Arbeit des Verzichts
gelang.« Ich beschloss meinen Artikel wie folgt: »Auf jeden Fall macht es das
innere Knacksen im Gebälk des Sowjetimperiums noch dringlicher, auf konzer-
tierte Weise die ungelösten Grenzfragen dort zu regeln, wo vom Imperium nach
außen hin noch etwas übrig ist.«
Dieses fundamentale ema wurde in meinem Gespräch mit Bronisław Ge-
remek über die Grenzen in Europa aufgegriffen, das am 5. Februar 1992 in
War schau zu einer zentralen Fragestellung stattfand: Wie kann der vom be-
freienden Windstoß einer positiven Geschichte erfasste europäische Kontinent
1 le MonDe vom 17.März 1990.
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neu organisiert werden? Dieses Gespräch zwischen einem in der Politik seines
Landes engagierten Historiker und einem Geographen, der der französischen
Regierung nahestand, nahm die Fragen vorweg, welche die Rekonstruktion
Europas seit 1989 strukturieren. Sie haben nichts von ihrer Aktualität einge-
büßt. Seit drei Jahrzehnten ist die unverbrüchliche Unterstützung festzustellen,
mit der Warschau trotz historischer Streitpunkte Kiew in seinem Wunsch nach
Emanzipation und Nationsbildung begleitet. Der Text unseres Gesprächs ist
von der Fondation Robert Schuman posthum als Hommage wiederaufgegriffen
und veröffentlicht worden.2
Mit dreißig Jahren Abstand ist es erstaunlich festzustellen, wie sehr die dama-
ligen Analysen von Geschichte und Geographie zutreffend bleiben. Hier einige
Beispiele. Bronisław Geremek erwähnt für Mitteleuropa
eine Grenze der historischen Erfahrung: Wir bringen Probleme mit, die in
der Geschichte Westeuropas seit dem 19. Jahrhundert beendet sind. Was in
diesem Augenblick diesen gesamten Teil von Europa beschäftigt, ist das
koloniale Erbe: Wir verlassen eine koloniale Epoche mit der Auflösung
eines Imperiums und dem Wiederaufkommen nationaler Gefühle. Diese
Ge füh le waren im Übrigen lange eine deutliche Linie des Widerstands ge-
gen die totalitären Regime gewesen, und wie es nun angesichts der Leere
der Ideo logien den Anschein hat, ersetzen sie all das, was früher Strukturen
des Zu sammenhalts gegeben hat.
Die Verwendung dieses Adjektivs »kolonial« hat mich ganz sicher zu dem Titel
eines Werks inspiriert, das ich 2022 der Ukraine gewidmet habe: Une guerre
coloniale en Europe (Ein kolonialer Krieg in Europa).3 Für meinen Teil möchte
ich das Folgende aus meinen damaligen Aussagen hervorheben:
Was die Ukraine und Russland anbelangt, so beschäftigt mich, dass die
nationale Bestätigung der Ukrainer, die gerade erst an ihrem Anfang steht,
von den Russen als ein veritables politisches und kulturelles Trauma gesehen
werden muss. Sie haben das angedeutet, als Sie den heiklen Aspekt einer
eventuellen Öffnung des Weimarer Dreiecks um ein viertes Mitglied unter-
strichen haben, denn das Schlimmste, was die Ukrainer den Russen und
damit auch Europa hinsichtlich der mentalen Landkarte antun können, das
ist die Bestätigung dessen, was man in Kiew schon hört: »Wir sind Teil von
Mitteleuropa«, oder anders gesagt: »die Russen sind kein Teil von Mittel-
europa, sie sind nicht in Europa«. Und ich glaube, dass es tatsächlich das
größte Sicherheitsrisiko ist, wenn sich in Moskau eine geopolitische Vorstel-
2 en tretienS D’euroPe H. 27, Juli 2008.
3 Editions de L’Aube, August 2022.
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lung vom slawophilen Typ etabliert, welche die Niederlage aller derer be-
deuten würde, die ganz im Gegenteil Russland mit verschiedenen, wenig
stringent gedachten Gemeinschaften assoziieren möchten, aus denen je-
doch die aktuelle Architektur Europas besteht, oder zumindest wie in fol-
gendem Bild – es ist eine Art geopolitischer und institutioneller Kokoschka,
aus dem man einen Modigliani zu machen hofft, um mit Ernst Gellner zu
sprechen. Ich sehe also ein doppeltes geopolitisches Trauma in der ukraini-
schen Unabhängigkeit und in diesem gut verständlichen Wunsch, sich im
Zentrum (also in ihrem Westen) zu verankern, und zwar sowohl intern als
auch extern gesehen. […] Denn wohlgemerkt, Russland hat keinen Platz in
Europa, es sei denn mit Gewalt, so wie ein Imperium, aber damit es europä-
isch wird, muss es, wie man früher gesagt hat, im ›Konzert der Nationen
präsent sein. Um es Teil dieses ›Konzerts der Nationen‹ werden zu lassen,
muss es als Nationalstaat funktionieren. Deshalb befürchte ich das Risiko
einer Konfrontation mit einer Ukraine, die auch gerade am Beginn einer
Nationsbildung steht.
Bronisław Geremek stimmte dieser Analyse zu, die er hellsichtig ergänzte:
Ja, ich pflichte Ihnen voll und ganz bei. Aber vielleicht weil ich näher an
Kiew und Moskau bin, sehe ich die enormen Schwierigkeiten in dieser De-
batte über die Zukunft von Russland und der Ukraine. Eigentlich ist die Uk-
raine durch eine Grenze der Geschichte und der Religion zwischen Ost und
West geteilt. Es gibt das römische Christentum und es gibt das orthodoxe
Christentum. Es ist eine Grenze, deren Existenz man noch sieht, wenn man
das politische Gebaren betrachtet. Wenn ich also mit meinen russischen
Freunden spreche (nämlich mit den Leuten der alten demokratischen russi-
schen Opposition), so habe ich den Eindruck, als würde ihre liberale Vor-
stellungskraft dort enden. Sie sagen mir ganz einfach: »Russland kann ohne
die Ukraine nicht leben«. Und das aus mehreren Gründen. Es gibt wirt-
schaftliche Gründe, aber es gibt auch eine kulturelle Tatsache: Wenn sich
die Russen als Nation und Zivilisation vorstellen, so denken sie an ihre erste
Hauptstadt – Kiew. Wie nun kann man Russland ohne dies denken? Das ist
ein immenses Trauma. Dieses Problem kann kurzfristig keine gute Lösung
finden. Wir müssen auf eine Übergangsperiode warten, die eine Periode
der Wirren sein wird und in der sich die ukrainische nationale Identität be-
stätigen muss, in der sie ihren Ausdruck finden wird und. Wir müssen darauf
warten, dass ein gemeinsames Interesse zwischen den beiden Völkern auf-
scheint, denn es gibt ein gemeinsames Interesse. Ich glaube, das wird in
Belarus besser verstanden als in der Ukraine. Es ist also ein potentielles Dra-
ma, das ich an der Grenze im Osten Europas sehe.
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29
Bronisław Geremek hat mir gegenüber mehrfach wiederholt, dass Russland in
einem aus Nationalstaaten bestehenden europäischen Kontinent etwas »ande-
res« sei, ein Imperium! Und für ihn war die Nation der kostbare Rahmen der
Demokratie.
Ich traf ihn zwei Wochen später in Paris auf einer Konferenz wieder, die vom
Präsidenten der Republik angesichts der sich verschlechternden politischen Lage
in Jugoslawien organisiert wurde. Als Koordinator der Konferenz im Palais de
Chaillot, die mehr als sechzig Intellektuelle und Schriftsteller als – den einlei-
tenden Worten von Edgar Morin zufolge – »Erleuchter« versammelte, hatte ich
selbstverständlich Geremek als einen der großen Zeugen der sich abspielenden
demokratischen Transformation eingeladen. Nie zuvor hatte sich in Paris eine so
große Zahl europäischer Denker und Zeugen getroffen, die beunruhigt über das
Erwachen der Nationalismen in all ihren Formen waren – als Befreiungsbewe-
gungen in der Sowjetunion oder in expansiver Gestalt in Jugoslawien.4 Bei der
Pressekonferenz zur Eröffnung 5 hob ich hervor, dass die Konstruktion Europas
oft als im Widerspruch zur nationalen Identität stehend gesehen werde und dass
es sich von da an, wo die Veränderungen im Osten die Gestalt einer nationalen
Emanzipation annehmen, empfiehlt, sich über die Gründe für die Erregungen
rund um Identitätsfragen und über die Verknüpfungen zwischen Europa und
Nation Gedanken zu machen, wobei ich dazu aufforderte, sich nicht in den
Repräsentationen der Vergangenheit einzuschließen.6 Bronisław Geremek hatte
mich ein weiteres Mal inspiriert, davon bin ich überzeugt.
4 Darunter befanden sich: René Girard, Alain Touraine, Marek Halter, Otar Iosseliani, Clau-
de Lanzmann, Adam Michnik, Bronisław Geremek, Paul Thibaud, Peter Handke, Rachid
Mimouni, Danielle Sallenave, Jorge Semprún, Theodore Zeldin, Jacques Delors, Alain
Finkielkraut, Julia Kristeva, Erik Orsenna, Peter Schneider, Drago Jančar, Emmanuel Wein-
traub, Gert Weisskirchen, John Roberts, Alexander Jakowlew, Alexander Kabakow, Len
Karpinski, Adam Zamoyski, Hans Christoph Buch, Antonin Liehm, Gilles Martinet, Daniel
Sibony, Pierre Hassner, Mihnea Berindei, Bernard Guetta, Freimut Duve, Péter Kende, Pre-
drag Matvejević, Jean-François Deniau und Fernando Savater.
5 Am 27.Februar 1992.
6 Das Symposium war in sieben Gesprächsrunden gegliedert: Mehrheiten, Minderheiten
und Grenzen; Religionen und Politik; Krisen der Staatsnachfolge; Der Sowjetunion nach-
trauern (?); Die Nation neu denken; Kultur gegen Populismus; Ein Europa der Stämme oder
ein Europa der Bürger?
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3 Madrid und Natolin, seit 1994
Die Veröffentlichung meines Werks Fragments d’Europe, atlas de l’Europe mé-
diane et orientale (Fragmente Europas. Atlas des mittleren und östlichen Euro-
pas) im Jahre 1993 hatte zwei direkte Folgen, die es mir ermöglichten, den Dia-
log und die Zusammenarbeit mit Bronisław Geremek fortzusetzen.
Auf der einen Seite hatte dieser Atlas die Aufmerksamkeit einer spanischen Stif-
tung erregt, der Fundación Banco Bilbao Vizcaya, dank der ich mich an einem
interkulturellen Projekt beteiligte, dessen Ziel es war, Begegnungen zwischen
den einen EU-Beitritt anstrebenden Mitteleuropäern und Spanien herbeizufüh-
ren, einem Land, das erst jüngst eine doppelte Transformation erlebt hatte –
eine demokratische seit 1975 und eine geopolitische mit seinem im Jahre 1986
erfolgten Beitritt zur Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. In diesem Rahmen
konnte ich Bronisław Geremek nach Madrid einladen, um einen fruchtbaren
Meinungsaustausch mit Felipe Gonzalez zu ermöglichen, dem damaligen spani-
schen Regierungschef, der auch ein zentraler Akteur der demokratischen Trans-
formation gewesen war. Diese beiden Persönlichkeiten vertraten gleichermaßen
ein Land von ähnlicher Größe und ein wenig abseits des deutsch-französischen
Zentrums, zwei Nachbarn, die zuweilen ein wenig lästig waren. Das Treffen
geriet zu einem reichhaltigen Erfahrungsaustausch. Und die spanischen Journa-
listen begannen, eine positive Neugier für die Transformationen des Kontinents
an den Tag zu legen.
Auf der anderen Seite wurde mein Werk von Morvan Le Berre, dem Studien-
leiter des Europakollegs in Natolin, als geeignetes Lehrprogramm für europäi-
sche Geopolitik auserkoren. Hier traf ich meinen Historikerfreund wieder, der
auf Französisch europäische Geschichte unterrichtete, parallel zu meinen Vor-
lesungen als Gastprofessor. Es kam zu einer neuen Zusammenarbeit zwischen
uns, zum Vorteil von künftigen Experten für Europafragen, die man später am
Rond-Point Schuman in Brüssel wiedersah. Die Bibliothek von Natolin bestand
damals aus einem Dutzend Kartons mit Büchern und Handbüchern, und das
Kolleg besaß eine einzige internationale Telefonverbindung. Jedes schriftliche
Referenzwerk war für die Studierenden von großem Wert.
Wenn wir bei unserem Meinungsaustausch auf die geopolitische Lage Polens zu
sprechen kamen, erklärte er sich mit einem Lächeln als Anhänger einer linearen
Vorstellung der Grenze – nach französischem Vorbild – an seiner Westflanke,
die ein für alle Mal festgelegte Oder-Neiße-Grenze, und bevorzugte für die Ost-
flanke, mit Belarus und der Ukraine, eine Vision von eher zonalen und beweg-
lichen Grenzgebieten – nach dem Vorbild der amerikanischen ›Frontier‹:
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Um Minderheitenkonflikte und Grenzkonflikte zu provozieren, lassen sich
alle möglichen Gelegenheiten finden, die sich (namentlich rings um Russ-
land) von einer für mich grundlegenden Frage ableiten lassen – der Defini-
tion der Nation. Es gibt derzeit für Russland eine Art von historischer Wahl:
Was ist Russland? Sind die Russen Bürger, die auf dem gegenwärtigen Ter-
ritorium der Republik leben (wohlwissend, dass ein Viertel von ihnen sich
nicht als Russen empfinden), oder ist es die Gesamtheit aller Russischspra-
chigen, die sich in der ehemaligen Sowjetunion befinden (von denen
25Mil lionen außerhalb der Russländischen Föderation leben)? Hier stellt
sich tatsächlich die Frage nach der Nationsbildung, nach der Genese der
Nationen auf dem Boden eines Staates, der nicht wirklich eine Nation ist.
4 Polens Ostpolitik
Bronisław Geremek erzählte mir eines Tages eine Anekdote von einer Bäuerin
im polnisch-belarusischen Grenzgebiet, die 1945 von der gemischten polnisch-
sowjetischen Grenzkommission gefragt wurde, auf welcher Seite der Grenze sie
mit ihrem Mann zu leben wünschte. Sie erbat sich eine Nacht, um zu überlegen
und mit ihrem Gatten zu diskutieren. Nachdem sie ihre Wahl für Polen bekannt
gegeben hatte, wollte der russische Kommissar den Grund dafür wissen: »Weil
es im Westen wärmer ist«. Damit war der sowjetische Vertreter zufrieden.
Es war Bronisław Geremek, der mir das immense Unterfangen der polnischen
Ostpolitik eröffnete. Im März 1995, als er Abgeordneter und Vorsitzender des
Auswärtigen Ausschusses im polnischen Sejm war, organisierte er in Warschau
ein Treffen mit dem mittlerweile verstorbenen Marek Karp, dem Gründer und
Direktor des Zentrums für Oststudien, einer 1990 von der Mazowiecki-Regie-
rung geschaffenen Einrichtung, deren Ziel es war, die Entwicklung der ehema-
ligen Sowjetrepubliken näher zu studieren, insbesondere der Ukraine sowie von
Belarus und Litauen, also in der Summe das Gebiet des einstigen polnisch-li-
tauischen Reiches, einer mentalen Karte, die der Diplomatie in Warschau und
Wilna zugrunde liegt. Hier werden Presse und Rundfunk täglich ausgewertet.
Diese Initiative lag ganz auf der Linie unseres Dialogs von 1992. Es war hier,
wo die »Ostpolitik« eines Staates konkret aufgebaut wurde, der seine völlige
Souveränität wiedererlangt hatte und dessen doppeltes Ziel es war, die histo-
risch schwer umstrittenen Beziehungen zu den drei neuen Nachbarstaaten zu
normalisieren und zur Sicherung der eigenen Unabhängigkeit Russland dazu zu
zwingen, auf das Imperium zu verzichten.
Er teilte sehr engagiert die Ansichten von Zbigniew Brzeziński über die ese
zur Bildung eines demokratischen Brückenkopfes in Europa bis 2010, die dieser
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in seinem 1997 veröffentlichten Referenzwerk e Great Chessboard dargelegt
hatte. Dieses Gebäude sollte ihm zufolge auf vier Säulen ruhen – Frankreich,
Deutschland, Polen und Ukraine. Um ihre globale Vorherrschaft zu bewah ren,
sollten die Vereinigten Staaten den eurasischen Kontinent dominieren, weshalb
Russland auf das neoimperiale Verhalten seiner Eliten verzichten müsse, was
sie durch die Respektierung der ukrainischen Unabhängigkeit beweisen könn-
ten. Dies bedeutete also gleichzeitig eine rasche Annäherung an die Europäi-
sche Union, an das Weimarer Dreieck und die Atlantische Allianz, wodurch das
von den ukrainischen Spitzenpolitikern bis dahin mit Mühe aufrechterhaltene
Gleichgewicht durchbrochen worden wäre. Dieser amerikanische Autor polni-
scher Herkunft hatte großen Einfluss auf polnische Kreise – ich habe das bei
Bronisław Geremek gespürt –, gleichzeitig aber auch direkt bzw. über die Polen
auf die Ukrainer. So hatte etwa Geremek den Berater von Präsident Leonid
Kutschma, Wolodymir Horbulin, davon überzeugt, sich für einen Beitritt zur
NATO auszusprechen. Seine ese war: Ohne die Ukraine würde Russland
kein siechendes Imperium mehr sein können. Das ist genau das, was sich tragi-
scherweise 2022 abspielt.7
Als Bronisław Geremek Außenminister war, war er Gastgeber der ersten Ver-
sammlung der »Community of Democracies«. Konzeptionell dafür verantwort-
lich war Morton Halpern, Direktor des Policy Planning Staff im State Depart-
ment und ein sehr enger Berater von Außenministerin Madeleine Albreight. Die
von der Stefan Batory-Stiftung und Freedom House mitfinanzierte Initiative
wurde im Juni 2000 von Geremek in Warschau eröffnet, mit Unterstützung
der Mitgründungsländer (Chile, Tschechische Republik, Portugal, Mali, Indien
und Korea). Es sollte eine Art von Gremium entstehen, um die Vereinten Na-
tionen zu beeinflussen.
Die französische Position war ambivalent, denn es war nicht ratsam, sich sol-
chen Verbündeten entgegenzustellen. Doch war es auch nicht möglich, den
Vor rang des Weltsicherheitsrats in Frage zu stellen oder auf eine Konzeption
von demokratischer Konstruktion zu verzichten, die als interner Reifeprozess
und nicht als ein importierter und oktroyierter »Werkzeugkasten« betrachtet
wurde. »Die Grundlage meiner Argumentation war, dass die westlichen Länder
ein wenig die Tendenz hatten zu glauben, die Demokratie sei eine Religion und
es genüge, Menschen zu konvertieren«, erklärte der französische Außenminister
Hubert Védrine der angelsächsischen Presse am Tag von Geremeks Rücktritt.
Ich war damals Berater des französischen Ministers und mit ihm bei dem Treffen
in Warschau anwesend; ich gebe zu, dass ich diese Si tua tion der Meinungsver-
schiedenheiten nur schwer ertrug. Und im Konferenzsaal dachte ich daran, dass
7 Michel Foucher: Ukraine Russie, la carte mentale du duel. In: tract 39, Mai 2022.
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es manchmal heilsam ist, seine grundlegend unterschiedlichen Auffassungen
gegenüber Akteuren auszudrücken, mit denen es so viele Übereinstimmungen
gab, ganz abgesehen von Wertschätzung und Freundschaft. Geremek musste
am folgenden Tag nach dem Bruch der Regierungskoalition zwischen AWS und
UW zurücktreten, was den Zwist abschwächte.
5 Die letzten Jahre
Ins Europaparlament gewählt, allerdings ohne zugleich ins Parlamentspräsi-
dium gewählt worden zu sein, setzte Geremek sein Werk fort, das darin be-
stand, den Westeuropäern, die über die Geschichte des anderen Europas nichts
wussten, die aktuellen Entwicklungslinien und Bestrebungen hinsichtlich der
europäischen Inte gra tion zu erklären, die schließlich im Mai 2004 Wirklichkeit
wurde. Wir konnten unseren Austausch sowohl bei Kolloquien als auch bei pri-
vaten Unterhaltungen fortsetzen, insbesondere nach dem französischen »Nein«
beim Referendum für eine Verfassung Europas im Mai 2005.
Ich erinnere mich an seine Erläuterungen anlässlich der 2. Generalstände von
Europa am 21. Juni 2008 in Lyon, wo er an der Seite des italienischen Staatsprä-
sidenten Giorgio Napolitano voller Lebenskraft seine Bindung an die Europäi-
sche Union kundtat. Er hatte erklärt, dass die Europäische Union für ihn eine
echte Chance sei, als Bürger eines ehemaligen Landes des sowjetischen Blocks.
Er erinnerte die Anwesenden an die ganze Bedeutung der Reisefreiheit, »diese
großartige Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten«, die zwanzig Jahre zuvor in
Polen noch undenkbar gewesen wäre.
Mein Freund Bronisław Geremek war tatsächlich jener Mann »durchdrungen
von Conrads Abenteuergeist, von Camus’ moralischer Reflexion und von Sten-
dahls Menschenbild«.8
Aus dem Französischen von Peter Oliver Loew
8 Bronisław Geremek: L’Historien et le politique, entretien avec Juan Carlos Vidal, Motricher
1999.
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Der Beitrag Bronisław Geremeks
zum Wirken des Weimarer Dreiecks
Bogdan Koszel, Adam-Mickiewicz-Universität Posen
Bronisław Geremek’s contribution to the work of the Weimar Triangle
The author analysed Bronisław Geremek’s participation, initially as chairman
of the Foreign Affairs Committee of the Sejm and later as Poland’s foreign mi-
nister, in the establishment and development of the Weimar Triangle. Despite
his personal involvement in the work of the Triangle, his impact was limited,
because the coalition government included right-wing groups with a hostile
approach to the trilateral cooperation. Moreover, French interest in the project
was moderate, and despite the efforts of the minister, France did not actively
promote the Weimar Triangle.
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1 Die Entstehung und Entwicklung des Weimarer Dreiecks
unter dem Vorsitz Bronisław Geremeks im Ausschuss für
auswärtige Angelegenheiten (1989–1997)
Die politischen Veränderungen in Polen in der ersten Hälfte des Jahres 1989
endeten mit den im Juni abgehaltenen Wahlen zum Sejm und zum Senat. In
den darauffolgenden Monaten wurde der Präsident gewählt und die Regierung
unter Tadeusz Mazowiecki gebildet. In der 10. Legislaturperiode des Sejms
wurde die Funktion der Leitung des Ausschusses für auswärtige Angelegen-
heiten Bronisław Geremek anvertraut, der zu den bekanntesten Gesichtern der
antikommunistischen Opposition gehörte und sich eines großen Renommees in
internationalen Historikerkreisen erfreute, insbesondere in Frankreich, das ihm
sehr vertraut war.1
Die Hauptaufgabe der polnischen Regierung in den ersten Amtsmonaten be-
stand darin, Kontakte zur Europäischen Gemeinschaft zu knüpfen und den
Weg zu einem Handels- und Assoziierungsabkommen zu bahnen. Das größte
Problem, mit dem sich die polnische Außenpolitik in den Jahren 1989/1990
messen musste, war jedoch in erster Linie eine Positionsbestimmung des Staa-
tes angesichts der bevorstehenden Wiedervereinigung Deutschlands. Noch vor
dem Sturz Erich Honeckers gab Bronislaw Geremek am 13. Oktober 1989 in
einem Interview für die B-Z zu verstehen, dass Polen an einer Auf-
nahme engerer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland interessiert sei
und einer eventuellen deutschen Einheit wohlwollend gegenüberstehe. Er wies
darauf hin, dass es die Polen den Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die sich
im Sommer 1989 in Polen aufgehalten hatten, in großem Maßstab ermöglicht
hatten, nach Westdeutschland zu gelangen.2
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Besuch des Bundeskanzlers Helmut
Kohl in Polen kam es zum Prozess der Wiedervereinigung der beiden deut-
schen Staaten nach der Formel 2+4, die am 12. September 1990 durch den in
Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland gekrönt wurde. Am 14. November 1990 wurde der deutsch-pol-
nische Grenzvertrag unterzeichnet und am 17. Juni 1991 dann auch der Vertrag
über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der die Prin-
zipien des gegenseitigen Zusammenlebens der beiden Nationen für die kom-
menden Jahrzehnte festlegen sollte. Etwas früher, nämlich am 9. April 1991,
kam es – was Geremek besonders am Herzen lag – in Paris zur Unterzeichnung
des Vertrags über Freundschaft und Solidarität zwischen der Republik Polen
1 Paweł Luty (Hrsg.): Bronisław Geremek. Ojciec polskiego liberalizmu, Warszawa 2010.
2 Interview mit Bronisław Geremek. In: bilD -zeitunG vom 13 .10.1989.
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38
(RP) und der Französischen Republik. Frankreich verpflichtete sich ähnlich wie
wenig später auch Deutschland, den schnellstmöglichen Abschluss eines Asso-
ziierungsabkommens zwischen der RP und den Europäischen Gemein schaf ten
(EG) zu unterstützen, und betrachtete die Perspektive des Beitritts der Re publik
Polen zur EG als positiv, wenn die entsprechenden Bedingungen dafür erfüllt
sein würden.3
Die Initiative des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, die
Chef diplomaten Frankreichs und Polens, Roland Dumas und Krzysztof Sku-
biszewski, im August 1991 nach Weimar einzuladen, wurde zum Grundstein
für das zukünftige Weimarer Dreieck. In der damals unterzeichneten Weimarer
Er klärung gab es einen Vermerk über die deutsche und französische Unterstüt-
zung für Polen und die weiteren Staaten, die sich in einer großen Umbruchspha-
se befanden, bei der Anknüpfung eines politischen Dialogs mit dem Westen.
Von wesentlicher Bedeutung war dabei die Feststellung, dass »Frankreich und
Deutschland alle Anstrengungen [unterstützen], Polen und die neuen Demo-
kratien an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen. Sie drängen auf einen
raschen Abschluss von Assoziierungsabkommen mit den Demokratien Mittel-
und Südosteuropas«.4
Das Weimarer Dreieck sollte in der Gestalt, die ihm von den Initiatoren des
Treffens gegeben wurde, keine Organisation im Sinne des internationalen
Rechts sein, sondern stellte eher ein spezifisches Forum für die Diskussion und
den Meinungsaustausch über die wichtigsten Aspekte der internationalen Poli-
tik dar und inspirierte die französisch-deutsch-polnische Zusammenarbeit auf
un terschiedlichen Gebieten.5
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Idee trilateraler Treffen und Konferen-
zen auch eine europäische Dimension hatte. Frankreich und Deutschland war
daran gelegen, dass das Wirken des Dreiecks zum symbolischen Ausdruck der
Überwindung der Teilung Europas werden und die drei geistigen, sprachli-
chen und kulturellen Elemente verbinden sollte, die der germanischen, der ro-
manischen und der slawischen Welt entstammten. Gleichzeitig sollte sie eine
deutliche Botschaft sein, die von dem Interesse der beiden größten Staaten der
Europäischen Gemeinschaft an einer erfolgreichen Transformation der Region
Mitteleuropas zeugte. Den Polen war wiederum daran gelegen, dass Frankreich
3 Vgl. Traité d‘amitié et de solidarité entre la République française et la République de Po-
logne, signé à Paris le 9 avril 1991. In: Zbiór Dokumentów. Dokumenty z zakresu polityki
zagranicznej Polski i stosunków międzynarodowych 1991, Nr. 2.
4 Wspólne oświadczenie ministrów spraw zagranicznych Francji, Polski i Niemiec w spra-
wie przyszłości Europy, In: Zbiór Dokumentów PISM 1992, Nr. 2, S. 11–12.
5 Bogdan Koszel: Trójkąt Weimarski: bilans i perspekt ywy współpracy. In: krakoWSkie StuDia
MięDzynaroDoWe 2016, Nr. 1.
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das Engagement Deutschlands in Mittel- und Osteuropa ausgleichen und sei-
nen Ehrgeiz, eine dominierende Rolle in diesem Teil des Kontinents zu spielen,
mäßigen sollte. Warschau strebte danach, im Dreieck die Interessen aller mittel-
europäischen Staaten zu vertreten, sowohl im Bereich der Sicherheit als auch
bei der vielschichtigen Kooperation mit den Europäischen Gemeinschaften.
Die Deutschen wiederum waren zutiefst daran interessiert, Frankreich bei der
Lösung der für sie vorrangigen Probleme Mittel- und Osteuropas einzubinden.
Auf diese Weise beabsichtigten sie, die Pariser Ängste vor ihren angeblichen
Großmachtambitionen in der mitteleuropäischen Region zu zerstreuen und die
Achse Bonn/Berlin-Paris zu stärken. Sie vertraten zudem die Ansicht, dass das
Weimarer Dreieck ein ausgezeichnetes Sprungbrett dazu sein könne, die Erfah-
rungen aus der deutsch-französischen Aussöhnung auf den polnischen Boden
zu verpflanzen. Es hat den Anschein, dass eine solche Regelung der Aufgaben
des Dreiecks durchaus den französischen Politiker:innen entgegenkam, weil es
zusätzlich die Bestrebungen mancher polnischer und mitteleuropäischer Politi-
ker:innen, die in Richtung einer engeren Zusammenarbeit mit den Vereinigten
Staaten drängten, bremsen konnte.6
Am 17. März 1992, einen Monat vor dem zweiten Treffen der Außenminister im
Format des Dreiecks, lud Geremek Minister Skubiszewski zu einer Sitzung des
Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im Sejm ein, um die Perspektiven
einer weiteren trilateralen Zusammenarbeit zu diskutieren. Der Ausschussvor-
sitzende unterstützte die Feststellung des Ministers, dass die Zusammenarbeit
mit Deutschland und Frankreich ein vorrangiges Ziel der polnischen Außen-
politik sein sollte, aber ähnlich wie dieser war er vorsichtig optimistisch, dass die
Beibehaltung des Formats des Dreiecks zu einer Stärkung der Position Polens in
Europa beitragen würde.7
Als Abgeordneter und Chef des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten
hatte Geremek Gelegenheit zu zahlreichen Treffen mit Politiker:innen, Jour-
nalist:innen sowie Kunst- und Kulturschaffenden. Er unterstützte die Initiati-
ve des Deutschen Bundestages im November 1992, im Rahmen des Weimarer
Dreiecks eine regelmäßige interparlamentarische Zusammenarbeit ins Leben
zu rufen, die zwei grundlegende Formen annahm: Treffen der Ausschüsse für
europäische Angelegenheiten und der Präsidien der parlamentarischen Unter-
häuser. Für eine solche Erweiterung des Modells der Zusammenarbeit sprach
sich im Jahre 1994 auch der neue Außenminister Andrzej Olechowski aus. Das
erste trilaterale Treffen der Ausschüsse für europäische Angelegenheiten fand
6 Ingo Kolboom: Deutschland-Frankreich-Polen. Lust oder Frust zu Dritt? In: DokuMente. zeit-
SchriFt Für Den Deu tSch-PolniSchen DialoG 1997, Nr. 2, S . 21–29.
7 Krzysztof Skubiszewski: Polska polityka zagraniczna w 1991 r. In: rocznik PolSkiej Polityki
zaGranicznej 1993/1994, Warszawa 1994, S. 15.
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auf Einladung des Bundestages im März 2000 statt, als festgelegt wurde, dass
die Ausschüsse in Angelegenheiten der EU-Erweiterung nach Osten eng mit-
einander zusammenarbeiten würden.8
Während der Diskussion über die Ausführungen des polnischen Außenmi-
nisters Andrzej Olechowski über die Hauptrichtungen der polnischen Außen-
politik brachte der Abgeordnete Geremek die Ansicht zum Ausdruck, dass das
Weimarer Dreieck »zu einem Mechanismus der Erweiterung der Europäischen
Gemeinschaft, der Europäischen Union um Mitteleuropa werden« und eine
dem deutsch-französischen Duett beim Bau der europäischen Gemeinschaften
vergleichbare Rolle spielen könne.9
Das Hauptziel des Wirkens Geremeks in der damaligen Phase seiner politischen
Aktivität war es, die Abneigung Frankreichs zu einer größeren Einbindung in
den Annäherungsprozess Polens an die europäischen Strukturen zu überwin-
den. Trotz seiner zahlreichen Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der
französischen Politik erkannte er, dass diese Angelegenheit in den französischen
Interessen nur eine untergeordnete Rolle spielte. Er befürchtete, dass sich die
Aussage von Präsident François Mitterand vom Juni 1991 bewahrheiten könn-
ten, dass die Erweiterung einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen könnte. Er
musste die französischen Argumente akzeptieren, die besagten, dass die Auf-
nahme von Staaten aus Osteuropa von dem ihr vorausgehenden Beitritt Schwe-
dens, Finnlands und Österreichs abhängig gemacht werden müsse. Überdies
müsse die Zustimmung der Regierungen Spaniens, Griechenlands und Portu-
gals erlangt werden, die Zweifel hinsichtlich der Erweiterung hegten.10 Viel zu
denken gab ihm die Tatsache, dass Frankreich es mit der Ratifizierung des Asso-
ziierungsabkommens, das von Polen, Tschechien und Ungarn am 16. Dezember
1991 in Brüssel unterzeichnet worden war, nicht eilig hatte. Im Oktober 1992
sprach er während eines Besuchs des Ministers für internationale Zusammenar-
beit und Entwicklung Georges Kiejman in der Regierung von Pierre Bérégovoy
gemeinsam mit Parlamentariern und Regierungsmitgliedern die Angelegenheit
der französischen Ratifizierung bei Diskussionen an, die der Intensivierung der
politischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern dienen sollten. Jene
8 Leksykon. Współpraca międzyparlamentarna państw Trójkąta Weimarskiego. In: sejm.
gov.pl, http://orka.sejm.gov.pl/prezydencja.nsf/lexi/pl_trojkat_weimarski (24.03.2022).
9 Informacja rządu o głównych kierunkach polityki zagranicznej Polski. 2 kadencja, 20 po-
siedzen ie, 2 dzień (12.05.1994), http://orka2.sejm.gov.pl/Debata2. nsf/main/06F62854
(23.03.2022).
10 Stanisław Parzymies: Stosunki dwustronne z wybranymi państwami Europy Zachodniej.
In: Roman Kuźniar, Krzysztof Szczepaniak (Hrsg.): Polityka Zagraniczna RP, Warszawa
2002, S. 171.
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Gespräche beschleunigten diesen Prozess jedoch nicht, Frankreich nahm die
Ratifizierung erst nach Deutschland im Juli 1993 vor.11
Will man jenen Zeitraum zusammenfassen, so könnte man sagen, dass die tat-
sächliche Rolle Frankreichs trotz aller verbalen Versicherungen, die von fran-
zösischen Politiker:innen bei den Treffen des Weimarer Dreiecks geäußert
wurden, zur Enttäuschung Geremeks im Prinzip auf eine Verlangsamung des
Inte gra tionsfortschritts Polens mit den Europäischen Gemeinschaften hinaus-
lief. Die französische Politik war durch die Befürchtung vor einer Verschiebung
des europäischen Gravitationszentrums nach Osten gekennzeichnet. Daher
drängte man von französischer Seite darauf, dass in den Europäischen Abkom-
men ein Vermerk enthalten sein sollte, der klarstellte, dass die zukünftige Mit-
gliedschaft nicht zu den Zielen der Assoziierung gehörte.12
Die aktive deutsche Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union in der
zweiten Jahreshälfte 1994 und die Entschlossenheit von Kanzler Helmut Kohl,
der als »Anwalt« der polnischen Sache in Brüssel auftrat, gaben den Verhand-
lungen der EU mit Polen und anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks durch
die Umsetzung einer speziellen Heranführungsstrategie einen neuen Impuls.
Für den nächsten Außenminister Polens Władysław Bartoszewski war das Wei-
marer Dreieck das Symbol einer Konstruktion, die alte Teilungen und Blöcke
in Europa überwinden sollte. Er formulierte dies in einer am 28. April 1994 im
Bundestag gehaltenen Ansprache, in der er hinzufügte, dass das Dreieck nicht
nur ein Symbol der Aussöhnung der drei großen europäischen Nationen sein
könne, sondern auch eine Garantie für die Sicherheit des Kontinents.13
Nach den für Aleksander Kwaśniewski erfolgreichen Präsidentschaftswahlen in
Polen im Jahre 1995 versuchte dieser bei Treffen mit Kanzler Kohl und Präsi-
dent Chirac dem Weimarer Dreieck einen höheren Rang zu verleihen, indem
Konsultationen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs eingeführt wer-
den sollten, und nicht wie früher nur der Außenminister. Zu jenem Zeitpunkt
griffen die französische und die deutsche Seite dieses ema noch nicht auf.14
Dass die polnische Initiative in dieser Phase keinen Anklang fand, rief keine
ernsteren Verstimmungen in den Beziehungen Warschaus zu Berlin und Paris
hervor. Der politische Wille zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der
trilateralen Zusammenarbeit war weiterhin groß, obwohl dies in der Hauptsa-
che Polen betraf. Der polnische Ministerpräsident Włodzimierz Cimosiewicz,
11 Stanisław Parzymies: Stosunki polsko-francuskie. In: rocznik PolSkie j Polityki zaGrani cznej
1992, Wars zawa 1992.
12 Bogdan Koszel: Francja i Niemcy w procesie integracji Polski ze Wspólnotami Europejski-
mi/Unią Europejską: 1989–2002, Poznań 2003.
13 Vgl. Zbiór Dokumentów PISM 1995, S. 172.
14 Vgl. Koszel: Trójkąt Weimarski, S. 75.
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der am 28. Mai 1996 auf einer gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse für aus-
wärtige Angelegenheiten der Parlamente Frankreichs, Deutschlands und Polens
eine Ansprache hielt, erklärte, dass die Weimarer Zusammenarbeit für Polen
das wirksamste Mittel sei, noch vor der Erlangung der Mitgliedschaft in der
Europäischen Union und im Nordatlantischen Bündnis die Beziehungen zum
Westen zu bekräftigen, dass sie ein Faktor sei, der Polen den Weg zu diesen
Strukturen bahne und die Vertiefung der demokratischen und marktwirt-
schaftlichen Prinzipien in Polen fördere sowie günstige Bedingungen für die
deutsch-polnische Aussöhnung schaffe, wobei man sich die Erfahrungen aus der
deutsch-französischen Aussöhnung zunutze machen könne.15
2 Der Außenminister (1997–2000)
Die Parlamentswahlen in Polen im Herbst 1997 brachten die Koalition der
Wahlaktion Solidarność (Akcja Wyborcza Solidarność, AWS) und der Freiheits-
union (Unia Wolności, UW) an die Macht. Welch großes Gewicht die Koali-
tionspartner der trilateralen Zusammenarbeit mit Frankreich und Deutschland
beimaßen, bezeugt die Tatsache, dass sogar im Koalitionsvertrag die Formulie-
rung (Pos. 28.7) von einem »Zusammenwirken zwischen Polen, Frankreich und
Deutschland zugunsten der europäischen und euroatlantischen Inte gra tion im
Rahmen des sog. Weimarer Dreiecks« verwendet wurde. Der neue Minister-
präsident Jerzy Buzek bezeichnete in seiner Regierungserklärung vom 10. Ok-
tober 1997 die Zusammenarbeit im Dreieck als »Wirbelsäule Europas«.16 Es
war jedoch kein Geheimnis, dass die neue Regierung aus unterschiedlichen
politischen Gruppierungen gebildet wurde: Teile standen einer Kooperation
mit Frankreich eher skeptisch gegenüber, andere waren Anhänger einer sehr en-
gen Kooperation mit Deutschland, wobei auch sie wiederum in den Reihen der
Koalition erbitterte Gegner fanden, die nach außen antideutsche Phobien und
Vorurteile demonstrierten.17 Geremek, der am 31. Oktober zum Außenminister
ernannt wurde, galt als starke Persönlichkeit und eine der wichtigsten Gestal-
ten im Kabinett Jerzy Buzek. Seine Ernennung wurde sowohl an der Spree als
auch an der Seine mit großem Wohlwollen aufgenommen. Zusammen mit der
15 Katarzyna Kołodziejczyk: Trójkąt w Sejmie. Polska-Francja-Niemcy. In: rzeczPoSPolita
vom 29.05.1996.
16 Umowa koalicyjna AWS-UW. In: rzeczPoSP olita vom 12.11.1997; Exposé Jerzego Buzka.
In: zbiór DokuMentóW PiSM 1997, Nr. 4.
17 Arkadiusz Lewandowski: Akcja Wyborcza Solidarność. Centroprawica w poszukiwaniu
modelu współpracy, Płock 2016.
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Freiheitsunion galt er als Garant der Stabilität in der prowestlichen Orientie-
rung Polens und insbesondere als stark für die Vertiefung der polnisch-französi-
schen Zusammenarbeit engagierter Politiker.18 Seiner Hoffnung auf eine engere
Unterstützung Frankreichs gab der Minister Mitte 1998 wiederholt Ausdruck,
u. a. in einem Interview für die Tageszeitung L F. »Frankreich könnte«
– den Worten Minister Geremeks zufolge – »in Polen den Partner finden, den
es brauchte, um seinen Handlungsspielraum in Mitteleuropa zu erweitern«.19
Als Minister Geremek sein Amt in der Szucha-Allee (Aleja Szucha) in Warschau
antrat, waren die mit dem polnischen Beitritt zur NATO verbundenen politi-
schen Entscheidungen schon gefallen. Am 17. Juli übermittelte der General-
sekretär des Bündnisses Javier Solana die offizielle Einladung zu Gesprächen
in der Frage des Betritts Polens zum Pakt. Sie fanden in vier Runden (am 16.
und 29. September sowie am 9. und 23. Oktober) in Brüssel statt. Gleichzeitig
zeichnete sich die Perspektive eines Durchbruchs in den polnischen Bemühun-
gen um die Mitgliedschaft in der EU ab. Im Zusammenhang mit einer für
Mitte Dezember geplanten Sitzung des Europäischen Rates in Luxemburg kam
es zu den nächsten Konsultationen im Rahmen des Weimarer Dreiecks. Am
19. November 1997 waren der Fortschritt in der europäischen Inte gra tion und
der Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur ema Nr. 1 des
Treffens der Außenminister in Frankfurt/Oder. Die Minister Geremek, Klaus
Kin kel und Hubert Védrine trafen sich an der Oderbrücke in Słubice, von wo
aus sie sich anschließend auf das andere Flussufer zum Gebäude der Europa-
Universität Viadrina begaben. Schon eingangs deuteten Kinkel und Védrine die
Möglichkeit an, das Jahr 2000 als Datum des Beitritts Polens in die Strukturen
der EU zu prüfen, was früher Präsident Chirac während eines offiziellen Besu-
ches in Warschau suggeriert hatte. Geremek, der nach Gesprächen mit Kanzler
Kohl und Präsident Roman Herzog direkt aus Bonn gekommen war und auf
dem Treffen des Dreiecks als Minister sein Debüt gab, machte seine Gesprächs-
partner mit den Prämissen des polnischen Vorsitzes in der OSZE bekannt. Im
Zu sammenhang damit schlugen die Minister die Schaffung eines Systems trila-
teraler Konsultationen vor, die das Wirken dieser Organisation betreffen sollten.
Auf Initiative von Védrine beschloss man, größeren Nachdruck auf die kulturel-
le Zusammenarbeit zu legen, und diskutierte erneut das Projekt der Gründung
eines trilateralen Kulturinstituts in Warschau. Die Existenz des Dreiecks und
die Achse Paris-Berlin-Warschau wurden übereinstimmend als »originell und
18 Na talie Nou gayred: L a victo ire de la droi te á Varsovie. I n: le MonDe vom 23.09.1997, h t t p s : //
www.lemonde.fr/archives/article/1997/09/23/la-victoire-de-la-droite-a-varsovie_
37787 70_1819218.ht ml (12.09.2022).
19 le FiGaro vom 15.06.1998.
DOI: 10.13173/9783447120241.035
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bedeutsam« (Védrine) bezeichnet sowie als »wichtiger als je zuvor« (Kinkel).20
Bei dieser Gelegenheit ist erwähnenswert, dass Védrine der erste Außenminis-
ter war, der nach der Bildung der neuen Regierung von Buzek nach Warschau
gekommen war (6.11.1997). Auf diese Weise wollte die französische Seite, den
Erwartungen von Minister Geremek entgegenkommend, ihr Interesse am pol-
nischen Partner und die Absicht zur Weiterentwicklung der bilateralen Bezie-
hungen unterstreichen.
Die endgültigen Entscheidungen darüber, in welcher Reihenfolge die Staaten,
die auf eine Einladung zur Mitgliedschaft warteten, auf eine Liste aufgenom-
men werden sollten, fielen auf einem Treffen der Regierungs- und Staatschefs
der Europäischen Union am 12./13. Dezember 1997. Die Partner Polens aus
dem Weimarer Dreieck gratulierten Ministerpräsident Jerzy Buzek zum erfolg-
reichen Abschluss der den Beitrittsverhandlungen vorausgehenden Runden und
zum Platz Polens in der ersten Gruppe der Beitrittskandidaten. Infolge der Fest-
legungen, die auf dem Gipfel des Europäischen Rates in Luxemburg Ende März
1998 vorgenommen worden waren, wurden Ende März 1998 Beitrittsverhand-
lungen mit den ersten sechs Ländern aufgenommen, die für eine Mitgliedschaft
kandidierten (Polen, Estland, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Zypern).
Vor dem Start konkreter Beitrittsverhandlungen trafen sich die Präsidenten
Frankreichs und Polens sowie der deutsche Bundeskanzler im Februar 1998
zum ersten Mal in Posen. Der Gipfel war die Bekräftigung des Willens zur
Fort setzung der trilateralen Zusammenarbeit und ihre Hebung auf die höchs-
te Ebene – in Form von Treffen der Staats- und Regierungschefs. Während
der Gespräche in Posen wurden strategische Probleme besprochen, die mit der
europäischen Sicherheit und der EU-Erweiterung sowie den Perspektiven der
Zusammenarbeit Polens, Frankreichs und Deutschlands verbunden waren. Die
Präsidenten von Polen und Frankreich sowie der deutsche Kanzler bekräftig-
ten, dass die Weimarer Zusammenarbeit vor allem einen europäischen Kontext
besitze. Das Weimarer Dreieck habe eine Mission in Europa zu erfüllen, die
auf einer Stabilisierung der Lage auf dem Kontinent beruhe, unter besonderer
Berücksichtigung der Auswirkungen auf Osteuropa. Kwaśniewski schätzte die
Rolle beider Staaten als »Anwälte« der polnischen Sache in Brüssel ein und be-
wertete das persönliche Engagement von Präsident Chirac und Bundeskanzler
Kohl in dieser Frage sehr hoch. Der französische Präsident revanchierte sich da-
gegen mit der Feststellung – was von der Presse umgehend aufgegriffen wurde –
dass die drei Staaten in der Zukunft »der Motor der europäischen Inte gra tion«
sein würden.21
20 Krystyna Grzybowska: Konsultacje trzech ministrów. In: rzeczPoSPolita vom 20.11.1999.
21 Daniel Vernet: Cohabitation sur la Seine et la Vistule, In: le MonDe vom 23.02.1998; Kohl
DOI: 10.13173/9783447120241.035
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Kurz nach dem Posener Treffen umriss der neue Chef der polnischen Diplo-
matie bei einem Auftritt im Plenum des Sejms am 4. März 1998 zum ersten
Mal die Richtungen und Prinzipien der polnischen Außenpolitik. Bei seiner
Bewertung des Funktionierens des Weimarer Dreiecks gab der Minister zu ver-
stehen, dass die trilaterale Zusammenarbeit weiterhin eine wesentliche Rolle im
Inte gra tionsprozess Polens in die NATO und die Europäische Union spielen
werde. Er vertrat die Ansicht, dass das Dreieck vor neuen Aufgaben mit »einer
wesentlichen breiteren und langfristigeren Perspektive« stehe. Er teilte die Mei-
nung von Ministerpräsident Buzek, dass das Dreieck zur »Wirbelsäule Europa
werden könne. Der Minister war überzeugt, dass es sich bei der Mitgestaltung
der Ostpolitik einer sich erweiternden Europäischen Union als hilfreich er-
weisen könne. Er versprach, den Ministertreffen im Rahmen des Dreiecks eine
neue Dynamik zu geben, und hoffte auf regelmäßige und effektive Treffen der
Außen- und Verteidigungsminister. Darüber hinaus postulierte er eine breitere
Öffnung der trilateralen Zusammenarbeit für Wirtschaft, Umweltschutz und
mit dem Arbeitsmarkt verbundene Probleme.22
Im Jahr 1998 wurde Geremek – als erster Pole – in Aachen mit dem Karlspreis
ausgezeichnet, der renommiertesten europäischen Auszeichnung für Verdienste
bei der Förderung von Frieden und Einheit in Europa. Die Laudatio hielt der
Präsident der Ungarischen Republik Arpad Göncz. In seiner Ansprache ver-
wies der Preisträger darauf, dass man das Streben Polens und der Nachbarlän-
der nach der Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht ausschließlich als
Wunsch der Teilnahme am Wohlstand und an der Sicherheit betrachten dürfte,
die sich die Staaten des Westens erarbeitet hätten. Es sei ein Zeugnis des Erfolgs
der europäischen Inte gra tion und ihre wesentliche Bereicherung.23
Im Herbst 1998 endeten die Wahlen zum Bundestag mit der Bildung einer neu-
en Regierungskoalition, die sich aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen zusam-
mensetzte. Bundeskanzler wurde der pragmatische Politiker Gerhard Schröder,
wohingegen der auf diesem Gebiet über keinerlei Erfahrung verfügende Partei-
führer der Grünen Joschka Fischer das Amt des Außenministers übernahm. Aus
der Sicht der polnischen Regierung war wichtig, dass der am 20. Oktober 1998
in Bonn unterzeichnete Koalitionsvertrag zwischen der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen einen Vermerk über den be-
und Chirac befürworten eine schnelle Inte gra tion Polens. In: FrankFurter allGeMein e zeitunG
vom 23.02.1998.
22 Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka o podstawowych kierun-
kach polit yki zagranicznej Polski. Przemówienie na forum Sejmu RP w dniu 5 marca 1998
roku. In: Bronisław Geremek: Skuteczność i racja stanu: z teki ministra spraw zagranicz-
nych RP, Warszawa 2016.
23 Rede von Bronislaw Geremek, https://www.karlspreis.de/de/preistraeger/bronislaw-
geremek-1998/rede-von-bronislaw-geremek (29.03.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.035
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sonderen Charakter der deutsch-polnischen Beziehungen und der historischen
Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für ihre Gestaltung enthielt.
Beteuert wurden dabei auch die Partnerschaft und Bereitschaft der Deutschen
zu einer »Stärkung« des Weimarer Dreiecks.24
Für die Koalition von AWS-UW war Helmut Kohl als bewährter Freund Polens
der bequemere Bundeskanzler gewesen. In Polen war übertrieben propagandis-
tisch in seine Kandidatur investiert worden, was der Aufmerksamkeit Schröders
nicht entgangen war. Er zögerte mit der Abstattung seines ersten Besuches in
Warschau und vermied die Nennung konkreterer Termine für den polnischen
Beitritt zur EU. Wie zu erwarten war, hatte Minister Geremek zur neuen Regie-
rung mit ihrem zur Schau gestellten Pazifismus (»Kultur der Zurückhaltung«,
»zivile Großmacht«) und ihrer starken Orientierung auf Russland kein Vertrau-
en und hielt anfänglich zu Minister Fischer kühle Distanz. In einem Interview,
das er am 18. September 1998 dem D P erteilte, äußerte er Be-
fürchtungen, dass die neue Koalition »ein unbekanntes, unsicheres Element«
mit sich bringe. Er brachte die Sorge zum Ausdruck, ob der Generationenwech-
sel in der deutschen politischen Klasse, der sich gegenwärtig vollziehe, sie nicht
von der historischen Verantwortung für das 20. Jahrhundert befreien würde, die
die bisherige Regierungsmannschaft hatte.25
Der Mangel an Vertrauen und die vorhandenen Zweifel wurden während des
ersten Besuchs des Chefs der deutschen Diplomatie in Warschau Ende Oktober
1998 teilweise ausgeräumt. Der von Präsident Kwaśniewski empfangene Fischer
versicherte, dass Deutschland die Bemühungen Polens um den EU-Beitritt
unterstütze und auch weiterhin der Anwalt jener Staaten sein wolle, die eine
Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebten. Die Zusammenarbeit
im Weimarer Dreieck, das sich einen festen Platz im europäischen Kalender
erarbeitet hatte, bewertete er sehr hoch und er erinnerte daran, dass seine Wei-
terentwicklung Bestandteil des Koalitionsvertrags zwischen der SPD und den
Grünen war.26 Minister Geremek machte einen großen Eindruck auf ihn. In
seinen Erinnerungen schrieb er über ihn mit Bewunderung, dass Geremek eine
hervorragende Persönlichkeit sei, ein Gelehrter und Historiker, der sich mit dem
mittelalterlichen Frankreich beschäftigte, ein Verteidiger der Menschenrechte
24 Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert Koalitionsvereinba-
rung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, Bonn, 20. Oktober 1998, http://www.xn--grne-lage-r9a.de/download/
koalition/index.htm (27.03.2022).
25 Między Niemcami a Rosją. In: Dziennik PolSki vom 18.09.1998.
26 Spotkanie Prezydenta RP z wicekanclerzem, ministrem spraw zagranicznych RFN,
29.10.1998, Prezydent.PL, https://www.prezydent.pl/archiwalne-aktualnosci/aktualnosci-
rok-2000-i-starsze/spotkanie-prezydenta-rp-z-wicekanclerzem-ministrem-spraw-
zagranicznych-rfn,32805,archive (27.03.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.035
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und Berater der Gewerkschaft Solidarność, der 1981 nach der Verhängung des
Kriegszustandes, verhaftet und interniert worden sei.27 Trotz vieler Vorbehalte
verhielt sich Geremek dem deutschen Minister gegenüber wohlwollend, obwohl
es – wie der deutsche Biograf des polnischen Politikers schrieb – seinem deut-
schen Kollegen an intellektuellem Format, wissenschaftlicher Präzision und Le-
benserfahrung fehlte.28
Nach dem ersten Amtsjahr von Geremek als Außenminister komplizierten sich
die Angelegenheiten, die mit dem polnischen Beitritt zur EU verbunden waren.
Einen großen Einfluss darauf hatten sowohl Ereignisse in der EU als auch in-
nerhalb Deutschlands. 1999 kam es infolge des Rücktritts ihres Vorsitzenden
Jacques Santer und seiner Mannschaft zu einer Lähmung der Europäischen
Kommission (EK), die bis Herbst 1999 andauerte, als die Kommission in ihrer
neuen Zusammensetzung unter der Führung von Romano Prodi die Arbeit
übernahm. Von März bis Juni 1999 dauerte die Intervention der NATO im
Kosovo, was dazu führte, dass die Notwendigkeit einer Modifizierung der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gemeinsamen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik der EU auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Im De-
zember 1999 fiel auf dem Gipfeltreffen der »15« in Helsinki die Entscheidung,
die Liste der Länder mit Kandidatenstatus um sechs Staaten (Litauen, Lettland,
Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Malta) sowie um die Türkei zu erweitern, was
die Verhandlungsstrategie der Europäischen Kommission (EK) in hohem Maße
veränderte. Zusätzlich fanden im Jahre 1999 die Wahlen zum Europäischen
Par lament und zu einigen Landesparlamenten in der Bundesrepublik statt, die
die SPD nicht als erfolgreich betrachten konnte.
Eine gewisse Akzentverschiebung in der deutschen Politik war bereits während
des alljährlichen, bereits neunten Treffens der Vertreter des Weimarer Drei-
ecks (Védrine, Fischer, Geremek) am 6. Januar 1999 in Paris zu beobachten.
Ihm ging eine Erklärung des polnischen Außenministeriums voraus, in dem
Polen den Wunsch nach einer vertieften politischen Zusammenarbeit im Rah-
men des Dreiecks als auch in den Bereichen Verteidigung, Kultur und Verkehr
zum Ausdruck brachte. In der gemeinsamen Erklärung der drei Minister wurde
hervorgehoben, dass nach Auffassung der polnischen Seite das Weimarer Drei-
eck weder in Konkurrenz zur EU trete noch den Versuch darstelle, in ihrem
Rahmen eine Gruppierung im Inneren zu bilden, sondern nur ihre Ergänzung
sei. Während des Pariser Gipfels stand das ema des EU-Beitritt Polens ganz
oben auf der Tagesordnung. Minister Geremek hegte die Hoffnung, dass dieser
27 Vgl. Joschka Fischer: Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik vom Kosovo bis zum
11.Sep tember, Köln 2007, S. 92.
28 Vgl. Reinhold Vetter: Bronislaw Geremek: Der Stratege der polnischen Revolution, Berlin
2014, S . 338.
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vor Jahresende 2002 erfolgen würde und versuchte, Minister Fischer davon zu
überzeugen. Dieser wiederholte jedoch frühere Meinungen der neuen deutschen
Regierung bezüglich der Unmöglichkeit, einen konkreten Termin für die Be-
endigung des Beitrittsprozesses zu nennen. In Übereinstimmung mit der an-
genommenen Logik der Realpolitik beschränkte er sich auf die vorsichtige Fest-
stellung, dass die Regierung der Bundesrepublik an einem schnellstmöglichen
Beitritt Polens zur EU interessiert sei. Jedenfalls gingen von diesem Treffens
keine neuen Impulse für die EU-Erweiterung aus. Dafür sprach man über neue
Projekte einer Kooperation der Rüstungs- und Luftfahrtindustrie. Zudem wur-
de beschlossen, dass Warschau, Bonn und Paris sich zu Schwesterstädten zu-
sammenschließen sollten.29
Nach einer außerordentlichen Sitzung des Europarats in Berlin (24. Februar –
6. März 1999) gelang es Bundeskanzler Schröder, der damals die deutsche Prä-
sidentschaft im Rat der Europäischen Union führte, nicht, seine eigenen Ideen,
die u. a. mit einer radikalen Reform der Gemeinsamen Landwirtschaftspolitik
und eine Verringerung der deutschen Belastungen zugunsten des EU-Haushalts
verbunden waren, durchzusetzen. Ebenso wenig wurde ein Termin für die Auf-
nahme neuer EU-Mitglieder festgesetzt.
Nach dem Gipfel des Europarats und vor dem geplanten nächsten Treffen der
Staats- und Regierungschefs des Weimarer Dreiecks in Nancy gab Minister Ge-
remek am 8. April im Sejm eine ausführliche Auskunft über die Richtungen der
Maßnahmen, die von der polnischen Diplomatie ergriffen worden waren. Viel
Aufmerksamkeit widmete er einer Analyse der bilateralen Beziehungen Polens
zu Deutschland und Frankreich. Er machte kein Hehl daraus, dass ihm an einer
weiteren konsequenten Unterstützung des Prozesses der polnischen Inte gra-
tion in die EU durch Berlin gelegen war. Er legte Wert darauf, das Format der
Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten um lokale Ebenen zu erweitern
und rechnete darauf, dass die neue »pragmatische« deutsche Regierung zu einer
Lösung in der Frage von Entschädigungen für die Häftlinge der nationalsozia-
listischen Konzentrationslager und für Zwangsarbeiter beitragen würde. Als er
auf Frankreich zu sprechen kam, sparte er nicht mit warmen Worten, indem er
es als »äußerst wichtigen Faktor des Gleichgewichts und der Stabilität in Euro-
pa«, »einflussreiches Mitglied der EU« und einen »Polen wohlgesinnten Part-
ner« bezeichnete. Er brachte den Wunsch zum Ausdruck, dass Frankreich seine
Unterstützerrolle der Reformpolitik und Erweiterung der Europäischen Union
beibehalten möge und versprach, ein günstiges Klima für die Ausweitung der
französischen Investitionen in Polen zu schaffen.30
29 Piotr Kasznia: Spotkanie w trójkącie. In: rzeczPoSPolita vom 7.01.1999.
30 Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka o podstawowych kierun-
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Bei seiner Bewertung des Funktionierens des Weimarer Dreiecks verwies Mi-
nister Geremek darauf, dass es nicht nur eine wichtige Ergänzung der bilatera-
len Beziehungen darstelle, seine Attraktivität beruhe vielmehr darauf, dass es
eine Institution sei, die den Dialog der beiden Hälften Europas ermögliche.
Es könne ein Baustein für die regionale und europäische Position Polens sein
und solle zur Diskussion über die Politik der EU-Osterweiterung, die Strategie
gegenüber Polen und der Ukraine sowie in breiterem Umfang auch Sicherheits-
probleme aufgreifen.
Am 7. Mai 1999 wurde in der Residenz des ehemaligen polnischen Königs
Stanisław Leszczyński im lothringischen Nancy beschlossen, das Format des
Wei marer Dreiecks zu erweitern. Gemäß den Beschlüssen des Gipfels sollten
sich die Minister der Ressorts Umweltschutz, innere Angelegenheiten und Ver-
kehr regelmäßig treffen, und der Stadtpräsident von Warschau, der Oberbürger-
meister von Berlin und der Maire von Paris wurden zum Nachdenken über eine
Festigung ihrer Städtepartnerschaft angeregt. Die Verteidigungsressorts wurden
zu einer Kooperation im Bereich der Produktion militärischer Ausrüstung er-
muntert. Auf kultureller und wissenschaftlicher Ebene sollten der Jugend- und
Kaderaustausch gefördert werden, in Warschau ein trilaterales Wissenschafts-
zentrum ins Leben gerufen und der Anteil Polens an der Verwirklichung des
französisch-polnischen Fernsehprogramms Arte vergrößert werden.31
Die Betonung von Fragen der Kultur wurde zum dominierenden Motiv in den
Diskussionen der Außenminister in Weimar am 31.August 1999. Man erkannte
an, dass in dieser Materie große Möglichkeiten zu einer trilateralen Kooperation
steckten. Zudem wurde eine Initiative zur Gründung eines gemeinsamen Insti-
tuts für Gesellschaftliche Forschungen und Analysen in Warschau präsentiert,
dessen Wirken ganz Mitteleuropa umfassen sollte.32
Während der Kabinette von Schröder/Fischer begann sich in Deutschland die
Meinung zu verfestigen, deren leidenschaftliche Fürsprecherin Frankreich war,
dass die Erweiterung der Europäischen Union um neue Kandidaten aus Mittel-
europa institutionelle Veränderungen im Inneren der europäischen politischen
Struktur und deren Anpassung an ein gutes Funktionieren in einer erweiterten
Zusammensetzung verlange. Schon die Regierung Kohl hatte eine Evolution
von der Formel eins Junktims zwischen dem Prozess institutioneller Reformen
kach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie na forum Sejmu RP w dniu 8 kwietnia
1999 roku. In: Geremek: Skuteczność i racja stanu, S. 86–87.
31 Ludger Kühnhardt, Henri Ménudier, Janusz Reiter: Das Weimarer Dreieck. Die französisch-
deutsch-polnischen Beziehungen als Motor der Europäischen Inte gra tion. Discussion Pa-
per, Bonn 2000.
32 Jerzy H aszczyńsk i: Kultura jako lekarst wo. Spotkanie szef ów dyplomacji Trójkąt a Weimar-
skiego. In: rzeczPoSPolita vom 31.8.1999.
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und der Zweckmäßigkeit der EU-Erweiterung durchgemacht, und langsam
neigte sie den an der Seine vorherrschenden Ansichten zu, dass eine Vertiefung
der Inte gra tion eine Bedingung sine qua nonr die Erweiterung des europäi-
schen Staatenverbunds nach Osten sei. Andererseits war eine zunehmende Be-
reitschaft von Bundeskanzler Schröder zu einer engen Zusammenarbeit mit
Russland zu bemerken, die nach dem Sieg Wladimir Putins in den Präsident-
schaftswahlen im März 2000 sichtbar wurde. Seit dieser Zeit begann sich die
Zusammenarbeit mit Russland auf vielen Ebenen zu entwickeln, insbesondere
im Energiesektor.33
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2000 hatten die Franzosen den Vorsitz in der
Union inne und waren gezwungen, die Verhandlungen mit den Ländern, die
eine Mitgliedschaft anstrebten, zu Ende zu bringen. Sie machten dabei kein
Geheimnis aus ihren Vorbehalten, dass die Aufnahme so vieler schwach vorbe-
reiteter und um vieles ärmerer Länder des ehemaligen Ostblocks in die EU die
Gemeinschaft lähmen, ja sie sogar sprengen würde. Es bestand die Gefahr, dass
die Europäische Union kein reibungslos funktionierender Organismus mehr
sein würde, sondern verwässert und auf eine Freihandelszone reduziert würde.
Sie würde kein Gewicht in der internationalen Politik haben und partnerschaft-
liche Beziehungen zu den USA unterhalten. Und schließlich, last but not least,
befürchtete man, dass Polen, Tschechien oder Ungarn gewissermaßen auf na-
türliche Weise zum Hinterland des ohnehin (bezogen auf die ganze EU) über-
proportional großen Deutschlands werden würde. Dieses Hinterland könnte
den Schwerpunkt der Gemeinschaft nach Osten verlagern, und dann würde
Frankreich im europäischen Konzert nicht mehr die erste Geige spielen.
Wie bereits erwähnt, versuchte Frankreich eben mit Hilfe des Weimarer Drei-
ecks die deutsche Aktivität in der Region Mitteleuropas zu kontrollieren und
zu stimulieren. Kein Wunder also, dass der Interessenkonflikt in dieser Lage
schnell deutlich wurde. Der Ehrgeiz Geremeks und der ganzen Regierung war
es, das Weimarer Dreieck zu einer der Hauptantriebskräfte der europäischen
Inte gra tion zu formen, wobei Frankreich die Interessen des Mittelmeerraumes
vertreten würde, Deutschland die skandinavischen Länder und die Mitteleuro-
pas, Polen dagegen die neu in die Union aufgenommenen Staaten. Eine solche
Perspektive weckte keinen Enthusiasmus an der Seine und Frankreich brems-
te eher die institutionelle Entwicklung des Dreiecks.34 Kein Wunder also, dass
Jahre später der hervorragende französische Politologe und Soziologe Alfred
Grosser bei seiner Bewertung dieser Phase des Funktionierens des Weimarer
33 Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2007, S. 246.
34 Bogdan Koszel: Francja-Niemcy a polskie członkostwo w Unii Europejskiej. In: Marek
Czajkowski, Erhard Cziomer (Hrsg.): Stanowisko Unii Europejskiej wobec Polski i jej sąsia-
dów w przededniu poszerzenia, Kraków 2003, S. 73–82.
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Dreiecks die unmissverständliche Feststellung verwendete, dass das Weima-
rer Dreieck »unter den Regierungen von Chirac und Bundeskanzler Gerhard
Schröder durch die Achse Paris-Berlin-Moskau zerschlagen worden sei«.35
Es war unschwer zu bemerken, dass Minister Geremek in seinem Auftritt zur
Außenpolitik im Sejm am 9. Mai 2000 nur mit wenigen Worten daran erin-
nerte, dass Polen die Beziehungen zu Frankreich und Deutschland im Rah-
men des Weimarer Dreiecks weiterhin als vorrangige Richtung der Außenpoli-
tik betrachtete und dass sich die langfristigen Ziele beider Staaten mit denen
Polens deckten. Nach seiner Auffassung betraf das zu beobachtende Defizit die
zwischengesellschaftlichen Kontakte und in dieser Richtung sollten konkrete
Schritte in die Wege geleitet werden. Im weiteren Teil ermunterte er Frankreich
zu größeren Investitionen in Polen sowie zur Ausweitung der lokalen und re-
gionalen Bindungen. Er rechnete darauf, dass es dank den Maßnahmen Frank-
reichs schnell zur Beendigung des Reformprozesses der EU und zu ihrer Vorbe-
reitung auf ein Wirken in einer erweiterten Zusammensetzung komme.36
Unabhängig vom Weimarer Dreieck entwickelte Geremek eine neue Strategie
der polnischen Russlandpolitik, die in einer gleichzeitigen Unterstützung demo-
kratischer Bestrebungen der postkommunistischen Länder sowie in einer fried-
lichen Lösung strittiger Fragen entlang der Linie Warschau – Moskau bestand.
Im Juni 2000 besprachen die Außenminister des Weimarer Dreiecks in Krakau
den Stand der Verhandlungen Polens mit der EU, Sicherheitsprobleme in Euro-
pa und die Möglichkeit einer Zusammenarbeit auf regionaler Ebene. Geremek,
der zum letzten Mal in seiner Rolle als Chef der polnischen Diplomatie auftrat,
stellte die Lage in Polen nach dem Zerfall der Regierungskoalition AWS-UW
dar und versicherte seinen Gesprächspartnern, dass »Polen mit beiden Beinen
auf dem Boden politischer Stabilität stehe, die kein Windstoß erschüttern kön-
ne«. Seine Gesprächspartner Védrine und Fischer waren ebenfalls der Meinung,
dass die letzten politischen Spannungen in Polen keinen Einfluss auf den Ver-
lauf der Verhandlungen mit der Europäischen Union haben sollten. Einer der
Hauptgedanken des Treffens war auch das Gespräch darüber, welche neue For-
men die Zusammenarbeit der Gesellschaften in den Staaten des Weimarer Drei-
ecks annehmen könnte. Der Annäherung sollten u. a. »Weimarer Picknicks«
dienen, an denen auch Jugendliche teilnehmen würden und bei denen man in
lockerer Atmosphäre über die Überwindung gegenseitiger Vorurteile und Ste-
35 C hirac i Schro eder zmia żdżyl i Trójkąt Weimarski . In: Dziennik. Gazeta Pr aWna vom 6.2.2011,
https://www.gazetaprawna.pl/wiadomosci/artykuly/484728,chirac-i-schroeder-
zmiazdzyli-trojkat-weimarski.html (2.5.2022).
36 Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie na forum Sejmu RP w dniu 9 maja 2000
roku. In: Geremek: Skuteczność i racja stanu, S. 236–237.
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52
reotype diskutieren konnte. In Krakau unterzeichneten Vertreter der regionalen
Behörden aus den drei Ländern in Anwesenheit der Minister die Kleinpolni-
sche Erklärung der Regionen des Weimarer Dreiecks, die die Zusammenarbeit
zwischen den französischen Regionen, den deutschen Bundesländern und den
polnischen Woiwodschaften betraf. Die Erklärung schuf die formalen Grund-
lagen für eine Zusammenarbeit der Gesellschaften der drei Länder und für die
Schaffung kleiner Weimarer Dreiecke. Sie regte die wirtschaftliche, kulturelle
und wissenschaftliche Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen so-
wie kleiner und mittelständischer Unternehmen an.37
Es unterlag keinem Zweifel, dass das Zusammenfallen der Debatte über die Zu-
kunft des vereinten Europas, die mit dem berühmten Auftritt Fischers an der
Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000 eingeleitet wurde, mit der
Beendigung der Beitrittsgespräche den polnischen Unterhändlern und der Regie-
rung Buzek ungelegen kam. Man befürchtete, dass die schnelle Verabschiedung
einer institutionellen Lösung zusätzliche Schwierigkeiten vor den eine Mitglied-
schaft anstrebenden Ländern auftürmen würden. Die Absichten von Fischer
und Schröder wurden auch nicht ganz richtig interpretiert. In den Auftritten
der deutschen Politiker glaubte man vor allem das Bestreben zu erkennen, dem
zukünftigen Europa eine föderative Struktur zu geben, die sich zwar in der Bun-
desrepublik bewährt hatte, aber in krassem Gegensatz zu den geschichtlichen
Traditionen Polens, zur polnischen Kultur und zu den Präferenzen für die Ent-
wicklung eines regierungsübergreifenden Modells der Union stand. Den Vor-
schlag Fischers zu einer Föderalisierung Europas nannte der polnische Minister
»mutig, aber verfrüht und im Widerspruch zur Denkweise der Beitrittskandida-
ten, die gerade erst ihre Unabhängigkeit und Souveränität erlangt hatten«.38 Er
hatte Angst vor einer zukünftigen Europäischen Union in Form einer »vergrö-
ßerten Bundesrepublik« mit einem exklusiven »harten Kern« bzw. einer »Pionier-
gruppe«. Im Allgemeinen wurden eher – was wiederum den Deutschen missfiel
– die von Frankreich vorgeschlagenen Lösungen, die die Ebene der regierungs-
übergreifenden Zusammenarbeit in der Union stärkten, unterstützt.39
Einen anderen Charakter hatten die Vorbehalte politischer Natur. Obwohl die
Franzosen dies abstritten, wurde Polen dennoch als treuer Verbündeter der USA
in Mitteleuropa betrachtet, der die Interessen des Nordatlantischen Bündnis-
ses über die europäischen Interessen stellte, und dies auch noch in einer Phase
37 Jerzy S adecki: Będą pikniki weimarskie. Spotkanie szefów dyplomacj i Polski, Francji i Nie -
miec. In: rzeczPoSPolita vom 8.6.2000.
38 Muriel Rambour: Analyse comparé du debat sur la structure politique future de L’Europe:
vers une »Fédérations d’ Etats-Nations?«. In: re vue internationale De PolitiQ ue coMParée
2003, N r. 1, S. 53.
39 Jędrzej Bielecki: Zaproszenie do dyskusji. In: rzeczPoSPolita vom 15.5.2000.
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53
intensiver Arbeiten an der Formulierung der Aufgaben für eine gemeinsame
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ein sprechender Beweis dafür
war, dass – auf Druck Geremeks – Außenministers Védrine am 27. Juni 2000
für einige Stunden nach Warschau kam, um an einer Konferenz zum ema
Demokratie teilzunehmen, die von den Vereinigten Staaten gesponsert worden
war. Der Minister lehnte es ab, mit der Schlusserklärung identifiziert zu werden,
die von den anderen 106 Teilnehmern bestätigt worden war.40
Geremek war sich bewusst, dass die sozialistische Regierung Jospin der polni-
schen politischen Szene, die von einer politisch eher rechts der Mitte stehenden
Gewerkschaft und national-konservativen Kreisen dominiert wurde, mit großer
Distanz gegenüberstand. Die französischen intellektuellen Eliten, die zumeist
linksorientiert waren, beurteilten und stellten Polen als ein rückständiges, kleri-
kales, antisemitisches, intolerantes Land mit archaischen Sitten dar, das von den
Prinzipien, auf die sich die laisierte Französische Republik gründete, ungemein
weit entfernt war.
3 Geremek als Europaabgeordneter und Kommentator
des politischen Lebens
Als Geremek am 30. Juni 2000 nach dem Zerfall der Regierungskoalition aus
AWS und UW das Amt des Außenministers niederlegte, war er sich dessen
bewusst, dass sein Nachfolger, der erfahrene Bartoszewski – wenn auch nur für
kurze Zeit – die Hauptprämissen der polnischen Außenpolitik fortsetzen und
damit da s Weimarer Dreieck insbesondere auf dem ih m gut vertrauten deutschen
Abschnitt stärken würde. Im Jahr 2004 erhielt Geremek vom Wahlkomitee der
Freiheitsunion das Mandat eines Abgeordneten zum Europäischen Parlament.
Er gehörte der Fraktion Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa an
und war in den parlamentarischen Ausschüssen für auswärtige Angelegenheiten
und konstitutionelle Fragen tätig. Darüber hinaus war er Delegationsmitglied
für Angelegenheiten der Beziehungen zu den USA und zu Russland.
Trotz seiner Aktivitäten auf dem breiteren europäischen Feld bemühte sich der
neue Europaparlamentarier darum, die Lage in Polen weiter zu verfolgen. Er
war sich bewusst, dass nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in
Polen im Herbst 2005 das Weimarer Dreieck in der Politik der Regierung unter
40 Jan Krauze: Hubert Védrine réfute les leçons de démocratie de Washington. In: le MonDe
vom 28.06.2000, https://www.lemonde.fr/archives/article/2000/06/28/hubert-v-
eacute-drine-r-eacute-fute-les-le-ccedil-ons-de-d-eacute-mocratie-de-washington_
74921_1819218.ht ml (23.05.2022).
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Kazimierz Marcinkiewicz und Jarosław Kaczyński stark an Bedeutung verlor.
Seine besondere Beunruhigung rief die Tatsache hervor, dass Präsident Lech
Kaczyński 2006 auf die Teilnahme am Jubiläumsgipfel des Weimarer Dreiecks
verzichtete, der der trilateralen Zusammenarbeit einen neuen Impuls hätte ge-
ben können. Der offizielle Grund dafür war eine »diplomatische Krankheit« des
Präsidenten, obwohl es kein Geheimnis war, dass dies infolge einer Karikatur
des polnischen Präsidenten geschah, die in der linken deutschen Nischenzeitung
D T abgedruckt worden war. Aus Protest erklärten die ehema-
ligen Außenminister Rosati, Geremek, Bartoszewski, Rotfeld, Olechowski, Ci-
mosiewicz und Meller in einem von ihnen unterzeichneten Brief, dass »die Ab-
sage des Treffens auf dem Gipfel ohne Angabe eines ernsten und glaubwürdigen
Grundes geringschätzig gegenüber den Partnern ist«.41 In seinem Kommentar
zu dieser Erklärung brachte Geremek die Überzeugung zum Ausdruck, dass die
polnische Staatsräson ein »Bezugspunkt sein sollte, der über jedem politischen
oder parteilichen Bewusstsein steht«. Das Weimarer Dreieck betrachtete er als
ein Instrument polnischer Errungenschaften in der Außenpolitik, das der polni-
schen und europäischen Diplomatie weiterhin nützlich sein konnte.42
Im Jahr 2007 lehnte Geremek es ab, eine Lustrationserklärung abzugeben, in-
dem er darauf verwies, dass er dies bereits 2004 getan habe. Als man seitens
der Regierung in einer politischen Hetzjagd versuchte, ihm sein Mandat als
Europaabgeordneter abzunehmen, standen seine französischen und deutschen
Freunde in Straßburg geschlossen hinter ihm, indem sie ihre uneingeschränkte
Solidarität zum Ausdruck brachten.43
41 B . szefowi e dyplom acji kr yt ykują od wołanie s zczy tu w Weimarz e. In: RFM 24, https://www.
rmf24.pl/fakty/polska/news-b-szefowie-dyplomacji-krytykuja-odwolanie-szczytu-
w-weimarze,nId,79454#crpstate=1 (4.05.2022).
42 Geremek broni prawa do krytyki odwołania szczytu Trójkąta Weimarskiego. In: Wirtu-
alna Polska, https://wiadomosci.wp.pl/geremek -broni-prawa-do-krytyki-odwolania-
szczytu-trojkata-weimarskiego-6036387837281409a (22.04.2022).
43 Parlament Europejski broni posła Geremka. In: europarl.europa.eu, https://www.europarl.
europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=//EP//NONSGML+IM-PRESS+20070425IPR058
53+0+DOC+PDF+V0//PL&language=PL (22.04.2022).
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4 Schlussfolgerungen
Bei genauerer Betrachtung lässt sich feststellen, dass die Handlungsmöglichkei-
ten Geremeks im Weimarer Dreieck begrenzt waren. In der Koalitionsregierung
aus AWS und UW herrschte hinsichtlich einer Vertiefung der Zusammenarbeit
mit der Bundesrepublik und Frankreich Misstrauen vor. Als er das Ministeramt
übernahm, waren die politischen Entscheidungen in den für Polen wichtigsten
Fragen, also der Mitgliedschaft in der NATO und in der EU, schon gefallen
und die Aufgabe des Außenministeriums bestand lediglich darin, Polen sicher
in diese Strukturen zu führen. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass sich
der Minister überaus emotional für die Ostpolitik engagierte; seine ersten dip-
lomatischen Reisen führten nicht nach Berlin oder Paris, sondern nach Vilnius
(Wilna) und Kiew.
Bei seiner Bewertung des Weimarer Dreiecks aus der zeitlichen Perspektive sei-
nes 15-jährigen Bestehens erachtete er bei einer im Weimarer Rathaus gehalte-
nen Rede dessen Existenz und Funktionieren als zweckmäßig und notwendig.
Er verwendete sogar die Formulierung, dass er »keine andere Möglichkeit des
politischen Seins Polens in Europa sehe als die einer privilegierten Zusammen-
arbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen«.44 Ungeheures Gewicht
maß er dem Engagement zugunsten des Aufbaus einer breiten trilateralen Zu-
sammenarbeit bei. Er betonte die Bedeutung einer entsprechenden Bildung der
Jugendlichen in den drei Ländern, damit sie den sie erwartenden europäischen
Herausforderungen gerecht werden könnten. Außerdem regte er die Schaffung
sog. kleiner Weimarer Dreiecke in verschiedenen Bereichen, angefangen von der
Bildung über die Wirtschaft, die Rechtsprechung und Verteidigung bis hin zur
Medizin, an, was eine dauerhafte und starke Grundlage für eine trilaterale Zu-
sammenarbeit darstellen würde. Es ist erwähnenswert, dass Geremek für seine
Verdienste mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet so-
wie zum Träger des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste und
zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt wurde.
Aus dem Polnischen von Sabine Lipińska
44 Vgl. Klaus-Heinrich Standke (Hrsg.): Trójkąt Weimarski w Europie. Das Weimarer Dreieck
in Europa. Le Triangle de Weimar en Europe, Toruń 2009, S. 50.
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Der Beitrag Bronisław Geremeks zur
polnischen Außenpolitik und Sicherheit:
Polens NATO-Beitritt
Agnieszka Nitszke, Jagiellonen-Universität in Krakau, Team Europe
Bronisław Geremek’s contribution to Polish foreign and security policy:
Poland’s accession to NATO
e purpose of this article is to present the efforts of Polish diploma-
cy to join NATO, with particular emphasis on the role and involvement
of Bronisław Geremek in this process. It is hypothesised that Bronisław
Geremek’s vision of transatlantic integration and his assessment of the
international situation and the NATO alliance itself in the 1990s proved
its enduring value and is also applicable to the current international situ-
ation after Russia’s aggression against Ukraine. In order to examine the
hypothesis, the following research questions were formulated: Q1: What
was the “security vacuum” in Central and Eastern Europe in the first
half of the 1990s; Q2: How did the U.S. position on NATO enlargement
evolve; Q3: What was Russia’s policy toward NATO enlargement plans?
e study used qualitative methods, primarily consisting of content anal-
ysis of documents, archival statements and literature. e initial sections
of the article present the political situation in Poland during the transition
era, and the foreign and security policy directions formulated at the time.
e next section discusses the positions of the U.S. and Russia toward
Poland’s efforts to join NATO. e key part of the article is devoted to an
analysis of Bronisław Geremek’s political ideas, agenda and actions in the
1990s in relation to Polish efforts to join NATO, taking into account the
Eastern European context.
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59
1 Einleitung
Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine gewann Polens NATO- und
EU-Mitgliedschaft an Relevanz, weil diese beiden Organisationen die Garan-
ten der polnischen Sicherheit sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich
Polen infolge der Entscheidung der Großmächte vierzig Jahre lang in der In-
teressensphäre der Sowjetunion (UdSSR). Die Folge dieses Entschlusses war
die Zugehörigkeit des polnischen Staates zu den regionalen, von der UdSSR
kontrollierten Institutionen und Organisationen, darunter zu dem als militäri-
scher Beistandspakt fungierenden Warschauer Pakt. Nach 1989 verlor der Pakt
infolge der demokratischen Umwandlungen in Mittel- und Osteuropa seine
Existenzberechtigung und wurde formal im Jahre 1991 aufgelöst. Polen und an-
dere Staaten in der Region fielen dadurch in ein Sicherheitsvakuum. Die euro-
atlantische Inte gra tion wurde zu einer neuen Richtung der Außenpolitik. Bevor
es aber dazu kam, bedurfte es einer vielseitigen diplomatischen Anstrengung.
In den 1990er Jahren kennzeichnete sich die polnische Diplomatie durch eine
hohe Stabilität und Kontinuität. Trotz sich ändernder Regierungen akzeptierten
alle politischen Parteien, vor allem die, die aus der demokratischen Opposition
hervorgegangen waren, aber mit der Zeit auch die postkommunistischen Grup-
pierungen, die Notwendigkeit der euroatlantischen Inte gra tion, und die Mit-
gliedschaft in der NATO wurde zum strategischen Hauptziel in diesem Be reich.
Der NATO-Beitritt und der diesen Beitritt einleitende Prozess formeller Ver-
handlungen sowie die diplomatischen Maßnahmen, die die westlichen Part ner
von der Mitgliedschaft Polens in der NATO überzeugen sollten, waren eine kol-
lektive Anstrengung aufeinanderfolgender Regierungen und häufig auch ande-
rer Institutionen, die ihre informellen Informationskanäle nutzten und Ein fluss
auf den Entscheidungsprozess nahmen.
Nichtsdestoweniger ist der Verweis auf jene führenden Persönlichkeiten be rech-
tigt, die dank der von ihnen ausgeübten Funktionen sowie mithilfe ihrer per-
sön lichen Beziehungen eine besondere Rolle beim NATO-Beitritt Polens spiel-
ten. In Polen gehörte dazu zweifelsohne Bronisław Geremek, der sich sowohl
an der Planung als auch an der Ausführung der polnischen Außenpolitik in
den 1990er Jahren beteiligte. In den Jahren 1991–1997 war er zuerst Vorsitzen-
der des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im Sejm und anschließend
Außenminister (1997–2000). Unter Berücksichtigung des Zeitrahmens der ent-
scheidenden Phase der NATO-Beitrittsverhandlungen sowie deren Abschluss,
der am 12. März 1999 zum NATO-Beitritt Polens führte, ist Geremek als
Haupt architekt dieses Erfolgs zu betrachten.
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60
Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, die Bemühungen der polnischen Di-
plomatie um die NATO-Mitgliedschaft unter besonderer Berücksichtigung der
Rolle und des Engagements von Geremek darzustellen.
Dabei wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Vision der transatlantischen
Inte gra tion sowie die Beurteilung der internationalen Lage und der NATO
selbst sich als weiterhin aktuell erwies und auch heute, nach dem russischen
Angriff auf die Ukraine, ihre Anwendung findet.
Zur Untersuchung der Hypothesen wurden die nachstehenden Forschungs-
fragen formuliert: F1: Worin bestand das »Sicherheitsvakuum« in Mittel- und
Ost europa in der ersten Hälfte der 1990er Jahre?; F2: Wie entwickelte sich die
Ein stellung der USA zur NATO-Erweiterung?; F3: Wie gestaltete sich Russ-
lands Politik gegenüber den Plänen einer NATO-Erweiterung?
In der Untersuchung kamen qualitative Methoden in Form der Analyse des In-
halts von Dokumenten, in Archiven auffindbarer Äußerungen sowie der Fach-
literatur zum Einsatz.
2 Die geopolitische Lage Polens nach 1989
Die im Jahre 1989 in Mittel- und Osteuropa initiierten gesellschaftlichen und
politischen Umwandlungen führten binnen kürzester Zeit zur Desintegration
des gesamten sowjetischen Ostblocks und in der Folge auch zum Zerfall der
UdSSR. Diese Si tua tion brachte große Chancen mit sich, aber paradoxerweise
auch große Gefahren. Die einen wie die anderen lassen sich auf nationaler so-
wie auf internationaler Ebene erörtern. Die Wahlen vom 4. Juni 1989 in Polen,
die nach Regeln durchgeführt wurden, die von der kommunistischen Partei
und der demokratischen Opposition in einem Format ausgehandelt wurden,
das gemeinhin als »Gespräche am Runden Tisch« bezeichnet wird, hatten Kon-
zessionscharakter. Dies bedeutete, dass sich die demokratische Opposition um
eine bestimmte Zahl der Sejmmandate bewerben durfte. Der eigentliche Um-
bruch und die tatsächliche Widerspiegelung des gesellschaftlichen Willens war
jedoch das Ergebnis der Wahlen zum Senat, bei denen sich die nicht-kommu-
nistischen Kandidat:innen beinahe alle Mandate sichern konnten.1 Da s Wahl-
1 Die Parlamentswahlen in Polen fanden am 4. und 18.Juni 1989 statt. Während der Ge-
spräche am Runden Tisch wurde vereinbart, dass 65 Prozent der Sejmmandate der Pol-
nischen Vereinigten Arbeiterpartei und deren Satellitenparteien vertraglich zugesichert
werden. Die Oppositionsvertreter durften sich wiederum um die weiteren 35 Prozent der
Mandate bewerben. In den Wahlen zum wiederhergestellten Senat sollten 100 Prozent
der Senatoren frei bestimmt werden, um deren Mandate sich sowohl die kommunistische
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61
ergebnis zwang die Machthaber dazu, weitere Zugeständnisse zu machen und
ihr Einverständnis zu geben, dass Tadeusz Mazowiecki, einer der Politiker aus
dem Umfeld der demokratischen Opposition, zum Ministerpräsidenten gewählt
wurde. Die friedliche Machtübergabe an die demokratischen Parteien war de
facto der Anfang eines schwierigen und risikobehafteten Prozesses einer kom-
plexen System-, Wirtschafts- und Gesellschaftstransformation. Im Jahre 1989
gab es noch die UdSSR und Polen war ein Mitglied des Rates für gegenseiti-
ge Wirtschaftshilfe (RGW) sowie des Warschauer Paktes, der die mittel- und
ost europäischen Staaten vereinigte (Warschauer Vertrag über Freundschaft,
Zu sammenarbeit und gegenseitigen Beistand), in dem die UdSSR die vorherr-
schende – oder sogar hegemonische – Position hatte. Dies zog die Präsenz der
sowjetischen Armee auf dem polnischen Staatsgebiet nach sich.2 Formell wurde
der RGW am 28. Juni aufgelöst und der Warschauer Pakt – drei Tage spä-
ter – am 1. Juli 1991. Einerseits war dies das offizielle Ende der wirtschaftlichen
und sicherheitspolitischen Abhängigkeit Polens von der UdSSR, andererseits
bedeutete es, dass diese Probleme aufs Neue geregelt werden mussten. Polen
und die anderen Länder in der Region fielen in ein Sicherheitsvakuum.3 Eine
Angelegenheit von höchster Wichtigkeit auf diesem Gebiet war die Regelung
der Beziehungen zu den Nachbarstaaten, zumal es Anfang der 1990er Jahre in
dieser Hinsicht zu vielfältigen Veränderungen kam. Im Oktober 1990 wurde
der Vertrag zwischen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik
(RSFSR) und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaft li-
che Zusammenarbeit unterzeichnet.4 Er regelte jedoch nicht die Frage der Sta-
Partei als auch die demokratische Opposition bewerben konnten. Die Kandidaten der
demokratischen Opposition errangen schließlich 99 von 100 Mandaten im Senat und
161 der möglichen Mandate im Sejm. Vgl. Krystyna Trembicka: Wybory »kontraktowe« w
Polsce w czerwcu 1989 roku: Peccatum originale u podstaw narodzin III Rzeczypospolitej
Polskiej. In: PrzeGląD SejMoWy 2017, Nr. 4, S. 110–111.
2 Auf dem polnischen Staatsgebiet stationierte die Nordgruppe der Streitkräfte der Roten Ar-
mee. In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zählte sie 300 000
400 000 Soldaten. Vgl. Maciej Czulicki: Wybrane aspekty pobytu Północnej Grupy Wojsk
Armii Radzieckiej w Polsce w latach 1945–1993 oraz wykorzystanie infrastruktury po jed-
nostkach Armii Radzieckiej po 1993 r., Biuro Bezpieczeństwa Narodowego, https://www.
bbn.gov.pl/ftp/dok/1945-1993.pdf, S. 7 (3.04.2022). In den nächsten Jahren än der te sich
ihre personelle Zusammensetzung und gegen Ende der 1980er Jahre betrug sie 56 000 Sol-
daten. Vgl. Eugeniusz Sobczyński, Adam Szulczewski: Camouflaging of areas occupied by
units of the Soviet Army Northern Group of Forces (NGF) on Polish and Soviet militar y topo-
graphic maps. In: PoliSh cartoGraPhical revieW 52 (2020), H. 3, S. 124–139, hier: S. 127.
3 Ryszard Zięba: Główne kierunki polit yki zagranicznej Polski po zimnej wojnie, Warszawa
2010, S. 81.
4 Rafał Czachor: Miejsce Federacji Rosyjskiej w polskiej polityce wschodniej. Bilans 20-le-
cia. In: Wrocł aWSki PrzeGląD MięDzynaroDoWy 2011, H. 2, S. 109–131, hier: S. 115.
DOI: 10.13173/9783447120241.057
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62
tionierung der sowjetischen Armee auf polnischem Territorium, was aus der
Sicht der polnischen Staatsräson der wichtigste Punkt war. Die Verhandlungen
darüber liefen seit Herbst 1990 und wurden mit den Machthabern der UdSSR
aufgenommen. Abgeschlossen wurden sie am 22. Mai 1992 durch die Unter-
zeichnung eines Vertrags, allerdings bereits mit der Russischen Föderation. Am
selben Tag wurde der bereits erwähnte Vertrag zwischen der Russischen Sozia-
listischen Föderativen Sowjetrepublik und der Republik Polen über gute Nach-
barschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet.5 Die letzten
Truppen verließen am 28. Oktober 1992 das polnische Staatsgebiet.6 Der Zer-
fall der UdSSR gegen Ende des Jahres 1991 führte dazu, dass Polen im Osten
nicht mehr an einen, sondern gleich an vier Staaten grenzte: an die Russische
Föderation (Oblast Kaliningrad – russische Exklave), Litauen, Belarus und die
Ukraine. Die polnische Diplomatie unterstützte aktiv die Unabhängigkeitsbe-
strebungen der ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Unabhängigkeit Litauens
wurde bereits am 26. August 1991 von Polen anerkannt. Einige Tage später
nahmen beide Staaten offizielle diplomatische Beziehungen auf, die auch im am
26. April 1994 unterzeichneten Vertrag über gute Nachbarschaft, Freundschaft
und Zusammenarbeit geregelt wurden.7 Am 18. Mai 1992 wurde wiederum ein
derartiger Vertrag zwischen Polen und der Ukraine unterzeichnet.8 Die pol-
nisch-belarussischen Beziehungen regelte der Vertrag über gute Nachbar schaft,
freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit vom 23. Juni 1992.9 Auf
5 Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Federacją Rosyjską o przyjaznej i dobrosąsiedz-
kiej wsp ółpracy, sporząd zony w Moskwie dni a 22 maja 1992 r., Dz.U. 1993 nr 61 poz. 291,
https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/DocDetails.xsp?id=WDU19930610291 (15.06.2022).
6 Formell ging der Prozess des Truppenabzuges im September 1993 zu Ende, als die letz-
ten Unterstützungseinheiten der Armee Polen verließen. Durch das polnische Territorium
zogen auch die in der ehemaligen DDR stationierenden Einheiten ab. Vgl. Agata Waw-
ryszuk: Negocjacje dotyczące wyprowadzenia Armii Radzieckiej – warunkiem odzy-
skania pełnej suwerenności Polski. In: WieDza obronna: kWartalnik toWarzyStWa WieDzy
obronnej 44 (2017), H. 3/4, S. 121–147, hier: S. 143.
7 Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Republiką Litewską o przyjaznych stosun-
kach i dobrosąsiedzkiej współpracy, sporządzony w Wilnie dnia 26 kwietnia 1994r.,
Dz.U. 1995 nr 15 poz. 71, https://isap.sejm.gov.pl/ isap.nsf/DocDetails.xsp?id=
WDU19950150071 (15.05.2022).
8 Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Ukrainą o dobrym sąsiedztwie, przyjaznych
stosunkach i współpracy, sporządzony w Warszawie dnia 18 maja 1992 r., Dz.U.
1993 nr. 125 poz. 573, https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/DocDetails.xsp?id=wdu
19931250573 (15.05.2022).
9 Traktat między Rzecząp ospolitą Polską a Repub liką Białoruś o dobrym sąsiedz twie i przy-
jaznej współpracy, podpisany w Warszawie dnia 23 czerwca 1992 r., Dz.U. 1993 nr 118
poz. 527, https://isap.sejm.gov.pl/ isap.nsf/DocDetails.xsp?id=WDU19931180527
(15.05.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.057
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63
diese Art und Weise wurden die Beziehungen Polens zu allen östlichen Nach-
barstaaten reguliert. Bis zum Jahresende 1992 grenzte Polen im Süden an die
Tschechoslowakei, die ähnlich wie Polen euroatlantische Bestrebungen zum
Ausdruck brachte – und auf internationaler Ebene somit ein natürlicher Ver-
bündeter Polens war. Am 6. Oktober 1991 wurde der Vertrag zwischen der Re-
publik Polen und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik
über gute Nachbarschaft, Solidarität und freundschaftliche Zusammenarbeit
geschlossen,10 der bis heute als Grundlage der polnisch-tschechischen und pol-
nisch-slowakischen Beziehungen gilt. Im Hinblick auf die historischen Erfah-
rungen gab jedoch der westliche Nachbarstaat am meisten Anlass zur Besorgnis.
Die Demokratisierungsprozesse in Mittel- und Osteuropa führten zur Wende
in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und in der Folge zur Auf-
nahme von Gesprächen über die Wiedervereinigung Deutschlands. Diese Frage
war seit vielen Jahren im politischen Denken polnischer Politiker und in der
Agenda der politischen Parteien präsent. Die demokratische Opposition hatte
in der kommunistischen Zeit zwar ein solches Szenario in Betracht gezogen, sich
aber auf keinen einheitlichen Standpunkt einigen können. Das bedeutendste
Problem blieb die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze entlang
der Oder/Neiße-Linie.11 Die polnische Regierung war an allen Maßnahmen in-
teressiert, die die Wiedervereinigung Deutschlands unterstützten, insbesondere
in der letzten Phase der diesbezüglichen Verhandlungen im Jahre 1990. Die pol-
nischen Postulate in Bezug auf die Bestätigung des Grenzverlaufs wurden auch
während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen berücksichtigt, in deren Verlauf der
Wiedervereinigungsvertrag ausgearbeitet wurde, in dem Deutschland auf alle
territorialen Ansprüche zugunsten seiner Nachbarn verzichtete.12 Die Wieder-
vereinigung Deutschlands vollzog sich am 3. Oktober 1990. Kurz darauf wurde
am 14. November 1990 der Vertrag zwischen der Republik Polen und der Bun-
desrepublik Deutschland über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden
Grenze unterzeichnet.13 Die übrigen Fragen wurden im Bonner Vertrag zwischen
10 Układ między Rzecząpospolitą Polską a Czeską i Słowacką Republiką Federacyjną o
dobrym sąsiedztwie, solidarności i przyjacielskiej współpracy sporządzony w Krakowie
dnia 6 października 1991 r., Dz.U. 1992 nr 59 poz. 296, https://isap.sejm.gov.pl/isap.
nsf/DocDetails.xsp?id=WDU19920590296 (15.05.2022).
11 Janusz Józef Węc: Stanowisko polskich ugrupowań opozycyjnych wobec problemu nie-
mieckiego w latach 80. XX wieku. In:Małgorzata Świder (Hrsg.): Polityka i humanitaryzm
w latach 1980–1989, Opole 2010, S. 200–216.
12 Jan Barcz: Sprawy polskie podczas Konferencji »2+4«. Potwierdzenie granicy polsko-
niemieckiej i odszkodowania od Niemiec. Studium z historii dyplomacji i prawa między-
narodowego, Warszawa 2021, S. 137–249.
13 Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Republiką Federalną Niemiec o potwierdze-
niu istniejącej między nimi granicy, podpisany w Warszawie dnia 14 listopada 1990r.,
DOI: 10.13173/9783447120241.057
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64
der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbar-
schaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 geregelt.14
In den nächsten Jahren schloss Polen u. a. mit seinen Nachbarstaaten weitere
Abkommen, die unterschiedliche Aspekte der Zusammenarbeit betrafen, z. B.
in Handels-, Wirtschafts-, Wissenschafts- oder Kulturfragen.
Außer den Verhandlungen und bilateralen Verträgen sind auch die Maßnahmen
im Bereich der Diplomatie bemerkenswert, die darauf abzielten, Polen in eine
vielseitige internationale Zusammenarbeit einzubeziehen, die sofort alte Bünd-
nisse ersetzen und langfristig die Realisierung der strategischen Ziele (NATO-
Beitritt und Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften) erleichtern
sollte. Unter diesem Aspekt waren das Weimarer Dreieck und das nach dem
Zerfall der Tschechoslowakei in Visegrád-Gruppe (V4) umbenannte Visegrád-
Dreieck die wichtigsten Gremien. Beide Formate wurden 1991 initiiert und wa-
ren auf die Kooperation mit unterschiedlichen Partnern ausgerichtet, wodurch
sie sich gegenseitig vervollständigten.15 Die Zusammenarbeit innerhalb der Vi-
segrád-Gruppe war als gewisses Inte gra tionslabor für die postkommunistischen
Staaten mit prowestlichen Bestrebungen konzipiert. Bevor ernsthafte Gespräche
über ihren Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften begannen, mussten die
Staaten ihre Fähigkeit beweisen, unter den Bedingungen der freien Marktwirt-
schaft in einem überschaubaren Kreis zusammenzuarbeiten. Während die V4-
Gruppe selbst ein politisches Format war (und weiterhin ist), war das seit 1993
existierende Mitteleuropäische Freihandelsabkommen (Central European Free
Trade Agreement, CEFTA), das die damals vier V-4 Staaten (Polen, Tschechien,
Slowakei und Ungarn) vereinigte, für die wirtschaftliche Kooperation zustän-
dig. Die Beurteilung der Zusammenarbeit der V4-Gruppe fällt, insbesondere
für die 1990er Jahre, nicht eindeutig aus. Mit der Zeit tauchten Diskrepanzen
oder sogar Rivalitäten zwischen den einzelnen Mitgliedern auf. Überschattet
war die Kooperation auch von der inneren Si tua tion in der Slowakei, wo der
populistisch-nationalistische Politiker Vladimir Mečiar an die Macht gelang-
Dz.U. 1992 nr 14 poz. 54, https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/DocDetails.xsp?id=WDU
19920140054 (17.05.2022).
14 Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Republiką Federalną Niemiec o dobrym
sąsiedztwie i przyjaznej współpracy, podpisany w Bonn dnia 17 czerwca 1991 r.,
Dz.U. 1992 nr 14 poz. 56, https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/DocDetails.xsp?id=wdu
19920140056 (18.05.2022).
15 Agnieszka Nitszke: Regionalne fora współpracy międzynarodowej w procesie europe-
izacji Polski: doświadczenia współpracy w ramach Grupy Wyszehradzkiej i Trójkąta
Weimarskiego. In: Ewa Bujwid-Kurek, Wojciech Kasprowski (Hrsg.): III Rzeczpospolita
Polska 1990–2016. Opinie – dylematy – kontrowersje, Kraków 2016, S. 201–225.
DOI: 10.13173/9783447120241.057
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65
te.16 Besonders für die Kritiker einer Erweiterung von NATO und EG um die
Staaten Mittel- und Osteuropas war dies ein Zeichen, dass die Systemtrans-
formation ein langfristiger und risikoreicher Prozess ist. In diesem Kontext war
deswegen die zweite Säule der internationalen Zusammenarbeit von großer Re-
levanz, die nach Westen gerichtet war, wo es solche Risiken nicht gab. Das For-
mat des Weimarer Dreiecks setzte eine ungezwungene Kooperation vor allem
auf der Ministerebene voraus. Es war ein diplomatischer Kanal, der den direkten
Kontakt der polnischen Diplomatie zu Frankreich und Deutschland, »den An-
triebskräften der europäischen Inte gra tion«, ermöglichte. Überdies hatten diese
Schlüsselstaaten der NATO eine ausschlaggebende Stimme im Bereich der Ent-
wicklung der europäischen Zusammenarbeit.17
Mit der Unterzeichnung des Europa-Abkommens zur Gründung einer Asso-
ziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaa-
ten einerseits und der Republik Polen andererseits wurden am 16. Dezember
1991 die polnischen Bemühungen um die Annäherung an die Europäischen
Ge meinschaften abgeschlossen.18 In den nächsten Jahren bestimmten die Ge-
meinschaften die formalen, von den Beitrittskandidaten zu erfüllenden Voraus-
setzungen – die sog. Kopenhagener Kriterien. Laut diesem Dokument muss
ein Beitrittskandidat über stabile demokratische Institutionen verfügen: Hier-
bei handelt es sich u. a. um eine demokratische und rechtsstaatliche Grund-
ordnung, politischen Pluralismus oder auch die Wahrung der Bürgerrechte und
-freiheiten. Eine gewisse Garantie dafür, dass ein Staat die obigen Werte ach-
tet, ist seine Mitgliedschaft im Europarat, die Polen am 26. November 1991
erlangte, wodurch es offiziell in die europäische Familie der demokratischen
Staaten aufgenommen wurde. Im Bereich der wirtschaftlichen Kriterien wer-
den die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes
standzuhalten, sowie eine funktions- und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft
aufgelistet. Die dritte Kategorie der Kriterien bezieht sich auf die Fähigkeit des
Bei trittskandidaten, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Rechts-
verpflichtungen zu eigen zu machen.
Die Maßnahmen auf internationaler Ebene mussten in Wechselbeziehung mit
den inneren Reformen stehen. Wie bereits erhnt wurde, gab der Transfor-
mationsprozess keine Erfolgsgarantie. Der Beginn der 1990er Jahre in Polen
16 Krzysztof Żarna: Między wschodem a zachodem. Słowacja a Sojusz Północnoatlantycki
(1993–2004). In: Polityk a i SPołeczeńStWo 2010, Nr. 7, S. 212–219.
17 Koszel: Trójkąt Weimarski, S. 65–82.
18 Układ Europejski ustanawiający stowarzyszenie między Rzecząpospolitą Polską, z jednej
strony, a Wspólnotami Europejskimi i ich Państwami Członkowskimi, z drugiej strony, spo-
rządzony w Brukseli dnia 16 grudnia 1991 r. Dz.U. 1994 nr 11 poz. 38, https://isap.sejm.
gov.pl/isap.nsf/DocDetails.xsp?id=WDU19940110038 (20.06.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.057
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war eine Zeit dynamischer politischer Veränderungen. Im Jahre 1991 fanden
die ersten vollständig freien Wahlen statt, bei denen die Parteien der einstigen
demokratischen Opposition aus der kommunistischen Zeit gewannen. Die zu-
nehmenden Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppierungen führten zu
vorgezogenen Neuwahlen im Jahre 1993, bei denen wiederum die postkommu-
nistischen Kräfte gewannen. Das konnte ggf. von einer nicht vollends gelunge-
nen Transformation und von einer Hinwendung der Gesellschaft zu den ehe-
maligen Eliten zeugen. Die Angst, dass die Postkommunisten die Richtung der
polnischen Außenpolitik ändern konnten, erwies sich jedoch als unbegründet.
Die neue Regierung setzte die euroatlantische Politik ihrer Vorgänger fort. Ein
anderes Problem war die inländische Wirtschaftstransformation, die zu einer
Verarmung großer gesellschaftlicher Gruppen geführt hatte und dadurch Un-
zufriedenheit bei den Bürgern hervorrief. Andererseits wurde Polen dank seiner
offenen Außenpolitik zu einem immer attraktiveren Land für ausländische Ka-
pitalgeber, was die Transformationsfolgen entschärfte. In diesem Kontext ist
der Zustand der polnischen Armee in der ersten Hälfte der 1990er Jahre er-
wähnenswert. Aufgrund dessen, dass sich Polen über 40 Jahre hinweg unter
den Satellitenstaaten der UdSSR befunden hatte, verfügte die polnische Armee
trotz einer imposanten Zahl von Berufssoldaten und von eingezogenen Soldaten
(insgesamt circa 400 000 Soldaten zu Beginn der 1990er Jahre) nur über eine
veraltete Ausrüstung, die sich für das Qualitätsmanagementsystem der NATO
nicht eignete.19
Trotz der vielseitigen Maßnahmen der polnischen Diplomatie, insbesondere
trotz der Unterzeichnung der Verträge über gutnachbarschaftliche Zusammen-
arbeit sowie trotz der endgültigen Anerkennung der polnischen Grenze im Wes-
ten, gehörte Polen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre keinem Militärbündnis
an und besaß für den Fall einer Aggression keine Sicherheitsgarantien. Es ist
dieser Stand der Dinge, der als Sicherheitsvakuum bezeichnet werden kann.20
19 Rober t Rochowicz: 30 l at minęło, c zyli Wojsko Polski e w 1989 roku. In: noWa technika Woj-
SkoWa 2019, H. 6, https://www.magnum-x.pl/artykul/id-30-lat-minelo-czyli-wojsko-
polskie-w-1989-roku (27.05.2022).
20 Zu Beginn der 1990er Jahre keimte auch die Idee der Erklärung der Neutralität Polens auf,
deren Garant die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sein
sollte. Rasch verzichtete man aber auf dieses Konzept, denn man kam zum Schluss, dass
die KSZE keine Möglichkeiten hatte, einem Land die militärische Sicherheit zu gewähr-
leisten. Vgl. Ryszard Zięba: Główne kierunki polit yki zagranicznej Polski po zimnej wojnie,
Warszawa 2010, S. 80–81.
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3 Die Standpunkte der Russischen Föderation und der USA
zum Plan der NATO-Erweiterung in den 1990er Jahren
Die Prozesse der demokratischen Transformation in Mittel- und Osteuropa
führten zum Zerfall der UdSSR und in der Folge zum Ende des Kalten Krieges.
Die Welt trat in die völlig neue Epoche des unipolaren Systems ein, innerhalb
dessen die USA als einziger Staat eine hegemonische Position, insbesondere im
Bereich der Sicherheit, innehatten.21 Der Rechtsnachfolger der Sowjetunion
war Russland. Hierbei handelt es sich nicht nur um die formaljuristische Sicht,
sondern auch darum, dass die Russische Föderation als einziger Staat des vor-
maligen Gebiets der Sowjetunion das Recht auf den Besitz von Atomwaffen
und einen Platz als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Na-
tionen behielt. Die in Russland ablaufenden Prozesse determinierten teilweise
die Einstellung der NATO-Mitgliedstaaten zu den NATO-Beitrittsbestrebun-
gen der mittel- und osteuropäischen Staaten. Bemerkenswert ist die Tatsache,
dass nicht nur die Standpunkte der USA und Russlands für die Perspektive der
potentiellen NATO-Erweiterung wesentlich waren, sondern auch die Prozesse,
die im Nordatlantikpakt selbst beobachtet werden konnten. Während der Zeit
des Kalten Krieges wurde die NATO von dem gemeinsamen Feind zusammen-
geschweißt, für den man den Ostblock unter Federführung der UdSSR hielt.
Der Zerfall der UdSSR provozierte wiederum Fragen nach der Zukunft des
Atlantischen Bündnisses. Die am weitesten gehende Option setzte die NATO-
Auflösung voraus, während die anderen, gemäßigten Vorschläge auf die Not-
wendigkeit eines größeren Einsatzes für die Friedensstiftung und -erhaltung
durch die Unterstützung von UN- Friedensmissionen verwiesen. Unter diesen
Umständen der 1990er Jahre begannen die diplomatischen Bemühungen, de-
ren Zweck der NATO-Beitritt Polens war.22 Entscheidend dafür war das Jahr
1992, als drei V4-Staaten deutlich ihren Willen zum Ausdruck brachten, dem
Pakt beizutreten. Die damalige polnische Premierministerin Hanna Suchocka
verwies in ihrem Exposé vom 10. Juli 1992 darauf, dass Polens NATO-Beitritt
eines der strategischen Ziele war: »Meine Regierung wird danach streben, dass
die Sicherheit Polens der Sicherheit anderer europäischer Länder gleichen wird,
was mit der Annäherung der Perspektive der polnischen NATO-Mitgliedschaft
21 Nuno P. Monteiro: Unrest Assured: Why Unipolarity Is Not Peaceful. In: international Se-
curity 36 (2012), H. 3, S. 9–40.
22 Das Bündnis bereitete Berichte über die politische und soziale Si tua tion in den Ostblock-
staaten vor, aufgrund deren die potenziellen Programme seines Handelns erstellt wurden.
Vgl. Gusztáv D Kecskés (Hrsg.): A view from Brussels. Secret NATO Reports about the East
European Transition, 1988–1991, Budapest 2019, S. 37–210.
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68
verbunden ist«.23 Im Herbst desselben Jahres wurde das Dokument »Prämissen
der polnischen Sicherheitspolitik sowie Sicherheitspolitik und Verteidigungs-
strategie der Republik Polen vom 2. November 1992« angenommen, in dem
das Streben nach der Mitgliedschaft Polens im Atlantischen Bündnis bestätigt
wurde.24 Damit es aber zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen kommen
konnte, brauchte es den Willen und das Einverständnis der Schlüsselakteure:
den formellen Willen der USA sowie das informelle Einverständnis seitens der
Russischen Föderation. Die Systemtransformation in Russland verlief nur unter
Schwierigkeiten. Ein Teil der alten politischen und militärischen Eliten konnte
sich nicht mit dem Zerfall der UdSSR und mit dem Verlust ihrer Position auf
der internationalen Bühne abfinden. Zusätzlich versank das Land auch noch in
einer Wirtschaftskrise.25 Unter diesen Umständen kam es im August 1993 zu
einem offiziellen Staatsbesuch des Präsidenten Boris Jelzin in Warschau. Nur
kurzzeitig schien es, dass die damals vom russischen Staatsoberhaupt abgege-
bene Erklärung die problemlose Durchführung des Beitrittsprozesses Polens
zur NATO ermöglichen würde. Am 24. August versicherte Jelzin, dass Russ-
land dem NATO-Beitritt Polens nicht widersprechen werde. Ein Teil der russi-
schen Diplomaten interpretierte dies jedoch als Irrtum und wollte Jelzins Worte
aus dem offiziellen Schlussdokument tilgen.26 Es wurde auch über den Posten
von Jelzin spekuliert. In der »Frankfurter Rundschau« wurde die Hypothese
aufgestellt, dass Russlands Einverständnis zur NATO-Erweiterung eigentlich
als Anzeichen einer neuen Teilung Europas und Vorbote der Festsetzung der
Grenze von Einflussbereichen entlang des Bugs zu interpretieren ist. Dies wür-
de wiederum bedeuten, dass sich Belarus und die Ukraine in der russischen
Einflusssphäre befinden.27 Damals war dies aber nur eine Vermutung. Bereits
am 15. September richtete Jelzin einen Brief an die westlichen Staatsführer –
auch an den US-Präsidenten Bill Clinton –, in dem er Widerspruch gegen die
23 Hanna Suchocka: Oświadczenie prezesa Rady Ministrów w sprawie proponowanego
skład u i programu prac rządu. 1 kadencja, 20 posiedze nie, 1 dzień (10.07.1992), h t t p s : //
orka2.sejm.gov.pl/Debata1.nsf (19.05.2022).
24 Założenia polskiej polityki bezpieczeństwa oraz Polityka bezpieczeństwa i strategia
obronna Rzeczpospolitej Polskiej z dnia 2 listopada 1992 r., Warszawa 1992.
25 Konrad Świder: Transformacja polityczna w Rosji w latach 90. X X wieku – główne proble-
my. In: rocznik inSty tutu euroPy ŚroDkoWo-WSchoDn iej 17 (2019), H. 1, S. 97–121.
26 Vgl. Krzysztof Skubiszewski: Stosunki między Polską i NATO w latach 1989–1993 –
przyczynek do historii dyplomacji w III Rzeczypospolitej. Im März 2005 im Polnischen
Wirtschaftsrat (Polska Rada Biznesu) in Warschau gehaltener Vortrag, 2005, h t t p : //
www.skubi.net/nato.html (7.05.2022).
27 Vgl Jan Nowak-Jeziorański: Traktaty i umowy nie wystarczają. Po wizycie prezydenta
Rosji w Polsce. In: Dziennik PolSki i Dziennik żołnierza, 11.09.1993. In: Dobrosław Platt
(wybór i opracowanie): Jan Nowak-Jeziorański. Polska droga do NATO. Listy, dokumenty,
publikacje, Wrocław 2006, S. 75.
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69
NATO-Osterweiterung erhob.28 Nichtsdestoweniger wurde die Zeit zwischen
diesen zwei Ereignissen von Polen genutzt. In einem Brief an den NATO-Ge-
neralsekretär Manfred Wörner vom 1. September sprach sich der polnische Prä-
sident Lech Wałęsa für Polens NATO-Beitritt aus, der als eines der strategischen
Ziele bezeichnet wurde. In den darauffolgenden Jahren nahm Russland eine
pragmatische Haltung ein, die darin bestand, den NATO-Erweiterungsprozess
zwar nicht zu blockieren, aber ihn zu verlangsamen und einzuschränken. Dar-
aus wollte es auch einen realen Nutzen für sich selbst ziehen. Beim NATO-Gip-
fel in Paris am 27. Mai 1997 gab die NATO Russland die Zusicherungen, dass
es auf dem Gebiet der neuen Mitgliedstaaten keine Nuklearwaffen stationieren
werde sowie dort keine militärische NATO-Infrastruktur aufgebaut würde.29
Die Zukunftsunsicherheit und die Angst vor der Reaktion Russlands führten
damals mit Blick auf den vollwertigen Beitritt der neuen Staaten zur Erstel-
lung von alternativen Konzepten. Eine der Ideen, die später weder aufgegriffen
noch implementiert wurden, war das Projekt einer NATO B (»NATO bis«), das
1992 vom polnischen Präsidenten Lech Wałęsa vorgestellt wurde. Es setzte die
Schaffung eines militärischen Bündnisses durch die mitteleuropäischen Staaten
voraus. Die beiden Bündnisse sollten informell zusammenarbeiten. Den Staaten
des neuen Paktes sollten wiederum die NATO und Russland Sicherheitsgaran-
tien gewähren.30 Ein anderer Vorschlag, der die militärische und politische Ko-
operation mit den nicht zum Bündnis gehörenden Staaten voraussetzte, nahm
letztendlich die Gestalt eines als Partnerschaft für den Frieden bezeichneten
28 Im Jahre 2018 veröffentlichte der ehemalige US-Präsident Bill Clinton die Dokumente aus
seinen Kontakten zu Boris Jelzin aus den 1990er Jahren, anhand deren Lektüre man einen
Einblick ins russische Denken über Europa gewinnen kann. Daraus entsteht das Bild eines
von Jelzin unternommenen Versuchs der Teilung der Welt- und vor allem Europas in Ein-
flussbereiche. In einem der Gespräche überzeugte der russische Staatsführer den ameri-
kanischen Präsidenten: »Ich habe eine Bitte. Übergib Europa der Russischen Föderation.
Die USA liegen nicht in Europa. Um Europa sollen sich die Europäer kümmern. Russland ist
halb europäisch, halb asiatisch. […] Ich bin ein Europäer. Ich wohne in Moskau. Moskau
liegt in Europa und das mag ich. Du kannst Dir alle anderen Länder nehmen und dich um
ihre Sicherheit kümmern. Ich nehme Europa und werde mich um seine Sicherheit kümmern.
Das heißt, nicht ich persönlich, sondern Russland. Bill, ich meine es ernst. Überlasse Europa
den Europäern. Russland hat ein ausreichendes Potential, um die Europäer zu schützen,
sogar diese Europäer, die Raketen besitzen«. Jelcyn do Clintona: Bill, daj mi Europę. In:
DeutSche Welle, 9.09.2018, https://www.dw.com/pl/jelcyn-do-clintona-bill-daj-mi-eu-
rop%C4%99/a-45409367 (7.04.2022).
29 Founding Act on Mutual Relations, Cooperation and Security between NATO and the
Russian Federation signed in Paris, France, 27th May 1997. In: nato.int, https://www.nato.
int/cps/en/natolive/official_texts_25468.htm (5.05.2022).
30 Robert Kupieck i: Akcesja Polski do NATO – okiem h istoryka i ucze stnika. In: bezPieczeńStWo
naroDoWe 2014, Nr. 1, S. 56–57.
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70
Programms an. Seine erste Version wurde im Oktober 1993 vom US- Ver tei di-
gungs mi nister Leslie Aspin Jr. vorgestellt.31 Der zeitliche Zu sam men hang mit
den Änderungen der Position Russlands gegenüber den NATO-Erweiterungs-
plä nen war nicht zufällig. Die Berichter statter stellten die zur Part ner schaft für
den Frieden führenden Beweggründe äußerst unterschiedlich dar: Die Einen
verwiesen darauf, es sei eine Warnung für Russland gewesen, dass die NATO
sich der russischen Erpressung nicht beuge und die Pakt er wei terung nicht blo-
ckiere. Andere waren hingegen der Meinung, es handele sich viel mehr um die
Rea lisierung des russischen Ultimatums, infolgedessen die mittel- und ost-
euro päischen Staaten nicht ins Bündnis aufgenommen würden und zugleich
einen Ersatz der Sicherheitsgarantie erhielten. Bei der objektiven Betrach tung
der Voraus setzungen des Programms, dessen endgültige Version zu Beginn des
Jahres 1994 vereinbart wurde, sollen in erster Linie seine Stärken betont wer-
den: sein offener Charakter – die Einladung betraf alle europäischen, nicht zur
NATO gehörenden Staaten; die Einführung des Prinzips der zivilen Kon trolle
über die Armee, was für die postkommunistischen Staaten von besonderer Be-
deu tung war; die Einführung von gemeinsamen Militärübungen und Pla nung;
die Möglichkeit zur Teilnahme an friedenserhaltenden und humanitären Mis-
sionen zusammen mit den NATO-Mitgliedstaaten.32 All das war bei der Ver-
bes se rung der Möglichkeiten sowie bei der Modernisierung des Militärs der sich
um die NATO- Mitgliedschaft bemühenden Staaten hilfreich. Ein Schwach-
punkt war zweifelsohne das Fehlen einer Sicherheitsgarantie in Form der Aus-
dehnung der geographischen Reichweite der NATO-Bündnisklausel von Art. 5
(Washing toner Vertrag). Am 12. Januar 1994 bestätigte Polen seine Beteiligung
an der Partnerschaft während der Begegnung der Präsidenten Polens, Tsche-
chiens und Ungarns mit dem US-Staatsoberhaupt Bill Clinton in Prag. Die
Beurteilung der Partnerschaft sowie der Möglichkeit einer NATO-Erweiterung
waren in den USA eine sehr komplizierte Angelegenheit, in der es nur schwer ge-
lang, klare Linien zwischen den politischen und ideologischen Gegensätzen zu
ziehen. Einerseits gab es die Zusicherung der Administration von Clinton, dass
die Sicherheit Mittel- und Osteuropas mit der Sicherheit der USA verbunden sei,
andererseits machte sich der US-Außenminister Warren Christopher während
einer Begegnung mit Expert:innen Gedanken darüber, ob die NATO-Erwei-
terung im Interesse der USA lag.33 Die von den Fachleuten des Pentagon abgege-
bene Bewertung des Zustands des polnischen Militärs half auch nicht weiter. Sie
31 Kamila Sierzputowska: Polska w NATO. NATO w regionie, Warszawa 2019, S. 27.
32 Partnership for Peace programme. Last updated: 23rd March 2020. In: nato.int, h t t p s : //
www.nato.int/cps/en/natohq/topics50349.htm (9.05.2022).
33 Jan Nowak-Jezio rański: Walka o bezpiecz eństwo Polski. I n: zWiązkoWiec vom 11.04.1994.
Abgedruckt in: Platt: Jan Nowak-Jeziorański, S. 124.
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71
merkten nämlich an, dass die polnischen Streitkräfte 20–25 Mrd. US-Dollar
binnen 7–10 Jahren brauchen würden, um die Kompatibilität mit den Streit-
kräften der NATO zu erreichen.34 Im September 1995 nahm der Nordatlantik-
pakt auf amerikanische Initiative hin die »Studie zur NATO-Osterweiterung«
(»Study on NATO enlargement«) an, in der die Bedingungen bestimmt wurden,
von deren Erfüllung die Aufnahme neuer Staaten abhängig gemacht wurde. Ein
Teil davon bezog sich direkt auf die Angelegenheiten der Armee (zivile Kontrol-
le über das Militär, Kompatibilität mit NATO-Truppen) aber andere betrafen
auch die allgemeinen Kriterien der freien Marktwirtschaft sowie die Prinzipien
der Demokratie.35 Die polnischen Bemühungen um die NATO-Mitgliedschaft
wurden aber von innerstaatlichen Streitereien, u. a. wegen der von den USA
kritisch beurteilten Hemmung des Privatisierungsprozesses, überschattet. Die
Wende kam erst im Jahre 1996, als erstens der NATO-Generalsekretär Javier
Solana die polnische Regierung zur Aufnahme eines individuellen Dialogs zum
ema der NATO-Mitgliedschaft Polens einlud und zweitens der Präsident-
schaftswahlkampf in den USA in eine entscheidende Phase eintrat. Der sich
um die Wiederwahl bewerbende Präsident Clinton räumte der Beendigung
des NATO-Erweiterungsprozesses in seiner zweiten Amtszeit Priorität ein. Am
22. Oktober 1996 nannte er in seiner Rede in Detroit das Datum für den Ab-
schluss der Gespräche: Es handelte sich um das Jahr 1999, was eine symbolische
Bedeutung hatte und sich mit dem 50-jährigen Jubiläum der NATO verband.36
Nachdem Clinton die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, begann er sein
Versprechen zu realisieren. Dabei musste er jedoch inländischen Kritikern die
Stirn bieten. Ein Teil der amerikanischen Umgebung verstand nämlich weder
die polnische Spezifik der Transformation noch die externen Bedingungen. Ei-
ner der schwerwiegendsten Vorwürfe war die fehlende zivile Kontrolle über das
Militär, was für die Amerikaner von entscheidender Bedeutung war. Der innere,
mit der Einführung der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte zusammenhän-
gende Konflikt in Polen stieß auf Kritik in den USA. Bei der Darstellung dieses
Sachverhalts betitelte die führende Tageszeitung T N Y T einen
ihrer Artikel folgendermaßen: »Der höchste polnische Befehlshaber widersetzt
sich den Bedingungen der NATO«.37 Glücklicherweise hatte Polen damals
34 Jan Nowak-Jeziorański: Polska strategia obronna. In: Dziennik PolSki i Dziennik ż nierza
vom 26.11.1994. Abgedruckt in: Platt: Jan Nowak-Jeziorański, S. 147f.
35 Kamila Sierzputowska: Polska w NATO. NATO w regionie, Warszawa 2019, S. 29.
36 Roman Kuźnia r: Polska polit yka zagranicz na w 1996 r. i na począt ku 1997 r. In: rocznik Stra-
teGiczny 1997, H. 1, https://wnpism.uw.edu.pl/wp-content/uploads/2020/06/11_1997.
pdf, S. 43 (3.05.2022). Eine ähnliche Erklärung zur Finalisierung der Gespräche über die
NATO-Mitgliedschaft für die ersten Staaten Mittel- und Osteuropas hatte zuvor Clintons
Gegenkandidat Bob Dole abgegeben, der die Unterstützung der Re pu blikaner hatte.
37 Es handelte sich um den Waffengeneral Tadeusz Wilecki, den Chef des Generalstabs der
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sowohl offizielle als auch inoffizielle Fürsprecher in den USA. Gemeint sind
an dieser Stelle sowohl Organisationen und Institutionen als auch Einzelper-
sonen. Besondere Verdienste um Polens NATO-Mitgliedschaft haben sich Jan
Nowak Jeziorański, Zbigniew Brzeziński, Botschafter Jerzy Koźmiński, Made-
leine Albright, Daniel Fried und die polnischen Emigranten in Amerika erwor-
ben. Jede der oben erwähnten Personen beeinflusste nach ihren Möglichkeiten
amerikanische Politiker:innen und die Medien, damit die Idee der NATO-Er-
weiterung im Kongress der Vereinigten Staaten Unterstützung finden konnte.
Beim NATO-Gipfel in Madrid am 8. Juli 1997 begann die letzte und zugleich
schwierigste Phase der Gespräche,38 als Polen, Tschechien und Ungarn zur for-
malen Aufnahme der Verhandlungen über den NATO-Beitritt eingeladen wur-
den. Damals wurden u. a. finanzielle Fragen besprochen, darunter auch Polens
Anteil am militärischen und zivilen Budget des Bündnisses. In Polen fanden
in dieser Zeit Parlamentswahlen statt. Im Ergebnis wurde eine Koalitionsregie-
rung gebildet, die aus den Parteien Wahlaktion Solidarność und Freiheitsunion
bestand. Zum neuen Außenminister wurde Geremek ernannt, der am 14. No-
vember 1997 im Namen der polnischen Staatsführung dem Generalsekretär
der NATO Javier Solana einen Brief übergab, der den Willen zum NATO-Bei-
tritts Polens bekundete. Darin wurde die Bereitschaft zur Realisierung aller
Verpflichtungen des Washingtoner Vertrages bestätigt. Einen Monat später, am
16. Dezember, wurden die Beitrittsverträge Polens, Tschechiens und Ungarns in
Brüssel unterzeichnet,39 die nach den internen Verfahren der einzelnen Staaten
in den darauffolgenden Monaten ratifiziert wurden. Im US-Senat stimmten die
Senatoren am 30. April 1998 über Polens NATO-Mitgliedschaft ab: 80 Stim-
men waren »dafür« und 19 Stimmen »dagegen«. Unter Berücksichtigung der
früheren Befürchtungen der Amerikaner, ob Polen überhaupt entsprechend auf
den NATO-Beitritt vorbereitet sei, zeugt das Abstimmungsergebnis von einem
großen Erfolg der polnischen Diplomatie und der polnischen Diaspora in Ame-
rika. Ihnen war es gelungen, den Staat in einem positiven Licht darzustellen und
einen Vertrauensvorschuss zu bekommen.
Polnischen Streitkräfte, der den im Jahre 1996 angenommenen Regelungen nicht folgen
wollte. Aus diesem Grund wurde Wilecki 1997 vom Präsidenten Aleksander Kwaśniewski
entlassen und die polnische Armee geriet unter zivile Kontrolle. Vgl. Jan Nowak-Jeziorań-
ski: Z uczuciem ulgi. In: Gazeta Wyborcza vom 15–16.03.1997. Abgedruckt in: Platt: Jan
Nowak-Jeziorański, S. 476–478.
38 Madrid Declaration on Euro-Atlantic Security and Cooperation Issued by the Heads of
State and Government. 8–9 July 1997. In: nato.int, https://www.nato.int/docu/pr/1997/
p97-081e.htm (4.05.2022).
39 Foreign Ministers meetings. NATO HQ, Brussels – 16–17 Dec. 1997. In: nato.int, h t t p s : //
www.nato.int/docu/comm/1997/ 9712/16-17.htm#bt (6.05.2022).
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73
4 Bronisław Geremek und seine Vision der
transatlantischen Inte gra tion
Der lange Prozess, die westlichen Partner von der NATO-Mitgliedschaft Polens
zu überzeugen, ging formal am 12. März in Independence zu Ende, als Minister
Geremek seine Unterschrift auf der die Mitgliedschaft Polens in der NATO be-
stätigenden Urkunde in Gegenwart der US-Außenministerin sowie der Außen-
minister Ungarns und Tschechiens leistete. Dies bedeutet aber nicht, dass sich
Geremeks Beitrag für Polens NATO-Beitritt nur auf diesen formalen Akt be-
schränkte.
Geremek hatte seit vielen Jahren Anteil an der Gestaltung der Außenpolitik ge-
habt. Noch in der Zeit des Kommunismus stellte er als Berater der Solidarność
die Vision der künftigen Verhältnisse Polens auf der internationalen Bühne dar,
wo Polen einer der Teilnehmer der demokratischen Gemeinschaft von freien
Staaten sein sollte. An den »Gesprächen am Runden Tisch« war Geremek als
Ver treter der demokratischen Opposition beteiligt und übte die Funktion des
Vor sitzenden des Ausschusses für politische Reformen aus. Er nahm auch an
den Parlamentswahlen in Polen 1989 teil, bei denen er ein Abgeordnetenmandat
errang. Später (in den Jahren 1991, 1993, 1997 und 2001) kandidierte er für
den Sejm und erhielt auch stets ein Mandat.40 In den Jahren 1989–1997 war
er Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und dadurch
hatte er seit dem Beginn der Transformation Einfluss auf die Gestaltung der
Vision der neuen strategischen Ziele der polnischen Außenpolitik. Eine wichtige
Funktion des Ausschusses ist auch die demokratische Kontrolle der Realisie-
rung der Regierungspolitik. In der oben genannten Zeit beteiligte sich Geremek
am 8. Mai 1992 ebenfalls an der Diskussion über das Exposé von Krzysztof
Skubiszewski, der damals Außenminister war. Während dieser Debatte verwies
Geremek auf die Notwendigkeit der Koppelung der Sicherheit an internationale
Bünd nisse: »[…] man muss sagen, dass es nicht möglich ist, die eigene Sicherheit
und den Schutz der eigenen nationalen Interessen von den sich bildenden Ge-
meinschaften und von der internationalen Solidarität abzutrennen«.41 Überdies
akzentuierte er auch das Bedürfnis der Bildung von Allianzen mit den Nach-
barstaaten, wobei er der Verständigung mit Deutschland eine besondere Rolle
zuschrieb. Den Beginn der Bemühungen Polens um die NATO-Mitgliedschaft
40 Biografia prof. Bronisława Geremka. In: geremek.pl, https://geremek.pl/profesor/
#biografia (6.05.2022).
41 Bronisław Geremek, 1 kadencja, 14 posiedzenie, 3 dzień (08.05.1992). 9 punkt porząd-
ku dziennego: Informacja ministra spraw zagranicznych o polityce zagranicznej Rzeczy-
pospolitej Polskiej. In: sejm.gov.pl, https://orka2.sejm. gov.pl/Debata1.nsf (8.05.2022.).
DOI: 10.13173/9783447120241.057
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sah er als Grundfrage der Sicherheit an. Gleichzeitig bemerkte er, dass auch das
Bündnis selbst mitten in einer Transformation steckte, die im Zusammenhang
mit den internationalen Umwälzungen stand. Die NATO musste ihre Rolle
sowie ihre Funktionen aufs Neue definieren. Seiner Meinung nach war das eine
Chance für Polen. Die aus der Dichotomie des Kalten Krieges hervorgegange-
ne NATO konnte sich für die Abwendung neuer, aus den Destabilisierungs-
prozessen resultierenden Bedrohungen einsetzen, darunter für die Abwendung
von Nationalitätenkonflikten und deren Konsequenzen in Form von riesigen
Mi grationswellen. Polen mit seiner geostrategischen Lage sowie seiner histori-
schen Erfahrung konnte einen Mehrwert für das Bündnis darsetellen. Aus dem
NATO- Erweiterungsprozess konnten also beide Parteien, das heißt Polen und
die NATO, ihren Nutzen ziehen.42
Am 12. Mai 1994 fand im Sejm eine Debatte über das Exposé des nächsten Au ßen-
ministers Andrzej Olechowski statt. Geremek, der daran teilnahm, betonte, dass
es dank der EU- und NATO-Mitgliedschaft möglich sei, Polens Status zu än-
dern: Aus einem Staat an der Peripherie werde Polen zu einem sich im Zentrum
der Prozesse der Weltpolitik befindenden Staat. Die EU und die NATO seien
wiederum die einzigen internationalen Institutionen, die dies dem polnischen
Staat garantieren könnten. Aus dem Blickwinkel der aktuellen, mit dem Krieg
in der Ukraine zusammenhängenden Geschehnisse – also an der Grenze Polens,
der EU und der NATO – hat die obige Konstatierung an Bedeutung gewonnen.
Nachdem Russland 2014 den Krieg in der Ukraine begonnen hatte, richtete sich
das Augenmerk des Westens auf Polen als größtes Land an der NATO-Ostflan-
ke. Dank des zunehmenden Bewusstseins der westlichen Entscheidungsträger,
dass Russland eine Gefährdung ist, wurde es mit der Zeit möglich, die Präsenz
der NATO-Streitkräfte in Polen zu erhöhen. Die gewichtige Stimme Polens in
sicherheitspolitischen Fragen wurde berücksichtigt. Die Zielsetzung entband
aber niemanden von einer kritischen Bewertung des Atlantischen Bündnisses.
Geremek führte aus, dass die NATO als »Produkt des Kalten Krieges« auch ihre
Nachteile hat, aber »[…] sie ist das einzige, Europa Sicherheit gewährleistende
Element sowie die einzige reale euroatlantische Struktur«.43 Das Bewusstsein
der Unvollkommenheit der NATO konnte auch ein Vorzug Polens sein, das kei-
nen Einfluss auf die Richtung ihrer Reform von außen hatte. Dies war erst dank
seiner NATO-Mitgliedschaft möglich und aus diesem Grund waren die Be-
mühungen um den Beitritt so wesentlich. Geremek wies konsequent darauf hin,
dass sich die NATO im Hinblick auf die Reaktion auf eine neue Gefährdung
42 Ebenda.
43 Bronisław Geremek: 2 kadencja, 20 posiedzenie, 2 dzień (12.05.1994). 7 punkt po-
rządku dziennego: Informacja rządu o głównych kierunkach polityki zagranicznej Polski,
https://orka2.s ejm.gov.pl/Debata2.nsf (9.05.2022.).
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der internationalen Stabilität weiterentwickeln solle. Erwähnenswert ist auch
sein Appell an die Regierung und die Abgeordneten: Darin rief er nämlich dazu
auf, reale Versuche zu unternehmen, die dem Staat dazu verhelfen würden, den
von der NATO gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Hierbei handelte
es sich in erster Linie um eine Reform der Armee sowohl unter dem materiellen
Aspekt (Sicherstellung der finanziellen Mittel) als auch in politischer Hinsicht
(Garantie der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte).44
Die nächsten Jahre verliefen im Zeichen intensiverer Maßnahmen aufeinander-
folgender polnischer Regierungen und Außenminister, die zum Ziel hatten, die
internationalen Partner vom Beginn der Beitrittsverhandlungen zu überzeugen.
Geremek als Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des
Sejm arbeitete in diesem Bereich mit den Ministern Władysław Bartoszewski
(1995) und Dariusz Rosati (1995–1997) zusammen sowie ebenso mit den bereits
oben erwähnten Politikern Skubiszewski und Olechowski.45
Am 1. August 1997 brachte Geremek im Bericht des Ausschusses für auswärtige
Angelegenheiten des Sejm zum ema des Beschlussentwurfs des Sejms bezüg-
lich der Gespräche über Polens NATO-Mitgliedschaft die Überzeugung zum
Ausdruck, dass
[…], infolge der Beitrittsgespräche die Grundlagen einer raschen und vol-
len Inte gra tion der Republik Polen mit allen – sowohl politischen als auch
militärischen – Strukturen der NATO gelegt [werden]. Das sichert Polen die
seinen Sicherheitsbedürfnissen und seinem Potential sowie seinen nationa-
44 Ebenda.
45 Am 17.Oktober 1992 verabschiedete der Sejm das als kleine Verfassung bezeichnete
Ver fassungsgesetz über wechselseitige Verhältnisse zwischen der Legislative und Exe-
kutive sowie über lokale und regionale Gebietskörperschaften (Ustawa konstytucyjna o
wzajemnych stosunkach między władzą ustawodawczą i wykonawczą Rzeczypospolitej
Polskiej oraz o samorządzie terytorialnym, Dz.U. 1992 nr 84 poz. 426), das die grundle-
genden Beziehungen zwischen den Organen der öffentlichen Gewalt in Polen regelte. Es
beinhaltete aber Vorschriften, die einen großen Interpretationsspielraum ließen. Dies be-
traf u. a. die Vorrechte des Staatsober hauptes, das for mal das Recht auf Stellungnahme zur
Eignung der Bewerber für die Ausübung des Außen-, Innen- und Verteidigungsminister-
amts hat te. Vgl. Krystian N owak: Kompetencje głowy państwa w zakresie z wierzchnict wa
nad siłami zbrojnymi i bezpieczeństwa państwa w polskim prawie konstytucyjnym, Rze-
szów 2016, S. 162–185; Artur Olechno: Prezydent Rzeczpospolitej Polskiej. In: Stanisław
Bożyk (Hrsg.): Prawo kons tytucyjne, Biał ystok 2014, S. 254. In der Zeit de r Präsidentschaft
von Lech Wałęsa verwandelte sich die Stellungnahme des Präsidenten de facto in eine
Ernennung. Dies fiel insbesondere nach 1993 und dem Wahlgewinn der postkommunis-
tischen Parteien ins Gewicht. In der Zeit der Regierungskoalition aus SLD (Sojusz Lewicy
Demokratycznej, Bund der Demokratischen Linken) und PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe,
Polnische Volkspartei) gab es sogar drei vom Präsidenten ernannte Minister, die sich poli-
tisch nicht mit der Regierung identifizierten.
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76
len Bestrebungen entsprechende Position innerhalb der euroatlantischen
Gemeinschaft.46
Nach den Parlamentswahlen vom 21. September 1997 schloss Geremek, schon
als Außenminister, die Verhandlungen über Polens Mitgliedschaft im Nord-
atlantikpakt ab. Im November 1997 übergab er dem NATO-Generalsekretär
Javier Solana den Brief, in dem der Wille Polens zum Beitritt zum Atlantischen
Bündnis bekundet wurde. Im März 1998 legte Geremek sein erstes Exposé vor,
in dem er betonte, der NATO-Beitritt Polens sei der krönende Abschluss des
1989 begonnenen Transformationsprozesses.47 Diese Ansprache ist von großer
Relevanz, denn Geremek präsentierte als Minister die offizielle Position der pol-
nischen Regierung. Darüber hinaus war die NATO-Mitgliedschaft schon fast
beschlossene Sache. In seiner Rede im Sejm zitierte er die Worte des französi-
schen Präsidenten Charles de Gaulle: »Geografie kann man nicht ändern […].
Die Geopolitik hingegen schon«.48 Polen wendete so dank einer klaren Defini-
tion der Ziele seiner Außen- und Sicherheitspolitik zu Beginn der 1990er Jahre
sowie der konsequenten Realisierung des eingeschlagenen Weges das jahrhun-
dertealte, mit der Bedrohung durch seine Nachbarn verbundene Verhängnis ab:
seitens Deutschlands im Westen und Russlands im Osten. Die Gefahr von-
seiten Deutschlands wurde durch zwei Faktoren nivelliert: erstens durch die
zuerst in Westdeutschland und nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990
schon in ganz Deutschland verlaufenden Demokratisierungsprozesse, zweitens
durch die Einbindung Deutschlands in die westlichen Inte gra tions- und Sicher-
heitsstrukturen. Die Bedrohung durch die Großmachtpläne Russlands wurde
wiederum wegen der Aufnahme Polens in die euroatlantischen Struktur unver-
gleichlich kleiner. Nach Meinung von Geremek verband sich das aber nicht mit
dem Schluss der Bemühungen um eine starke Position Polens, sondern vielmehr
mit dem Beginn einer neuen, genauso wesentlichen und anstrengenden Phase,
die nicht weniger wichtig war als der NATO-Beitritt selbst. Er stellte die Frage
nach Polens Rolle und Position in der neuen Wirklichkeit – insbesondere in
46 Bronisław Geremek: 2 kadencja, 112 posiedzenie, 4 dzień (1.08.1997). 33 punkt po-
rządku dziennego: Sprawozdanie Komisji Spraw Zagranicznych o rządowym projek-
cie uchwały Sejmu Rzeczypospolitej Polskiej w sprawie zaproszenia Polski do rozmów
o członkostwie w Sojuszu Północnoatlantyckim (druki nr 2565 i 2590). In: sejm.gov.pl,
https://orka2.sejm.gov.pl/Debata2.nsf (10.05.2022).
47 Bronisław Geremek: 3 kadencja, 13 posiedzenie, 2 dzień (05.03.1998). 9 punkt po-
rządku dziennego: Informacja ministra spraw zagranicznych o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski. In: sejm.gov.pl, https://orka2.sejm.gov.pl/ Debata3.nsf
(10.05.2022).
48 Ebenda.
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77
Bezug auf seine Nachbarstaaten im Osten.49 In diesem Kontext spielten die Be-
ziehungen zur Ukraine eine besondere Rolle. Die Ukraine wurde nämlich als
natürlicher Verbündeter in der Konfrontation mit der russischen Vorherrschaft
in diesem Teil Europas wahrgenommen. Geremek hob hervor, dass Polens Auf-
gabe einerseits die Einführung der mit Osteuropa zusammenhängenden Proble-
me in die westliche politische Sicherheitsdebatte sei, andererseits solle Polen ein
natürlicher Fürsprecher dieser Region sowie eine Ost-West-Brücke sein. Diese
Aufgabe sei durch ein größeres Engagement nicht nur Polens, sondern des ge-
samten Westens für die Demokratisierungsprozesse Osteuropas zu realisieren,
was durch die Festigung der strategischen Partnerschaft mit der Ukraine er-
reicht werden konnte. Im Programm von Geremek stand gerade dieser Staat im
Zentrum des Konzeptes der polnischen Sicherheit und – nach Polens NATO-
Beitritt – auch der Sicherheit des Bündnisses, was in seinem Exposé deutlich
anklang. Eine sichere und souveräne Ukraine sollte ein Stabilitäts- und Frie-
densgarant in Europa sein. Aus der Perspektive der Ereignisse des Jahres 2014
(Annexion der Krim, russischer Kampfeinsatz in der Ostukraine und dessen
spätere Folge in Form des umfassenden Angriffs durch Russland) beweist die
Agenda Geremeks aus den 1990er Jahren seine außergewöhnliche politische In-
tuition, die aus seinem Verständnis der Unterschiede zwischen den Mentalitäten
des Ostens und des Westens hervorgeht, mit Blick auf die sich die Ukraine in
einem »Dazwischen« befand. Die Rolle Polens bestand darin, die prowestlichen
Tendenzen in der Ukraine zu fördern, damit sie zu unserem Verbündeten und
nicht zu einer Gefahr in Form eines russischen Satellitenstaates werden konnte.
Er drückte das offen aus:
Die unabhängige Ukraine besitzt eine strategische Schlüsselbedeutung für
Polen sowie für seine Sicherheit und die Stabilität in der Region. Deswegen
haben die beiden Staaten ein Interesse an der Aufrechterhaltung privile-
gierter Beziehungen mit der Ukraine, was überdies die Verstärkung der
euro päischen Sicherheit begünstigt.50
Im Jahre 1998 übernahm Polen die Führung in der OSZE. Damals konnte
Polen seine gute Vorbereitung noch vor dem eigentlichen NATO-Beitritt unter
Beweis stellen. Unter Geremeks Führung konsultierte das Außenministerium
die Partner aus der NATO und setzte sie zugleich vom Handeln der Organisa-
tion – insbesondere hinsichtlich der Si tua tion im Kosovo – in Kenntnis.51
49 Ebenda.
50 Ebenda.
51 Informacja ministra spraw zagranicznych, Bronisława Geremka, na temat przewodnic-
twa Polski w Organizacji Bezpieczeństwa i Współpracy w Europie w 1998 roku. Komisja
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Die zweite, den Prämissen der polnischen Außenpolitik gewidmete Rede Gere-
meks im Sejm fand am 8. April 1999 statt – also einen Monat nach seiner Unter-
zeichnung der Dokumente, die den NATO-Beitritt Polens bestätigten. Darin
wies er darauf hin, dass das Ziel, an dessen Erreichung nur wenige zu Beginn des
Jahrzehnts geglaubt hatten, realisiert worden war. Dies war wiederum dank der
überparteilichen Verständigung möglich. Er fügte zugleich hinzu: »Heute ist
Polen ein genuiner Teil der euroatlantischen Gemeinschaft von demokratischen
Staaten«.52 Nachdem eines von zwei strategischen Zielen erreicht worden war,
konnte die polnische Diplomatie ihren Status als Aspirant aufgeben und durfte
eine Unterstützerrolle für andere Staaten übernehmen. Die natürliche Interes-
senrichtung unter diesem Aspekt waren die Osteuropastaaten. Die gemeinsa-
men historischen Erfahrungen sowie die System- und Wirtschaftstransforma-
tion bildeten die Grundlage für den Aufbau von Beziehungen. Eine zusätzliche
Motivation für Polen war das Streben danach, eine Alternative für das russische
Interesse an dieser Region zu bieten. Nochmals stellte Minister Geremek die
Bedeutung der Kooperation mit der Ukraine in den Vordergrund, indem er auf
die Anstrengungen verwies, die die polnische Diplomatie unternahm, damit
die weiteren Demokratisierungs- und Transformationsfragen der Ukraine zum
Gegenstand des Interesses der internationalen öffentlichen Meinung – auch in
den USA und in Kanada – wurden.53 Auf diese Art und Weise wollte der Wes-
ten, dem Polen bereits durch seine NATO-Mitgliedschaft vollauf angehörte,
seine Einflusssphäre bilden, indem die potentielle Bedrohung seitens Russlands
von seinen Grenzen entfernt wurde.
Im nächsten und zugleich letzten Exposé aus dem Jahre 2000 sprach Geremek
bereits aus der Perspektive eines Mitglieds über die NATO, das heißt aus der
Perspektive eines Staates, der formal das Recht darauf hatte, die Entwicklungs-
ziele und -richtungen des Bündnisses zu bestimmen. Er betonte, dass »[Polen
als, Anm. von A.N.] vertrauenswürdiger und zuverlässiger NATO-Mitglied-
staat« »den höchsten Sicherheitsstandard« erreicht habe, aber dies müsse kein
immerwährender Zustand sein und es seien weitere Bemühungen für seine
Festigung erforderlich. Vordergründig handelte es sich um weitere Reformen
der Streitkräfte sowie um die Pflege der demokratischen politischen Einrich-
tungen. Der bedeutendste, der NATO gewidmete Teil der Ansprache betraf die
Unterstützung der Realisierung des während des NATO-Gipfels in Washington
Spraw Zagranicznych /nr 44/, 1248/III z 19.01.1999, http://orka.sejm.gov.pl/Biuletyn.
nsf/0/1A5369B959450939C1256B73003641C9?OpenDocument (14.05.2022).
52 Bronisław Geremek: 3 kadencja, 47 posiedzenie, 1 dzień (08.04.1999). 4 punkt porząd-
ku dziennego: Informacja rządu o podstawowych kierunkach polityki zagranicznej Polski.
In: sejm.gov.pl, https://orka2.sejm.gov.pl/Debata3.nsf (5.05.2022).
53 Ebenda.
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(23.–25. April 1999) formulierten Prinzips der »offenen Tür« des Bündnisses für
neue Mitgliedstaaten. Polens Ziel war in erster Linie die Unterstützung der mit
dem NATO-Beitritt verbundenen Ambitionen der Nachbarländer Slowakei und
Litauen. Dadurch würde es nicht nur zur Vergrößerung der allgemeinen Zone
der euroatlantischen Sicherheit kommen, sondern zugleich würde die Sicher-
heit Polens gestärkt.54 Bemerkenswert ist auch, dass das Jahr 2000 im Zeichen
riesiger politischer Veränderungen in der Russischen Föderation stand. Der mit
Jelzins Machtübergabe an Putin initiierte politische Wandel wurde vollumfäng-
lich formalisiert. Das bedeutete eine neue Etappe in den Beziehungen zwischen
Russland und dem Westen sowie eine große Unbekannte in der russischen Au-
ßen- und Sicherheitspolitik. In seinem Konzept sicherte Geremek das weitere
Engagement für die Entwicklung der Beziehungen mit den Staaten Osteuropas
zu, wo der Ukraine erneut eine zentrale Stellung zufiel. Neben seinen formalen
Funktionen und den damit verbundenen Handlungen warb Geremek in infor-
mellen Gremien auf internationaler Ebene für Polen. Eine davon war die 1994
von Zbigniew Brzeziński ins Leben gerufene USA-EU-Polen-Handlungskom-
mission (Komisja Działania USA-UE-Polska), deren Ziel es war, insbesondere
in den USA für Polen eine wohlgesinnte internationale Bühne zu schaffen. Die-
se apolitische Kommission wurde aus Privatmitteln amerikanischer Geschäfts-
kreise finanziert. Eine ihrer Aufgaben war es, die Amerikaner von der NATO-
Erweiterung zu überzeugen. Nicht ohne Belang waren auch die persön li chen
Kontakte Geremeks zu Entscheidungsträgern aus anderen Ländern.55 Von b e -
sonderer Relevanz war seine gute Beziehung zu Madeleine Albright, die die USA
in den Jahren 1993–1997 als Botschafterin bei den Vereinten Nationen ver-
trat und von 1997 bis 2001 als US-Außenministerin im Kabinett Clinton tätig
war. Noch als Botschafterin bei der UNO stattete sie – zusammen mit dem
damaligen Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs (Joint Chiefs of Sta)
John M. Shalikashvili – einen Besuch in Warschau ab, wo sie polnische Poli-
tikerinnen und Politiker von der Partnerschaft für den Frieden zu überzeugen
versuchte.56 Später, schon als US-Außenministerin, war sie eine Fürsprecherin
der Staaten Mittel- und Osteuropas und unterstützte deren Bemühungen für
einen NATO-Beitritt. Ihre persönliche Beziehung zu Geremek ermöglichte es
ihr, die polnischen Befürchtungen in Bezug auf die militärische und vor allem
54 Bronisław Gere mek: 3 kadencja, 78 posi edzenie, 1 dzień (09.05.200 0). 1 punkt p orządku
dziennego: Informacja ministra spraw zagranicznych o podstawowych kierunkach polityki
zagranicznej Polski. In: sejm.gov.pl, https://orka2.sejm.gov.pl/Debata3.nsf (6.05.2022).
55 Jan Nowak-Jeziorański: Propozycje dla Polski. In: rzeczPoSPolita Nr. 145, 1996. Abge-
druckt in: Platt: Jan Nowak-Jeziorański, S. 495.
56 Janusz Onyszkiewicz: Na drodze do NATO – okruchy wspomnień. In: bezPieczeńSt Wo
naroDoWe 2014, Nr. 1, S. 21–40, hier: S. 35.
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auf die institutionelle Sicherheit besser zu verstehen, was auch ihre Worte über
Geremek bezeugen: »Er [Geremek] wollte sich dessen sicher sein, dass sich War-
schau nicht ausschließlich an das Bündnis anhängt, sondern dass es sich mit der
Demokratie verbindet«.57
5 Schlussfolgerungen
Der an der Wende zwischen den 1980er und 1990er Jahren begonnene Prozess
der Systemtransformation in Polen umfasste nicht nur politische und wirtschaft-
lich-soziale Fragen, sondern auch die Außenpolitik. Der Abbruch oder das Aus-
klingen alter Beziehungen machte eine Neubestimmung des außenpolitischen
Rahmens des Landes notwendig. Der Konsens der politisch maßgeblichen Kräf-
te gab die euroatlantische Richtung als optimale Lösung vor. Das bedeutete eine
Richtungsänderung in der Außenpolitik um 180 Grad – von Ost nach West,
aber nicht ohne Berücksichtigung der Beziehungen zu den Nachbarländern. Die
ausgewogene und konsequent realisierte Politik war trotz aufeinanderfolgen-
der Regierungen und wiederholter Machtwechsel erfolgreich und brachte dem
polnischen Staat im Jahre 1999 den NATO-Beitritt und später auch den EU-
Beitritt. Die polnische Debatte über Polens NATO-Mitgliedschaft betraf, un-
geachtet der Übereinstimmung hinsichtlich des Beitritts, ebenfalls das Format
der Zusammenarbeit sowie die Aufgaben des Atlantischen Bündnisses in der
neuen Wirklichkeit nach der Beendigung des Kalten Krieges. Am wichtigsten
war jedoch, dass sie zugleich die Nachbarländer berücksichtigte – insbesonde-
re diejenigen, die auf dem postsowjetischen Gebiet entstanden waren. Die von
der NATO erklärte » Politik der offenen Tür« wurde von Polen hoffnungsvoll
begrüßt und der polnische Staat wurde zu einem Fürsprecher der Länder aus
der Region, was deren Bemühungen um die NATO-Mitgliedschaft anbelangte.
Zusammen mit Lettland, Estland, Bulgarien, Rumänien und Slowenien tra-
ten zwei Nachbarländer, die Slowakei und Litauen, 2004 dem Bündnis bei. Im
Jahre 2009 schlossen sich Kroatien und Albanien dem Pakt an. Auf die nächste
NATO-Erweiterung musste anschließend bis zum Jahr 2017 gewartet werden,
als Montenegro zum NATO-Mitgliedstaat wurde. Die letzte Erweiterung fand
im Jahre 2020 mit Nordmazedonien statt.58 Mit der territorialen Verschiebung
der NATO auf noch einige Jahrzehnte früher zum Warschauer Pakt gehörendes
57 Ignacy Niemczycki: Dziękujemy ci za NATO. In: Gazeta Wyborcza MaGazyn Wolna
Sobota vom 5.März2022, S. 28.
58 Member countries (NATO), 2020. In: nato.int, https://www.nato.int/cps/en/natohq/
topics52044.htm (7.05.2022).
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Gebiet konnte sich vor allem Russland nur schwer abfinden, weil es diese Tei-
le Europas mit unterschiedlicher Intensität als seine Einflusssphäre wahrnahm.
Damit stellte sich die Frage nach den Grenzen der NATO-Erweiterung sowie
danach, ob auch Staaten wie die Ukraine und Georgien von der Politik der »of-
fenen Tür« profitieren dürfen sollten. Der russische Angriff auf die Ukraine vom
24. Februar 2022 bewies nicht nur, dass die proatlantische Entscheidung der
Länder Mittel- und Osteuropas richtig war, sondern erwies sich zudem als kont-
raproduktiv für die russischen Versuche, die NATO-Erweiterung zu blockieren.
Finnland und Schweden, bisher neutrale Staaten, beantragten am 18. Mai 2022
im NATO-Hauptquartier in Brüssel den Beitritt zu dieser Organisation. Unter
Berücksichtigung des Entwicklungsniveaus ihrer Streitkräfte sowie ihres insti-
tutionellen Staatsaufbaus haben sie gute Chancen, dieses Ziel innerhalb kurzer
Zeit zu erreichen.59 Im polnischen politischen Denken der 1990er Jahre exis-
tierte nicht nur bei Geremek eine tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit
einer engeren Zusammenarbeit sowie von der Unterstützung der prowestlichen
Tendenzen in der Ukraine und in Belarus.60 Leider ist dies im Fall des letzteren
Staates gescheitert, denn Belarus befindet sich erneut in der russischen Einfluss-
sphäre, was die Form einer politischen und wirtschaftlichen Vasallisierung die-
ses Staates angenommen hat. Dank der Richtungsänderung in der Innen- und
in der Folge dann auch in der Außenpolitik im Jahre 2013 hat die Ukraine
wiederum den Weg einer Westanbindung eingeschlagen, was sich in den als
Euromaidan bezeichneten Ereignissen manifestierte.61 Die langfristige politi-
sche Agenda bezüglich der polnischen Außenpolitik, die von Geremek in drei
seiner Ansprachen präsentiert wurde, konzentrierte sich auf die Stärkung der
59 Justyna Gotkowska: Szwecja i Finlandia na progu członkostwa w NATO. In: koMentarze
oŚroDka StuDióW WSchoDnich vom 24.05.2022, https://www.osw.waw.pl/pl/publikacje/
komentarze-osw/2022-05-24/szwecja-i-finlandia-na-progu-czlonkostwa-w-nato
(7.05.2022).
60 Krzysztof Fedorowicz: Polityka polski wobec Rosji, Ukrainy i Białoruś w latach 1989–
2010, Poznań 2011, S.163–237.
61 Timothy Ash, Janet Gunn, John Lough, Orysia Lutsevych, James Nixey, James Sherr, Ka-
taryna Wolczuk: Walka o Ukrainę, Chatham House Report 2017. Zusammenfassung:
https://www.chathamhouse.org/sites/default/files/publications/research/2017-10-18-
struggle-for-ukraine-summary-polish.pdf, S. 210 (8.05.2022). Das war nicht das erste
Mal, dass d ie Ukraine nach Westen b lickte. Bereit s im Jahre 2004 zeigte sich der deutliche
Wille zu einem Bruch mit der russischen Einflussnahme in der Innenpolitik, als nach den ge-
fälschten Präsidentschaftswahlen, die vermeintlich der von Russland unterstützte Wiktor Ja-
nukowytsch gewonnen hatte, Massenproteste ausbrachen. Infolge wochenlanger Proteste
(die wegen der Farbe der Juschtschenko-Kampagne als »Orangene Revolution« bezeich-
net wurden) kam es zu einer Wiederholung der Stichwahl, die Juschtschenko gewann.
Vgl. Agnieszka Legucka: »Pomarańczowa Rewolucja« – wybór strategiczny w polityce
zagranic znej i bezpieczeństwa Ukrainy. In: zeSzyt y naukoWe aon 2006, Nr. 2, S. 39–51.
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Position Polens in der NATO sowie auf eine Definition des Sicherheitsbereiches,
der nicht nur in geographischen, sondern auch in gegenständlichen Dimensio-
nen zu verstehen war. In der ersten Fassung des Programms von Geremek hatte
die Ukraine eine zentrale Bedeutung: Dank der Unterstützung vonseiten des
Westens sollte sie zum Teil der demokratischen Welt einschließlich deren Wer-
tesystems werden, wodurch potenzielle Gefahren von den NATO-Grenzen ab-
gewendet werden könnten und der ukrainische Staat im Laufe der Zeit vielleicht
auch selbst der NATO beitreten würde. In der gegenständlichen Dimension
definierte Geremek den Sicherheitsbereich viel breiter, denn er umfasste seiner
Meinung nach nicht nur Militär- und verteidigungspolitische Probleme. Er ver-
stand die Bedeutung der politischen, wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen
Zusammenarbeit und er ermunterte die NATO-Partner zum Einsatz dafür –
insbesondere in den Beziehungen zu den Staaten Osteuropas. Die von Gere-
mek vorgeschlagenen Ideen und Lösungen hatten weder einen offensiven noch
einen defensiven Charakter. Einerseits waren sie gegen niemanden gerichtet,
andererseits nannten sie kein konkretes Land, das eine Gefahr für die globale
Sicherheit und für den internationalen Frieden darstellte. Gerade darin bestand
und besteht ihr Universalismus, handelt es sich doch um Vorschläge, die die
Koexistenz und Kooperation souveräner Staaten voraussetzen, dank denen diese
Staaten auch ihre eigenen Ziele verfolgen können. Das ist keine naive Heran-
gehensweise. Sie ist sicherlich idealistisch, aber sie enthält zugleich einige Ele-
mente des Realismus. Geremek nahm die mit dem Erwachen der imperialen
Bestrebungen Russlands zusammenhängende Bedrohung wahr, die in der Ära
Putin Gestalt annahm. Die 1990er Jahre waren durch eine Entspannung in
den internationalen Beziehungen gekennzeichnet, was aus dem Ende des Kalten
Krieges und dem Zerfall der UdSSR resultierte. Das sich in einer wirtschaftli-
chen und politischen Krise befindende Russland war auf keinem Gebiet zu einer
Konkurrenz mit den USA im Stande. Dies verlangte Geremek zufolge von der
NATO eine Neubestimmung ihrer Rolle: Das Bündnis solle sich von der Ab-
schreckungspolitik verabschieden und die Richtung eines Engagements für die
globale Sicherheit einschlagen. In den 1990er Jahren beteiligte sich die NATO
an den friedenserhaltenden Missionen während der andauernden Konflikte auf
dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien. Meinungsverschiedenheiten löste
die militärische, gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gerichtete, aber durch
kein UNO-Mandat gedeckte Operation der NATO (Operation Allied Force,
dt. Unternehmen Bündnisstreitmacht) aus, deren Ziel es war, serbische Gewalt-
aktionen, Unterdrückung und ethnische Säuberungen im Kosovo zu beenden.62
62 Marcin Lasoń: Interwencja zbrojna w Kosowie i Libii jako przykłady współczesnych inter-
wencji zbrojnych. In: bezPieczeńSt Woteoria i Prakt yka 2018, Nr. 1, https://btip.ka.edu.pl/
pdf/2018-1/btip2018-1-var-lason.pdf, S. 241–2 57 (2.06.2022).
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Sowohl diese Operation als auch die Beteiligung an den durch UNO-Mandate
gedeckten Interventionen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien führten
zum Wechsel des strategischen NATO-Konzeptes und zur Abkehr von der Poli-
tik eines defensiven Handelns. Die Veränderung ging in die Richtung eines
Engagements für die Abwendung von Krisen, die eine Gefahr für die globale
Sicherheit darstellen konnten – sog. Krisenprävention und -bewältigung. Das
sich verändernde internationale Umfeld sowie die Geschehnisse im Jahre 2014
(Russlands Angriff auf die Ukraine, russische Annexion der Krim und Beginn
des Krieges im Donbas) führten jedoch erneut zur Verschiebung des Akzents
auf das defensive Handeln der NATO.
Laut der eingangs aufgestellten Hypothese erwiesen sich die Vision der trans-
atlantischen Inte gra tion und die in den 1990er Jahren von Geremek formulierte
Bewertung der internationalen Si tua tion sowie der NATO selbst als dauerhaft
und finden auch in der gegenwärtigen internationalen Si tua tion nach der rus-
sischen Aggression gegen die Ukraine Anwendung. Aufgrund der auf die For-
schungsfragen gegebenen Antworten wurde die Hypothese bestätigt.
Aus dem Polnischen von Piotr A. Owsiński
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Bronisław Geremek als Außenminister
über die deutsch-polnischen Beziehungen
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Krzysztof Koźbiał, Jagiellonen-Universität in Krakau
Bronisław Geremek as Foreign Minister on Polish-German Relations:
Between the past and the future
Bronisław Geremek served as foreign minister of the Republic of Poland
for almost three years. During this time, he contributed significantly to
Poland’s accession to NATO and the start of talks to join the European
Union. As minister, he repeatedly invoked Polish-German relations, con-
sidering them crucial to the integration of Europe. Moreover, he was op-
timistic about their future development. is scenario has come true, for
today bilateral relations between Poland and Germany are perhaps at their
best point in history and both nations view each other very positively.
e measure of success is primarily economic contacts clearly indicating
that the ties between the two countries are equally important for both
sides. Social contacts and cooperation in the border area are successful to
a similar degree. Political relations, on the other hand, show some still un-
resolved “weak points” which make themselves felt and in the future may
negatively affect the Polish-German partnership, which is also necessary
for potential reforms of the European Union.
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1 Einleitung
Ziel dieser Betrachtungen ist die Darstellung der Ansichten Bronisław Gere-
meks zum ema der deutsch-polnischen Beziehungen, insbesondere ihrer
Bedeutung (auch für Europa) und Zukunft. Es geht um Ansichten und Be-
wertungen, die von ihm während der Ausübung seiner Funktion als Außen-
minister (Oktober 1997 – Juni 2000) geäußert wurden. Aufgrund des von ihm
ausgeübten Amtes gewannen diese Meinungen an Bedeutung. Beachtenswert ist
auch die Tatsache, dass in diesem Zeitraum problematische Si tua tionen wahr-
nehmbar wurden, die einen negativen Einfluss auf die Zukunft der deutsch-pol-
nischen Kontakte haben konnten. Im zweiten Teil des Beitrags wurde Bezug da-
rauf genommen, wie diese Kontakte momentan aussehen und in welchem Grad
die Ansichten von Minister Geremek nach 25 Jahren aktuell geblieben sind.
Die Hauptforschungsfragen, die mit diesem Beitrag beantwortet werden sollen,
lauten wie folgt: 1) welche Ansichten vertrat Bronisław Geremek hinsichtlich
der deutsch-polnischen Beziehungen in dem Zeitraum, als er das Amt des Au-
ßenministers bekleidete; 2) Wie sah Geremek die hauptsächlichen Herausforde-
rungen und Probleme in den bilateralen Kontakten; 3) Wie ist der gegenwärtige
Stand der Kontakte zwischen beiden Staaten und spiegelt er in irgendeiner Wei-
se die Ansichten von Minister Geremek von vor 25 Jahren wider?
Um sie zu beantworten, wurden die für Politik- und Verwaltungswissenschaft
typischen Forschungsmethoden verwendet: die historische Methode, der syste-
mische Ansatz sowie die Analyse statistischer Daten, die für den Blick auf die
gegenwärtigen Kontakte Polens und Deutschlands wichtig sind.
2 Bronisław Geremek als Politiker und Außenminister
Bronisław Geremek wurde am 6. März 1932 in Warschau geboren.1 Die Ereig-
nisse des Zweiten Weltkriegs betrafen ihn sehr stark, denn während des Holo-
causts kam der Großteil seiner Familie ums Leben. Diese Ereignisse haben sich
zweifellos auf sein weiteres Leben ausgewirkt.
Er war unstreitig einer der wichtigsten polnischen Politiker und Politikerinnen
der ersten Jahre der sog. Dritten Republik, die nach dem Fall des Kommunis-
mus eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der polnischen Innen- und Au-
ßenpolitik spielten. Er beeinflusste auch die öffentliche Meinung und die Wahr-
1 Biographische Angaben nach: https://geremek.pl/profesor/biografia/maz-stanu/
(20.09.2022).
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nehmung der polnischen Präsenz in der internationalen Politik. Der Historiker
und Mediävist Geremek ist auch nicht ohne die Freiheitsunion (Unia Wolności,
UW) zu denken. Diese war eine der wichtigsten politischen Gruppierungen in
den 1990er Jahren und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends.
Geremek bekleidete viele wichtige politische Funktionen, man kann fast sagen,
dass er in den 1990er Jahren »nicht von den Titelseiten verschwand«. In jungen
Jahren war er Mitglied der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjed-
noczona Partia Robotnicza, PZPR) gewesen, aber da er das Wirken der kommu-
nistischen Partei genau beobachtete, verließ er sie 1968 (aus Protest gegen den
Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei) und
wurde eine der wichtigsten Persönlichkeiten der antikommunistischen Opposi-
tion. Er war einer der Autoren eines Briefs an die Machthaber zur Verteidigung
der Aktivisten des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony
Robotników, KOR), die Repressionen unterzogen wurden, und 1980 unter-
zeichnete er einen Appell von mehr als 60 Persönlichkeiten aus der Wissen-
schaft, die Gespräche mit den streikenden Arbeitern forderten. Er war Mitglied
der Unabhängigen Selbstverwaltungsgewerkschaft Solidarność und wurde nach
der Verhängung des Kriegszustands im Dezember 1981 interniert. Am Über-
gang von den 1980er zu den 1990er Jahren wurde er 1989, 1991, 1993 und 1997
zum Abgeordneten des Sejms gewählt. Im Parlament übernahm er u. a. den
Vorsitz in den Ausschüssen für auswärtige Angelegenheiten, für konstitutionelle
Fragen und für Europarecht.
Am 31. Oktober 1997 trat er das Amt des Außenministers an, das er bis zum
30. Juni 2000 bekleidete. Dies war ein äußerst wichtiger, ja, geradezu ein
Schlüs selmoment für die polnische Außenpolitik in der Zeit nach dem Fall des
Kom munismus. Im März 1999 wurde Polen Mitglied der NATO, und Minister
Geremek war es gegeben, die Ratifizierungsdokumente in der amerikanischen
Ortschaft Independence zu überreichen. Zu dieser Zeit begannen auch die Ge-
spräche über den Beitritt zur Europäischen Union – und wiederum war er es,
der im Namen der Regierung der Republik Polen (RP) die Erklärung abgab, die
den Verhandlungsprozess in Gang setzte. 2004 wurde er ins Europaparlament
gewählt. Dort gehörte er den Kommissionen für auswärtige Angelegenheiten
und für Verfassungsfragen an. Er starb am 13. Juli 2008 bei einem Autounfall.
Berücksichtigt man all diese Leistungen, dann ist mit Nachdruck zu unterstrei-
chen, dass seine politische Aktivität in eine Zeit des Wandels fiel, des Übergangs
vom kommunistischen zum demokratischen System. Somit ist Geremek jenen
Persönlichkeiten zuzurechnen, die einen realen Einfluss auf die Position Polens
im sich wandelnden Europa hatten.
Eine andere Frage ist die, ob Geremek ein erfüllter Politiker war und ob sei-
ne unbestrittenen Verdienste von der polnischen Gesellschaft wahrgenommen
wurden. Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Man kann zweifellos von der
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Wahrnehmung seines Handelns sprechen, obwohl bezweifelt werden kann, ob
er von seinen Landsleuten in der Tat angemessen gesehen wurde. Daten zu die-
sem ema liefern regelmäßig wiederkehrende Befragungen des Zentrums für
öffentliche Meinungsforschung (Centrum Badania Opinii Społecznej, CBOS).
In einer Untersuchung, die die Ereignisse des Jahres 1999 betraf, wurde das
Handeln Bronisław Geremeks wahrgenommen, wenn auch verhältnismäßig
schwach. Von 4 Prozent der Befragten wurde er als »Politiker des Jahres« be-
zeichnet (4. Platz im Land), der NATO-Beitritt Polens wiederum wurde von
23 Prozent der Befragten als zweitwichtigstes »Ereignis des Jahres« bezeichnet.2
Ein Jahr später befand sich Geremek unter den wichtigsten Politiker:innen auch
auf dem 4. Platz. Im Dezember 2000 vertrauten ihm 46 Prozent der Befragten,
einen Mangel an Vertrauen bekundeten hingegen 27 Prozent der Befragten.3 In
dieser Hinsicht belegte er den 7. Platz im Land. Im Januar und Juli 2000 war
das Niveau des Vertrauens zu seiner Person als Politiker am höchsten, es betrug
57 Prozent. Dies war zweifellos der Augenblick, als sich seine Person in der pol-
nischen Politik der größten Bekanntheit und Wertschätzung erfreute.
3 Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Augen Geremeks
Es ist unbestreitbar, dass die deutsch-polnischen Beziehungen für Geremek
wichtig waren. Allerdings waren sie zugleich meines Erachtens nicht am wich-
tigsten, weil an erster Stelle – wenn man überhaupt eine solche Hierarchisie-
rung vornehmen kann – folgende Fragen standen: 1) die Einbindung Polens
in das Nordatlantische Bündnis und 2) die Inte gra tion Polens in die Europäi-
sche Union. Unter allen Partnern der Republik Polen kam es jedoch wiederholt
zu einer Hervorhebung der Rolle Deutschlands hinsichtlich der weit gefassten
außen politischen Ziele Polens.
Als Außenminister erteilte Professor Geremek dreimal im Sejm Auskunft über
die wesentlichsten Richtungen der polnischen Außenpolitik. Jedes Mal belegten
Deutschland (in unterschiedlichen Kontexten) und Bezugnahmen auf diesen
Staat einen hohen Platz. Dies war selbstredend eine Schlüsselphase der prakti-
2 Polit yk roku ’99, Wydarzenie roku ‘99. Komunikat z b adań nr BS 201/99, Warszawa 1999,
https://www.cbos.pl/SPISKOM.POL/1999/K_201_99.PDF (23.09.2022). 30 Pro zent
der Befragten gaben an, dass im Jahr 1999 der Besuch von Papst Johannes Paul II. in
Polen wichtiger war.
3 Zaufanie do polityków pod koniec roku. Komunikat z badań nr BS 184/2000, Warszawa
2000, https://www.cbos.pl/SPISKOM.POL/2000/K_184_00.PDF S. 3 (23.09.2022).
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schen Verwirklichung der Ziele, die von polnischen Politikerinnen und Politi-
kern während der gesamten 1990er Jahre hervorgehoben wurden.
Die Entwicklung der bilateralen Beziehungen zu Deutschland wurde in einem
Auftritt am 5. März 1998 erwähnt und als Ziel des auswärtigen Handelns des
polnischen Ministeriums in den Jahren 1999 und 2000 wiederholt genannt.
Deutschland wurde neben den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbri-
tannien mit dem Begriff »Hauptsächlicher Partner Polens in den internatio-
nalen Beziehungen« bezeichnet.4 Das Land sollte nach Ansicht des Ministers
eine stabilisierende Rolle auf dem Kontinent spielen, auch als ein Staat, der die
polnischen Bestrebungen nach einer Mitgliedschaft in der NATO und der EU
unterstützte. Geremek akzentuierte sowohl die Rolle von Kontakten auf der
Ebene verschiedener Ministerien als auch die Kooperation in der Region. Er
machte ebenfalls auf die Notwendigkeit einer Steigerung des Handelsvolumens
beider Staaten aufmerksam, was in immer weiterem Umfang verwirklicht wur-
de. Als nicht ohne Bedeutung betrachtete er auch die Entwicklung der gesell-
schaftlichen Kontakte allgemein wie auch der Kontakte zwischen verschiedenen
Berufsgruppen. Im Kontext der grenznahen Zusammenarbeit wurde als Beweis
für ihre Stärkung die Jahrhundertflut des Jahres 1997 angeführt, die den Man-
gel an ausreichender Koordination auf dem Gebiet offenlegte, das beiderseits der
Oder/Neiße-Grenze lag.
Im folgenden Jahr war die Bezugnahme auf das Ergebnis der Bundestagswahl
des Jahres 1998, in deren Folge der Sieg der SPD zu einem Wechsel der Regie-
rungskoalition in seinem westlichen Nachbarland führte, ein für die polnische
Politik wichtiges Ereignis. Dies war ohne Frage eine neue Si tua tion für die Ver-
treter:innen des polnischen Politikbetriebs, die bisher daran gewöhnt gewesen
waren, dass nach dem Fall des Kommunismus in Polen auf der anderen Seite
der Oder die Christdemokraten regierten. Geremek unterstrich jedoch die Tat-
sache einer vergleichsweise schnellen Anknüpfung guter Kontakte auf höchster
Ebene, was sich mit Sicherheit in einer Fortsetzung der positiven Einstellung
der Bundesrepublik gegenüber den polnischen Bestrebungen niederschlug. Dies
nahm sogar – in der Bewertung des Ministers – die Form »einer allmählichen
Geburt einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft an«.5 Als grundlegen-
des Ziel betrachtete er die Aufrechterhaltung der Unterstützung Deutschlands
für die Bemühungen um die EU-Mitgliedschaft, wobei er gleichzeitig nicht nur
4 Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka o podstawowych kierun-
kach polit yki zagranicznej Polski. Przemówienie na forum Sejmu RP w dniu 5 marca 1998
roku. In: Geremek, Skuteczność i racja stanu, S. 27, 39–41.
5 Informacja rządu o podstawowych kierunkach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie
ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka na forum Sejmu RP w dniu 8 kwietnia
1999 roku. In: Geremek, Skuteczność i racja stanu, S. 85.
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die Be deu tung von Regierungstreffen unterstrich, sondern auch einer Zusam-
men arbeit im Bereich Jugend, Kooperation der Regionen, grenznahe Zu-
sammenarbeit und Zusammenarbeit der Gemeinden, Schulen und Hochschu-
len das Wort redete. Dies waren folglich neue Akzente, die sich auf die ge-
sell schaftliche Kom ponente bezogen. Minister Geremek verwies zugleich auf
schwie rige emen in den bilateralen Kontakten: die Frage der Entschädigun-
gen für die früheren Häftlinge der deutschen Konzentrationslager und für die
Zwangs arbeiter. Er erwähnte auch die militärische Zusammenarbeit, was in
der Schaffung eines gemeinsamen deutsch-polnisch-dänischen Korps in Stettin
zum Aus druck kam. Als er auf die Frage der Bundestagswahl von 1998 zurück-
kam, war Minister Geremek im Übrigen – und zu Recht – voller Hoffnung auf
eine Fortsetzung der militärischen Zusammenarbeit im Bündnis, wobei er die
Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass der Regierungswechsel in der deutschen
Politik mit dem Hervortreten einer neuen Politikergeneration einherging, die
sich aber bereits als glaubwürdiger Partner zu erkennen gegeben habe.6
Der Auftritt von 1999 war somit breiter angelegt als ein Jahr zuvor und gab
– meiner Einschätzung zufolge – die komplizierten Beziehungen beider Staa-
ten entschieden besser wieder. Ähnliche emen mit einem Hinweis auf gesell-
schaftliche und militärische Aspekte tauchten auch ein Jahr später erneut auf.7
Zugegebenermaßen kann dieses Mal jedoch nur davon gesprochen werden, dass
auf das Ausmaß dieser Kontakte hingewiesen wurde, ohne dass dabei auf Ein-
zelheiten Bezug genommen worden wäre.
Professor Geremek hatte auch an vielen anderen Orten Gelegenheit, seine Sicht-
weise der Kontakte mit den Deutschen oder, bereiter gefasst, der europäischen
Inte gra tion zu erläutern als nur im polnischen Parlament – wenn er nämlich in
einer anderen Rolle als der des Außenministers auftrat. Es ist erhnenswert,
dass er sogar dann, wenn er unabhängig von der Funktion auftrat, die er be-
kleidete, zumeist unter dem Gesichtspunkt dieser Funktion beurteilt wurde.
Wichtig war unbestrittenermaßen die Ansprache, die er am 21. Mai 1998 in
Aachen hielt, als er den Karlspreis entgegennahm. Er unterstrich, dass die Mög-
lichkeit der Vereinigung Europas, von der Geremek selbst träumte, dank der
»überraschenden und wundervollen Veränderung« in den deutsch-polnischen
Beziehungen möglich war,weil Polen dank der Wiedereinigung Deutschlands
frei werden konnte und Deutschland sich dank des Wirkens der Gewerkschafts-
6 Jak teraz będzie z Niemcami. In: Geremek: Skuteczność i racja stanu, S. 265–267.
7 Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka o podstawowych kierun-
kach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie na forum Sejmu RP w dniu 9 maja 2000
roku. In: Geremek, Skuteczność i racja stanu, S. 136.
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bewegung Solidarność wiedervereinigen konnte.8 Man kann einer solchen
Sichtweise des Wandels in den Kontakten zwischen Polen und Deutschland nur
schwer widersprechen. Geremek berief sich des Öfteren auch auf das gelunge-
ne Vorbild der deutsch-französischen Aussöhnung. Der Karlspreis, der Persön-
lichkeiten verliehen wird, die sich um die Inte gra tion des alten Kontinents am
stärksten verdient gemacht haben, war gewiss eine Anerkennung der Verdienste
Geremeks als Politiker und Wissenschaftler.
Zu Beginn des Jahres 1999 erhielt Geremek in Berlin die Ehrendoktorwürde der
dortigen Freien Universität. Natürlich bot auch dieses Ereignis Gelegenheit, auf
bestimmte Aspekte der deutsch-polnischen Kontakte aufmerksam zu machen.
Geremek war sich offensichtlich der Rolle, die die Bundesrepublik im zukünftigen
Europa spielen würde, nur allzu gut bewusst, als er unterstrich, dass Warschau aus
der Sicht Berlins die nächstgelegene Hauptstadt sei. Indem er auf das gemeinsame
Schicksal in der Zukunft verwies, versäumte er es nicht, die vorhandenen »Schich-
ten des Misstrauens« in den gegenseitigen Kontakten zu erwähnen.9 Hierzu zählte
er die Notwendigkeit zur Pflege von Erinnerung und Verantwortung, die im Falle
Deutschlands als Wissen um die eigene Vergangenheit zu verstehen war, und die
Bereitschaft Polens der EU beizutreten, ebenso wie die Unterstützung der Bundes-
republik für diesen Prozess. Gleichzeitig bezeichnete Geremek die Übereinstim-
mung des Schicksals beider Völker als »wichtiges Vehikel der europäischen Idee«.10
Er unterstrich deutlich, dass sich die zukünftigen Kontakte beider Seiten nicht auf
Furcht gründen sollten und nahm auf diese Weise Bezug auf die Ängste der west-
lichen Partner Polens, die eine massenweise Emigration der Polen in die damals
besser entwickelten Staaten der Europäischen Union befürchteten.11
Als Außenminister war Geremek darum bemüht, die deutsch-polnische Aussöh-
nung in möglichst breitem Umfang mitzugestalten. Nichtsdestoweniger sollte
dies keine Aussöhnung um der Aussöhnung willen sein, sondern ein breiteres
Vor haben, das die gute Nachbarschaft dieser beiden Staaten prägen sollte, die in
Kürze zu wichtigen Bestandteilen des europäischen Inte gra tionsprozesses wer-
den sollten. Die Erweiterung sowohl der NATO als auch der EU sollte eine Be-
stätigung des Erfolgs der Inte gra tionsidee sein.12
8 Rede von Bronislaw Geremek, https://www.karlspreis.de/de/preistraeger/bronislaw-
geremek-1998/rede-von-bronislaw-geremek (26.09.2022).
9 Wystąpienie ministra spraw zagranicznych Bronisława Geremka na Wolnym uniwersy-
tecie w Berlinie z okazji odebrania doktoratu honoris causa 15 stycznia 1999 roku. In:
Bronisław Geremek: Skuteczność i racja stanu, S. 193–197.
10 Ebenda, S. 197.
11 Możemy przystąpić do Unii w roku 2002. In: Bronisław Geremek, Skuteczność i racja
stan u, S. 24 4–245.
12 Władysław Bartoszewski: Bronisław Geremek jako dyplomata. In: Geremek, Głos w Eu-
ropie, S. 146.
DOI: 10.13173/9783447120241.085
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93
4 Die gegenwärtigen Beziehungen Polens und Deutschlands
sowie ihre Zukunft vor dem Hintergrund der Ansichten Geremeks
Die Verwirklichung der wesentlichen Interessen der polnischen Außenpolitik,
die in der Mitgliedschaft in der NATO und in der EU bestanden, gelang an
der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert. Gegenwärtig ist Polen Mitglied in
beiden Organisationen. Seinen Anteil an diesem Erfolg hatte auch Geremek –
als einer der aktivsten polnischen Politiker der ersten Dekade nach dem Fall des
Kommunismus. Wie weiter oben bereits gezeigt worden ist, trug er auch zur
Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland bei, obwohl es schwierig wäre
zu behaupten, dies sei die Priorität seines Handelns als Außenminister gewesen.
Mehr als 30 Jahre nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Vertrags über
gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, lohnt es sich darü-
ber nachzudenken, welche der von Geremek als Minister erwähnten Ziele reali-
siert wurden und welche sich immer noch auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung
befinden. Ich gehe dabei von der Annahme aus, dass bestimmte Beziehungen
zwischen gegebenen Staaten niemals ideal sind, der Pflege bedürfen und dass es
von den Politiker:innen – hauptsächlich denjenigen auf der zentralen Ebene –
abhängt, wie sie wahrgenommen werden. Es ist ja anzumerken, dass die Kon-
takte auf der Ebene polnischer und deutscher Städte oder Regionen, oder breiter
gesehen im Grenzgebiet, zweifelsfrei gut sind. Dieses Urteil ergibt sich aus den
Beobachtungen, die von mir auf dieser Ebene durchgeführt wurden. Selbst-
verständlich können auch hier Probleme zutage treten, aber für beide Seiten ist
eine offene Nachbarschaft etwas Positives, selbst wenn man dabei nur den Grad
der Besuche auf beiden Seiten der Grenze berücksichtigt, die hauptsächlich aus
ökonomischen Gründen resultieren können, wie z. B. aus prosaischen Unter-
schieden in den Preisen bestimmter Produkte.
Nimmt man eine Analyse der gegenwärtigen Beziehungen zwischen der Repub-
lik Polen und der Bundesrepublik Deutschland vor, dann ist auf einige Ebenen
Bezug zu nehmen. Das ist für die Veranschaulichung eines umfassenden Bildes
erforderlich. Zu nennen wären folglich der 1) politische, 2) wirtschaftliche und
3) gesellschaftliche Bereich. Auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht miteinander
verzahnen und voneinander abhängig sind, so kann man dennoch diese Gebiete
als die wesentlichsten unterscheiden. Die Daten des sog. Deutsch-Polnischen
Barometers 2022 13 bestätigen das Interesse beider Nationen an der europäischen
und internationalen Politik. Die Untersuchungsergebnisse deuten auf einen ho-
hen Grad der gegenseitigen Akzeptanz beider Seiten hin – in verschiedenen ge-
13 Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada-Konefał: Polacy i Niemcy – jak dalecy, jak bliscy.
Barometr Polska-Niemcy 2022, Warszawa-Darmstadt 2022.
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94
sellschaftlichen Rollen. Dieses Niveau beträgt allgemein ungefähr 80 Prozent
(oder es übersteigt sogar diesen Wert). Es geht hier um solche Rollen wie: Kol-
lege/Kollegin, Untergebener, Lehrer und Dozent, Nachbar, Freund, Firmen chef
oder Stadtverordnete/r.14 Viele Jahre unmittelbarer Kontakte und die kultu relle
Nähe spielen hier eine wesentliche Rolle. Im Jahr 2000 überstieg das allge meine
Akzeptanzniveau in den erwähnten Rollen selten 50 Prozent, nur 27 Prozent
der Polen akzeptierten einen Deutschen als Ratsmitglied. Heutzutage stellt, wie
bereits erwähnt, ein Nachbar von jenseits der Oder in einer solchen Rolle kein
Problem mehr dar. Das verweist demnach auch deutlich auf eine entschiedene
Verbesserung der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten. Sie
kommen in einer Zusammenarbeit durch Partnerschaften der Einheiten der ter-
ritorialen Selbstverwaltung, eine Zusammenarbeit im Jugendbereich oder die
wissenschaftliche Zusammenarbeit zum Ausdruck.
Bei einem näheren Blick auf die Einzelheiten lassen sich natürlich Nuancen in den
Beziehungen beider Nationen bemerken. Eine unterscheidende Variable sind die
politischen Ansichten der Untersuchten – auf der polnischen Seite bedeutet etwa
die Tatsache, Anhänger der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedli-
wość, PiS) zu sein zugleich eine viel skeptischere Beziehung zu den Deutschen und
Deutschland. Wichtig ist auch der Faktor, der mit dem Wohnort verbunden ist:
die Nähe zur Grenze wirkt sich zumeist positiv auf das Bild vom Nachbarn aus,
was z. B. aus der Möglichkeit häufiger Besuche im Nachbarland resultiert.
Die Polen haben eine etwas bessere Meinung über Deutschland als die Deut-
schen über Polen. Die Bundesrepublik wird von den Polen zumeist mit einer gut
funktionierenden Wirtschaft assoziiert (74 Prozent), mit der Wertschätzung für
Demokratie und Rechtsstaat (58 Prozent) sowie mit der Achtung der Frauen- und
Minderheitenrechte (57 Prozent). Die Deutschen assoziieren Polen haupt sächlich
mit einer gut funktionierenden Wirtschaft (obwohl darauf nur 35 Prozent der
Befragten verweisen), als guten Ort für Investitionen (32 Prozent) und als Land,
in dem Menschen aus dem Ausland gut behandelt werden (31 Prozent). Generell
stehen 50 Prozent der Befragten auf der polnischen Seite den Deutschen positiv
gegenüber (im Jahr 2018 waren es 56 Prozent und 2008 ledig lich 30 Prozent).
Auf der anderen Seite der Oder betrug dieser Prozentsatz wiederum 43 Prozent
(im Jahr 2020 waren es 55 Prozent, aber 2006 nur 18 Prozent).15
Die Feststellung, dass die Beziehungen zwischen den beiden Staaten gut bzw.
sehr gut sind, ist eine Binsenweisheit. Nichtsdestotrotz ist die zweite Bezeich-
nung für den Bereich der Wirtschaft am angemessensten. Die Bedingungen für
die deutsch-polnischen Kontakte sind auch 30 Jahre nach dem Ende des Kom-
munismus grundsätzlich unverändert geblieben. Beide Staaten sind bedeutende
14 Ebenda, S. 32–33.
15 Eb enda, S. 20–26.
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95
Mitglieder der NATO und der EU. Über die Jahre ist die Rolle Polens ganz
sicher gewachsen. Ein neuer Faktor, der zur Reflexion nötigt, ist der russische
Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Er übte unbestritten einen weit-
reichenden Einfluss auf die Notwendigkeit einer Umorientierung der deutschen
Politik gegenüber Russland aus. Bislang war diese zu prorussisch gewesen und
hatte sich auf eine unvollständige (vielleicht auch naive) Bewertung sowohl der
politischen als auch der ökonomischen Lage gestützt. Die Aggression Russlands
entblößte besonders die Schwäche der deutschen Energiepolitik. Der völlig un-
terschiedliche Blick Berlins und Warschaus auf die russische Politik dürfte bei
der weiteren Entwicklung der Kontakte zwischen Polen und der Bundesrepublik
in der Zukunft durchaus für Probleme sorgen.
Die Kontakte zu Deutschland sollten eine Priorität für jede Regierung in War-
schau sein. Als die PiS 2015 die Parlamentswahlen gewann, unterlag dies einer
bemerkbaren Veränderung. Es traten Spannungen zwischen beiden Staaten zu-
tage, die auf der zentralen Ebene der Regierung sichtbar wurden, aber allem
Anschein nach unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher und wirtschaftlicher
Kon takte fast belanglos waren. Eine dieser Spannungen war die Bedeutung der
sog. Drei-Meere-Initiative für Polen, in der Warschau die tonangebende Kraft
sein will. Deutschland bringt Interesse an dieser Idee zum Ausdruck, bleibt hin-
gegen passiv, wenn es um das Handeln geht. Offen bleibt die Frage nach der
Schaff ung eines weiteren regionalen Formats, obwohl die bereits bestehenden
nicht unbedingt messbare Resultate bringen (wie z. B. die Visegrád-Gruppe).
Viel leicht hat Deutschland Angst vor einem Verlust seines Einflusses in der Re-
gion und interessiert sich deshalb für diese Idee.16
Sehr wichtig sind auch die Kontakte beider Staaten im Rahmen der Europäi-
schen Union, ohne die jegliche Versuche institutioneller Reformen dieser Orga-
nisation seitens Berlins und Warschaus ihren Sinn verlieren.17 In dieser Hinsicht
lohnt es sich zu verfolgen, wie die Frage der Sperrung der Mittel aus dem Wie-
deraufbauprogramm der EU ausgehen wird und welche Rolle Deutschland in
diesem Prozess spielt. Polen und die Bundesrepublik scheinen im Übrigen auch
hinsichtlich der Zukunft der EU und ihrer Gestalt abweichende Vorstellungen
zu haben. Leider ist dies bei den wichtigsten Gesprächen zwischen den Regie-
rungen beider Staaten kein ema.
In den deutsch-polnischen Beziehungen gibt es weiterhin Angelegenheiten, die
man als ungelöst bezeichnen kann. Hier sind vor allem folgende zu nennen:
1) das Problem der Polen in Deutschland, die von der deutschen Seite nicht als
nationale Minderheit anerkannt werden, sowie 2) das Problem der Entschädi-
16 Szymon Bachrynowski: Dokąd zmierzają relacje polsko-niemieckie? 30-lecie Traktatu o
dobrym sąsiedztwie i przyjaznej współpracy, Warszawa 2021, S. 4.
17 Ebenda, S. 5f.
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gungen für den Zweiten Weltkrieg.18 Diese Angelegenheit wurde am 1. Sep-
tember 2022, während der Feierlichkeiten anlässlich des 83. Jahrestages des
Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, von Jarosław Kaczyński angesprochen. Der
Vorsitzende der PiS benannte während einer Präsentation des Berichts über die
Verluste, die Polen während der deutschen Aggression und Besatzung erlitten
hatte, Forderungen in Höhe von 6,2 Billionen Zloty und beurteilte diese Sum-
me als real. Nach Meinung Kaczyńskis hat Deutschland niemals für die Ver-
brechen gegen Polen bezahlt – daher rührten also die polnischen Forderungen.19
Die deutsche Seite hat erwartungsgemäß diese Forderungen zurückgewiesen.
Die polnische Seite hat allerdings keinen Plan vorgestellt, der zur Erlangung
einer solchen Entschädigung führen könnte. Diese Frage, die von Minister Ge-
remek 1999 erwähnt worden war, ist also bis heute nicht geregelt.
Die beiden erwähnten Spannungsfelder werden mit Sicherheit – wenn sie nicht
geregelt werden – die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte der gegenseiti-
gen Kontakte überschatten. Das Beispiel der polnischen Reparationsforderun-
gen zeigt, dass Angelegenheiten dieser Art in erster Linie nicht in den bilatera-
len Beziehungen ausgenutzt werden, sondern in der Innenpolitik. Gut möglich,
dass auf derartige »Ersatzthemen« in bestimmten Si tua tionen zurückgegriffen
wird, die nichts mit den bilateralen Beziehungen zu tun haben.
In wirtschaftlicher Hinsicht sehen die deutsch-polnischen Beziehungen hin-
gegen von Jahr zu Jahr besser aus. Diese Bemerkung betrifft im Übrigen nicht
nur Polen, sondern ganz Mittel- und Osteuropa. Im Jahr 2021 überstieg der
Handelsumsatz den Wert von einer halben Billion Euro.20 Berücksichtigt man
29 Staaten, dann exportierte Deutschland Waren in einem Wert von 254 Mrd.
EUR, sein Import betrug 248 Mrd. EUR. Die deutschen Investitionen in die-
sem Teil des Kontinents beliefen sich auf einen Betrag von 145 Mrd. EUR, was
seinen Niederschlag in circa 2 Millionen Arbeitsplätze in diesen Ländern finden
soll, und in Deutschland in mehreren Hunderttausend Arbeitsplätzen. Polen ist
der wichtigste Partner der Bundesrepublik in der Region.
2021 betrug das Handelsvolumen beider Staaten mehr als 147,1 Mrd. EUR,
was Polen in dieser Hinsicht zum fünftwichtigsten Handelspartner Deutsch-
lands machte.21 Der Import aus Polen überstieg 68,8 Mrd. (4. Platz), der Ex-
18 Ebenda, S. 6–8.
19 A leksandra Rebel ińska: Polska wyst ąpi o reparacje woje nne wobec Niemiec . Jarosław Ka-
czyński podał kwotę. In: gazetaprawna.pl, https://www.gazetaprawna.pl/wiadomosci/
kraj/artykuly/8528034,kaczynski-reparacje-wojenne-niemcy-kwota.html (27.09.2022).
20 Vgl. Nowy rekord w hand lu Niemiec z Eu ropą Środkową i Wscho dnią. Polska na c zele. In: dw.
com, https://www.dw.com/pl/nowy-rekord-w-handlu-niemiec-z-europ%C4%85-%C5%9
Brodkow%C4%85-i-wschodni%C4%85-polska-na-czele/a-60734358 (22.09.2022).
21 Vgl. Außenhandel Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepu-
blik Deutschland (vorläufige Ergebnisse). In: destatis.de, https://www.destatis.de/DE/
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port betrug 78,3 Mrd. Zum Vergleich lohnt es sich hinzuzufügen, dass sich
das Handelsvolumen Deutschlands mit Russland im vergangenen Jahr nur
auf 59,7 Mrd. EUR belief, was Russland nur auf Platz 13 positionierte (sic!).
Das geradezu bespiellose Wachstum des Handelsvolumens zwischen Polen und
Deutsch land ist in Diagramm 1 dargestellt. Während das Volumen 1994 (um-
gerechnet) nur 10 Mrd. EUR betrug, konnte es sich bis Ende der 1990er Jahre
verdoppeln. Momentan ist es jedoch fast 15-mal so groß wie vor 30 Jahren.
Kann man von einem größeren Erfolg sprechen?
Diagramm 1. Das Handelsvolumen zwischen Polen und Deutschland
in den Jahren 1994–2021 (in Mrd. EUR)
Es ist in keiner Weise übertrieben, davon zu sprechen, dass die Wirtschaftskon-
tak te beider Staaten das vielleicht wichtigste Beispiel für die Normalisierung
der gegenseitigen Beziehungen sind, die so auf ein »höheres Niveau« gehoben
wur den. Zugleich ist diese Tatsache ein eindeutiger Beleg dafür, dass Osterwei-
terung der Europäischen Union ein Erfolg gewesen ist. Gegenwärtig wäre es
schwierig, sich sowohl die polnische als auch die deutsche Wirtschaft ohne der-
art gefestigte wirtschaftliche Beziehungen vorzustellen. Für Polen ist Deutsch-
Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/Tabellen/rangfolge-handelspartner.pdf?blob=
publicationFile (22.09.2022). Polen wurde nur von China, den Niederlanden, den USA
und Frankreich überholt.
Quelle: Statistik: Vgl. Deutschland: Der Handel mit Polen (1992–2020; Mrd. Euro): h t t p s : //
www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/331406/statistik-der-handel-zwischen-
deutschland-und-polen (22.09.2022).
1994 1999 2004 2009 2014 2019 2021
160
140
120
100
80
60
40
20
0
Mrd. EUR
10 22
35
53
87
120
147
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land in dieser Hinsicht der wichtigste Partner, aber auch für die Bundesrepublik
hat der Handel mit Polen in vielen Bereich eine Schlüsselbedeutung.
Dieser Stand der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Polens und der Bundesre-
publik stimmt mit der von Geremek vor 25 Jahren entwickelten Vision überein.
Er sah im deutschen Staat einen wesentlichen Handelspartner und hatte in die-
ser Hinsicht recht. Es lässt sich jedoch nicht bestreiten, dass dieses ema in den
Äußerungen des ehemaligen Außenministers niemals eine bestimmende Rolle
gespielt hat. Vielleicht auch deswegen, weil die deutsch-polnische Wirtschafts-
kooperation »von Tag zu Tag« auf verschiedenen Ebenen stattfand.
5 Schlussfolgerungen
Geremek übte für knapp drei Jahre die Funktion des Außenministers aus. Es
war ein bedeutsamer Zeitraum, weil Polen damals Mitglied des Nordatlanti-
schen Pakts wurde und Gespräche über die Mitgliedschaft in der Europäischen
Union aufnahm.
Während seiner Zeit als Außenminister hatte er wiederholt Gelegenheit, sich zu
den deutsch-polnischen Beziehungen zu äußern. Er nutzte diese Gelegenheiten,
obwohl deutlich zu betonen ist, dass dies nicht im Mittelpunkt seiner Interessen
stand. Er betrachtete die Bundesrepublik als einen der wichtigsten Partner Polens,
wobei er sich sowohl der politischen als auch der wirtschaftlichen Bezüge in den
bilateralen Beziehungen bewusst war. Er versäumte es nicht, in seinen Äußerun-
gen auch die schwierigen emen zwischen den beiden Staaten anzuschneiden,
zu denen er hauptsächlich die Frage der Entschädigungen für die ehemaligen
Häftlinge der Konzentrationslager und Zwangsarbeiter zählte. Generell war er
ein entschiedener Anhänger der deutsch-polnischen Aussöhnung und der Ge-
staltung einer dauerhaften Partnerschaft in einem vereinten, integrierten Europa.
Heute, also 25 Jahre, nachdem Professor Geremek sein Ministeramt antrat, sind
Polen und die Bundesrepublik Mitglieder von NATO und EU. In überwiegen-
dem Maße haben sich die Kontakte beider Staaten erfolgreich entwickelt, in
Übereinstimmung damit, was Professor Geremek damals erwartet hatte. Die
wirt schaftlichen Beziehungen entwickeln sich ständig weiter, was Polen und
Deutschland zu wichtigen Handelspartnern füreinander macht. Die gegensei-
tige Wahrnehmung der beiden Nationen verbesserte sich ebenfalls fortlaufend,
wovon die angeführten Daten aus der öffentlichen Meinungsforschung zeugen.
Was die politischen Beziehungen betrifft, so kann man diese ebenfalls als zu-
mindest gut bezeichnen, was nicht heißen soll, dass sie ideal sind. Von Zeit zu
Zeit machen sich Angelegenheiten bemerkbar, die weiterhin ungelöst sind, wie
z. B. im Herbst 2022 die Frage von Entschädigungen für die aus dem Zweiten
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Welt krieg resultierenden Verluste. Interessanterweise gewinnen sie nicht in den
ge genseitigen Außenkontakten an Bedeutung, sondern werden zu innenpoliti-
schen Gefechten genutzt, insbesondere in Polen.
Geremek war in Bezug auf die Kontakte zwischen Berlin und Warschau Opti-
mist. Diese positive Ausrichtung des Blicks auf die Zukunft hat sich erfüllt.
Nichts destoweniger gibt es emen, die ständig noch intensiver zwischen Berlin
und Warschau diskutiert werden sollten. Nur dann werden beide Staaten im
Stan de sein, ohne überflüssige Emotionen gemeinsam zum Bau eines vereinten
Euro pas beizutragen, das – was man ohne den geringsten Zweifel feststellen
kann – der Traum Geremeks war.
Aus dem Polnischen von Sabine Lipińska
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Rolle und Aufgaben des Weimarer Dreiecks
im Prozess der Erweiterung und Vertiefung
der Europäischen Union
Józef M. Fiszer, Polnische Akademie der Wissenschaften
The role and tasks of the Weimar Triangle in the processes
of expanding and deepening the European Union
The article synthesises the origins of the Weimar Triangle and the subsequent
stages of its work, and shows its goals and role in the processes of expanding
and deepening the European Union. Contradictory assessments and opinions
still circulate in the literature on the subject in Poland, Germany and France. On
the one hand, the great importance of the Weimar Triangle in the process of
Poland’s accession to Euro-Atlantic structures, i. e. to NATO and the European
Union, is emphasised, but its role in the reorientation of Poland’s foreign policy
after 1989 is criticised, stressing that Poland’s raison d’état was subordinated
to the interests of Germany and France. Both in Poland, and in Germany and
France, the Weimar Triangle has often been treated instrumentally, especially
by politicians who use it for current international politics. Meanwhile, there is
no doubt that it not only played a major role in the process of the creation of
the EU, but also determined its expansion and deepening, although its poten-
tial and possibilities were not fully exploited. An analysis of the work of the
Weimar Triangle and its successes and failures shows that it is still an indispens-
able actor in international relations and should continue to play an important
role in the process of European integration. It should also continue to play a
pivotal role in strengthening trilateral Polish-German-French cooperation and
strengthening the position of the European Union in international relations. The
revival of the Weimar Triangle is not only possible, but even necessary in the
current international situation in Europe and the world.
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103
1 Einleitung
Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich Europa, Polen und die Welt direkt vor
unseren Augen verändern, was man durchaus mit den Veränderungen im Jahre
1989 vergleichen kann. Gerade dank der antikommunistischen Opposition in
Polen, die u. a. von Prof. Bronisław Geremek angeführt wurde, kam es damals
zu einem Prozess, der als »Herbst der Völker« (Revolutionen des Jahres 1989) in
die Geschichte einging. In Polen wurde er mit den Verhandlungen am Runden
Tisch sowie mit den Parlamentswahlen initiiert. Er führte zur Systemtransfor-
mation in Polen, zum Fall des Kommunismus in den Staaten Mittel- und Ost-
europas, zur Wiedervereinig ung Deutschlands und zum Zerfall der Sowjet union
(UdSSR) im Jahre 1991.1 Infolgedessen fiel die bipolare Welt des Systems von
Jalta und Potsdam auseinander, ging der Kalte Krieg zu Ende und begann der
Bau einer neuen, demokratischen globalen Ordnung. Polen beteiligte sich aktiv
an diesem Prozess, weil es endlich eine unabhängige, der polnischen Staatsrä-
son entsprechende Außenpolitik führen konnte. Ein wesentliches Ele ment die-
ser Politik und de facto ein ihre Aufgaben und Ziele realisierendes Werkzeug
war das Weimarer Dreieck, dessen Gründung auf ein Treffen der damaligen
Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs am 28.–29. August 1991
zurückgeht. Sein Hauptziel bestand darin, die Unterschiede zwischen den post-
kommunistischen Staaten Mittel- sowie Osteuropas und den westeuropäischen
Ländern abzubauen (Beseitigung der Asymmetrie) und die europäische Inte-
gra tion zu beschleunigen.2 Über die Genese und Ziele des Weimarer Dreiecks
schreibt der ehemalige polnische Außenminister Radosław Sikorski kurz in sei-
nem 2018 veröffentlichten Buch Polska może być lepsza: »Es entstand im Jahre
1991 als unseren EU-Beitritt förderndes Format, als Polen noch ein postkom-
munistischer Bankrotteur und zugleich eine Inspiration war«.3
1 Józef M. Fiszer: The 30th Anniversary of the Sejm and Senate Elections in 1989. Systemic
Transformation in Poland and its Consequences for Europe and the World. In: MyŚl eko-
noMiczna i Polityczna 2019, H. 3, S.139–163; Józef M. Fiszer: Przesłanki wewnętrzne i
międzynarodowe upadku Związku Radzieckiego w 1991 roku oraz jego konsekwencje
geopolityczne dla polityki zagranicznej Polski. In: rocznik inStytutu euroPy ŚroDkoWo-
WSchoDniej 2021, Nr. 19, H. 2, S. 19–41.
2 Józef M. Fiszer, Mateusz Czasak: Trójkąt Weimarski. Geneza i działalność na rzecz inte-
gracji Europy w latach 1991–2016, Warszawa 2019; Bogdan Koszel: Trójkąt Weimarski.
Geneza. Działalność. Perspektywy współpracy, Poznań 2006; Klaus-Heinrich Standke
(Hrsg.): Trójkąt Weimarski w Europie. Das Weimarer Dreieck in Europa. Le Triangle de
Weimar en Europie, Toruń 2009.
3 Radosław Sikorski: Polska może być lepsza, Kraków 2018, S. 177f.
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104
Bezüglich des vor dreißig Jahren gegründeten Weimarer Dreiecks gibt es in der
polnischen, deutschen und französischen Fachliteratur widersprüchliche Be-
wertungen und Meinungen. Einerseits wird seine riesige Bedeutung für Polens
NATO- und EU-Beitritt (12.03.1999 und 1.05.2004) betont, wodurch das post-
sozialistische Polen seine Sicherheit und Position auf internationaler Bühne stär-
ken konnte, andererseits wird seine Rolle in der Reorientierung der polnischen
Außenpolitik nach 1989 herabgemindert, indem man behauptet, die polnische
Staatsräson sei den nationalen Interessen Deutschlands und Frankreichs unter-
geordnet worden. Sowohl in Polen als auch in Deutschland und Frankreich
wurde (wird) das Weimarer Dreieck häufig instrumentalisiert. Dies betrifft vor
allem jene Politikerinnen und Politiker, die es in ihrer aktuellen internationalen
Politik ausnutzen.4
Indessen zeigen die neuesten Meinungsumfragen, dass eine deutliche Mehrheit
der deutschen und polnischen Befragten und fast die Hälfe der französischen Be-
fragten die Zusammenarbeit dieser Länder im Rahmen des Weimarer Dreiecks
als sehr oder ziemlich wichtig beurteilt. In der Minderheit sind jene Befragten,
die meinen, dass eine solche Kooperation für die europäische Inte gra tion belang-
los ist. Bemerkenswerterweise sind die an der internationalen und europäischen
Politik interessierten Befragten in all diesen drei Ländern von der großen Bedeu-
tung der Zusammenarbeit innerhalb des Weimarer Dreiecks überzeugt. Unter
den sich für Politik und internationale Angelegenheiten interessierenden Befrag-
ten glauben 27 Prozent der Franzosen, 32 Prozent der Deutschen und 45 Prozent
der Polen, dass die Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks äußerst
relevant ist. 79 Prozent der Befragten in Polen, 78 Prozent in Deutschland und
69 Prozent in Frankreich halten sie demgegenüber für wichtig.
Die Wahrnehmung der Kooperation innerhalb des Weimarer Dreiecks hängt
auch von der politischen Affinität der Befragten ab, z. B. im Gegensatz zu den
Befürwortern der Politik der oppositionell eingestellten Bürgerplattform (Plat-
forma Obywatelska, PO) sind die Anhänger der gegenwärtig in Polen regieren-
den Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) seltener der
Auffassung, dass diese Zusammenarbeit von großer Relevanz ist. Gleichzeitig
behauptet die überwiegende Mehrheit der PiS-Anhänger, dass diese Zusam-
menarbeit entweder sehr oder ziemlich wichtig ist. Die Wähler der Oppositions-
parteien nehmen sie wiederum als sehr wichtig wahr.
In Deutschland ist die Befürwortung der Zusammenarbeit im Format des Wei-
marer Dreiecks unter den Anhängern aller politischen Parteien hoch, wobei
jedoch auf die Ausnahme der Wählerschaft der Alternative für Deutschland
4 Józef M. Fiszer: Uwarunkowania i cele polityki zagranicznej Polski – aspekty teoretyczne
i utylitarne. In: Adrian Chojan (Hrsg.): Polityka zagraniczna Polski w latach 1989–2020,
Warszawa 2021, S. 19–50.
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(AfD) zu verweisen ist, die weniger enthusiastisch als andere Wähler:innen ein-
gestellt sind: Ein Drittel von ihnen glaubt, dass diese Kooperation keine Be-
deutung hat. In Frankreich sind die Befürworter der Partei Die Republik in
Bewegung (La République En Marche, LREM) Enthusiasten dieses Formats,
während die Wähler der Nationalen Versammlung (Rassemblement National,
RN) und der Kommunistischen Partei Frankreichs (Parti communiste français,
PCF) eine kritische Einstellung dazu haben.5
Der Gegenstand und zugleich das Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Darstel-
lung der Aufgaben sowie der Rolle des Weimarer Dreiecks in den Prozessen der
Erweiterung und der Stärkung der Europäischen Union. Von diesen Prozessen
war auch Polen betroffen, als es am 1. Mai 2004 der EU beitrat. Die Hauptthese
ist wiederum die Konstatierung, dass die Inte gra tion Europas ohne Weimarer
Dreieck sowie ohne die Erweiterungs- und Stärkungsprozesse in den Jahren
1991–2016, und vor allem in den Jahren 1991–2009, weder so dynamisch noch
so effektiv gewesen wäre, wie dies damals tatsächlich der Fall war. Der Weg
Polens in die euroatlantischen Strukturen wäre ebenfalls viel schwieriger gewe-
sen. An dieser Stelle möchte ich erläutern, warum hier die Zäsuren 1991–2016
angenommen wurden. Der Grund dafür liegt darin, dass das Weimarer Drei-
eck in diesem 25-jährigen Zeitraum besonders aktiv war und in großem Maße
zur Erweiterung und Vertiefung der EU beitrug. Nach den Parlamentswahlen
von 2015 in Polen, die die PiS an die Regierung brachten, kam die Aktivität
des Weimarer Dreiecks de facto zum Erliegen. Dafür gab es verschiedene Ursa-
chen, insbesondere jedoch wachsende Spannungen und Konflikte in den pol-
nisch-französisch-deutschen Beziehungen. Dank ihres Wahlsiegs nahm die PiS
eine diametrale Richtungsänderung in der polnischen Außenpolitik vor. Die
Regierungen der Bürgerplattform hatten sich auf den Aufbau der stabilen Posi-
tion Polens in der Welt und in Europa gestützt, was nicht selten Kompromisse
verlangte. Die PiS-Regierung machte das Handeln auf internationaler Bühne
hingegen im Geiste der eingeschlagenen Richtung einer Politik des »Aufstehens
von den Knien« von der Innenpolitik abhängig, die wiederum einer Stärkung
der Position dieser Partei in den Umfragen untergeordnet wurde. Bis zum Jahr
2016 war Polen als Modell für eine gelungene politische und wirtschaftliche
Transformation wahrgenommen worden. Die in Warschau von der damaligen
Regierung erarbeitete Kooperationsstrategie sah die Verbesserung der Bezie-
hungen zu den wichtigsten EU-Ländern vor und umfasste Ambitionen, in den
Kreis der wichtigsten Spieler aufgenommen zu werden. Der gute Ruf Polens
ermöglichte die Umsetzung der Initiative der Östlichen Partnerschaft, und die
Beziehungen Warschaus im Brüsseler Politikbetrieb dienten auch der aktiven
5 Jacek Kucharczyk: Z szacunkiem dla przeszłości, z odwagą w przyszłość. Jak Polacy,
Niemcy i Francuzi postrzegają Trójkąt Weimarski i jego rolę w UE, Warszawa 2021, S. 30.
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106
Kooperation der Länder innerhalb des Weimarer Dreiecks zugunsten der Erwei-
terung und Vertiefung der EU. Mit Regierungsantritt der PiS brachen Konflikte
aus, die zur Schädigung der Glaubwürdigkeit Polens in Europa führten. Die
unwirksame Europapolitik, verursacht durch fehlende Koordination innerhalb
der Regierung, gesellte sich zur Krise im Gerichtwesen und verband sich mit
einer unvernünftigen Auswahl von Partnern innerhalb der EU. Im Jahre 2016
verkündete der Außenminister Witold Waszczykowski den Plan, eine strategi-
sche Partnerschaft mit Großbritannien einzugehen, aber bereits ein halbes Jahr
später kam es zum Brexit-Referendum. Gleichzeitig geriet Polen in Konflikt mit
seinen beiden Schlüsselpartnern Deutschland und Frankreich. Der Grund für
den Streit lag hauptsächlich im Bau der Unterwasser-Gasleitung Nord Stream
2 sowie im Abbruch der Verhandlungen mit Frankreich bezüglich des Kaufs
der Mehrzweckhubschrauber von Airbus. Infolgedessen kam die Aktivität des
Weimarer Dreiecks zum Erliegen und das mit der EU im Streit liegende Polen
befand sich bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine in einer schwierigen Lage.6
Die Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks wurde erst an der
Jahreswende 2021/2022 im Zusammenhang mit dem 30-jährigen Jubiläum des
Weimarers Dreiecks sowie angesichts der ungerechtfertigten und grundlosen
militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine wieder aufgenommen.
Die erneuten kriegerischen Handlungen, die die Russische Föderation seit dem
24. Februar 2022 gegen die Ukraine ausführt, sind ein Verstoß gegen die Grund-
prinzipien des Völkerrechts, die in der Charta der Vereinten Nationen enthalten
und auch aufgrund des internationalen Gewohnheitsrechts verbindlich sind.
Sie stellen das Wesen jener Rechtsordnung infrage, die die Beziehungen in der
gegenwärtigen internationalen Gemeinschaft regelt. Der Ausbruch des Krieges
in der Ukraine veränderte zugleich die Position Polens auf internationaler Ebe-
ne sowie dessen Beziehungen zu Frankreich und Deutschland diametral. Der
Westen stellte fest, dass die aus Warschau zu hörenden Warnungen vor Russland
nicht etwa nur aus schmerzhaften Wunden der Vergangenheit herrührten, son-
dern auf Kalkülen basierten, die in der Realpolitik verwurzelt sind. Frankreich
und Deutschland hatten die Bedrohungen, die aus einer Zusammenarbeit mit
Wladimir Putin resultierten, lange Zeit übersehen und sie lediglich unter dem
Gesichtspunkt des eigenen – vor allem wirtschaftlichen – Nutzens betrachtet.
Aus diesem Grund wurden sie von der Aggression Russlands gegen die Ukraine
völlig überrascht. Polen steht wiederum vor der Chance, die gegenwärtige Ver-
besserung seines Images in eine anhaltende Stärkung seiner Position auf der
internationalen Bühne – darunter auch in der EU und im Weimarer Dreieck –
zu verwandeln. So kann Polen auch zur Wiederaufnahme seiner Aktivität zu-
6 Robert Dutczak: Teraz mamy złoty róg. In: Ga zeta Wyborcza vom 11.04.2022, S. 11.
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107
gunsten der Erweiterung und Vertiefung der EU beitragen. Der polnische Staat
kann eine große Rolle u. a. beim EU-Beitritt der Ukraine spielen.
2 Genese des Weimarer Dreiecks als spezifisches Subjekt
der gegenwärtigen internationalen Beziehungen
Zusammen mit dem Fall des Kommunismus in den Mittel- und Osteuropa-
staaten sowie dem Ende des Kalten Krieges tauchte die Idee der regionalen
Inte gra tion in den internationalen Beziehungen auf. Infolgedessen kam es zur
Gründung des Visegrád-Dreiecks und des Weimarer Dreiecks.7 Es entstand in
einem für Polen und Europa, insbesondere für Mittel- und Osteuropa, schwieri-
gen Moment: nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990,
aber vor dem Zerfall der UdSSR, die gegenüber der Systemtransformation ihrer
einstigen Verbündeten sowie gegenüber deren euroatlantischen Bestrebungen
negativ eingestellt war. In der UdSSR / Russischen Föderation dominierte die
Tendenz, die Interessen und die Position Polens in Europa zu ignorieren und zu
bagatellisieren.8 Gleichzeitig stellte der Westen mit den USA an der Spitze Polen
viele schwierige Bedingungen, von deren Erfüllung Polens Mitgliedschaft in den
euroatlantischen Strukturen abhängig gemacht wurde.9 Aus diesem Grund spiel-
te das Weimarer Dreieck eine große Rolle in den Bemühungen Polens um den
NATO-Beitritt sowie um dessen Mitgliedschaft in den Europäischen Gemein-
schaften / in der EU.10 Die Hauptthese bildet hier die Feststellung, dass die Inte-
7 Jerzy Stańcz yk: Nowy regionalizm w Europie Środkowej. In: WojSko i WychoWanie 1999,
H. 2, S. 94; Zbigniew Czachór: Regionalizm w stosunkach międzynarodowych. In: Wło-
dzimierz Malendowski, Czesław Mojsiewicz (Hrsg.): Stosunki międzynarodowe, Wro-
cław 1998, S. 249–255; Erhard Cziomer, Lubomir W. Zyblikiewicz: Zarys współczesnych
stosunków międzynarodowych, Warszawa 2004, S. 236–246; Place and Role of the Vi-
segrád Group Countries in the European Union. Edited by Józef M. Fiszer, Adrian Chojan,
Paweł Olszewski, Warsaw 2019.
8 Katarzyna Przybyła: Rosyjska polityka wobec Zachodu – wybrane zagadnienia. In:
bezPieczeń StWo naroDoWe 2013, H. 26, S. 67–89; Robert Jakimowicz: Zarys stosunków
polsko- rosyjskich w latach 1992–1999, Warszawa 2000; Alexander V. Kozhemiakin,
Roger E. Kanet: Russia and Its Western Neighbours in the »Near Abroad«. In: Dies.: The
Foreign Policy of the Russian Federation, London 1997, S. 35–26.
9 Adrian Hyde-Price: Dryf kontynentalny? Polska a zmiany relacji euroatlantyckich. In: Olaf
Osica, Marcin Zaborowski (Hrsg.): Nowy członek »starego« Sojuszu. Polska jako nowy
aktor w euroatlantyckiej polit yce bezpieczeństwa, Warszawa 2002; Józef M. Fiszer: Sta-
nowisko Rosji wobec akcesji Polski do NATO i Unii Europejskiej. In: MyŚl ekonoMiczna i
Polityczna 2018, H. 1, S. 264–289.
10 Zum Thema der Genese und Aktivität des Weimarer Dreiecks liegt eine breite Fachlite-
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gra tion Europas nach dem Kalten Krieg ohne das Weimarer Dreieck – insbe-
sondere in den Jahren 1991–2009 – nicht so dynamisch und nicht so effizient
gewesen wäre wie dies damals tatsächlich der Fall war. Ohne dieses Format wäre
der Weg Polens zu den euroatlantischen Strukturen auch viel schwieriger ge-
wesen.11
Das Weimarer Dreieck wurde 1991 ins Leben gerufen und seine Entstehung
wurde durch viele komplexe Prämissen beeinflusst. Im Allgemeinen lassen sie
sich in objektive und subjektive sowie in internationale und inländische Vor-
aus setzungen einteilen, die durch die internationale Si tua tion Deutschlands,
Frank reichs und Polens determiniert waren. Eigentlich hatten all diese drei
Staaten ihre Gründe für die Konstituierung des Dreiecks: Deutschland woll-
te nach seiner Wiedervereinigung, vor der Polen und Frankreich Angst hat-
ten, zeigen, dass der deutsche wiedervereinigte Staat keine Bedrohung für seine
nächsten Nachbarländer – und generell für Europa – ist und dass ihm sehr
daran gelegen ist, die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit zugunsten
der Inte gra tion und Sicherheit unseres Kontinentes fortzusetzen. Frankreich sah
wiederum im Dreieck eine Möglichkeit zur Kontrolle der Innen- und Außen-
politik des wiedervereinigten Deutschland sowie die Chance auf die Stärkung
seiner sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Beendigung des
Kalten Krieges verkleinernden Rolle als Großmacht in Europa.12 Die enge Ko-
operation Frankreichs und Deutschlands im Rahmen des Weimarer Dreiecks
ratur vor, aber die Mehrheit dieser Publikationen entstand im ersten Jahrzehnt des 21.
Jahrhunderts und umfasst nicht die Gesamtheit seiner Aktivitäten. Besondere Erwähnung
verdienen: Bogdan Koszel: Trójkąt Weimarski. Geneza-działalność-perspektyw y współ-
pracy, Poznań 2006; Helena Wyligała: Trójkąt Weimarski. Współpraca Polski, Francji
i Niemiec w latach 1991–2004, Toruń 2010; Stanisław Parzymies: Trójkąt Weimarski
w poszerzonej Unii Europejskiej. In: SPraWy MięDzynaroDoWe 2004, H. 2; Helena Bo-
gusławska, Aleksandra Konieczna (Hrsg.): Współpraca polityczno-wojskowa w ramach
Trójkąta Weimarskiego i Trójkąta Polska-Niemcy-Dania, Warszawa 2000; Maciej Bąk:
Trójkąt Weimarski w latach 1991–1999 i jego znaczenie dla bezpieczeństwa europej-
skiego. In: PrzeGl ąD StrateGiczny 2013, H. 2.
11 Bogdan Koszel: Rola Francji i Niemiec w procesie integracji Polski z UE. In: Tadeusz Wal-
las (Hrsg.): Polska w Europie w XXI wieku, Poznań 2002, S.121–147; Marcin Zaborowski
(Hrsg.): Nowy członek »starego« Sojuszu. Polska jako nowy aktor w euroatlantyckiej
polityce bezpieczeństwa, Warszawa 2002; Maciej Raś: Ewolucja polityki zagranicznej
Rosji wobec Stanów Zjednoczonych i Europy Zachodniej w latach 1991–2001, Warsza-
wa 2005.
12 Fryderyk Bozo: »Winners« and »Losers«: France, the United States, and the End of the
Cold War. In: DiPloMatic hiStory 33 (2009), H. 5, S. 926–928; Victor Malingre, Michel.-P.
Subtil: Entente cordiale contre l’Histoire. In: le MonDe vom 12.09.2009, S. 8; Stanisław
Parzymies: Przyjażń z rozsądku. Francja i Niemcy w nowej Europie, Warszawa 1994,
S . 57– 106 .
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brachte eine gemeinsame Initiative zugunsten des Aufbaus der EU mit sich, was
sich nach der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht am 7. Februar 1992
vollzog. Die EU sollte ein Allheilmittel für die Befriedigung des französischen
Ehrgeizes sein, der sich im Pariser Streben danach ausdrückte, eine wichtige
Rolle in der Welt nach dem Kalten Krieg zu spielen.13
Das erste Treffen der Außenminister von Frankreich, Deutschland und Polen,
das als Anfang der trilateralen Kooperation angesehen werden kann, fand am
28. und 29. August 1991 in Weimar statt, mithin einige Monate nach der Wie-
dervereinigung Deutschlands und fast drei Monate nach der Unterzeichnung
des deutsch-polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftli-
che Zusammenarbeit sowie vier Monate nach dem Abschluss des polnisch-fran-
zösischen Vertrags über Freundschaft und Kooperation. Der damalige Außen-
minister der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Hans-Dietrich Genscher lud
den französischen und den polnischen Außenminister, Roland Dumas und
Krzysztof Skubiszewski, nach Weimar – in die in der Nähe von Buchenwald
gelegene Stadt Goethes und Schillers – ein. Die eingeladenen Außenminister
stammten also aus Ländern, in denen man, wie ich bereits oben schrieb, große
Angst vor dem wiedervereinigten Deutschland sowie dessen Außenpolitik hatte.
Anlass zum Treffen bot der 242. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe.
Während der Begegnung besprachen die drei Minister die internationale, durch
den Zerfall des Systems von Jalta und Potsdam sowie durch die Wiedervereini-
gung Deutschlands bedingte Si tua tion in Europa und umrissen die Richtungen
der gemeinsamen Zusammenarbeit. Sie unterschrieben die »Gemeinsame Er-
klärung zur Zukunft Europas«, in der die Ziele und Aufgaben des Weimarer
Dreiecks dargestellt wurden.14 Darin wurde u. a. folgende Tatsache betont:
Europa steht an einem historischen Wendepunkt seiner Geschichte. Seine
Völker und Staaten haben den Weg zu neuen Formen des Zusammenlebens
beschritten. Wir sind uns bewußt, daß für das Gelingen zukunftsfähiger
Strukturen europäischer Nachbarschaft Polen, Deutsche und Franzosen
maßgebliche Verantwortung tragen. […] Es gilt jetzt, die Netze der Koopera-
tion immer dichter zu knüpfen, die die Völker und Staaten über einst trennen-
de Grenzen hinweg auf allen Ebenen und in der ganzen Breite des Lebens
miteinander verbinden. Wir brauchen eine Vielfalt von Beziehungen in Euro-
pa und zwischen seinen Regionen. Insbesondere durch grenzüberschreiten-
de regionale Zusammenarbeit wird das Zusammenwachsen Europas für die
13 Parzymies: Przyjaźń z rozsądku, S. 181f; Andrzej Szeptycki: Czynnik niemiecki w polityce
wschodniej V. Republiki (1958–1991). In: StoSunki MięDz ynaroDoWe 22 (2000), H. 3–4.
14 Gemeinsame Erklärung der Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen zur Zu-
kunft Europas Weimar, 29.August 1991, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussen-
politik/europa/zusammenarbeit-staaten/-/199100 (30.10.2022).
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Bürger erfahrbar. Sie ist zwischen Deutschland und Frankreich selbst-
verständlich geworden, an der Grenze zwischen Deutschland und Polen ist
sie ein Schlüssel für die künftige Gemeinsamkeit der Staaten und ihrer Bürger.
Es werden immer mehr gesamteuropäische konföderale Strukturen entste-
hen. […] Die Stärke des neuen Europa liegt in der vielfältigen Vi ta lität seiner
Institutionen. Die Europäische Gemeinschaft ist ihr Kern. Sie muß ihre Inte gra-
tion fortsetzen. […] Polen, Deutsche und Franzosen haben gemeinsam mit
ihren Partnern im KSZE-Prozeß das große Grundwerk der ›Charta von Paris
geschaffen. Auf dieser Basis soll sich die europäische Friedensordnung ent-
wickeln. In diesem Zusammenhang sind die politischen Verträge, die unsere
Staaten untereinander abgeschlossen haben, von besonderer Bedeutung.
Hierunter fallen insbesondere die Verträge, die Polen in jüngster Zeit mit
Frankreich (Vertrag über Freundschaft und Solidarität vom 9.April 1991) und
mit Deutschland (Vertrag über gute Nachbarschaft und freund schaftliche Zu-
sammenarbeit vom 17. Juni 1991) unterzeichnet hat. […] Frankreich und
Deutschland unterstützen alle Anstrengungen, Polen und die neuen Demo-
kratien an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen. Sie drängen auf
einen raschen Abschluß von Assoziierungsabkommen mit den De mo kratien
Mittel- und Südosteuropas und fördern den Ausbau des politischen Dialogs.
Es entspricht den Zielen der Europäischen Gemeinschaft, diesen neuen De-
mokratien den Weg zur Mitgliedschaft zu eröffnen.[…] In ge meinsamer An-
strengung müssen wir alles tun, um menschenwürdige Existenz da zu schaf-
fen, wo die Menschen leben. Nur so können wir ihnen das Schick sal der
Flucht und der Wanderbewegungen in und nach Europa ersparen.15
Daraus ergibt sich das Hauptziel des Weimarer Dreiecks: das Durchbrechen der
Barrieren zwischen dem wiedervereinigten Deutschland, Frankreich und Polen
sowie die Förderung der Zusammenarbeit, dank der die Teilung des Alten Kon-
tinents überwunden, die Bedenken Frankreichs hinsichtlich der Großmacht-
ambitionen Deutschlands in der mitteleuropäischen Region ausgeräumt und
deutsche Einflüsse in Europa ausgeglichen werden konnten. Auf diese Art und
Weise wollte der damalige Präsident François Mitterrand die französische Au-
ßenpolitik nach der Devise des Gründers der Fünften Republik, Gen. Charles
de Gaulle fortsetzen: »Ohne Größe kann Frankreich nicht Frankreich sein«.16
15 Ebenda. In allen Zitaten wird die originale Rechtschreibung beibehalten.
16 Charles de Gaulle: Mémoires de guerre et Mémoires d’espoir, Paris 2016; Kazimierz M.
Ujazdows ki: V Republika Francuska. I dee, konsty tucja, interp retacje, Kraków 2010, S. 45f.;
Waldemar J. Szczepański: Charles de Gaulle i Europa, Warszawa 2001; Andrzej Szep-
tycki: Dziedzictwo generała de Gaulle’a w polityce zagranicznej V Republiki Warszawa
2005; Stani sław Parzym ies: Le Triangle de Weima r a-t-il encore un e raison d’étre d ans une
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Das Format des Weimarer Dreiecks hatte also eine adäquate historische und
geopolitische Grundlage. Die informellen Anfangstreffen wandelten sich in re-
gelmäßige trilaterale Gespräche. Sie verfolgten das Ziel, die Zusammenarbeit
zwischen den drei Staaten zu verbessern und enger zu gestalten sowie die Inte-
gra tionsprozesse im postsozialistischen Europa zu beschleunigen. In den Folge-
jahren wurde die Weimarer Kooperation um die Begegnungen der Verteidi-
gungs- (1997), Justiz- (1997) und Finanzminister (2001) erweitert sowie auf
die parlamentarische Ebene übertragen (1992). Zum größten politischen Erfolg
dieses Formats wurde aber die Aufwertung seines Rangs in Form von Treffen
der Staats- und Regierungschefs (seit 1998). Hierbei ist zu betonen, dass sich die
Weimarer Kooperation nicht nur auf die politische, sondern auch auf die gesell-
schaftliche Zusammenarbeit erstreckte. Zu nennen sind hier die Kooperation
und der Austausch im Jugendbereich, Gemeinde- und Städtepartnerschaften
sowie die kulturelle Zusammenarbeit.
Wie bereits erwähnt lag das vorrangige Ziel der deutsch-polnisch-französischen
Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks in der Überwindung der
Teilung Europas sowie in der Heranführung der Staaten Mittel- und Osteuropas
– vor allem Polens – an die Gemeinschaft der europäischen Staaten. Angesichts
dessen, dass »Polen, Franzosen und Deutsche besonders für die Schaffung sol-
cher Formen der guten Nachbarschaft in Europa verantwortlich sind, die sich
in Zukunft bewähren werden«, beschlossen die Minister, den Aufbau dauer-
hafter Strukturen für die Zusammenarbeit zu initiieren. Nachdem dieses Ziel
mit Polens NATO- und EU-Beitritt realisiert worden war, wurde es notwendig,
die Aufgaben der Weimarer Kooperation aufs Neue zu definieren. Innerhalb der
erweiterten EU begann das Weimarer Dreieck die Rolle eines Forums für Kon-
sultationen und die Ausarbeitung gemeinsamer Positionen zu den wichtigsten
Angelegenheiten der europäischen Politik zu erfüllen. Die hauptsächlichen Auf-
gaben der Kooperation in diesem Format umfassten die Stärkung der Gemeinsa-
men Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und externe Beziehungen der
EU – besonders zu den östlichen Ländern. Eine bedeutende Rolle in der Stärkung
der trilateralen Zusammenarbeit spielten auch die bereits erwähnte gesellschaft-
liche Dimension sowie die interparlamentarische Zusammenarbeit. Die ersten
Jahre der Kooperation innerhalb des Weimarer Dreiecks nobilitierten Polen auf
der internationaler Bühne und bestätigten die mit diesem Format verbundenen
Europe en voie d’unificati on? In: annuaire FrançaiS De relationS internationaleS 2010, Bd. XI,
S. 515–530; Frankreich / De Gaulle. Ewige Kälte. In: Der SPieGel 14/19 67, https://www.
spiegel.de/politik/ewige-kaelte-a-4e9dec98-0002-0001-0000-000046450735
(31.10.2022).
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Erwartungen. Danach verflochten sich die Routinebegegnungen mit Versuchen
eines lebendigen Dialogs und einer Erweiterung der trilateralen Beziehungen.17
Das Weimarer Dreieck (eigentl. Komitee zur Förderung der Deutsch-Fran-
zösisch-Polnischen Zusammenarbeit) wurde mit der Zeit zu einem festen Be-
standteil der europäischen Politik, und zwar sowohl in Form der regelmäßigen
Sitzungen der drei Außenminister als auch in Form anderer, Polen, Deutschland
und Frankreich verbindender Initiativen (inkl. der Begegnungen der Staatsober-
häupter). Die trilaterale Kooperation im Rahmen dieses Formats ging weit über
seine Grenzen hinaus und war für die Inte gra tion Europas in der Zeit nach dem
Kalten Krieg sowie für den Aufbau einer neuen Weltordnung von Belang.
Abschließend lässt sich, wie bereits ausgeführt, konstatieren, dass das Hauptziel
des Weimarer Dreiecks darin bestand, die Unterschiede zwischen den armen,
postsozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas und den reichen Staaten
Westeuropas abzubauen (Beseitigung der Asymmetrie), die europäische Inte gra-
tion zu beschleunigen sowie die Position Polens auf der internationalen Bühne
zu stärken. Mit Blick auf Polen wurde dieses Ziel weitestgehend erreicht. Die
wirtschaftlich-gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Ländern Ost- und
Westeuropas sind nach wie vor spürbar, wie dies auch bei den Unterschieden
zwischen den »neuen« und »alten« Bundesländern der Fall ist.
Im Zusammenhang damit bin ich der Auffassung, dass die vielseitigen Bezie-
hungen zwischen Polen, Deutschland und Frankreich weiter gepflegt werden
müssen. Darüber hinaus sollten sie zu einer treibenden Kraft und zu einem Bin-
demittel für die postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas werden,
die unter gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten weiter-
hin Barrieren überwinden müssen, die als Ergebnis der vergangenen Jahrzehnte
zu betrachten sind. Das Weimarer Dreieck sollte somit zum eigentlichen Motor
der Erweiterung und Vertiefung der EU sowie zu einem wichtigen Bindeglied
im Sicherheitssystem Europas werden.18
17 Roman Kuźniar: Droga do wolności. Polityka zagraniczna III R zeczypospolitej, Warszawa
2008, S. 60; Włodzimierz Cimoszewicz, Krajobraz za horyzontem. Polityka zagraniczna
RP po wejściu do Unii Europejskiej. In: SPraWy MięDzynaroDoWe 2004, H. 2, S. 35 –49.
18 Jerzy Holzer: Próba bilansu i oceny stosunków polsko-niemieckich w latach 1989–1995.
In: Jerzy Holzer, Józef M. Fiszer (Hrsg.): Stosunki polsko-niemieckie w latach 1970–1995.
Próba bilansu i perspektywy rozwoju, Warszawa 1998, S. 55.
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113
3 Einstellung und Rolle des Weimarer Dreiecks
im Prozess der Erweiterung und Vertiefung der EU
Das Weimarer Dreieck konnte viele Erfolge verbuchen, musste aber auch Nie-
derlagen und verpasste Chancen hinnehmen. Nach 1989 spielte es eine positive
Rolle im Prozess der »Rückkehr« nach Europa. Eine Vielzahl von Wissenschaft-
ler:innen und Expert:innen stel lt unterstreicht unmissverst ändlich, dass da s 1991
ins Leben gerufene Dreieck eine besondere Rolle bei den Erweiterungsprozessen
von NATO und EU sowie bei Polens Bemühungen um die Mitgliedschaft in
den euroatlantischen Strukturen spielte.19 Es wurde zu einem wichtigen Inst-
rument der Einbindung des polnischen Staates in die europäische Politik und
förderte die Inte gra tion Polens in die euroatlantischen Strukturen. Besonders im
Kontext der polnischen Ambitionen und Beitrittsbemühungen soll auf die euro-
atlantische Richtung der deutsch-polnisch-französischen Zusammenarbeit ver-
wiesen werden. Die Mehrheit der seit 1991 gegenüber den Staaten Mittel- und
Osteuropas unternommenen Schritte wurden von der deutschen Politik im Tan-
dem mit Frankreich umgesetzt. Die beiden Staaten konnten dadurch auch ihre
eigenen politischen Ziele erreichen und sich dabei gegenseitig kontrollieren. Das
wiedervereinigte Deutschland machte geltend, dass seine Ostpolitik den Stand-
punkt der EU mitberücksichtigt und dass sein Engagement in der Region nicht
auf das Erreichen einer Hegemonie in Europa hinauslaufe, wovor sich Polen,
Frankreich und auch weitere Staaten zum damaligen Zeitpunkt fürchteten.20
Frankreich vertrat den Standpunkt, dass die von Deutschland für seine Interes-
sen in ganz Europa ausgehenden Gefahren dank der gemeinsamen Ostpolitik
mit Polen beschränkt werden konnten. Diese Strategie war nicht unbedingt da-
rauf zurückzuführen, dass Frankreich Polen als wichtigsten Partner und Füh-
rungsnation in Mittel- und Osteuropa angesehen hätte, sondern sie beruhte
vielmehr auf der Notwendigkeit, Deutschland zur Realisierung einer gemein-
samen, Frankreichs Interessen berücksichtigenden Europapolitik zu bewegen.
In praktischer Hinsicht kam die gemeinsame Politik Deutschlands und Frank-
reichs in jenen Schritten zum Ausdruck, mit denen Polen sukzessive ins euro-
19 Józef M. Fiszer: Przesłanki wewnętrzne i międzynarodowe upadku Związku Radzieckie-
go w 1991 roku oraz jego konsekwencje geopolityczne dla polityki zagranicznej Polski.
In: rocznik euroP y ŚroDkoWo-WSchoDn iej 2021, Bd. 19, H. 2; Józef M. Fiszer: Stanowisko
Rosji wobec akcesji Polski do NATO i Unii Europejskiej. In: MyŚl ekonoMiczna i Polityczna
2018, H. 1.
20 Józef M. Fiszer: The Role of Reunified Germany in Poland’s Accession to NATO and the
European Union. In: Polite ja 2021, Nr. 6, S. 51–74.
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114
atlantische System eingeführt wurde.21 Ohne Frankreichs und Deutschlands
Unterstützung während der NATO- und EU-Beitrittsverhandlungen hätte sich
unsere Mitgliedschaft verzögern und unter weniger gewinnbringenden Um-
ständen vollziehen können.22 Was die NATO anbelangt, so lag der Schlüssel zur
Mitgliedschaft Polens in ihren Strukturen selbstverständlich in Washington.
Aber auch dabei spielten Deutschland und Frankreich eine bedeutende Rolle,
denn ohne sie hätte die Idee einer NATO-Osterweiterung auf einen deutlich
heftigeren Widerstand Russlands stoßen können, als dies tatsächlich in den Jah-
ren 1991–1999 der Fall gewesen ist. Über Polens EU-Beitritt entschied wieder-
um hauptsächlich das deutsch-französische Tandem.23
Das Weimarer Dreieck ist ohne Zweifel einer der größten Erfolge der polnischen
Außenpolitik, deren Ziele nach 1989 die bereits oben erwähnte »Rückkeh
nach Europa sowie die Mitgliedschaft in den euroatlantischen Strukturen um-
fassten, um so die Souveränität des Staates zu garantieren und seine Sicherheit
zu stärken. Unter diesem Aspekt erfüllte das Weimarer Dreieck seine Rolle gut.
Überdies trug es zur Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit
zugunsten der Inte gra tion Europas sowie zur Stärkung der Position und Rolle
Polens in der postkommunistischen Welt bei.
Es ist der ese zuzustimmen, dass die Gründung des Weimarer Dreiecks eines
der Elemente der nach dem Fall des Kommunismus im Jahre 1989 von Polen
gekonnt geführten Außenpolitik war, deren wichtigste Punkte unter schwie-
rigen geopolitischen und geoökonomischen Bedingungen realisiert wurden.
Über seine Schaffung entschieden auch das wohlwollende Verhalten Deutsch-
lands und Frankreichs gegenüber Polen sowie ihre sich mit der Gründung eines
solchen Formats verbindenden Erwartungen (Interessen). Viele Politiker:innen
und Expert:innen nahmen im Weimarer Dreieck die Antriebskraft der Inte gra-
tionsprozesse in Europa in der Zeit nach dem Kalten Krieg wahr. Sie waren der
Ansicht, dass die gemeinsamen wirtschaftlichen, politischen, demographischen
und militärischen Potentiale Frankreichs sowie des wiedervereinigten Deutsch-
lands und des demokratischen Polens dazu führen konnten, dass Europa eine
bedeutsame Rolle beim Aufbau einer postsozialistischen, multipolaren, demo-
21 Ronald Asmus: NATO – otwarcie drzwi, Warszawa 2002, S. 279–290; Stanisław Parzy-
mies: Unia Europejska a Europa Środkowa. Perspektywy współpracy w dziedzinie bez-
pieczeństwa. In: SPraWy M DzynaroDoWe 1999, Nr. 3, S. 83–111.
22 Piotr Mickiewicz: Współpraca wojskowa Polski, Francji i Niemiec. In: WojSko i Wycho-
Wanie 2002, Nr. 2; Stanisław Michałowski: Nowa jakość w stosunkach z Niemcami. In:
Roman Kuźniar, Krzysztof Szczepanik (Hrsg.): Polityka zagraniczna RP 1989–2002,
Warszawa 2002, S. 145–147; Stanisław Sulowski (Hrsg.): Polska–Niemcy – nadzieja i
zaufanie, Warszawa 2002.
23 Józef M. Fiszer: Stanowisko Rosji, S. 264–289; Jadwiga Kiwerska: Partnerstwo w przy-
wództ wie? Stany Zjednoczone i Niemcy (1989–2016). Perspekty wa polska, Poznań 2017.
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kratischen und friedenserhaltenden Weltordnung spielen würde. Aus objektiven
Gründen materialisierten sich diese Erwartungen nicht in vollem Umfang. Die
sich rasch verändernde internationale Si tua tion und das Verhalten Russlands,
das unter der Führung von Wladimir Putin zu einer aggressiven Außenpolitik
gegenüber seinen Nachbarländern, der EU und der NATO zurückkehrte, er-
schwerten den Bau einer multipolaren und demokratischen Weltordnung.
Ganz ohne Zweifel beschleunigte das Weimarer Dreieck den Abschluss des
Vertrags von Maastricht, der auf Anregung Frankreichs und Deutschlands am
7. Februar 1992 unterschrieben wurde und am 1. November 1993 in Kraft trat.
Auf seiner Grundlage wurde die EU geschaffen und die weitere Inte gra tion Eu-
ropas beschleunigt. In diesem Zusammenhang schreibt Jan Barcz:
Er wird zu Recht als »Meilenstein« in der Ent wicklung der europäischen Inte-
gra tion bezeichnet, vor allem aber als eine »Wende« in diesem Inte gra-
tions prozess. Die ersten, vom unabhängigen Polen unternommenen Schritte
zugunsten einer Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften fielen
mit dem Abschluss der Arbeiten am Vertrag fielen: Am 16.Dezember 1991
wurde das Assoziierungsabkommen (Europa-Abkommen) unterzeichnet,
das am 1.Februar 1994 (der Teil mit den Maßnahmen zur Handelsliberali-
sierung – im März 1992) in Kraft trat. Mitte Juni 1993 trafen die damaligen
Mitgliedstaaten die grundlegende Entscheidung, die u. a. Polen den Weg
zur EU-Mitgliedschaft öffnete.24
Der Vertrag von Maastricht, offiziell bekannt als Vertrag über die Europäische
Union (EUV), ist ein unbefristetes internationales Abkommen, das am 7. Feb-
ruar 1992 unterzeichnet wurde und nach seiner Ratifizierung am 1. November
1993 in Kraft trat. Er war ein Meilenstein auf dem Weg zur Inte gra tion Euro-
pas, die nach dem 2. Weltkrieg begonnen hatte. Nach dem Kalten Krieg wurde
er wiederum zu einem Beschleuniger dieser Inte gra tion. Der Vertrag von Maas-
tricht definierte die EU als »neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer
engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen möglichst offen
und möglichst bürgernah getroffen werden«.25 Die Aufgabe der EU besteht in
der kohärenten und solidarischen Gestaltung der Beziehungen zwischen den
Mitgliedstaaten und ihren Völkern.26
24 Jan Barcz: 30 lat temu podpisany został Traktat z Maastricht. In: Monitor konStytucyjny.
konStytucja. PańStWo, Pr aWo vom 5.02.2022, S. 1.
25 Art. 1, Vertrag über die Europäische Union (Konsolidierte Fassung), https://eur-lex.europa.
eu/resource.html?uri=cellar:2bf140bf-a3f8-4ab2-b506-fd71826e6da6.0020.02/
DOC_1&format=PDF (31.10.2022.
26 Janusz Józef Węc: Spór o kształt ustrojowy Wspólnot Europejskich i Unii Europejskiej w
latach 1950–2010. Między ideą ponadnarodowości a współpracą międzyrządową,
Kraków 2012, S. 209–215.
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Nach wie vor dominieren in Wissenschaft und Politik widersprüchliche esen
bezüglich des Zustandes, der Aufgaben, der Ziele und der Zukunft der EU.
Zum einen wird die Meinung vertreten, dass die EU bereits ein spezifisches
System ihrer internen Vernetzung herausgebildet und ihre eigene Struktur sowie
ein originelles Regierungsverfahren ausgebaut hat. Demzufolge spiegeln ihre
Hauptorgane ihr eigenes System aus Legislative, Exekutive und Judikative, die
mit beschränkten Zwangsmitteln ausgestattet ist, wider. Dieser Ansicht gemäß
bestimmt die EU die günstigste Entwicklungsrichtung für ganz Europa. Zum
anderen findet sich auch hin und wieder die Ansicht, dass die EU seit Jahren in
eine unbekannte Richtung abdriftet – ein Zustand, der eine ernste Gefahr für
sie darstelle. Deswegen bedürfe sie einer Vervollkommnung der Gemeinschafts-
strukturen, der Erarbeitung neuer Prinzipien der Zusammenarbeit sowie einer
breiteren Gestaltung des europäischen Bewusstseins in den Mitgliedstaaten so-
wie unter den Bürgerinnen und Bürgern.
Der Prozess der EU-Erweiterung, dessen Ergebnis der Beitritt neuer Mitglied-
staaten am 1. Mai 2004 war, dauerte wiederum jahrelang. Ohne das Weimarer
Dreieck, ohne die Unterstützung Deutschlands und Frankreichs sowie ohne frü-
here institutionelle Reformen der EU wäre die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
unmöglich gewesen. Unter diesen zwei Ländern war es Deutschland, das ein
größeres Engagement für die EU-Erweiterung zeigte. In der Zeit der »deutsch-
polnischen Interessengemeinschaft« (Regierungszeit von Helmut Kohl) wurde
Deutsch land als Polens Anwalt im Prozess der europäischen Inte gra tion wahrge-
nommen. Nach 1998 kühlten sich diese Beziehungen jedoch merklich ab und
die Einstellung Deutschlands zu Polen war in stärkerem Maße durch Realpo-
litik gekennzeichnet. Für die Beitrittskandidaten war wiederum die Haltung
Frank reichs nur schwer verständlich. Zwar unterstützte es die EU- Erweiterung,
aber es suchte immer wieder nach Möglichkeiten, um die Ver handlungsdauer zu
ver längern. Schließlich gelang es aber doch, die Unterstützung beider Länder zu
erhalten, wodurch die größte Erweiterung der EU-Geschichte möglich wurde.
Die Spezifik der Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks – im
Ge gensatz zu multilateralen Beziehungen sowie zur Kooperation zahlreicher
Staaten beispielsweise innerhalb der NATO oder der EU – rührt vom engen
Kreis der Entscheidungsträger her. Aufgrund dieser Tatsache resultiert(e) die
Position Polens im Weimarer Dreieck direkt aus den aktuellen bilateralen – in
den letzten Jahren nicht besonders guten – Beziehungen zu Frankreich und
Deutschland. Der Charakter dieser Beziehungen sowie deren Dynamik und Ef-
fektivität gab in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts Anlass
zu Optimismus, aber in den letzten Jahren machte er eine Neubewertung der
Nützlichkeit sowie der Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks er-
forderlich. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten in den Beziehungen Warschaus
zu Paris und Berlin sind mit bloßem Auge erkennbar. Dies betrifft im Übrigen
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nicht nur die diplomatische Ebene. Polen hat hinsichtlich der Vision der inter-
nationalen Sicherheit, bei der Einstellung zur Erweiterung und Vertiefung der
EU sowie bezüglich der Beziehung zu den USA, zur NATO und zu Russland
eine merklich andere Auffassung als Deutschland und Frankreich. Um es noch
einmal zu unterstreichen: Frankreich und Deutschland verstärkten seit vielen
Jahren die Zusammenarbeit mit Russland und schränkten dabei zugleich die
Kooperation mit Polen ein. Unter der PiS-Regierung führt Polen de facto einen
Krieg an zwei Fronten, das heißt einerseits gegen die EU und die USA, anderer-
seits sowohl gegen Russland als auch gegen Deutschland, die als Feinde gese-
hen werden. Mit Frankreich hat Polen ebenfalls nicht die besten Beziehungen.
Zudem wurde Polen nach 2015 – also nach der Regierungsübernahme durch
die PiS – von Frankreich und Deutschland als nicht in ausreichendem Maße
demokratischer Staat betrachtet. Viele der zeitgenössischen, beispielsweise mit
Sicherheit, Verteidigungsbereitschaft, Kampf gegen den Terrorismus, Migratio-
nen oder Klima verbundenen Herausforderungen verlangten (und verlangen)
indessen eine Kooperation aller europäischen Staaten und besonders der Länder
des Weimarer Dreiecks, die dieses Format erneut beleben sollten. Leider waren
nicht alle polnischen, deutschen und französischen Entscheidungsträger dieser
Meinung, was sich, insbesondere im Kontext der imperialen, die Sicherheit der
Welt und Europas gefährdenden Politik der Russischen Föderation unter Wla-
dimir Putin, als grober Fehler erwiesen hat.
Im vorliegenden Beitrag werden mehrere esen und Hypothesen aufgestellt.
Überdies wird versucht, Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Hat
sich das Format des Weimarer Dreiecks bereits erschöpft, wie mancherorts in
der Politik behauptet wird? Ist es in den Beziehungen zwischen seinen Partnern
zu einer Krise gekommen? Wie lässt sich seine Renaissance herbeiführen? Wa-
rum ist Polen für Frankreich und Deutschland kein willkommener Partner der
Zusammenarbeit mehr? Fiel die Neubewertung, der die polnische Regierung
die Bündnisse des Landes unterzogen hat, ggf. zu radikal aus und wo liegt der
Grund dafür? Wird das Weimarer Dreieck noch gebraucht und warum? All
das ist keine einfache Aufgabe, weil dem Weimarer Dreieck Staaten gehören,
die unterschiedliche Interessen, Potentiale und Möglichkeiten zur Beeinflus-
sung der internationalen Gemeinschaft und ihrer Weiterentwicklung haben.
Überdies werden ihre Einstellungen sowie die Wirksamkeit ihres Handelns auf
internationaler Ebene von vielen innerstaatlichen und durch das Umfeld be-
dingten Faktoren beeinflusst. Im Lichte der eorie der Außenpolitik haben
die starken Staaten – die sog. Großmächte – größere Möglichkeiten in diesem
Bereich. Sie betreiben die offensivste Außenpolitik, gestalten aktiv die interna-
tionale Bühne und entscheiden über die entstehenden internationalen Systeme.
Im Unterschied zu Polen zählen Frankreich und Deutschland sehr wohl zum
Kreise dieser Staaten. Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen internationa-
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118
len Si tua tion, die durch die russische Aggression gegen die Ukraine determiniert
wird, sollten sie nicht miteinander um die Führung in der EU wetteifern oder
sich ausschließlich um ihre eigenen, partikularen Interessen kümmern. Viel-
mehr wäre es angezeigt, die Zusammenarbeit zwischen ihnen zu vertiefen sowie
gemeinsam mit Polen und weiteren EU-Staaten eine breitere Koalition rund um
das Weimarer Dreieck herum zu bilden, um so der Europa und die Welt gefähr-
denden internationalen Politik Putins entgegenzutreten.
4 Schlussfolgerungen
Wie neueste Umfragen zeigen, wird die Zusammenarbeit der Staaten im Rah-
men des Weimarer Dreiecks von der überwiegenden Mehrheit der deutschen
und polnischen Befragten sowie von der Hälfte der befragten Franzosen ent-
weder als sehr wichtig oder ziemlich wichtig bewertet. Nur eine Minderheit
ist der Ansicht, dass eine derartige Kooperation keine Bedeutung für die Inte-
gra tion Europas hat. Somit lässt sich konstatieren, dass Polen, Deutsche und
Franzosen nach wie vor dafür plädieren, die Zusammenarbeit im Rahmen des
Weimarer Dreiecks aufrechtzuerhalten oder sie sogar zu intensivieren. Obwohl
viele Stimmen aus Wissenschaft und Politik unumwunden zugeben, dass das
gegenwärtige Niveau der Zusammenarbeit innerhalb des Weimarer Formats
viel zu wünschen übrig lässt, vertreten sie unterschiedliche Meinungen bezüg-
lich der Frage, wie diese Kooperation in Zukunft fortgesetzt werden soll. Den
bereits angeführten Umfrageergebnissen ist nämlich zu entnehmen, dass sich
nur wenige Polen, Deutsche und Franzosen wünschen, die Zusammenarbeit
im Rahmen des Weimarer Dreiecks zu beschränken oder sie gänzlich zu be-
enden. In Deutschland nehmen ähnliche Befragtengruppen den Standpunkt
ein, dass diese Kooperation entweder zu verstärken oder mindestens auf dem
bisherigen Niveau fortzusetzen sei. Die Polen sind am enthusiastischsten, unter
ihnen wünscht sich die Mehrheit eine Intensivierung dieser Zusammenarbeit.
Weniger euphorisch unterstützen die Franzosen eine Verstärkung der polnisch-
französisch-deutschen Kooperation, doch ist diese Option immer noch popu-
lärer als die anderen. Summa summarum lässt sich feststellen, dass alle drei be-
sprochenen Gesellschaften eindeutig die Fortsetzung oder sogar die Vertiefung
der Zusammenarbeit ihrer Beendigung vorziehen. Schade nur, dass diese Auf-
fassungen von den Regierenden in Polen, Frankreich und Deutschland, die die
Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks derzeit aus verschiedenen
Beweggründen ignorieren, nicht berücksichtigt werden. Im Endeffekt haben
wir es mit einer Stagnation oder, man ist geneigt zu sagen, sogar mit einem
Rückgang in der Kooperation zwischen Polen, Frankreich und Deutschland
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innerhalb des Weimarer Dreiecks zu tun. Obwohl sich Vertreter:innen dieser
Staaten ab und an offiziell für eine Reaktivierung seiner Aktivität aussprechen,
ändert dies praktisch kaum etwas an der Si tua tion. Der Bekanntheitsgrad des
Begriffs »Weimarer Dreieck« selbst sinkt zugleich immer weiter: so behaupten
über die Hälfte der befragten Franzosen, diesen Begriff noch nie gehört zu ha-
ben, obgleich jeder vierte Befragte diesen Namen oder dessen Bedeutung kennt.
Die Mehrheit der Polen und ein großer Anteil der Deutschen kennt wenigstens
den Namen. An dieser Stelle liegt die Frage nahe: Warum ist das so und was
erschwert die Renaissance des Weimarer Dreiecks? Die Feststellung, dass alle
drei Staaten an der Misere schuld sind, überrascht nicht. Allerdings variiert die
Skala ihres Verschuldens dann doch erheblich. Dies ist ein Ergebnis der Rena-
tionalisierung ihrer Innen- und Außenpolitik. Ich hege jedoch die Hoffnung,
dass der Ukraine-Krieg und die Gefahr des Ausbruchs eines Dritten Weltkrieges
die Wiedergeburt des Weimarer Dreiecks und dessen Aktivität zugunsten der
Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union beschleunigen werden.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass das Weimarer Dreieck nach wie
vor ein unabdingbares Subjekt auf der internationalen Bühne ist und weiterhin
eine wesentliche Rolle spielen sollte, und zwar nicht nur bei der Stärkung der
trilateralen deutsch-polnisch-französischen Zusammenarbeit, sondern auch im
Prozess der europäischen Inte gra tion sowie im Rahmen der Stärkung der Posi-
tion und Rolle der EU in den internationalen Beziehungen. Außerdem möchte
ich meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass es infolge der Bundestagswahl vom
26. September 2021 und der mit ihr verbundenen radikalen Änderungen auf
der politischen Bühne Deutschlands sowie nach der Präsidentschaftswahl in
Frankreich 2022 und vielleicht auch nach vorgezogenen Neuwahlen in Polen
zu einer Renaissance des Dreiecks kommt, mit der eine Vertiefung der Zusam-
menarbeit und die weitere Entwicklung der vielseitigen Kooperation zwischen
Polen, Deutschland und Frankreich einhergehen würde. Zugleich wünsche ich
mir, dass Frankreich und Deutschland damit aufhören mögen, miteinander
um die Hegemonie in Europa zu wetteifern, und endlich anfangen, konstruk-
tiv zum Wohl der europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie zugunsten der
Sicherheit Europas und einer Vertiefung und Erweiterung der EU zusammen-
zuarbeiten. Angesichts der heutigen Gefährdung von Frieden und Sicherheit in
Europa und in der Welt, die infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine
heraufbeschworen wurde, sind Frankreich und Deutschland – gemeinsam mit
Polen – dazu angehalten, Maßnahmen für die Erhöhung der europäischen Ver-
teidigungsbereitschaft zu ergreifen, statt nur darüber zu reden.27 Sowohl das de-
stabilisierende Handeln Russlands als auch sein Versuch, Europa und die USA
27 Radosław Sikorski: Rosja-Ukraina-Unia Europejska. Europo, pobudka! Awanturnicza po-
lityka Putina to dzwonek alarmowy. In: Gazeta Wyborcz a vom 28.01.2022, S. 16; Ma-
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120
zu Verhandlungen mit ihm zu nötigen, sind in Wirklichkeit ein Beispiel für
einen Riss in der Struktur der internationalen Sicherheit, der zeigt, dass der
russische Präsident Wladimir Putin keineswegs auf die Absicht verzichtet hat,
die EU zu zerstören und deren Mitglieder gegeneinander auszuspielen. All dies
zeugt auch von einer Schwäche des Abschreckungssystems der NATO. In der
gegenwärtigen internationalen Lage und angesichts des Krieges in der Ukraine
sollten Frankreich, Deutschland und Polen das Weimarer Dreieck reaktivieren,
das so erneut zu einem Schwungrad für die weitere Inte gra tion Europas werden
und so zur Stärkung der Position und Rolle der EU auf der internationalen
Bühne beitragen könnte. Meines Erachtens besitzt das Weimarer Dreieck weiter
ein großes Potential, das für die Erweiterung und Vertiefung der EU nutzbar zu
machen ist. Dadurch entstünde die Möglichkeit, die Desintegrationsprozesse in
Europa zu hemmen und die europäische Sicherheit zu stärken.
Aus dem Polnischen von Piotr A. Owsiński
ciej Czarnecki: Zachód mówi jednym głosem w sprawie Rosji. In: Ga zeta Wyborcza vom
21.01.2022, S. 12.
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Teil II
Debatte über die Zukunft der Europäischen Union:
Die auf die europäischen Krisen zurückzuführende
Neudefinition des zeitgenössischen Diskurses über
Sicherheit, Werte und kollektives Gedächtnis der EU
Zu den Perspektiven der Reform der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
der Europäischen Union bis 2025
Strategische Autonomie der EU?
Janusz Józef Węc, Jagiellonen-Universität in Krakau, Team Europe
Prospects for reform of the European Union’s Common Security
and Defence Policy until 2025: European Union strategic autonomy?
The research objective of the article is to present the prospects for the im-
plementation of the main directions of the reform of the European Union’s
CSDP until 2025. The period covered in the article is defined by two events:
the adoption of the EU Global Strategy in Security and Defence Policy by
the European Council on June 28, 2016, and the decision of the European
Council of March 24, 2022 to adopt the Strategic Compass for Security and
Defence. The starting hypothesis is that if the reform of the CSDP, initiated by
the adoption of the new external security strategy and the resulting projects,
is implemented in full, it could significantly strengthen the EU’s position on the
international stage. This is because it will lead to the establishment of the Euro-
pean Security and Defence Union, and the Rapid Reaction Force within it. In
this sense, the reform will also be ground-breaking for the EU. However, since
many of the planned elements of the reform have not yet been clarified or
launched, much will depend on the political will of the governments of individ-
ual member states, the amount of spending on its implementation by member
states and the EU, and the course of other reforms already undertaken, such as
the fight against the economic and social consequences of the pandemic crisis
and the implementation of the System Reform of the Economic and Monetary
Union. The following research questions then arise: (1) What has been the
course of the implementation process of the EU’s global strategy in security
and defence policy so far?; (2) How has the implementation of new projects
(inter alia the European Defence Fund, PESCO and the Strategic Compass) af-
fected EU-NATO relations?; (3) How have selected EU member states related
to these projects?; (4) How has Russia’s aggression against Ukraine in 2022
affected the implementation of the CSDP reform?
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1 Einleitung
Das Forschungsziel des vorliegenden Beitrags besteht in der Darstellung, wie
die Hauptrichtungen der Reform der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik (GSVP) der Europäischen Union in Zukunft umgesetzt werden
können. Dies betrifft u. a. das Hauptziel, also die Entwicklung der schnell ver-
legbaren Eingreiffähigkeit der EU (European Union Rapid Deployment Ca-
pacity, EU RDC) bis 2025, wodurch die EU eine strategische Autonomie er-
reichen kann. Eingangs sollen zwei Forschungshypothesen aufgestellt werden:
Die erste stützt sich auf die folgende Voraussetzung: Wenn die verschiedenartige
Projekte voraussetzende Reform der GSVP, die 2016 mit der Annahme einer
neuen Strategie der äußeren Sicherheit initiiert wurde, in Gänze durchgeführt
wird, kann sie die Position der EU auf der internationalen Bühne wesentlich
verstärken. Denn dies würde zur Gründung der europäischen Sicherheits- und
Verteidigungsunion und in deren Rahmen zur Entwicklung der EU RDC füh-
ren. In diesem Sinn wird die Reform eine entscheidende Bedeutung für die EU
haben. Da viele der geplanten Schritte bisher jedoch weder näher ausgearbeitet
noch initiiert wurden, hängt viel vom politischen Willen der Regierungen der
einzelnen Mitgliedstaaten ab, von der Höhe der Ausgaben für ihre Realisierung
seitens der Mitgliedstaaten und der EU sowie vom Verlauf weiterer, in dieser
internationalen Organisation durchgeführten Reformen, z. B. der Bekämpfung
der ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemiekrise oder der
Durchführung einer System-Reform der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion sowie des Euroraums. Im Moment ist es noch nicht klar, welchen
Einfluss die russische Aggression gegen die Ukraine (2022) und der russisch-uk-
rainische Krieg auf die Reform der GSVP haben werden. Die zweite Hypothese
setzt voraus, dass die strategische Autonomie der EU als Stärkung der inter-
nationalen Position der EU zu verstehen ist. Hierbei handelt es sich auch um
ihre Fähigkeit, angesichts internationaler Krisen entweder zusammen mit der
NATO oder auch ohne deren militärische Hilfe entschiedene Schritte zu unter-
nehmen. Die Bedingung dafür ist jedoch, dass die Reform die GSVP stärkt und
nicht zu einer Konkurrenz mit der NATO bzw. zu deren Ersetzung führt.
Aus diesem Grund sind die nachfolgenden Forschungsfragen zu stellen: (1) Wie
verlief der bisherige Implementierungsprozess der Globalen Strategie für die Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union?; (2) Wie beein-
flusste die Realisierung neuer Projekte – u. a. des Europäischen Verteidigungs-
fonds (EDF), der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ, PESCO) und
des Strategischen Kompasses – die Beziehungen der EU zur NATO?; (3) Welche
Stellung zu diesen Projekten bezogen ausgewählte EU-Staaten?; (4) Welchen
Einfluss auf die Durchführung der Reform der GSVP hatte der russische An-
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griff auf die Ukraine im Jahre 2022? Im Fokus des ersten Analysenteils steht der
Implementierungsprozess der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheits-
politik der EU bis 2022. Im zweiten Teil werden wiederum die Ziele, Prioritäten
und die Prämissen des Strategischen Kompasses dargestellt, dessen Realisierung
zur strategischen Autonomie der EU im Jahre 2030 führen soll.
2 Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik
der Europäischen Union
Am 28. Juni 2016 wurde dem Europäischen Rat von der Hohen Vertreterin
der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogher-
ini die globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU vorge-
legt.1 An demselben Tag wurde sie vom Europäischen Rat angenommen und
ersetzte somit die Europäische Sicherheitsstrategie vom 12. Dezember 2003.
Die neue Strategie legte fünf Prioritäten in der GSVP fest: (1) Sicherheit der
EU, (2) Widerstandsfähigkeit von Staaten und Gesellschaften in unserer östli-
chen und südlichen Nachbarschaft, (3) integrierter Ansatz zur Bewältigung von
Konflikten und Krisen, (4) kooperative regionale Ordnungen, sowie (5) globale
Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert.2 Im Rahmen der fünf obigen Prioritä-
ten sollten die politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und militärischen
Einzelziele realisiert werden. Die Stärkung der Sicherheit der EU sollte in der
Evolution ihrer militärischen Infrastruktur bestehen: Hierbei handelt es sich
um die Entwicklung der militärischen land-, luft-, weltraum- und seeseitigen
Fähigkeiten, die Stärkung der Cyber- und Energieversorgungssicherheit, Ter-
rorismusbekämpfung sowie die Stärkung der strategischen Kommunikation.3
Die Stärkung der staatlichen und gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit in
der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU ist auf die Fortsetzung der
Erweiterungspolitik, auf die Entwicklung der Europäischen Nachbarschafts-
politik und auf die wirksamere EU-Migrationspolitik zurückzuführen. Der in-
tegrierte Ansatz zur Bewältigung von Konflikten und Krisen soll in erster Linie
1 Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie
für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel, 28 Juni 2016. In:
europa.eu https://op.europa.eu/pl/publication-detail/-/publication/3eaae2cf-9ac5-
11e6-868c-01aa75ed71a1/language-de/format-PDF, S. 3–44 (15.06.2022).
2 Ebenda, S. 14–36.
3 Unter dem Begriff strategische Kommunikation wurde u. a. die Vertiefung der Zusammen-
arbeit mit den bilateralen Partnern der EU (USA, Kanada, Japan und Indien) bezüglich der
Ab wehr von hybriden und Cyber-Bedrohungen, der Desinformation, dem Grenzschutz
sowie der Achtung des Völkerrechts verstanden. Vgl. ebenda, S. 16f.
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die Vorbeugung und Beilegung von Konflikten (darunter auch in den Ländern
der Östlichen Partnerschaft) betreffen. Die Förderung kooperativer regionaler
Ordnungen soll einerseits auf der Stärkung der transatlantischen Zusammen-
arbeit und der europäischen Sicherheitsordnung basieren, aber auch auf einer
konsequenten, kohärenten und einheitlichen »Vorgehensweise« der gesamten
Union gegenüber der neoimperialen Politik Russlands, das im Jahre 2014 illegal
die Krim annektierte und den Krieg im Donezbecken auslöste;4 andererseits
wird die Vertiefung der Kooperation mit den Regionen im Nahen Osten, in
Afrika, Asien und in der Arktis angestrebt. Die Stärkung der globalen Ord-
nungspolitik im 21. Jahrhundert soll u. a. Schritte bezüglich der Achtung des
Völkerrechts, einschließlich der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen
und der Schlussakte von Helsinki,5 umfassen.
Im Vergleich mit der ersteren Strategie der äußeren Sicherheit der EU von 2003
setzte das analysierte Dokument eine tiefgreifende Reform der GSVP und der
europäischen Nachbarschaftspolitik sowie eine Revision der Beziehungen zu
Russland voraus. Sowohl der Ausbau der militärischen land-, luft-, weltraum-
und seeseitigen Fähigkeiten der EU als auch die Entwicklung neuer militäri-
scher Technologien sollten eine Grundlage für die sog. harte Sicherheit sein, für
die sich die EU entschieden hatte. Bei der Begründung für ihre Entscheidung
bezüglich der Notwendigkeit des Ausbaus der militärischen Fähigkeiten stellten
die Autoren der Strategie fest: »In dieser instabilen Welt reicht ›Soft Power‹ allein
nicht aus; deshalb müssen wir unsere Glaubwürdigkeit im Bereich Sicherheit
und Verteidigung verbessern«.6 Dies war somit eine deutliche Andeu tung dar-
auf, dass sich die EU nicht nur auf die bisherige Rolle einer normativen Groß-
macht in ihrem äußeren Handeln (Normative Power) beschränken, sondern
auch die Instrumente der »Hard Power« in ihrer internationalen Politik benut-
zen würde.7 Andererseits fußte die globale Strategie aus dem Jahr 2016 – ähnlich
wie die Strategie von 2003 8 – auf der Voraussetzung, dass das Handeln der EU
4 Vgl. ebenda, S. 27f.
5 Ebenda, S. 12–36. Die globale Strategie der EU berücksichtigte auch die volle Ausschöp-
fung des »Potentials des Vertrags von Lissabon« und besonders der Ständigen Strukturier-
ten Zusammenarbeit (SSZ, engl. PESCO) zwecks der Steigerung der Flexibilität der GSVP
(Art. 42 Abs. 6 und Art. 46 EUV). Vgl. ebenda, S. 10, 45.
6 Ebenda, S. 37.
7 Zum Thema der Kategorien der Großmachtstellung der EU: Soft Power und Hard Power.
Vgl. Joseph S. Nye: Bound to Lead, The Changing Nature of American Power, New York
1991, S. 107–110, 175–188, 199–239; Ian Manners: Normative Power Europe: A Con-
tradiction in Terms? In: journal oF coMMon Market StuDieS 2002, H. 2, S. 235–254; Ian
Manners: Normative Power Europe Reconsidered: Beyond the Crossroads. In: journal oF
euroPean Public Policy 2006, H. 2, S. 182–199.
8 Darunter auch die sich aus dem Bericht von Javier Solana vom 11.Dezember 2008 erge-
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die Aktivität der NATO im transatlantischen System lediglich ergänzen soll.
Es ist also nicht auf eine Ablösung des Nordatlantikpaktes als des Garanten der
europäischen Sicherheit gerichtet. Aus diesem Grunde blieben die Bestrebungen
zur Stärkung der vorhandenen Systeme der internationalen Sicherheit – NATO,
UNO und OSZE –sowie zur weiteren Pflege der Zusammenarbeit mit den stra-
tegischen Partnerschaften der EU, allen voran mit den USA, Kanada, Japan und
Indien, eine unveränderliche Prämisse.
3 Implementierung der Globalen Strategie
für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union
Von Juli 2016 bis März 2022 nahmen die Regierungen der Mitgliedstaaten
sowie die EU-Institutionen eine ganze Reihe von äußerst belangvollen Erklä-
rungen, Schlüssen, politischen Programmen und Rechtsentscheidungen an, die
zum Ziel hatten, die Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik
der EU zu implementieren. Ihr langfristiges Ergebnis waren die Entwicklung
der EU RDC bis 2025 sowie die Erlangung einer vollen strategischen Auto-
nomie der EU im Jahre 2030. Zu den Umsetzungsdokumenten der Globalen
Stra tegie der EU gehörten: Schlussfolgerungen des Rats für Auswärtige Ange-
le genheiten vom 17. Oktober 2016, 14. November 2016 und 6. März 2017;
Be kanntmachung der Kommission vom 30. November 2016, die die koopera-
tive Beschaffung in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit thematisierte;
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 15. Dezember 2016 sowie der
Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung, der am 22. März 2022
vom Rat für Auswärtige Angelegenheiten gebilligt wurde. Dazu gehört auch die
Entscheidung des Rates über die Entwicklung der Europäischen Friedensfazili-
tät, die ebenfalls an diesem Tage getroffen wurde. Durch die oben erwähnten
Um setzungsdokumente konnten zwei relevante politische Erklärungen – die
Ge meinsame Erklärung EU-NATO vom 8. Juli 2016 sowie die Gemeinsame
Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO vom
10. Juli 2018 – ergänzt werden.
ben den Veränderungen. Vgl. Zbigniew Czachór: Europejska Strategia Bezpieczeństwa
2003–2008. Analiza politologiczna. In: PrzeGląD PolitoloGiczny 2010, H. 2, S. 23–37;
Krzysztof Miszczak: Armia europejska. Strategiczne bezpieczeństwo militarne Unii Euro-
pejskiej, Warszawa 2020, S. 133–150.
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129
3.1 Das Konzept der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion
Im Rahmen des Umsetzungsprozesses der Globalen Strategie der EU veröffent-
lichte die Europäische Kommission am 7. Juni 2017 das Reflexionspapier über
die Zukunft der europäischen Verteidigung. Es stellte drei Prognosen für deren
weitere Entwicklung bis 2025 dar. Das erste Szenario setzte den Erhalt der Zu-
sammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf dem bisherigen Niveau vor-
aus. Die Union solle somit – ähnlich wie bisher – die freiwilligen Handlungen
einzelner Staaten nur ergänzen und das von den Mitgliedstaaten individuell
zu interpretierende Prinzip der Solidarität sollte nur einen Übergangscharakter
haben. Das zweite Szenario sah – dem ersten vergleichbar – vor, dass die EU die
freiwilligen Handlungen einzelner Länder ergänzen sollte. Dabei wurde jedoch
empfohlen, eine deutliche Aufgabenverteilung zwischen der EU und den Mit-
gliedstaaten vorzunehmen sowie eine Garantie für die operative und finanzielle
Solidarität zu bestimmen. Im dritten Szenario wurde wiederum eine erhebliche
Vertiefung der Zusammenarbeit im Rahmen der GSVP vorgeschlagen, deren
Endergebnis die Gründung einer neuen Struktur – das heißt der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) 9 – bis 2025 sein soll.
3.2 Rüstungszusammenarbeit: PADR, EDIDP und EDF
Am 30. November 2016 veröffentlichte die Europäische Kommission – ge-
mäß den Prämissen der Globalen Strategie der EU – eine Mitteilung, in der
die Gründung des Europäischen Verteidigungsfonds (European Defence Fund,
EDF) sowie Schritte zur Förderung der Investitionen im Verteidigungssek tor
und der stärkeren Öffnung des Marktes für Verteidigungsgüter angekün digt
wur den.10 Am 15. Dezember 2016 forderte der Europäische Rat die Kom mis sion
auf, einen Legislativvorschlag für die Gründung des EDF in der ersten Hälfte
des Jahres 2017 vorzulegen. Im Anschluss daran publizierte die Kommission
am 7. Juni 2017 zwei Entwürfe von Rechtsakten und ein Informationsdoku-
ment: (1) den Entwurf der Entscheidung über die vorbereitende Maßnahme
9 Vgl. Europäische Kommission. Reflexionspapier über die Zukunft der europäischen Vertei-
digung, Brüssel, 7.Juni 2017, COM(2017) 315 final, S. 1217. Im Weißbuch vom 1.März
2017 ist von der Gründung einer Europäischen Verteidigungsunion die Rede, wohingegen
das Reflexionspapier vom 7.Juni desselben Jahres von der Schaffung der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsunion spricht. Der Klarheit halber wird aber der andere Be-
griff in der vorliegenden Analyse gebraucht.
10 Vgl. Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament,
den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und
den Ausschuss der Regionen. Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.No-
vember 2016, COM(2016) 950 final, S. 1–23.
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130
im Bereich Verteidigungsforschung (Preparatory Action on Defence Research,
PADR); (2) den Entwurf für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates zur Einrichtung des Europäischen Programms zur industriellen Ent-
wicklung im Verteidigungsbereich (European Defence Industrial Development
Programme, EDIDP) sowie der Bericht der Europäischen Kommission über die
Gründung des EDF. Seit diesem Moment gewann der Prozess zur Umsetzung
der Globalen Strategie der EU wesentlich an Fahrt.
Die Entscheidung der Europäischen Kommission über die Initiierung der PADR
wurde am 19. März 2018 verabschiedet und die Verordnung des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Einrichtung des EDIDP am 18. Juli 2018. Von
nun an erfüllten die PADR und das EDIDP die Funktion von Pilotprojekten
im Rahmen des EDF. Während erstere die Anträge sammelte und verwirklichte,
die mit der Realisierung von Projekten der Rüstungszusammenarbeit in den
Jahren 2017–2019 verbunden waren, befasste sich letzteres damit in den Jahren
2019–2020. Die beiden Programme sollten bis zur Ausschöpfung aller finan-
ziellen Mittel laufen. Aus Mitteln der PADR wurden gemeinsame Forschungs-
projekte (zur Entwicklung von Technologien) finanziert, indem insgesamt 90
Mio. EUR in Form von Zuschüssen aus dem EU-Budget ausgegeben wurden.
Die Europäische Kommission koordinierte das Programm und für dessen Im-
plementierung war wiederum die Europäische Verteidigungsagentur (European
Defence Agency, EDA) verantwortlich. Die Projekte wurden von Konsortien
realisiert, die von mindestens drei Akteuren aus drei EU-Mitgliedstaaten bzw.
aus zwei EU-Ländern und Norwegen gebildet wurden.11 Ein solches Konsor-
tium konnte von KMU, Forschungszentren oder staatlichen Einrichtungen ge-
bildet werden. In den Jahren 2017–2019 wurden insgesamt 18 multinationale
Forschungsprojekte subventioniert, unter denen die größten Empfänger aus
Frankreich (47), Italien (32), Deutschland (21), Spanien (20), den Niederlan-
den (12), Griechenland (9), Polen (8), Großbritannien, Schweden, Belgien und
Portugal (jeweils 7) und Litauen (5) kamen. Daran beteiligten sich sowohl die
großen Rüstungskonzerne (wie etwa die ales Group und Safran aus Frank-
reich, Leonardo aus Italien, Tochtergesellschaften der MBDA aus Frankreich
und Deutschland, SAAB aus Schweden und Indra aus Spanien) als auch kleine
und mittlere Unternehmen sowie Forschungsinstitute.12
11 Von den drei zum Europäischen Wirtschaftsraum gehörenden EFTA-Staaten meldete letzt-
endlich nur Norwegen die Teilnahme an den PADR- und EDIDP-Projekten an. Vgl. Europe-
an Commission. Commission decision of 19.3.2019 on the financing of the ‘preparatory
action on defence research’ and the adoption of the work programme for 2019, Brussels,
19 March 2019, COM(2019) 1873 final, S. 1–3.
12 Vgl. Justyna Gotkowska: Polityka bezpieczeństwa UE: w poszukiwaniu kompasu. In: ko-
Mentarze oŚroDk a StuDióW WSchoDnich 2021, H. 408, S. 3, 10.
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131
Das EDIDP ging ebenfalls der Gründung des EDF voraus. Es zielte darauf ab,
die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der EU-Verteidigungsindustrie in
den Jahren 2019–2020 (Art. 4 der Verordnung) zu fördern. Das Programm zur
Entwicklung von Systemprototypen wurde aus den Haushaltsmitteln der Mit-
gliedstaaten sowie aus dem Haushalt der EU kofinanziert, die für dessen Zie-
le insgesamt 500 Mio. EUR ausgab (Art. 6 der Verordnung). Ähnlich wie bei
PADR wurden auch die EDIDP-Projekte von mindestens drei Akteuren aus
drei EU-Mitgliedländern bzw. aus zwei EU-Staaten und Norwegen durchge-
führt. Allerdings waren ausschließlich KMU sowie Unternehmen mit mittlerer
Kapitalisierung zur Beteiligung an einem Konsortium berechtigt (Art. 3 der
Verordnu ng).13 In den Jahren 2019–2020 wurden insgesamt 42 multinationale
Entwicklungsprojekte unter Beteiligung von mehreren Hundert Firmen und
Institutionen subventioniert, unter denen die größten Begünstigten aus Frank-
reich (101), Spanien (66), Italien (60), Deutschland (49), Griechenland (29),
Belgien (27), Dänemark (18), Portugal und Finnland (jeweils 16), Zypern und
Estland (jeweils 14) Österreich und Polen (jeweils 12) stammten.14
Am 1. Januar 2021 wurde der EDF kraft einer Verordnung des Europäischen
Par laments und des Rates für die Jahre 2021–2027 beschlossen.15 Er wurde fi-
nan ziell mit dem neuen siebenjährigen Haushalt verknüpft, der als Mehrjähriger
Finanzrahmen der EU für denselben Zeitraum gültig ist. Das allgemeine Ziel
des EDF besteht in der Förderung einer starken, wettbewerbsfähigen und in-
novativen europäischen verteidigungstechnologischen und verteidigungsindust-
riellen Basis (EU‘s Defence Technological and Industrial Base, EDTIB), was zur
Erreichung einer strategischen Autonomie der Union im Jahre 2030 bei zutragen
hat. Die EDF-Einzelziele umfassen wiederum die Finanzierung von drei Unter-
nehmungen: (1) Forschung im Bereich von Verteidigungsgütern und -technolo-
gien; (2) mit Verteidigungsfähigkeiten verbundene Projekte und (3) Pro zess der
13 Verordnung (EU) 2018/1092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.Juli
2018 zur Einrichtung des Europäischen Programms zur industriellen Entwicklung im Ver-
teidigungsbereich zwecks Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovation in der
Verteidigungsindustrie der Union. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2018, Nr. 200,
S. 30– 43.
14 Vgl. Gotkowska: Polityka bezpieczeństwa, S. 3, 10.
15 Vgl. Verordnung (EU) 2021/697 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
29.April 2021 zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds und zur Aufhebung
der Verordnung (EU) 2018/1092. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2021, Nr. 170,
S. 149–177; vgl. auch Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Euro-
päische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen. Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds, Brüssel, 7.Juni
2017, COM(2017) 295 final, S. 1–20.
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Kon stituierung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungs union (Art. 3,
Abs. 1–2 der Verordnung).16
Der EDF besteht aus zwei rechtlich separaten, sich aber materiell ergänzenden
Säulen – einer Säule für die Forschung und einer Säule für die Entwicklung der
Verteidigungsfähigkeiten (Verteidigungsgüter, einschließlich der erforderlichen
materiellen Ausrüstung und Technologien, aber ohne Verteidigungsoperatio-
nen, Schulung und logistische Basis). Für die Jahre 2021 bis 2027 wurde er mit
Mitteln in Höhe von rund 7,953 Mrd. EUR ausgestattet. Davon sind rund 2,651
Mrd. EUR für Forschung vorgesehen, 5,302 Mrd. EUR für Entwicklungsmaß-
nahmen. Die EDF-Mittel sind nur für Forschungs- und Entwicklungsprojekte
vorgesehen, die von den das Konsortium bildenden Rechtssubjekten durchge-
führt werden, wobei die Mindestzahl der am subventionierten Projekt Beteilig-
ten drei Rechtssubjekte aus mindestens drei EU-Mitgliedstaaten oder aus zwei
EU-Mitgliedstaaten und Norwegen beträgt.17 Für die Verwaltung der Mittel
ist der Koordinierungsrat zuständig, der aus den Sonderbeauftragten der EU-
Mitgliedstaaten, dem Hohen Vertreter der Europäischen Union, der EDA, der
Europäischen Kommission sowie – je nach Si tua tion – den Vertretern der zu-
gunsten der Verteidigungsindustrie handelnden Firmen besteht. Die im Rah-
men der beiden Säulen entwickelten Programme und Instrumente sind für die
Begünstigten aus allen Mitgliedsländern – unabhängig von ihrer Größe – zu-
gänglich.18 Die Forschungssäule, die im Rahmen der vorbereitenden Maßnah-
me zu funktionieren begann, wird ausschließlich aus Mitteln des allgemeinen
EU-Haushalts finanziert. Für die Realisierung der Programmaufgaben wurde
bis zum Ende des Jahres 2020 ein Betrag in Höhe von 90 Mio. EUR festgelegt,
ab dem Jahr 2021 stehen hingegen jährlich schätzungsweise 500 Mio. EUR zur
Verfügung. Mit diesem Programm sollen Forschungsprojekte auf dem Niveau
von Forschung & Entwicklung (F & E, also von der Idee bis zum Prototyp)
finanziert werden, die die Prioritäten im Bereich der von den Mitgliedstaaten
abgesprochenen Verteidigungsfähigkeiten – einschließlich der PESCO-Projek-
te – betreffen.19 Die Säule für die Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten
ist für die Förderung von Projekten oberhalb des Niveaus von F&E, also nach
16 Verordnung (EU) 2021/697 des Europäischen Parlaments und des Rates, S. 161. Gemäß
der analysierten Mitteilung der Europäischen Kommission soll er der Motor für die Ent-
wicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion sein. Vgl. Europäische
Kommission. Mitteilung der Kommission, COM(2017) 295 final, S. 21.
17 Verordnung (EU) 2021/697 des Europäischen Parlaments und des Rates, S. 162. In der
Ver ordnung ist die Rede von den drei Mitgliedstaaten oder den assoziierten Ländern
(Art. 10 Abs. 4 der Verordnung), aber nur Norwegen meldete letztendlich die Teilnahme
an den EFD-Projekten an. Vgl. ebenda, S. 165.
18 Ebenda, S. 162–168.
19 Vgl. Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission, COM(2017) 295 final, S. 4f.
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der Phase des Prototyps, sowie für die Bestellung militärischer Produkte und
Technologien – einschließlich der PESCO-Projekte – verantwortlich. In erster
Linie wird das Programm aus den Haushaltsmitteln der Mitgliedstaaten und
zusätzlich aus dem EU-Haushalt finanziert. Ende 2020 betrug der Haushalt
der Säule für die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeiten 500 Mio. EUR, ab
2021 – jährlich eine Milliarde EUR. Unter Berücksichtigung der Ausgaben für
die beiden Säulen – das heißt die Forschungssäule und die Säule für die Ent-
wicklung der Verteidigungsfähigkeiten der EU zusammengenommen – betrug
der EDF-Haushalt im Jahre 2021 jährlich 1,5 Mrd. EUR.20 Eine Schwäche des
EDF ist die Tatsache, dass die Ausgaben für die Verbesserung der Verteidigungs-
fähigkeiten vom Verteidigungspotential der einzelnen Staaten abhängig sind.
Im Zusammenhang damit gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten ihrer
Finanzierung: erstens die Förderung der Projekte aller Staaten aus dem sog. ge-
meinsamen Finanzrahmen (Niveau I); zweitens die Finanzierung von Projekten
der Staaten, die über größere Verteidigungsfähigkeiten verfügen (Niveau II).
3.3 Militärisch-technische Zusammenarbeit. Projekte der Ständigen
Strukturierten Zusammenarbeit
In den politischen Schlussfolgerungen vom 6. März 2017 zur Realisierung der
Globalen Strategie der EU im Bereich der Sicherheit und Verteidigung erteilte
der Rat für Auswärtige Angelegenheiten seine Zustimmung zur Entwicklung
der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ, engl. Permanent Structu-
red Cooperation, PESCO) 21 (Art. 42 Abs. 6 und Art. 46 EUV 22). Im Anschluss
daran beschloss der Europäische Rat am 23. Juni 2017, die PESCO zum ersten
Mal aufgrund von Art. 42 Abs. 6, Art. 46, Abs. 1–6 EUV sowie des an den
EUV und den AEUV
23 angehängten Protokolls Nr. 10 in Gang zu setzen. Am
13. November 2017 unterzeichneten die Verteidigungsminister der 23 Mitglied-
20 Ebenda, S. 5–6.
21 Vgl. Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates zu Fortschritten bei der
Umsetzung der Globalen Strategie der Europäischen Union im Bereich Sicherheit und Ver-
teidigung, Brüssel, 6.März 2017, 6875/17, S 5. In den Schlussfolgerungen des Rates vom
14.November 2016 zur Umsetzung der Globalen Strategie im Bereich der Sicherheit
und der Verteidigung der EU wurde wiederum auf die Notwendigkeit der Realisierung
der Verpflichtungen hingewiesen, die sich aus dem Art. 42 Abs. 7 EUV (Beistandsklausel)
sowie aus dem Art. 222 AEUV (Solidaritätsklausel) ergeben. Vgl. Rat der Europäischen
Union. Schlussfolgerungen des Rates zur Umsetzung der Globalen Strategie der Europäi-
schen Union im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung, Brüssel, 14.November 2016,
14149/16, S . 5.
22 EUV - Vertrag über die Europäische Union.
23 AEUV - Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
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134
staaten eine gemeinsame Mitteilung, die dem Willen Ausdruck gab, die PESCO
in Gang zu setzen und übergaben sie dem Rat für Auswärtige Angelegen hei ten
sowie der Hohen Vertreterin der EU. Anfangs entschieden sich Großbritan nien,
Dänemark, Malta, Irland und Portugal nicht für eine Teilnahme an der PE-
SCO. Letztendlich schlossen sich jedoch die beiden letztgenannten Länder nach
dem Abschluss des Ratifizierungsprozesses unter der Beteiligung ihrer natio na-
len Parlamente am 7. Dezember 2017 der gemeinsamen Mitteilung an.24 Am
11. De zember nahm der Rat für Auswärtige Angelegenheiten die Entscheidung,
die die PESCO ins Leben rief, mit den Stimmen von 25 Mitgliedstaaten (ohne
Großbritannien, Dänemark und Malta) an.25 Das war der vierte außergewöhn-
lich wichtige Umsetzungsbeschluss des Rates für Auswärtige Angelegenheiten
im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, seitdem
der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten war.26
24 Vgl. Notification on Permanent Structured Cooperation (PESCO) to the Council and to
the High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy. In: consilium.
europa.eu, http://www.consilium.europa.eu/, S. 1–10 (15.06.2022).
25 Vgl. Bes chluss (GASP) 2017/2315 des Rates vom 11.Dezember 2017 über die Begrün dung
der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und über die Liste der daran teil-
nehmenden Mitgliedstaaten. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2017, Nr. 331, S. 57–77.
26 Bereits in den Jahren 2010–2014 verkündete der Rat für Auswärtige Angelegenheiten drei
Rechtsakte: Dies waren: der Beschluss des Rates vom 26.Juli 2010 über die Organisation
und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes (European External Action
Service, EEAS) (Art. 45 Abs. 2 EUV), der Beschluss des Rates vom 12.Juli 2011 über die
Rechtsstellung, den Sitz und die Funktionsweise der Europäischen Verteidigungsagentur
(Art. 27 Abs. 3 EUV) sowie der Beschluss des Rates vom 24.Juni 2014 über die Vorkehrun-
gen für die Anwendung der Solidarität sklausel durch die Union (Ar t. 222 Abs. 1–3 AEUV).
Weiterhin fehlte jedoch ein Beschluss des Rates über die Begründung des Anfangsfonds
(Art. 41 Abs. 3 EUV). Ein anderes Problem waren die Vorschriften, die die Beistandsklau-
sel (Art. 42 Abs. 7 EUV) betrafen. Der Art. 42 Abs. 7 EUV enthält keine die EU zur An-
wendung der Beistandsklausel ermächtigende Vorschrift. Dagegen präzisiert den Art. 13
Abs.2 EUV, dass jede EU-Institution aufgrund der ihr von den Verträgen zugesprochenen
Befugnisse gemäß den Prozeduren und zu den darin bestimmten Bedingungen und Zwe-
cken handelt. Dies bedeutet, dass ausschließlich die Mitgliedstaaten über die gemeinsame
Hilfeleistung entscheiden dürfen. Ihr Beschluss muss in diesem Fall aber einstimmig sein.
Andererseits geben auch die Vorschriften von Art. 32 EUV eine Möglichkeit zur Anwen-
dung dieser Klausel: Die Mitgliedstaaten können alle Fragen bezüglich der Außen- und
Sicherheitspolitik im Geiste der Solidarität auf den Tagungen des Europäischen Rates so-
wie des Rates der Europäischen Union besprechen. Mehr dazu: Janusz Józef Węc: Traktat
Lizboński. Polityczne aspekty reformy ustrojowej Unii Europejskiej w latach 2007–2015.
Orzecznictwo sądów konstytucyjnych wybranych państw członkowskich UE oraz proces
implementacji Traktatu Lizbońskiego, Kraków 2016, S. 329–334, 340–343. Nach den
Terroranschlägen vom 13.November 2015 in Paris berief sich Frankreich auf den Art. 42
Absatz 7 EUV und bat die EU-Mitgliedstaaten um Unterstützung bei militärischen Ope-
rationen in Syrien, Irak und Nordafrika. Am 17.November 2015 erklärte der Rat für Aus-
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Der Beschluss des Rates vom 11. Dezember 2017 beinhaltete Vorschriften be-
züglich der PESCO-Gründung, eine Liste der daran teilnehmenden Mitglied-
staaten, eine Liste der gemeinsamen, von den Mitgliedstaaten zu erfüllenden
Verpflichtungen in den fünf in Art. 2 a-e des Protokolls Nr. 10 genannten Be-
reichen, Beschlüsse über die Überwachungs-, Bewertungs- und Berichterstat-
tungsmodalitäten sowie über die Unterstützung durch den Europäischen Aus-
wärtigen Dienst (European External Action Service, EEAS) und die EDA und
schließlich Regelungen bezüglich der Finanzierung und der Beteiligung von
Drittstaaten an einzelnen Projekten.27 Die Mehrheit der oben erwähnten Ver-
pflichtungen war jedoch vage, z. B. die Verpflichtung zu vermehrten Bemühun-
gen zur Zusammenarbeit im Bereich der Cyberabwehr oder die Ankündigung
einer Optimierung von multinationalen Strukturen (»die teilnehmenden Mit-
gliedstaaten könnten sich verpflichten, sich den wichtigsten bestehenden und
etwaigen künftigen Strukturen, die an auswärtigen Maßnahmen im militä-
rischen Bereich beteiligt sind […] anzuschließen und darin eine aktive Rolle
wahrzunehmen«).28 Etwas konkreter waren wiederum die Verpflichtungen zur
Aufstockung der Investitionsausgaben für Verteidigungsgüter und des Anteils
der Ausgaben für Forschung und Technologie im Verteidigungsbereich,29 zur
Teilnahme an mindestens einem Projekt im Rahmen der PESCO, mit dem von
den Mitgliedstaaten als strategisch relevant festgestellte Fähigkeiten entwickelt
oder bereitgestellt werden, oder zur aktiveren Beteiligung an den Petersberg-
Missionen (u. a. Personal, Material, Ausbildung, Unterstützung für Übungen,
Infra struktur) und an den EU-Kampfgruppen (European Union Battlegroups,
EUBGs) (u. a. Durchführung von EU-Gefechtsverbandsübungen [Rahmen-
wärtige Angelegenheiten seine uneingeschränkte, aber nur politische Unterstützung für
Frankreich mit dem folgenden Eintrag im Protokoll dieser Ratstagung: »Für die Umsetzung
von Artikel 42 Absatz 7 ist kein förmlicher Beschluss oder eine Schlussfolgerung des Rates
erforderlich«, da es sich bei der Beistandshilfe für Frankreich nicht um »eine GSVP-Opera-
tion, sondern um eine Aktivierung der bilateralen Hilfe und Unterstützung« handeln sollte.
Vgl. Council of the European Union. Outcome of the Council Meeting, Brussels, 16 and
17No vember 2015, No. 14120/15, S. 6.
27 Vgl. Beschluss (GASP) 2017/2315 des Rates vom 11.Dezember 2017 über die Begrün-
dung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), S. 57–61.
28 Beschluss (GASP) 2017/2315 des Rates vom 11.Dezember 2017, S. 63. Im Dokument
wurden in diesem Kontext u. a. multinationale Streitkräfte: Eurokorps, EUROMARFOR,
EURO GEND FOR erwähnt. Vgl. S. 63.
29 Hierbei handelt es sich um die mittelfristig schrittweise Aufstockung der Investitionsausga-
ben für Verteidigungsgüter auf 20 Prozent der Gesamtausgaben im Verteidigungsbereich
sowie um die Aufstockung des Anteils der Ausgaben für Forschung und Technologie im
Verteidigungsbereich im Hinblick auf eine Annäherung an 2 Prozent der Gesamtausgaben
im Verteidigungsbereich. Vgl. ebenda, S. 62.
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nation/Framework State] und / oder zur Beteiligung an diesen Übungen [alle
EU- Mitgliedstaaten, die sich an EU-Gefechtsverbänden beteiligen]).30
Am 11. Dezember 2017 unterzeichneten die daran teilnehmenden Mitgliedstaa-
ten auch eine Erklärung, in der 17 im Rahmen der PESCO zu realisierende
Pro jekte aufgelistet waren.31 Der Rat für Auswärtige Angelegenheiten nahm
diesen eine solche Liste bestimmenden Beschluss an, der noch an demselben
Tag in Kraft trat.32 Bis zum Ende des Jahres 2021 wurden 60 Projekte mit mili-
ri schem und technischem Charakter für Systeme und Verbände im Boden-,
Luft-, Weltraum- und Meeresbereich sowie zu Cybersicherheit, Ausbildung und
Einrichtungen und der gemeinsamen Befähigung (z. B. Truppenmobilität) an-
genommen. Im Fall der Durchführung der PESCO-Projekte waren – ähnlich
wie bei den PADR-. EDIDP- und EDF-Projekten – die Länder Westeuropas am
aktivsten, wobei die Funktion der Rahmennation zumeist von Frankreich (10),
Deutschland (7), Italien (9), Griechenland (5) und Spanien (2) erfüllt wurde.
Auf dem Gebiet der Realisierung der PESCO-Projekte war die Aktivität der elf
osteuropäischen Staaten (einschließlich Polen) am geringsten, was sich auch mit
deren Durchführung der PADR-. EDIDP- und EDF-Projekte deckt.33
Künftige PESCO-Projekte können auch die Streitkräfte der WEU umfassen
(Art. 42 Abs. 3, EUV). Die PESCO-Projekte werden von den EU-Institutionen
und -organen sowie auf dem Niveau der Mitgliedstaaten verwaltet. Die wich-
tigsten Ent scheidungen und die Festlegung der Richtlinien obliegen dem Rat
für Aus rtige Angelegenheiten, der sich auf die Maßgaben der Hohen Vertre-
te rin der EU und des Militärausschusses der Europäischen Union (European
Union Military Committee, EUMC) stützt. Die Durchführungsbeschlüsse
30 Ebenda, S. 62–63.
31 Declaration on PESCO projects. In: consilium.europa.eu, https://www.consilium.europa.
eu/media/32020/draft-pesco-declaration-clean-10122017.pdf, S. 1–2 (15.06.2022).
32 Vgl. Beschluss (GASP) 2018/340 des Rates vom 6.März 2018 zur Festlegung der Liste
der im Rahmen der SSZ auszuarbeitenden Projekte. Amtsblatt der Europäischen Union L,
2018, Nr. 65, S. 24–27.
33 Diese Kooperation ist von großer Bedeutung, weil es sich dabei um die Vereinheitlichung
der Waffensysteme handelt: Die Armeen der EU-Mitgliedstaaten nutzen bis zu 178 ver-
schiedene Waffensysteme, während dies im Falle der USA nur 30 Waffensysteme be-
trifft. Vgl. Janusz Józef Węc: Reforma wspólnej polityki bezpieczeństwa i obrony Unii
Europejskiej w latach 2016–2017. In: Politeja 2018, H. 3, S. 58–61; Gotkowska: Polityka
bezpieczeństwa, S. 2, 8. Am 16.November 2021 traf der Rat für Auswärtige Angelegen-
heiten die Entscheidung über die Eröffnung der vierten Runde der Annahme von PESCO-
Projekten. Zu den bisherigen 46 Projekten kamen 14 neue hinzu, die seit Dezember 2021
zu realisieren sind. Vgl. Kalendarium: unijna współpraca w zakresie bezpieczeństwa i
obrony. In: consilium.europa.eu, https://www.consilium.europa.eu/ (2.05.2022).
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wer den von den teilnehmenden Mitgliedstaaten unter Führung einer Rahmen-
na tion in die Tat umgesetzt (Art. 4 Abs. 1–2, Art. 5 Abs. 1–3 des Beschlusses).34
Im Rah men der strategischen Überprüfung der PESCO-Projekte im Jahr 2020
wurde auf drei grundlegende Schwächen bei deren Realisierung verwiesen. Die
erste Schwäche betraf den Umstand, dass bisher lediglich 26 Projekte die voll-
ständige Einsatzfähigkeit erreicht haben oder sie bis 2025 erreichen würden (da-
runter nur drei im Bereich der Bodensysteme und Verbände, drei – im Bereich
der Meeressysteme, acht – im Bereich der gemeinsamen Befähigung, fünf – im
Bereich des Cyberraums und sieben bei Ausbildung und Einrichtungen). Die
zweite Schwäche beruhte darauf, dass nur einige EU-Mitgliedstaaten die multi-
laterale Kooperation im Bereich der Entwicklung der vollen Einsatzfähigkeit
als wesentlichen Aspekt der Entwicklung ihrer Streitkräfte berücksichtigten:
Die Mehrheit versuchte vor allem ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. Die
dritte Schwäche betraf die Tatsache, dass ein großer Teil der finanziellen Mittel
für die Rüstungsmodernisierungsprogramme der einzelnen Länder ausgegeben
wurde, wodurch die Mittel für multinationale Unternehmungen eingeschränkt
werden mussten.35
3.4 Zusammenarbeit mit Partnern. Europäische Friedensfazilität (EPF)
Am 17. Oktober 2016 bestätigte der Rat für Auswärtige Angelegenheiten in
seinen politischen Schlussfolgerungen, dass die Investition in die Widerstands-
fähigkeit von Staaten und Gesellschaften in der östlichen und südlichen EU-
Nachbarschaft sowie die Entwicklung eines integrierten Ansatzes zur Bewäl-
tigung von Konflikten und Krisen als zwei von fünf Prioritäten zu betrachten
sind, wie sie in der Globalen Strategie formuliert wurden.36 Dies hing mit den
neuen Herausforderungen und globalen Bedrohungen zusammen, die aus der
Entstehung des sog. Islamischen Staates, aus der Annexion der Krim und dem
Beginn des Kriegs im Donbas 2014 sowie aus der EU-Migrationskrise mit ihrem
Höhepunkt in den Jahren 2015–2016 resultierten. Im Anschluss an die obigen
Schlussfolgerungen wurde der Beschluss über die Schaffung eines neuen außer-
34 Vgl. Węc: Reforma, S. 59f.
35 Vgl. Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates zur strategischen Über-
prüfung der SSZ 2020, Brüssel, 20. November 2020, 13188/20, S. 2–10, 12–17. Aus
diesem Grund traf man in den politischen Schlussfolgerungen des Rates für Auswärtige
Angelegenheiten die Entscheidung, dass die PESCO-Projekte verändert, verbunden oder
sogar aufgelöst werden, wenn sie nicht die erwarteten Effekte bringen. Gleichzeitig soll
ihre Realisierung auf der politischen Ebene der EU sowie vom PESCO-Sekretariat genauer
analysiert werden. Vgl. dazu auch Gotkowska: Polityka bezpieczeństwa, S. 2.
36 Vgl. Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates zur globalen Strategie für
die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Luxemburg, 17.Oktober 2016, 13202/16, S. 2.
DOI: 10.13173/9783447120241.123
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138
budgetären Fonds – der sog. Europäischen Friedensfazilität (European Peace
Facility, EPF) – am 22. März 2021 vom Rat für Auswärtige Angelegenheiten
angenommen. Die EPF-Ausgaben sollen aus den Beiträgen der Mitgliedstaaten
gemäß der Höhe ihres BIP finanziert werden. Im Mehrjährigen Finanzrahmen
2021–2027 beläuft sich sein Gesamtbetrag auf 5,692 Mrd. EUR (Art. 2 des Be-
schlusses). Aus diesen Mitteln werden nur solche EU-Unternehmungen finan-
ziert, deren Ziel es ist, den Frieden zu erhalten, Konflikten vorzubeugen und die
internationale Sicherheit zu stärken (Art. 21 Abs. 2 lit. c EUV, Art. 1 Abs. 1 des
Beschlusses). Die EPF ersetzte zwei andere Fonds, und zwar den Mechanismus
ATHENA und die Europäische Friedensfazilität für Afrika (Art. 73 Abs. 1 des
Beschlusses). Ihre Ausgaben umfassten jedoch nicht nur die Kosten der militä-
rischen Missionen und Operationen, die der Mechanismus ATHENA bisher
tragen sollte, und die Kofinanzierung der Friedensunterstützungsoperationen in
Afrika, sondern auch eine Verbesserung der Kapazitäten im Militär- und Ver-
teidigungsbereich von Drittstaaten sowie von internationalen und regionalen
Organisationen durch eine Subventionierung von deren Infrastruktur und Aus-
rüstungen (Waffen und Munition), was ein absolutes Novum im Handeln der
EU darstellte.37
Nach der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine am 24. Feb-
ruar 2022 sowie angesichts der von russischen Soldaten massenhaft begange-
nen Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und vielleicht
sogar von Völkermord beschloss der Rat für Auswärtige Angelegenheiten, die
Ukraine durch die Finanzierung der Lieferung von Waffen- und Militäraus-
rüstung aus EPF-Mitteln zu unterstützen.38 Bis zum 24. Mai 2022 wurden vier
Hilfstranchen vereinbart, die sich auf 2 Mrd. EUR belaufen.39 Die finanzielle
Unterstützung aus den EPF-Mitteln besteht in der Erstattung der Kosten, die
37 Beschluss (GASP) 2021/509 des Rates vom 22.März 2021 zur Einrichtung einer Euro-
päischen Friedensfazilität und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2015/528. Amts-
blatt der Europäischen Union L, 2021, Nr. 102, S. 14–62. Europäische Friedensfazilität.
In: consilium.europa.eu, https://www.consilium.europa.eu/, S. 1f. (15.06.2022).
38 Vgl. Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidi-
gung – Für eine Europäische Union, die ihre Bürgerinnen und Bürger, Werte und Interes-
sen schützt und zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit beiträgt, Brüssel, 21.März
2022, 7371/22, S. 15.
39 Foreign Af fair s Counci l (Defen ce), 17.Mai 2022, https://www.consilium.europa.eu/pl/, S. 2
(15.06.2022). Rat der Europä ischen Un ion. Ukra ine: Rat eini gt sich au f weitere U nterst ützun g im
Rahmen der Europäischen Friedensfazilität. Pressemitteilung, Brüssel, 22.Mai 2022, h t t p s : //
www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/10/17/ukraine-council-
agrees-on-further-support-under-the-european-peace-facility/, S. 1f. (15.06.2022).
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die Mitgliedstaaten für die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung
an die Ukraine tragen müssen.40
Aus drei Gründen war der Beschluss des Rates für Auswärtige Angelegenhei-
ten innovativ: Erstens war er beispiellos und kann überdies eine bahnbrechende
Bedeutung für die Zukunft der Europäischen Union haben. Die EU als inter-
nationale, in erster Linie die wirtschaftliche Zusammenarbeit fördernde Orga-
nisation beschloss erstmals in ihrer Geschichte, eine Konfliktpartei mit ihren
eigenen Mitteln zu unterstützen. Alle EU-Mitgliedstaaten, die Waffen oder
Mi li tärausrüstung in die Ukraine schicken möchten, können solche finanziel-
len Mittel beantragen. Zweitens war auch die Tatsache von Belang, dass sich
die EU-Länder – unabhängig von den Entscheidungen der einzelnen Staaten
(Ungarn und Bulgarien erhoben Widerspruch gegen die Waffenlieferungen an
die Ukraine) – auf eine gemeinsame Finanzierung der Lieferungen an die Uk-
raine verständigten, weil eine derartige Entscheidung einstimmig zu treffen ist.
Drittens ist das Handeln der Europäischen Union rechtmäßig, obwohl die EU-
Verträge es eigentlich nicht zulassen, dass Haushaltsmittel für die Finanzierung
militärischer Operationen ausgegeben werden, denn dieser Grundsatz betrifft
die EPF als außerbudgetäres Instrument nicht.
4 Standpunkt der USA und der NATO
gegenüber der Implementierung der Globalen Strategie der EU
Den Standpunkt der USA und der NATO gegenüber der Implementierung der
Globalen Strategie der EU bestimmten die oben erwähnten politischen, in War-
schau und Brüssel von Donald Tusk, Jean-Claude Juncker und Jens Stoltenberg
unterzeichneten EU-NATO-Erklärungen vom 8. Juli 2016 und 10. Juli 2018.
Im Bereich der Realisierung der Ziele der bilateralen EU-NATO-Kooperation
bezog sich die Warschauer Erklärung auf das am 19. und 20. November 2010
in Lissabon angenommene Strategische Konzept der NATO, das am 4./5. Sep-
tember 2014 in Newport erarbeitete Programm zugunsten der Erhöhung der
NATO-Kampfbereitschaft, die Globale Strategie der EU vom 28. Juni 2016
sowie den am 8. und 9. Juli 2016 in Warschau angenommenen Beschluss der
NATO-Staats- oder Regierungschefs. Sie bestimmte ebenfalls acht strategische
Gebiete der engen Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO, von de-
40 Vgl. Mateusz Roszak, Maciej Miłosz: Unia będzie dalej zbroić Ukrainę. In: gazetapraw-
na.pl vom 14. April 2022, https://www.gazetaprawna.pl, S. 1f. (15.06.2022); vgl. To-
masz Bielecki: Efekt Putina. UE chce się poważnie dozbroić. In: polityka.pl vom 17.Mai
2022, https://www.polityka.pl, S. 1f. (15.06.2022).
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14 0
nen vier die bereits realisierten Projekte betrafen, wie etwa die Koordinierung
der Kooperation im Bereich des Krisenmanagements, gemeinsame Übungen und
Schulungen, Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungsindustrien und -for-
schungen sowie strategische Kommunikation.41 Die nächsten vier bezogen sich
wiederum auf die neuen Herausforderungen und Bedrohungen, wie etwa hybride
Kriegsführung und Desinformation, operative Zusammenarbeit im Mittelmeer-
raum zwecks der Bewältigung der EU-Migrationskrise sowie Cybersicherheit
und Stärkung der NATO-Verteidigungsfähigkeiten an der Ost- und Südflanke.
Diese Erklärung schuf somit die realen Voraussetzungen für eine Stärkung der
Synergie zwischen der EU und der NATO. Andererseits besiegelte sie jedoch die
bisherige Verteilung der internationalen Rollen zwischen den beiden Organisa-
tionen im transatlantischen System, das heißt die alleinige Verantwortung der
NATO für die operativen Handlungen im Fall eines militärischen Konflikts in
Europa und die Koordination der Zusammenarbeit zwischen dem Atlantischen
Bündnis und der EU im Bereich des Krisenmanagements in Friedenszeiten.42
Die Brüsseler Erklärung, die die militärische Mobilität, Cybersicherheit, hy-
bride Bedrohungen und den Kampf gegen den Terrorismus betraf, kündigte
die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO an,
was mit den Voraussetzungen der Globalen Strategie der EU (2016) korrespon-
dierte. Der gemeinsame Nenner der beiden Erklärungen war die Bekräftigung
der bisherigen internationalen Rollenverteilung zwischen der NATO und der
EU, gemäß der die EU sich mit dem Krisenmanagement befassen sollte, wäh-
rend die NATO die militärischen Operationen verantworten und den Atom-
schirm über der EU gewährleisten sollte.43 Allerdings gaben die Vertreter der
NATO – und der USA – in der Brüsseler Erklärung – im Gegensatz zur War-
schauer Erklärung – erstmals expressis verbis zu, dass die Entwicklung der GSVP
auch der Stärkung der transatlantischen Sicherheit dienen könne. Aus diesem
Grund unterstützten sie die in der Globalen Strategie der EU sowie in deren
Um setzungsdokumenten vorgesehene GSVP-Reform.44 Zu betonen sei, dass
41 Dieser Bereich sollte u. a. die Informationszusammenarbeit bezüglich der Herausforderun-
gen und Bedrohungen, einschließlich terroristischer Gefährdungen, umfassen.
42 Vgl. Joint declaration by the President of the European Council, the President of the Euro-
pean Commission, and the Secretary General of the North Atlantic Treaty Organization,
Warsaw 8 July 2016. In: consilium.europa.eu, http://www.consilium.europa.eu/, S. 1f.
(15.06.2022).
43 In diesem Sinn bezogen sich die beiden Erklärungen auf die Berlin-Plus-Vereinbarung (vom
12. und 17.Juli 2003), kraft deren der EU der Rückgriff auf NATO-Planungskapazitäten
bei einem von der EU geführten Einsatz und die Bereitstellung der NATO-Kommandostruk-
tur für EU-geführte Missionen garantiert wurden. Vgl. The NATO-EU Strategic Partnership,
Brussels 2007. In: nato.int, https://www.nato.int/docu/comm/, S. 4–5 (15.06.2022).
44 Vgl. Joint declaration on EU-NATO cooperation, Brussels, 10.Juli 2018, S. 1–3. Hierbei
DOI: 10.13173/9783447120241.123
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141
die Bestrebungen mancher EU-Mitgliedstaaten (insbesondere Frankreichs und
Deutschlands), die strategische Autonomie der EU gegenüber der NATO als
Stärkung der internationalen Position der Union zu begründen, von der rus-
sischen Aggression gegen die Ukraine und dem russisch-ukrainischen Krieg
(2022) auf äußerst schmerzhafte Weise verifiziert wurden.45 Diese Ereignisse
führten nicht nur zur Schwächung der internationalen Position Deutschlands
und Frankreichs, sondern zeigten vor allem die Schwäche – oder sogar die stra-
tegische Ratlosigkeit – der EU. Sie veranlassten u. a. auch Deutschland zur »Ver-
gegenwärtigung« der geopolitischen Bedrohungen seitens des aggressiven Russ-
land und im Anschluss daran zu einer Entscheidung über eine Neuorientierung
seiner Außen- und Sicherheitspolitik (Zeitenwende) sowie zur Erhöhung des
Verteidigungsbudgets der Bundesrepublik Deutschland. Verzweifelt wandten
sich fast alle EU-Mitgliedstaaten an die USA und die NATO – nicht aber an
die EU – mit der Bitte, ihre Verteidigung zu stärken. Am 18. Mai 2022 stellten
Finnland und Schweden sogar einen Antrag auf den NATO-Beitritt und am
5. Juli desselben Jahres unterzeichneten sie die Beitrittsprotokolle.46 Am 1. Juni
2022 sprach sich wiederum die dänische Gesellschaft mit einer Mehrheit von
66,9 Prozent der Stimmen für die Aufhebung der Opt-out-Klausel in der GSVP
aus, was bedeutete, dass Dänemark jetzt an den in diesem Bereich realisierten
sei jedoch anzumerken, dass amerikanische Rüstungskonzerne und sogar US-Politiker:in-
nen Bedenken finanzieller und geschäftlicher Natur bezüglich mancher EU-Projekte – z. B.
PESCO – äußerten.
45 Ein gutes Beispiel dafür ist u. a. der am 25.Mai 2018 während des Weltwirtschaftsforums
in St. Petersburg vom Präsidenten Emmanuel Macron gemachte Vorschlag, der den Auf-
bau einer nicht näher bezeichneten militärischen Struktur unter Beteiligung der EU, Frank-
reichs [sic!] und Russlands betraf, und der »uns ver trauensvoll forsch voranschreiten ließe«.
Damit stimmt auch die damals aufgestellte These überein: »in den letzten zwanzig Jahren
war es so, dass wir in der NATO unser Versprechen nicht voll gehalten haben, was die an-
deren gerechtfertigt beunruhigen konnte. Wir haben nicht das Vertrauen gezeigt, welches
Russland von uns erwartet hat«. Bei einer anderen Gelegenheit sprach Macron über »den
Hirntod« der NATO (2019) und behauptete, dass die Erweiterung der NATO sowie die
Entwicklung ihrer militärischen Infrastruktur in der Nähe der russischen Grenzen gegen-
wärtig keine Priorität des Bündnisses sein sollte, weil dies zu einer Eskalation des Konfliktes
(2020) führen könnte. Vgl. Janusz Józef Węc: Polska, Niemcy i Francja wobec konfliktu ro-
syjsko-ukraińskiego w latach 2013–2021. Analiza krytyczna. In: Józef M. Fiszer (Hrsg.):
Współpraca Polski, Niemiec i Francji w ramach Trójkąta Weimarskiego (1991–2021),
Warszawa 2022, S. 142–160; Aleksander Ksawery Olech: Ryzykowna gra Emmanu-
ela Macrona i stosunki francusko-rosyjskie. In: ine.org.pl vom 30.März 2020, https://
ine.org.pl/ryzykowna-gra-emmanuela-macrona-i-stosunki-francusko-rosyjskie, S. 5–7
(15.06.2022); Macron chce, by Europa uniezależniła się od Ameryki w kwestiach obro-
ny, ale Europa go nie słucha. In: politico.pl vom 26.Mai 2022, https://www.politico.pl/
?Analiza/, S. 2 (15.06.2022).
46 Macron chce, S. 1–3.
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14 2
Projekten teilnimmt.47 Nach diesen Erfahrungen wurde klar, dass jedes Projekt
der strategischen Autonomie der Union – so auch das im Folgenden besproche-
ne – eine Stärkung der internationalen Position der EU sowie deren Fähigkeit
voraussetzen muss, angesichts der internationalen Krisen zusammen mit oder
im Einvernehmen mit der NATO entschiedene Schritte zu unternehmen. Diese
Autonomie sollte wiederum das System der transatlantischen Sicherheit stärken
und nicht zur Konkurrenz mit dem Nordatlantikpakt führen.
5. Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung
als Konzept der strategischen Autonomie der EU
Die konzeptuellen Arbeiten an den langfristigen Aktivitätsrichtungen in der
GSVP wurden zur Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten
Hälfte des Jahres 2020 initiiert und als Strategischer Kompass bezeichnet. Das
Projekt dieses Dokuments wurde vom Europäischen Auswärtigen Dienst sowie
von den Agenturen für Innere Sicherheit einzelner EU-Mitgliedstaaten erarbei-
tet. Am 21. März 2022 wurde es unter dem Namen Strategischer Kompass für
Sicherheit und Verteidigung vom Rat für Auswärtige Angelegenheiten verab-
schiedet.48 Drei Tage später wurde er vom Europäischen Rat angenommen.49
47 Finlandia i Szwecja składają wnioski o członkostwo w NATO. Komentarze Instytutu Eu-
ropy Środkowej. In: ies.lublin.pl, https://ies.lublin.pl/, S. 1–3 (15.07.2022). Die Vorbehal-
te gegen Dänemarks Teilnahme an der GSVP wurden kraft des am 12.Dezember 1992
zwischen Dänemark und den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaf-
ten in Edinburgh getroffenen Abkommens eingeführt. Im Edinburgher Abkommen erhielt
Dänemark vier Opt-out-Klauseln, nachdem der Vertrag von Maastricht zuvor im selben
Jahr infolge einer Volksabstimmung abgelehnt worden war. Diese Ausnahmeregelungen
betrafen die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, den Euroraum, die GSVP, die
Politiken bezüglich der inneren EU-Sicherheit sowie die Unionsbürgerschaft (die Unions-
bürgerschaft ersetzt nicht die Staatsbürgerschaft). Dank dem Edinburgher Abkommen
nahmen die Dänen den Vertrag von Maastricht im zweiten Referendum von 1993 an. Vgl.
Denmark and the Treaty on European Union, oFFicial journal oF th e euroPean union C,
1992, Nr. 348, S. 1; Referendum w Danii w sprawie dołączenia do unijnej polityki obron-
nej. In: PAP vom 1.Juni 2022, https://razydzisiaj.pl/ aktualnosci/referendum-w-danii-
w-sprawie-dolaczenia-do-unijnej-polityki-obronnej/, S. 1f. (15.07.2022); Duńczycy za
współp racą obro nną w rama ch Unii Euro pejski ej. In: PAP vom 2.Juni 2022, https://tvn24.pl/
swiat/dania-mieszkancy-za-wspolpraca-obronna-w-ramach-unii-europejskiej-wyniki-
referendum-5735526/, S. 1f. (15.07.2022).
48 Vgl. Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidi-
gung, S. 1–47.
49 Europäischer Rat. Tagung am 24./25.März 2022. Schluss folgerungen, Brüssel, 25.März
2022, EUCO 1/22, S.3–4.
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14 3
Die erste Version des Dokuments wurde schon im November 2021 im Rat für
Auswärtige Angelegenheiten vom Hohen Vertreter der Union Josep Borrell prä-
sentiert. Die nächsten Versionen wurden im Februar und März 2022 bespro-
chen, wobei u. a. auch die neue geostrategische, mit der Aggression Russlands
gegen die Ukraine verbundene Si tua tion berücksichtigt wurde.50 Das langfristi-
ge Ziel des Kompasses soll die Erreichung der strategischen Autonomie der EU
bis zum 31. Dezember 2030 sein. Die kurzfristigen Ziele, die bis zum Ende des
Jahres 2025 zu erreichen sind, bestehen wiederum in der Realisierung der nach-
stehenden Aufgaben: (1) schnelleres und entschiedeneres Handeln der EU in
Krisensituationen; (2) Schutz der EU vor sich rasch verändernden Bedrohungen;
(3) Investitionen in nötige Möglichkeiten und Technologien; (4) Zusammen-
arbeit der EU mit bi- und multilateralen Partnern.51 Der Strategische Kompass
enthielt insgesamt über 80 konkrete Aufgaben mit festgelegten Realisierungs-
fristen, von denen 51 bis zum Ende des Jahres 2022 einzuleiten sind.52
Im Rahmen des ersten kurzfristigen Ziels sollen die an der GSVP teilnehmen-
den EU-Mitgliedstaaten noch im Jahre 2022 den Vertrag über die Entwicklung
der EU RDC bis zum 31. Dezember 2025 unterzeichnen. Bis zum 31. Dezember
2022 sind überdies gemeinsame operative Szenarien erstellen.53 2023 sollen die
regelmäßigen taktischen Übungen an Land und zur See zwecks der Erhöhung
der militärischen Mobilität und der Interoperabilität abgehalten werden. Die
EU RDC soll ihre Einsatzbereitschaft bis Ende des Jahres 2025 erreichen. Sie
sollen aus bis zu 5000 Soldaten – einschließlich Land-, Luft- und Marinekom-
ponenten – bestehen. Hinzu kämen noch die Cyberabwehr- und Weltraum-
module. Außer der Entwicklung der EU RDC soll die EU die sog. notwendigen
strategischen Enabler (strategic enablers) ausbauen, darunter strategische Luft-
transportsysteme, den Schutz der eigenen Kräfte, medizinische Versorgung, Cy-
berabwehr sowie Satellitenkommunikation und Nachrichten-, Überwachungs-
und Aufklärungsfähigkeiten.54 Die Autoren des hier analysierten Dokuments
empfahlen zudem eine flexiblere Beschlussfassung im Bereich der Vorbereitung
und des Einsatzes der EU RDC außerhalb der EU, »ohne dabei die politische
50 Vgl. Questions and answers: a background for the Strategic Compass. In: eeas.europa.eu,
https://www.eeas.europa.eu/eeas/, S. 1 (15.06.2022).
51 Vgl. Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 3–4. Questions and an-
swers, S. 1.
52 Vgl. Foreign Affairs Council (Defence), 17.Mai 2022, S. 1f.
53 Im Fokus der operativen Szenarien standen eingangs Rettungs- und Evakuierungseinsätze
sowie die Anfangsphase von Stabilisierungseinsätzen. Vgl. Rat der Europäischen Union.
Ein Strategischer Kompass, S. 14.
54 Vgl. European Union Rapid Deployment Capacity. EU Defence Strategic Compass, March
2022, https://www. eeas.europa.eu/, S. 1 (15.06.2022).
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14 4
und die finanzielle Solidarität [der EU] aufs Spiel zu setzen«.55 Der Entschei-
dungs prozess solle sich auf die Vorschriften des Art. 31 Abs. 1 EUV (Verfahren
der konstruktiven Stimmenthaltung) sowie auf die Beschlüsse des Art. 44 EUV
stützen, die die Bildung einer Koalition zwecks der Durchführung militärischer
Operationen unter Aufsicht der EU zulassen, was eine wesentliche Flexibilisie-
rung bedeuten würde. Die sich auf den Art. 44 EUV beziehenden Vorschriften
sollen bis zum 31. Dezember 2023 erlassen werden.56
Aus struktureller Sicht sollte die EU RDC als EU-Interventionsstreitkräfte aus
den schon seit einigen Jahren existierenden – aber etwas modifizierten – EUBGs
sowie aus der Organisation von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellten
Militäreinheiten bestehen. Die Modifizierung der EUBGs soll zur Entstehung
eines »[…] robustere[n] und flexiblere[n] Instrument[s] []« »[…] beispielsweise
durch maßgeschneiderte Truppenpakete mit Land-, See- und Luftkomponen-
ten, verschiedene Grade der Einsatzbereitschaft und längere Bereitschaftszei-
ten […]« führen.57 Die modifizierten EUBGs samt den der EU von den EU-
Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellten Streitkräften sollen je nach der Art
des Konflikts oder Krisensituation gemeinsam oder separat handeln. Eingesetzt
würde die EU RDC nicht nur bei militärischen Missionen – wie bei den bis-
herigen Petersberg-Missionen bzw. EUBGs –, sondern auch bei der Realisie-
rung von militärischen Operationen in nicht bedrohungsfreien Umgebungen,
zu denen der Zugang nicht beschränkt würde,58 was gewiss als Novum zu inter-
pretieren ist. Sie würden rasch als Antwort auf diverse direkte Bedrohungen
sowie Krisensituationen »in verschiedenen Phasen eines Einsatzes« 59 aufgestellt,
»z. B. beim Ersteinsatz, zur Verstärkung oder als Reservekraft zur Absicherung
eines Rückzugs«.60 Im Anschluss daran müssten die Kriterien der gemeinsamen
Finanzierung präzise bestimmt sowie die finanzielle Solidarität der EU-Mit-
55 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 14.
56 Ebenda, S. 14, 19.
57 Ebenda, S. 14. Im Rahmen der bisher existierenden EU-Kampfeinheiten setzte sich das
»Paket« der BG aus den nachfolgenden Elementen zusammen: (1) dem Streitkräftekom-
mando, (2) der eigentlichen BG (Infanteriebataillon, Kampfunterstützungsunterabteilun-
gen und Logistiktruppen sowie Sanitätsdienst des Heeres) sowie den anderen unterstüt-
zenden und sichernden Komponenten auf der operationellen und strategischen Ebene
(Luftwaffe, Marine, Militärlogistik und Spezialkräfte). Vgl. Anna Antczak-Barzan: Grupy
bojowe Unii Europejskiej niewykorzystaną szansą? In: kWartalnik bellona 2013, H. 3,
S. 54–56 .
58 Vgl. Questions and answers, S. 2.
59 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 14.
60 Ebenda. Vgl. auch Questions and answers, S. 2.
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14 5
gliedstaaten wesentlich gestärkt werden. Detaillierte Aufgaben, Besetzung und
finanzielle Aspekte wären bis zum 31. Dezember 2022 zu präzisieren.61
Die für militärische Missionen und Operationen bestimmten EU-Interven-
tionseinheiten sollten aufgrund des bis zum Ende des Jahres 2022 erstellten
»Register[s] für den Truppenrotationszyklus« Kampfeinsätze leisten.62 Sowohl
die Führung als auch die Kontrolle über die EU RDC würden von den vormals
gegründeten Landesvertretungen des Einsatzführungskommandos
63 oder vom
Militärischen Planungs- und Durchführungsstab (Military Planning and Con-
duct Capability, MPCC) übernommen, sobald er seine volle operative Kapazität
erreicht haben würde.64 Bis zum 31. Dezember 2025 soll der MPCC imstande
sein, alle militärischen Missionen ohne Exekutivbefugnisse sowie zwei militä-
rische Operationen mit Exekutivbefugnissen in kleinem Umfang oder eine in
mittlerem Umfang sowie taktische Militärübungen zu planen und durchzu-
führen.65 Nach 2025 soll er die Kapazität zur Durchführung von zusätzlichen
Missionen mit und ohne Exekutivbefugnisse erreichen.66
61 Vgl. European Union Rapid Deployment Capacity, S. 1f.
62 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 20.
63 Das wäre das nationale Einsatzführungskommando in den unterschiedlichen Ländern, wie
etwa das Einsatzführungskommando in Deutschland (Potsdam), Frankreich (Mont Valé-
rien), Italien (Rom) und Griechenland (Larisa).
64 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 14. Anhand der Schlussfolge-
rungen des Rates für Auswärtige Angelegenheiten vom 6.März 2017 wurde der Militäri-
sche Planungs- und Durchführungsstab (MPCC) eingerichtet, der auf strategischer Ebene
für die operative Planung und Durchführung von militärischen Missionen ohne Exekutivbe-
fugnisse (non-executive military missions) zuständig ist. Der MPCC arbeitete mit seiner be-
reits bestehenden zivilen Partnerinstitution, dem Zivilen Planungs- und Durchführungsstab
(CPCC), über eine gemeinsame Unterstützungskoordinierungszelle eng zusammen und
war auch dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee der EU unterstellt. Der Gene-
raldirektor des EU-Militärstabs wurde zum Direktor des MPCC. Vgl. Rat der Europäischen
Union. Pressemitteilung, 8.Juni 2017. EU-Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich: Rat be-
schließt militärischen Planungs- und Durchführungsstab (MPCC). In: consilium.europa.eu,
https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/06/08/military-
mpcc-planning-conduct-capability/ (10.11.2022).
65 Die militärischen Missionen ohne Exekutivbefugnisse sollen das Gastgeberland unterstüt-
zen und sie erfüllen somit nur eine Beratungsfunktion (nicht aber militärische Operationen,
z. B. Ausbildung, Schulung). Die militärischen Missionen mit Exekutivbefugniss en (exe-
cutive military missions) be fassen sich dagegen mit der Friedenswiederherstellung bzw.
mit der Stabilisierung nach einem Konflikt (militärische Operationen). Vgl. Decision EU
2017/971 – planning and conduct arrangements for EU non-executive Common Security
and Defence Policy missions. The EU’s Military Planning and Conduct Capability, h t t p s : //
eur-lex.europa.eu/, S. 1 (15.06.2022).
66 Vgl. Rat der Europäis chen Union. Ein S trategisch er Kompass, S. 19. Bisher konnte de r MPCC
nur die Missionen ohne Exekutivbefugnisse realisieren. Vgl. den Beschluss (EU) 2017/971
des Rates vom 8.Juni 2017 zur Festlegung der Planungs- und Durchführungsmodalitäten
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14 6
Im untersuchten Dokument wurde auch empfohlen, einen neuen Vertrag be-
züglich der zivilen Dimension der GSVP in der Jahresmitte 2023 zu unter-
schreiben, dessen Ziel es wäre, den Zivilen Planungs- und Durchführungsstab
(Civilian Planning and Conduct Capability, CPCC) zu stärken. Außerdem
könnte die EU dadurch befähigt werden, »innerhalb von 30 Tagen eine Mission
mit 200 zivilen Expert:innen zu entsenden« (z. B. »in den Bereichen Justiz und
In neres«).67 Langfristig soll es zur Gründung einer Gemeinsamen Unterstüt-
zungskoordinierungszelle kommen, die die Aufsicht über alle militärischen und
zivilen Operationen der EU ausüben würde. Die EU RDC »würde [auch] die
Europäische Friedensfazilität in hohem Maße nutzen«.68
Der Wesenskern des zweiten kurzfristigen Ziels – des Schutzes der EU vor den
sich rasch verändernden Bedrohungen – war die Stärkung des Einheitlichen
Analyseverfahrens (Single Intelligence Analysis Capacity, SIAC) sowie des Sa-
tellitenzentrums der Europäischen Union (European Union Satellite Centre,
EUSC) durch die EU-Mitgliedstaaten bis Ende 2025 zwecks der Kapazitäts-
erhöhung des Frühwarnsystems, des zivilen und militärischen Nachrichten-
und Sicherheitsdienstes sowie der Kommunikationssicherheit. Der Strategische
Kompass beantwortete jedoch nicht die Frage, ob das SIAC einen Teil der ope-
rativen Aktivitäten der Mitgliedstaaten übernehmen oder sich lediglich mit den
Analysen der strategischen Erkenntnisse befassen würde, die von den zivilen
und militärischen Nachrichten- und Sicherheitsdiensten der Mitgliedstaaten ge-
liefert werden. Bis Ende 2022 sollte man
das EU-Instrumentarium gegen hybride Bedrohungen entwickeln, das als
Rahmen für die koordinierte Reaktion auf gegen die EU und ihre Mitglied-
staaten gerichtete hybride Kampagnen dienen soll und beispielsweise Prä-
ventiv-, Kooperations-, Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen
sowie restriktive Maßnahmen umfassen und Solidarität und gegenseitigen
Beistand unterstützen soll.
Die EU solle »das Instrumentarium für die Cyberdiplomatie weiter ausbauen«
und »die EU-Politik im Bereich Cyberabwehr weiterentwickeln, um bei Cyber-
für militärische GSVP-Missionen der EU ohne Exekutivbefugnisse und zur Änderung des
Beschlusses 2010/96/GASP über eine Militärmission der Europäischen Union als Beitrag
zur Ausbildung somalischer Sicherheitskräfte, des Beschlusses 2013/34/GASP über eine
Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streit-
kräfte (EUTM Mali) und des Beschlusses (GASP) 2016/610 über eine militärische Aus-
bildungsmission im Rahmen der GSVP der Europäischen Union in der Zentralafrikanischen
Republik (EUTM RCA). Amtsblatt der Europäischen Union L, 2017, Nr. 146, S. 133–138.
67 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 20.
68 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass für mehr Sicherheit und Verteidi-
gung der EU im nächsten Jahrzehnt. Pressemitteilung, Brüssel, 21.März 2022, S. 1.
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14 7
angriffen für Schutz, Erkennung, Abwehr und Abschreckung sorgen zu kön-
nen«. Für dasselbe Jahr war ebenfalls die Entwicklung des Instrumentariums
»gegen ausländische Informationsmanipulation und Einmischung« voranzu-
treiben.69 Darüber hinaus soll bis Ende 2023 eine Weltraumstrategie der EU
für Sicherheit und Verteidigung erarbeitet werden, und bis zum 31. Dezember
2025 wird man die EU-Mechanismen zur Erfassung der maritimen Sicherheits-
lage weiterentwickelt und gestärkt haben, um die Rolle der EU als Garant der
maritimen Sicherheit zu verbessern.70 Bis 2023 sollen auch die Maßnahmen der
Europäischen Union zur Unterstützung der Ziele der Abrüstung, Nichtverbrei-
tung und Rüstungskontrolle verstärkt werden.71
Das dritte kurzfristige Ziel – Investitionen in nötige Möglichkeiten und Tech-
nologien – verpflichtete die Mitgliedstaaten zu einer wesentlichen Erhöhung der
Ausgaben für die Verteidigung zwecks der Stärkung der zivilen und militäri-
schen Verteidigungsfähigkeiten der EU in den Bereichen Land, Luft, See, Welt-
raum und Cyberraum, des Ausbaus der technologischen und industriellen Basis
der europäischen Verteidigung sowie der Entwicklung der technologischen In-
novationen im Bereich der Verteidigung unter Berücksichtigung der PESCO
und der EDF.72 Im Anschluss daran wird ein Drittel der 60 laufenden Projekte
im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit bis Ende 2025 rea-
lisiert werden. Außerdem sollen die Ausgaben für den EDF u. a. durch den Zu-
gang der Verteidigungsindustrie zu privater Finanzierung sowie zu den Mitteln
der Europäischen Investitionsbank (European Investment Bank, EIB) erhöht
werden.73 Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten kündigten auch die Inten-
sivierung der Arbeit an der Entwicklung und Beschaffung der »erforderlichen
strategischen Enabler, wie etwa Lufttransport, Luftbetankung, Hubschrauber,
Nach richtendienst, Beobachtung und Aufklärung«, an, wodurch die Durch-
führung von Missionen und Operationen in vollem Umfang, einschließlich
der Nut zung der EU RDC, möglich gemacht wird. Darüber hinaus wurde be-
69 Questions and answers, S. 3. Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass,
S . 2 7–28 .
70 Vgl. Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 28.
71 Hierbei handelt es sich auch dar um, die Staaten mit dem höchsten Atomwa ffenpotential zu
dessen Reduktion »nach Ablauf des START-Vertrags« zu bewegen. Vgl. ebenda, S. 29. Im
Fokus steht hier auch die Verlängerung des Vertrags zur Verringerung strategischer Waffen
(New START oder START III [russ.]), dessen Laufzeit die USA und Russland 2021 für wei-
tere fünf Jahre prolongierten. Vgl. Witold Rodkiewicz: Rosja uzyskuje przedłużenie ukła-
du START-3. In: oŚroDe k StuDióW WSchoDnich. analizy 2021, https://ww w.osw.waw.pl/,
S. 1 (2.05. 2022).
72 Vgl. Questions and answers, S. 4; Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass,
S. 30–38.
73 Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 37.
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14 8
kannt gegeben, dass sie beabsichtigen, die neuen strategischen Fähigkeiten, wie
etwa un bemannte Marineplattformen, Luftabwehr- und Luftkampfsysteme der
Zukunft, Plattformen für die weltraumgestützte Erdbeobachtung, Technolo-
gien für die Weltraumlageerfassung und weltraumgestützte Kommunikations-
dienste, logistische Bodensysteme (insbesondere Hauptkampfpanzer) sowie ky-
ber ne ti sche Plattformen zu entwickeln. Die neuen technologischen Fähigkeiten
sollen »in den Händen der Mitgliedstaaten« bleiben und »sowohl im Rahmen
der nationalen als auch der multinationalen Strukturen (NATO und UNO)
ge nutzt werden«.74
Im Rahmen des vierten kurzfristigen Ziels verpflichteten sich die Mitglied-
staaten (1) zur Intensivierung der Zusammenarbeit sowohl mit multilateralen
strategischen Partnern (NATO, UNO) als auch mit regionalen Partnern, insbe-
sondere mit der OSZE, der Afrikanischen Union (African Union, AU) und dem
Verband Südostasiatischer Nationen (Association of South-East Asian Nations,
ASEAN); (2) zur Weiterentwicklung der Kooperation mit den bilateralen stra-
tegischen Partnern, wie etwa USA, Kanada, Großbritannien, Norwegen und Ja-
pan; (3) und zur Stärkung der Partnerschaft mit den Ländern des Westbalkans,
in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU, in der indopazifischen
Region und in Lateinamerika.75
Zu betonen ist, dass der Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidi gung
(2022) – im Vergleich zu den European Headline Goals 2003 und 2010 – sechs
In novationen enthielt: (1) die EU RDC ist für das Krisenma nage ment und die
Ope rationen (darunter die Teilnahme an solchen bewaffneten Konflikten, zu de-
nen der Zugang nicht beschränkt wurde) zuständig; (2) Entscheidung über die
Entwicklung der sog. Enabler (darunter u. a. eigener Luft transport mit Luft be-
tankung 76 und die oben erwähnten strategischen Fähigkeiten); (3) Ein h rung
neuer, sich auf Szenarien und regelmäßige Übungen von Einhei ten der Schnel-
len Eingreiftruppen stützende Planungsregeln; (4) flexible re Be schluss fas sung in
der GSVP, besonders in Bezug auf die Nutzung der EU RDC; (5) Stärkung der
bei den Stäbe für die Operationsplanung und -durchführung, wobei der MPCC
das Recht auf die Planung, Durchführung und Füh rung der Operationen mit
Exe kutivbefugnissen erhielt. Überdies war der Strategische Kompass ein wei-
teres Dokument, das auf zwei relevante recht liche Bedin gun gen verwies: (a) er
rückte die Bedeutung der sich aus der Bei stands klausel (Art. 42 Abs. 7 EUV)
und der Solidaritätsklausel (Art. 222 AEUV) ergebenden Verpflichtungen der
74 Questions and answers, S. 5.
75 Ebenda, S. 6; Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 39–46.
76 Bisher fehlte dieses System in der EU, die immer den strategischen Transport der Dritt-
staaten nutzen musste, wenn sie ihre militärischen Missionen in die Zonen des militärischen
Konflikts schickte.
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14 9
EU in den Vordergrund; (b) er betonte die Aufrechterhaltung der bisherigen
Be ziehungen zwischen der EU und der NATO. Die EU RDC sollte die NATO
auf keinen Fall ersetzen, sondern deren Handeln nur im Bereich des Krisen-
manage ments sowie bei bewaffneten Konflikten unterstützen. Der Nordatlan-
tikpakt mit seinem atomaren Schirm blieb also weiter die Grundlage der kol-
lektiven Verteidigung der Europäischen Union;77 (6) Der Strategische Kompass
verwies auf Russland und die Volksrepublik China als jene Länder, von denen
die hauptsächlichen Gefährdungen für die internationale Sicherheit ausgehen.78
Der Standpunkt einzelner EU-Mitgliedstaaten gegenüber dem Strategischen
Kom pass war unterschiedlich: Seine Voraussetzungen und Ziele wurden vor
allem von Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden gefördert,
während u. a. Tschechien und Österreich Bedenken hegten.79 Dabei ist jedoch
zu betonen, dass der Erfolg des Strategischen Kompasses von der Gewinnung
einer möglichst hohen Zahl an EU-Mitgliedstaaten (darunter auch der elf Staa-
ten Mitteleuropas) abhängt. Andernfalls dürfte er das Schicksal der European
Head line Goals 2003 bezüglich der Entwicklung von Schnellen Eingreiftrup-
pen und der European Headline Goals 2010 zur Aufstellung der BGs teilen.80
6 Schlussfolgerungen
Die Analyse des zugänglichen Quellenmaterials bewies die beiden im vorliegen-
den Beitrag aufgestellten Forschungshypothesen. Falls es infolge der Reform der
GSVP zur Entwicklung der EU RDC und dadurch zur Erreichung ihrer opera-
tiven Kapazität im Jahre 2025 kommen sollte, wird dies der der Europäischen
Union zu einer Stärkung ihrer Position auf der internationalen Bühne verhelfen
(Hypothese 1). Allerdings handelt es sich bei der strategischen Autonomie der
EU nicht um die Bestrebungen, die auf eine Stärkung der Position der EU auf
77 Vgl. Rat der Europäischen Union. Ein Strategischer Kompass, S. 17.
78 Vgl. ebenda, S. 5–7, 9–11, 18, 42.
79 Aneta Zachova: O bronność: Stra tegiczny kompas UE n arusza kompetenc je państw cz łon-
kowskich? In: eur activ vom 19.11.2021, https://www.euractiv.pl/, S. 1 (2.05.2022); Alek-
sandra Br zozowski: Nowa strate gia wojskowa UE: Europa bę dzie lepiej prz ygotowana na
kryzysy? In: eur activ vom 10.11.2021, https://www.euractiv.pl/, S. 1–4 (2.05.2022); Do-
minik Moliński: Unia Europejska chce mieć siły szybkiego reagowania i podaje termin. In:
koMPaS StrateGiczny, iar, 10.11.2021, https://next.gazeta.pl/, S. 1 (2.05.2022); Josep Bor-
rell: Strategiczny Kompas dla Europy, 12.11.2021, https://www.project-syndicate.org/,
S. 1f. (2.05.2022).
80 Bemerkenswerterweise ist der Standpunkt der USA gegenüber dem Strategischen Kom-
pass noch nicht klar.
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der internationalen Bühne vis-à-vis der NATO hinauslaufen, wie es manche
EU-Mitgliedstaaten – insbesondere Frankreich und Deutschland – in den letz-
ten Jahren wollten. Vielmehr geht es hierbei darum, dass die EU einen wesent-
lichen Beitrag für die Stärkung des transatlantischen Sicherheitssystems leistet
(Hypothese 2). Infolge des bisherigen Prozesses der Implementierung der Glo-
balen Strategie (2016) gelang es der EU, deutliche Fortschritte in der Rüstungs-
zu sammenarbeit (PADR, EDIDP, EDF), in der militärisch-technischen Koope-
ration (PESCO) sowie in der Zusammenarbeit mit ihren Partnern (EPF) zu
erreichen (Antwort auf die erste Forschungsfrage). Nach dem Angriff Russlands
auf die Ukraine im Februar 2022 sowie angesichts der von russischen Soldaten
in großem Ausmaß begangenen Kriegsverbrechen – vielleicht sogar von Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit und Völkermord – beschloss die EU zum ersten
Mal in ihrer Geschichte, die Lieferung von Waffen- und Militär aus rüstung für
einen Drittstaat (hier: die Ukraine) aus ihren eigenen Mitteln zu finanzieren.
Die Realisierung dieser neuen Projekte hatte keine negativen Aus wirkungen auf
die Beziehungen zwischen der EU und der NATO, die durch Russ lands Aggres-
sion gegen die Ukraine sogar noch gefestigt wurden (Antwort auf die zweite
Forschungsfrage). Überdies betrachteten die NATO-Staaten – einschließlich
der USA – diese Projekte als Ergänzung der transatlantischen Zusammenarbeit,
was sich mit den Beschlüssen der gemeinsamen EU-NATO-Erklärung (2018)
deckt. Ihre herausragende Bedeutung bestand überdies darin, dass die NATO
– darunter auch die USA – erstmals expressis verbis anerkannte, dass die Ent-
wicklung der GSVP die transatlantische Sicherheit stärkt. Im Anschluss daran
unterstützten sie die Reform dieser Politik. Zu betonen ist jedoch, dass einige
amerikanische Rüstungskonzerne eingangs Bedenken bezüglich einzelner PE-
SCO-Projekte aus Angst vor der Konkurrenz seitens europäischer Rüstungsfir-
men äußerten. Die Einstellung der EU-Mitgliedstaaten zur Durchführung der
oben erwähnten GSVP-Reformprojekte war bisher ambivalent (Antwort auf die
dritte Forschungsfrage). Während die Staaten Westeuropas an der Realisierung
der Projekte der Rüstungszusammenarbeit und militärisch-technischen Koope-
ration in Gänze teilnahmen, verhielten sich die Staaten Mitteleuropas gegen-
über jenen Unternehmen äußerst reserviert. Eine ähnliche Trennlinie unter den
EU-Mitgliedstaaten ist bei deren Einstellung zum Strategischen Kompass für
Sicherheit und Verteidigung beobachtbar. Große Unterstützung fand er näm-
lich bei Deutschland, Frankreich, Italien sowie den Niederlanden, wohingegen
Tschechien und Österreich Zweifel daran äußerten. Für einen möglichst großen
Erfolg des Strategischen Kompasses ist die Gewinnung einer möglichst hohen
Zahl von EU-Mitgliedstaaten – auch der Staaten Mitteleuropas – erforderlich.
Andernfalls dürfte er das Schicksal der European Headline Goals 2003 bezüg-
lich der Entwicklung von Schnellen Eingreiftruppen und der European Head-
line Goals 2010 zur Aufstellung der BGs teilen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt
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151
ist der Standpunkt der USA gegenüber dem Strategischen Kompass noch nicht
klar. Dabei ist jedoch anzumerken, dass der Entwurf zur Einrichtung des EPF
sowie die Entscheidung über die Lieferung von Waffen und Militärausrüstung
an die Ukraine von allen EU-Mitgliedstaaten solidarisch angenommen wurden,
was als gutes Zeichen für die Zukunft zu interpretieren ist. Bei der Antwort
auf die vierte Forschungsfrage soll hervorgehoben werden, dass trotz der oben
genannten Leistungen die Bestrebungen der EU für das Erreichen der strategi-
schen Autonomie im Jahre 2030 durch Russlands Aggression gegen die Ukraine
(2022) verifiziert wurden. Dadurch wurde ein weiteres Mal bestätigt, dass die
amerikanische Führung innerhalb des Sicherheitssystems unerlässlich ist. Aus
diesem Grund weisen die Erfahrungen der EU mit dem russischen Angriff auf
die Ukraine sowie mit dem russisch-ukrainischen Krieg (2022–2023) darauf
hin, dass jedes Projekt der strategischen Autonomie der Europäischen Union
eine Stärkung der internationalen Position der EU sowie deren Fähigkeit vor-
aussetzen muss, angesichts der internationalen Krisen zusammen mit oder im
Einvernehmen mit der NATO entschiedene Schritte zu unternehmen. Diese
Autonomie sollte wiederum das System der transatlantischen Sicherheit stärken
und nicht zur Konkurrenz mit dem Nordatlantikpakt führen.
Aus dem Polnischen von Piotr A. Owsiński
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»Europäische Krisen«
und die strukturelle Weiterentwicklung
der Europäischen Union
Jan Barcz, Konferenz der Botschafter der Republik Polen (RP), Team Europe
“European crises” and the systemic evolution of the EU
The origins of the integration process should be sought in the tragic experience
of World War II. And the subsequent stages of the evolution of the Communities
and then the European Union are related to the challenges (“crises”) that oc-
curred in the European and global international environment (fuel crisis of the
1970s), political tensions of the first half of the 1980s (the establishment of the
internal market project), German reunification (the EMU project), political and
constitutional changes in the CEE (“big” enlargement), civil war in the Balkans
(the programme for the accession of the Western Balkan states), challenges of
the first decade of the 21st century (the Lisbon Treaty), the financial crisis (euro-
zone sanitation and consolidation), the COVID-19 pandemic (EU flexibility).
In general, the response to the major challenges demonstrates the flexibility of
the Union and the determination of its member states to maintain and devel-
op the process of European integration. This is also demonstrated by closing
ranks in the transatlantic relations and the EU’s leading role in the creation and
management of a major international programme to support Ukraine against
Russian and Belarusian aggression. Arguably, it will also contribute to the dis-
crediting and radical weakening of the anti-European populist and nationalist
movement that undermines the importance of democracy along with the rule of
law as the chief binder of the European integration process.
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155
1 Einleitung
In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 fiel Russland unter Beteiligung
von Belarus in die Ukraine ein und beging so einen Akt der Aggression.1 Die
russische Armee verhält sich während des Kriegs in der Ukraine außerordentlich
brutal, indem sie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und –
worauf immer mehr Beweise hindeuten – Verbrechen im Sinne von Völkermord
begeht. Zugleich ist die Aggression Russlands gegen die Ukraine gegen das
europäische, demokratische Wertesystem gerichtet und zielt auch auf eine De-
montage des Prozesses der europäischen Inte gra tion (der Europäischen Union)
sowie des Europäischen Sicherheitssystems, das sich auf das Nordatlantische
Bündnis gründet.2 Es muss also nicht ausführlicher bewiesen werden, dass dies
in der gegenwärtigen Si tua tion den Hauptbezugspunkt für Betrachtungen über
den Einfluss der »europäischen Krisen« auf die strukturelle Weiterentwicklung
der EU darstellen muss.
Das ist umso begründeter, als die EU, die NATO und die übrigen Staaten der
demokratischen Welt entgegen den Erwartungen des Putin-Regimes mit einer
Geschlossenheit auf den Überfall Russlands auf die Ukraine regierten, die bis-
lang ihresgleichen sucht: sie verurteilten den Angriff und die von der russischen
Armee begangenen Verbrechen, kündigten die Bestrafung der Verursacher dieser
Verbrechen an und verhängten in einem bis dahin beispiellosen Ausmaß Sank-
tionen gegen Russland, sie gewähren der Ukraine militärische Unterstützung
und schaffen gleichzeitig ein riesiges internationales Programm humanitärer
und ökonomischer Hilfe (den sog. neuen Marschall-Plan), zudem konkretisiert
sich auch der Weg der Ukraine zur EU-Mitgliedschaft.3 Die Stärkung der trans-
atlantischen Zusammenarbeit geht mit dem zügigen Prozess der Erlangung der
Mitgliedschaft in der NATO durch Finnland und Schweden einher – also von
Staaten, die bisher konsequent an einer Neutralitätspolitik festgehalten hatten.
All diese Umstände bewirken, dass die Herausforderungen, vor denen die EU
steht, in einem völligen neuen Licht zu sehen sind: sowohl diejenigen, die sich
1 United Nations General Assembly Resolution ES11/1, adopted on 2 March 2022. In:
un.org, https://www.un.org/press/en /2022/ga12407.doc.htm (23.05.2022).
2 Erklärung von Kommissionspräsidentin von der Leyen auf der gemeinsamen Pressekonfe-
renz mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg und dem Ratspräsidenten Michel, 24.Feb-
ruar 2022, Brüssel, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/pl/statement
221332 (28.05.2022).
3 Ukraina należy do Europy! Wezwanie do stworzenia kompleksowego, konkretnego i efek-
tywnego planu włączenia Ukrainy do Unii Europejskiej. Stanowisko Konferencji Ambasa-
dorów RP z dnia 8 marca 2022 r.. In: monitorkonstytucyjny, https://monitorkonstytucyjny.
eu/archiwa/21254 (23.05.2022).
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156
auf eine Neudefinition ihrer Handlungsprioritäten beziehen als auch die, bei
denen es um die Weiterentwicklung ihrer Struktur (ihres institutionellen Sys-
tems) geht.
In beiden Bereichen sind grundlegende Veränderungen im europäischen Inte-
gra tionsprozess eingetreten,4 insbesondere in den letzten dreißig Jahren: Ein
wesentlicher Maßstab war der vor dreißig Jahren, am 7. Februar 1992, unter-
zeichnete Vertrag über die Europäische Union, der am 1. November 1993 in
Kraft trat und zu Recht nicht nur als Meilenstein in der Entwicklung der euro-
päischen Inte gra tion bezeichnet wird, sondern vor allem als »Durchbruch« in
diesem Prozess.5
Nach den nächsten Änderungsverträgen – dem Vertrag von Amsterdam (1999)
und dem Vertrag von Nizza (2003) – sowie der Überwindung der Struktur-
krise der Europäischen Union, die mit der Ablehnung des Verfassungsvertrags
verbunden war, wurde die Union kraft des am 13. Dezember 2007 unterzeich-
neten Vertrags von Lissabon (der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat) in eine
kohärente internationale Organisation umgestaltet. Die »EU nach Lissabon«
sah sich im Laufe von etwas mehr als zehn Jahren ihres Bestehens mit vier sehr
ernsten Krisen konfrontiert: mit der Finanzkrise (2007/2008), der Migrations-
krise (2015–2017), der COVID-19-Krise und der Krise der Nichtbeachtung ge-
meinsamer Werte (insbesondere der Rechtsstaatlichkeit) durch einige Mitglied-
staaten (Ungarn und Polen).
Die Überlegungen dazu, welche Konsequenzen die Folgen des Angriffs Russ-
lands auf die Ukraine für die Struktur der Europäischen Union haben wird,
machen es erforderlich, zuerst das Ausmaß der strukturellen Herausforderungen
zu bestimmen, die eine Folge früherer »europäischer Krisen« sind, um anschlie-
ßend jene Probleme zu präzisieren, die mit der Reaktion der EU und der NATO
auf die russische Aggression verbunden sind.
4 Zum Thema der Reformen im europäischen Inte gra tionsprozess im historischen Überblick:
Alicja Sikora-Kaleda: Historia integracji europejskiej i rozwój prawa unijnego. In: Stani-
sław Biernat (Hrsg.): System prawa Unii Europejskiej, Bd. I., Warszawa 2020, S. 51– 97.
5 Back to Maastricht: Obstacles to Constitutional Reform within the EU Treaty (1991–2007).
Edited by Stefania Baroncelli, Carlo Spagnolo and Leila Simona Talani, Newcastle upon
Ty ne 20 07.
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157
2 Das Erbe des Vertrags von Maastricht
Die Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht wurden in einer Zeit gro-
ßer Herausforderungen, mit denen sich Europa und der (west)europäische Inte-
gra tionsprozess damals konfrontiert sahen, geführt und abgeschlossen 6:
1) die Staaten Mittel- und Osteuropas erkämpften ihre Unabhängigkeit,
Deutsch land vereinigte sich, die Sowjetunion zerfiel und der brutale Bür-
gerkrieg auf dem Balkan verschärfte sich;
2) die Europäischen Gemeinschaften schüttelten die »Eurosklerose« ab, sie
schu fen ein Programm für die Schaffung eines Binnenmarkts (mit der vollen
Li be ralisierung der vier Freiheiten), das große Programm einer einheitlichen
Wäh rung (Euro) und der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungs-
union wurde abgeschlossen, die wirtschaftliche Inte gra tion musste Unterstüt-
zung bei der Koordinierung der Außenpolitik der Mitgliedstaaten und ihre
stär kere Zusammenarbeit im Bereich innerer Angelegenheiten erlangen; dies
ging einher mit der Gewährleistung der Freizügigkeit der Bürger der Mit-
gliedstaaten auf dem Territorium der Gemeinschaften (die Anfänge des Auf-
baus des Schengenraums) sowie der Notwendigkeit einer stärkeren Ver bin-
dung der Bürger mit dem Wirken der Gemeinschaft (Unionsbürgerschaft);
3) die damalige »EG-12« musste zugleich auf die Beitrittsanträge der EFTA-
Staa ten antworten: schlussendlich traten 1995 Österreich, Finnland und
Schweden der EU bei (damit stieg die Zahl der Mitgliedstaaten auf 15),
und für die anderen EFTA-Staaten wurde (im Jahr 1994) der Europäische
Wirt schaftsraum geschaffen, eine Art fortgeschrittene Assoziierung. Zu-
gleich wurde die Perspektive des Beginns von Beitrittsverhandlungen mit
den »neuen Demokratien« (»große« Erweiterung) aktuell.
Dank des Vertrags von Maastricht und der ihm folgenden Änderungsverträge
(Ver trag von Amsterdam, Vertrag von Nizza) konnten die oben genannten He-
rausforderungen im Prozess der europäischen Inte gra tion gut bewältigt werden:
die EU wurde geschaffen, und obwohl sie strukturell nicht einheitlich war (sie
beruhte auf drei Säulen), so umfasste sie doch mit ihrem gemeinsamen insti-
tutionellen Rahmen die Außenpolitik, die Zusammenarbeit der Justiz und in
den inneren Angelegenheiten; in den Vertrag, der die Europäische Union schuf,
wurde das Programm der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
(EWWU) eingebunden, das zu Beginn des Jahres 2002 zur Einführung der ge-
6 Die folgenden Ausführungen berufen sich auf meine Analyse in: Jan Barcz: 30 lat temu zo-
stał po dpisany Traktat z Maastricht. I n: monitorkonst ytucyjny.eu vom 05.02.2022, h t t p s : //
monitorkonstytucyjny.eu/archiwa/20906 (7.02.2022).
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meinsamen Währung (Euro) führte – zurzeit gehören 19 Staaten der Eurozone
an; dies ging mit einer vertieften Liberalisierung der vier Freiheiten des Binnen-
markts einher, wozu vor allem die grundsätzliche Änderung in der Beschlussfas-
sung im Rat diente, die auf dem Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip bei der
Beschlussfassung zum Prinzip qualifizierter Mehrheitsentscheidungen beruhte;
schließlich stellte der Vertrag von Maastricht den Schutz der Grundrechte des
Individuums in den Mittelpunkt des Inte gra tionsprozesses, was in der Schaf-
fung einer Unionsbürgerschaft zum Ausdruck kam.
Die neue Etappe in der Strukturentwicklung des europäischen Inte gra-
tionsprozesses, dessen Anfang der Vertrag von Maastricht einleitete, trug zu-
gleich zur Konkretisierung einer Reihe von Herausforderungen bei. Sie haben
auch in der gegenwärtigen Debatte über die Zukunft der EU eine Schüssel-
bedeutung:
1) Der Vertrag von Maastricht und die folgenden Änderungsverträge haben
die Kompetenzen, die den Gemeinschaften (gegenwärtig: der Union) durch
die Mitgliedstaaten übertragen wurden, erheblich erweitert, was zu ernst-
haften Kontroversen auf der Ebene einzelner europäischer Länder führte
(an deren Anfang das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
1993, das sog. Maastricht-Urteil, stand) – also zu Kontroversen, die sich
auf die Effizienz des Gemeinschaftsrechts (gegenwärtig: des EU-Rechts)
auswirkten, die in dem Vorwurf zum Ausdruck kamen, dass der Gerichtshof
der Europäischen Union »ultra vires« handele;
2) Mit dem Vertrag von Maastricht beginnt sich die Spannung zwischen dem
»Intergouvermentalismus« (der Rolle der Mitgliedstaaten) und der »Supra-
nationalität« (Gemeinschaftsmethode) zu verschärfen, umso mehr, als die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sogar nach dem In-
krafttreten des Vertrags von Lissabon der intergouvernementalen Methode
untergeordnet bleibt;
3) Seit dieser Zeit wächst auch das Problem der demokratischen Legitimation
der EU, das sich auf die Rolle des Europäischen Parlaments und der natio-
nalen Parlamente im EU-Beschlussfassungsprozess sowie die Stärkung der
EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft konzentriert (vgl. den gegenwärti-
gen Art. 2 EUV);
4) Die mit dem Vertrag von Maastricht verbundenen Herausforderungen tru-
gen zu einer vertieften Diskussion über die innere Differenzierung des Sta-
tus der Mitgliedstaaten im Rahmen des europäischen Inte gra tionsprozesses
bei (Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, differenzierte Inte gra-
tion); es tauchte die sog. Schengen-Methode auf, deren Name sich vom
Schengener Abkommen (1985) ableitet, kraft dem nur eine Gruppe der
damaligen Mitgliedstaaten (die Benelux-Staaten, Frankreich und die Bun-
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159
desrepublik) beschloss, die »physische« Kontrolle an den diese Länder tei-
lenden Grenzen aufzuheben; das Wesen dieser Methode besteht darin,
dass nur eine bestimmte Gruppe von Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Ver-
tiefung des Inte gra tionsprozesses ergreift; sie kann einerseits die Kohärenz
des europäischen Inte gra tionsprozesses bedrohen, andererseits aber die
Möglichkeit zu seiner weiteren qualitativen Entwicklung schaffen; es ist sym-
ptomatisch, dass sie die EU insbesondere während des Auftauchens neuer
»europäischer Krisen« begleitet.
Und schließlich gab der Vertrag von Maastricht Anlass zu einer emotionalen
De batte über das angestrebte Modell des europäischen Inte gra tionsprozesses.
Die Anhänger einer Vertiefung dieses Inte gra tionsprozesses sehen in der EU
den Keim für den Bau eines »europäischen Bundesstaates«, dies wiederum nut-
zen die Euroskeptiker und Gegner des Inte gra tionsprozesses aus, indem sie auf
dieser Grundlage einen »imaginierten« Gegner kreieren, der (je nach Einstel-
lung) im Namen der Verteidigung der Nationalstaaten, der Souveränität, der
na tionalen Identität, der Bekämpfung eines »nationslosen europäischen Staates«
etc. zum dankbaren Angriffsobjekt wird. Die Ansicht, dass die Union in einen
»euro päischen Bundesstaat« umgestaltet werden sollte, erfordert aus diesem
Grund eine vorsichtige Beurteilung, umso mehr als sie (entgegen den Inten-
tionen der Anhänger der europäischen Inte gra tion) mehr Schaden als Nutzen
bringt (wofür die Ablehnung des Verfassungsvertrags in der Vergangenheit ein
Beweis war). Sogar wenn im ernsthaften wissenschaftlichen Diskurs die EU als
»neues politisches System« (a new form of polity) oder »Rechtsgebilde mit tran-
sitorischem Charakter« (transitional entity) bezeichnet wird, das nur schwer in
die traditionellen Kategorien des internationalen Rechts einzuordnen ist, bleibt
sie eine internationale Organisation, die von Staaten kraft internationaler Ab-
kommen geschaffen wurde (Verträgen, die die EU schufen). Eine Änderung
dieser Sachlage würde sowohl die Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten als
auch – was hier am wichtigsten ist – die Herausbildung eines europäischen de-
mos (einer Nation) erfordern, die zumindest so kohärent ist, dass sie zu einer
demokratischen Legitimation für einen europäischen Bundesstaat im Stande
ist. Das Schaffen von Bedingungen für eine solche Entscheidung liegt jedoch,
selbst wenn man sie als wünschenswert und als im Interesse Europas liegend
betrachtet, in ferner Zukunft.
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3 Die »EU nach Lissabon« nach der Konfrontation
mit den »europäischen Krisen«
Der Vertrag von Lissabon 7 nahm eine grundlegende Strukturreform der EU vor,
indem er die Europäische Union, die auf drei Säulen beruhte, in eine einheit-
liche und konsistente internationale Organisation umgestaltete, mit einem elas-
tischen Entscheidungsprozess, einer kohärenten institutionellen Struktur und
Verfahren (Brückenklausel), die die Durchführung wichtiger Strukturreformen
erlauben, ohne dass dafür ein Änderungsvertrag notwendig wäre. Dadurch
konnte die »Union nach Lissabon« den Herausforderungen, die mit den Folgen
der nächsten, ernsten Krisen verbunden waren, die Stirn bieten: der Finanzkri-
se, der Migrationskrise, der Krise in den transatlantischen Beziehungen unter
Präsident Trump und schließlich der Krise, die durch die COVID-19-Pandemie
ausgelöst wurde.8 Von der »Stärke« der kraft des Vertrags von Lissabon durch-
geführten Reform zeugt auch, dass in allen wichtigen Projekten, die die Re-
form der EU betrafen (u. a. in denen, die eine Folge der obengenannten Krisen
waren), trotz der überaus unterschiedlichen Vorschläge eindeutig die Über-
zeugung herrscht, dass eine wirksame weitere Reform des europäischen Inte-
gra tionsprozesses im Rahmen der »EU nach Lissabon« vonstattengehen sollte,
nicht außerhalb von ihr.9 Nichtsdestotrotz sind seit dem Inkrafttreten des Ver-
trags von Lissabon (1. Dezember 2009) mehr als zehn Jahre verstrichen, und
die oben erwähnten »europäischen Krisen« haben bewirkt, dass nicht nur die
Handlungsprioritäten der Europäischen Union einer tiefen Reflexion bedürfen,
sondern auch ihr institutionelles System. Zudem bleibt es weiterhin eine offene
Frage, ob und wie die EU mit der Rechtsstaatlichkeitskrise in Ungarn und Polen
zurechtkommen wird.10
Von der ganzen Palette neuer struktureller Herausforderungen, mit denen sich
die EU konfrontiert sieht, möchte ich auf drei Probleme verweisen, die struk-
tureller Natur sind, also sich auf das zukünftige politische System der Euro-
päischen Union und die Lösung der sonstigen Fragen auswirken werden. An
solchen »sonstigen Fragen« mangelt es nicht. Dabei soll es genügen, hier einmal
7 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Ver-
trags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Amtsblatt der Europäischen Union C,
2007, Nr. 306.
8 Vgl. Józef Niżnik (Hrsg.): Polska w Europie jutra. Polityka europejska Polski w kontekście
zmian międzynarodowych XXI wieku, Warszawa 2021.
9 Vgl. Jan Barcz: Od lizbońskiej do postlizbońskiej Unii Europejskiej. Główne kierunki refor-
my ustrojowej procesu integracji europejskiej, Warszawa 2020, S. 655.
10 Vgl. Adam Jelonek, Ryszard Schnepf (Hrsg.): Polska w świecie. Reaktywacja, Kraków
2022.
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161
abgesehen von einer Neudefinition der Handlungsprioritäten der EU auf die
Notwendigkeit zum Aufholen der Rückstände bei der Festlegung einer unions-
eigenen Migrationspolitik oder auf die Einführung institutioneller Verände-
rungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (insbesondere die
Ausweitung des Beschlussfassungsverfahren durch den Rat mit qualifizierter
Mehrheit) zu verweisen.
Das erste Problem struktureller Natur ist die Antwort der EU auf die Finanz-
krise und die Reform der Eurozone. Eine Hauptfolge der Finanzkrise ist nicht
– wie prophezeit wurde – der Zerfall der Eurozone und der Niedergang der
gemeinsamen Währung, sondern im Gegenteil ein starker Impuls für Maß-
nahmen zugunsten einer Sanierung und daran anschließenden Konsolidierung
der Eurozone. Die Reform der Eurozone wird konsequent durchgeführt und
ist »tiefgreifender« Natur (bis hin zur angekündigten »politischen Union«). Das
hat Anlass zu berechtigten Befürchtungen gegeben, dass ihre Wirkung sogar
eine Fragmentierung des europäischen Inte gra tionsprozesses sein könne, umso
mehr deshalb, weil wichtige Fragen der Reform der Eurozone in Verträgen ge-
regelt sind, die außerhalb der EU abgeschlossen wurden: im Vertrag über den
Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) und im Vertrag über Sta-
bilität, Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion (Fiskalvertrag). Diese Befürchtungen konnten bis zu einem
gewissen Grad bagatellisiert werden, solange das Vereinigte Königreich ein Mit-
gliedstaat der EU blieb, der nicht zur Eurozone gehörte. Mit dem Brexit konn-
te sich die Gefahr der Fragmentierung jedoch dramatisch vertiefen. Zur Ant-
wort auf diese Herausforderung wurde ein neuer Ansatz vorgestellt, der in der
Stra te gie des »gemeinsamen Wegs«
11 und in der Strategie des »pragmatischen
Weg s« 12 zum Ausdruck kommt. Entsprechend der Strategie des »gemeinsamen
Wegs« sollen alle Mitgliedstaaten schrittweise der Eurozone beitreten, was die
Gefahr der Fragmentierung (EU der »verschiedenen Geschwindigkeiten«) be-
seitigen würde. Ein gewisser Preis dafür ist die Strategie des »pragmatischen
Wegs«, das heißt die Begrenzung des Tempos und des Umfangs ehrgeiziger
Reformen der Euro zone auf das, »was in einer bestimmten Etappe möglich
ist«. Die Folge einer derartigen Strategie ist es, dass der Abschluss der Reform
11 Die »Strategie des gemeinsamen Wegs« fand zum ersten Mal Ausdruck im sog. Angebot
Junckers (vom September 2017). Jean-Claude Juncker, Rede zur Lage der Union, Brüssel
2017.
12 Die »Strategie des pragmatischen Wegs«, die die »Strategie des gemeinsamen Wegs«
präzisiert, fand ihren Ausdruck im Paket von Vorschlägen der Europäischen Kommission,
die auf eine Reform der Eurozone zielten und im Dezember 2017 veröffentlicht (Pressemit-
teilung vom 6.12.2017, IP/17/5005, Kommission legt Fahrplan für Vertiefung der Wirt-
schafts- und Währungsunion vor) und anschließend in den Vorschlägen der Eurogruppe
und der Europäischen Kommission weiterentwickelt wurden.
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der Eurozone nicht nur eine Verletzung der Kohärenz der Union verhindert,
sondern im Gegenteil zugleich zum Hauptmotor einer Strukturreform der EU
wird. Die bisherige Reform der Eurozone wird konsequent umgesetzt, und die
Rechtsakte, die den wesentlichsten Bestandteil dieser Reform betreffen – die
Schaffung einer Bankenunion – werden im Rahmen der Methode der »kreati-
ven Elastizität« (creative flexibility) angenommen, das heißt unter Ausnutzung
aller verfahrensmäßigen Möglichkeiten der Umsetzung von Reformen ohne
einen Änderungsvertrag. Nichtsdestotrotz erfordert das Erreichen des Endziels
auf dem »gemeinsamen Weg« immer noch ernsthafte Strukturveränderungen
der Europäischen Union – Projekte wie das der Einbindung des Europäischen
Stabilitätsmechanismus in den Besitzstand der Union oder die Schaffung eines
Europäischen Währungsfonds und eines Europäischen Ministeriums für Wirt-
schaft und Finanzen, vor allem aber der Abschluss des Projekts der Bankenuni-
on, liegen weiterhin auf dem Verhandlungstisch. Dieses Projekt geht einher mit
einer konsequenten Einführung der Formel »des neuen Managements« (»der
politischen Union«?), die sich auf eine verstärkte Form der Gemeinschaftsme-
thode beruft.13 Das oben genannte Paradigma hat grundlegende Bedeutung für
den Umfang und die Tiefe der Projekte der strukturellen Reformen der EU.
Insbesondere wenn wir davon ausgehen, dass die Reformen der Eurozone zu
einem Bezugspunkt für eine Reform der ganzen EU werden, müsste man an ei-
nige der bisher erwogenen Reformvorschläge für EU-Institutionen völlig anders
herangehen, während andere wesentliche strukturelle Herausforderungen ganz
einfach »verschwinden« können.
Das zweite dieser Probleme ist das Anwachsen euroskeptischer, nationalistischer
und xenophober Tendenzen in den Mitgliedstaaten, was dadurch symbolisiert
wurde, dass Ungarn und Polen die gemeinsamen Werte der EU in Frage stellen,
in erster Linie die Rechtsstaatlichkeit
14 als gemeinsamen Nenner des europäi-
schen Inte gra tionsprozesses.15 Die zurzeit geltenden Unionsverfahren erwiesen
13 Federico Fabbrini: Economic Governance in Europe. Comparative Paradoxes and Consti-
tutional Challenges, Oxford 2016. In: Federico Fabbrini, Ernst Hirsch Ballin, Han Somsen
(Hrsg.): What Form of Government for the European Union and the Eurozone?, Oxford -
Portland 2015.
14 Zum Thema des Begriffs der Rechtsstaatlichkeit im EU-Recht vgl. Maciej Taborowski: Me-
chanizm ochrony praworządności w państwach członkowskich Unii Europejskiej. Studium
przebudzenia systemu ponadnarodowego, Warszawa 2019.
15 Vgl. dazu ausführlicher: Problem praworządności w Polsce w świetle dokumentów Komisji
Europejskiej. Okres »dialogu politycznego« 2015–2017. Wstęp, wybór i opracowanie:
Jan Barcz, Agnieszka Grzelak und Rafał Szyndlauer, Warszawa 2020; Problem prawo-
rządności w Polsce w świetle orzecznictwa Trybunału Sprawiedliwości UE (2018–2020).
Wstęp, wybór i opracowanie: Jan Barcz, Agnieszka Grzelak und Rafał Szyndlauer, War-
sz awa 2021.
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sich gegenüber dem Vorgehen der nicht rechtsstaatlich ausgerichteten Regimes
in diesen Staaten als wirkungslos. Selbst Urteile des Gerichtshof der Europäi-
schen Union werden angefochten und nicht beachtet. Ob die neuen Mechanis-
men, vor allem der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus 16, der die Auszahlung von
EU- Mitteln mit der Achtung der Rechtsstaatlichkeit verbindet, sich als wirksam
erweisen werden, bleibt dahingestellt. Dies sind Fragen von existenzieller Bedeu-
tung für den europäischen Inte gra tionsprozess. Das Problem der Achtung der
Rechtsstaatlichkeit kristallisiert sich bereits zu einer Art Hauptachse heraus, um
die herum die innere Differenzierung der EU erfolgen wird. Ausdruck dessen ist
der beispiellose Verlauf der Diskussion während der Tagung des Europäischen
Rats am 25. Juni 2021, als Premier Orban direkt auf Art. 50 TUE (Austritt aus
der EU) als Möglichkeit verwiesen wurde, sollten ihm die gemeinsamen EU-
Werte nicht passen.17 Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Worte auch auf
Ministerpräsident Morawiecki gemünzt waren.
In diesem Kontext ist auf das dritte Problem Bezug zu nehmen, das heißt auf die
Möglichkeit einer Fragmentierung der EU. Die durchgeführten institutionellen
Reformen sollen nicht über die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen
der EU hinausgehen, das heißt ihre Durchführung muss die geltenden Verfah-
ren beachten. Die Strategie des »gemeinsamen Wegs« und des »pragmatischen
Wegs« ist auf die Bewältigung einer grundsätzlichen Herausforderung ausge-
richtet: auf die Dynamisierung des Inte gra tionsprozesses bei einer gleichzeitigen
Garantie der strukturellen Kohärenz der Union. Mit einem solchen Ansatz kor-
respondiert die Konzeption der »elastischen Inte gra tion« (exible integration) 18,
der zufolge einerseits die innere Differenzierung in der EU zu einer strukturellen
Tendenz des europäischen Inte gra tionsprozesses geworden ist, die seine dynami-
sche Entwicklung bedingt, während andererseits die Beibehaltung ihrer struk-
turellen Kohärenz die Hauptachse der Strukturreform der Union bilden muss.
Die »Strategie des »gemeinsamen Wegs« und des »pragmatischen Wegs« kann
mithilfe von drei grundsätzlichen Methoden (Verfahren) durchgeführt werden,
die sich in unterschiedlichen Etappen der EU-Reformen »überlagern« können:
1) durch die Nutzung vorhandener Verfahrensrichtlinien – mit Anwendung der
kreativen Elastizität (creative flexibility), 2) durch den Abschluss weiterer Ände-
rungsverträge sowie 3) durch den Griff zur sog. Schengener Methode – den Ab-
schluss weiterer internationaler Abkommen durch eine Gruppe von Mitglied-
16 Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16.Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haus-
halts der Union. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2020, Nr. 433, S. 11.
17 Nach dem Bericht von Tomasz Bielecki (Holandia proponuje Orbanowi wyjś cie z Unii). In:
Gazeta Wyborcza vom 26./27.Juni 2021, S. 8.
18 Vgl. Barcz: Od lizbońskiej, S. 645–661.
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staaten außerhalb des rechtlich-institutionellen Rahmens der EU. Gleichzeitig
könnte der Griff zu dieser Methode jedoch mit Erfolg zu einem »Ausschluss«
mancher Mitgliedstaaten aus dem »harten Kern« der europäischen Inte gra tion
dienen. Wenn die Strategie des »gemeinsamen Wegs« auf Obstruktion seitens
der Staaten außerhalb der Eurozone stoßen sollte, dann werden die Staaten, die
zu dieser Zone gehören, wohl kaum zögern, sich auf diese Methode zu berufen.
Wenn wir berücksichtigen, dass die zwei Staaten, die die Rechtsstaatlichkeit in
Frage stellen – Ungarn und Polen – nicht zur Eurozone gehören, dann führt dies
geradewegs zu ihrem Ausschluss aus der Hauptrichtung der europäischen Inte-
gra tion. Für nicht der Rechtsstaatlichkeit verpflichtete Staaten gibt es schlicht
keinen Platz im europäischen Inte gra tionsprozess.
Wie bereits erwähnt, ist die EU im Allgemeinen gut mit den Herausforderungen
zurechtgekommen, die aus den aufeinanderfolgenden »europäischen Krisen« re-
sultierten. Das Rahmenprogramm der institutionellen Reformen und die Neu-
definition der Hand lungsprioritäten der Union wurden in den einzelnen Etappen
in programmatischen Dokumenten formuliert, vor allem (1) im Ak tions plan der
Europäischen Kommission für eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion. Auftakt für eine europäische Diskussion« (30. No vember 2012)
19,
der am 21. Juni 2015 vorgelegt wurde; (2) im Bericht der fünf Präsidenten: Die
Wirtschaft- und Währungsunion Europas vollenden 20 sowie (3) im Dokument
der Europäischen Kommission – Weißbuch zur Zukunft Euro pas: Die EU der
27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien.21
Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen präzi-
sier te, als sie 2019 ihr Amt übernahm, die wichtigsten Herausforderungen, mit
denen sich die EU konfrontiert sieht
22 – klimatische Veränderungen, das her-
einbrechende digitale Zeitalter, die soziale Dimension des Binnenmarkts, die
Stärkung der gemeinsamen Werte der EU, unkontrollierte Migration, die De-
mographie und die Sicherung einer starken Position für die Union auf globa-
ler Ebene. Die COVID-19-Pandemie hat diese Werte weder diskreditiert noch
19 Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission, Brüssel, 30.November 2012, COM
(2012) 777 final/2. Corrigendum.
20 Der Bericht der fünf Präsidenten: Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden,
vorgelegt von: Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, Jeroen
Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz, https://commission.europa.eu/system/
files/2016-03/5-presidents-report_de_0.pdf, S. 1-27 (15.06.2022).
21 Pressemitteilung der Europäischen Kommission, Brüssel, 1.März 2017, https://ec.europa.
eu/commission/ presscorner/detail/de/IP_17_385 (26.05.2022).
22 Unia, Która mierzy wyżej. Mój program dla Europy. Kandydatka na przewodniczącą Ko-
misji Europejskiej Ursula von der Leyen. Wytyczne polityczne na następną kadencję Ko-
misji Europejskiej (2019–2024), https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/
files/political-guidelines-next-commission_pl.pdf (26.05.2022).
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hat sie sie in den Hintergrund gedrängt, sondern ihnen im Gegenteil eine neue
Bedeutung und eine neue Dimension verliehen. Die Zeit der Pandemie mach-
te den Mitgliedstaaten bewusst, dass die Fähigkeit, diese Probleme gemeinsam
zu meistern, mit einer Weiterentwicklung des Inte gra tionsprozesses einhergeht,
ja vielleicht sogar über das Aussehen respektive den Fortbestand dieses Prozes-
ses entscheiden wird. Ausdruck dessen war der beispiellose Beschluss über die
Gründung des Wiederaufbaufonds im Jahr 2021, der den Haushalt der EU (die
Eigenmittel der Union) revolutionierte und somit vermutlich fundamentale Än-
derungen im institutionellen Gleichgewicht der Europäischen Union und in den
Beziehungen zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten einleitet.
4 Die »Feuerprobe« – die EU angesichts des Angriffs
des Putin-Regimes auf die Ukraine
Die EU sah sich also mit Herausforderungen konfrontiert, die mit dem Über-
fall Russlands auf die Ukraine in der Phase eines tiefgehenden Strukturwan-
dels, einer Neudefinition ihrer Handlungsprioritäten und mit fundamentalen
Problemen verbunden sind, die daraus resultieren, dass einige Mitgliedstaaten
(Ungarn und Polen) die demokratischen Werte in Frage stellen, die der gemein-
same Nenner des europäischen Inte gra tionsprozesses sind. Zeitgleich damit
haben sich der Verlauf der COVID-19-Pandemie und die Tagungen der Konfe-
renz zur Zukunft Europas überlagert, die mit einjähriger Verspätung am 9. Mai
2021 begann und drei Monate nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine, am
9. Mai 2022, endete.23 Trotz einer skeptischen Haltung gegenüber den mög-
lichen Ergebnissen der Arbeit der Konferenz sowie der Zurückhaltung der Mit-
gliedstaaten 24 präzisierte der Schlussbericht der Konferenz auf akzeptable Weise
die wichtigsten Herausforderungen in Bezug auf die Handlungsprioritäten der
EU sowie die erwünschten institutionellen Reformen (er berücksichtigt auch die
neuen Herausforderungen, die mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ver-
bunden sind), ohne vor Vorschlägen zurückzuscheuen, die eine Änderung der
Verträge erfordern würden, die das Fundament der Union darstellen.25
23 Konferencja w sprawie przyszłości Europy zakończyła prace. Komunikat Komisji Europej-
skiej z 9 maja 2022 r. (IP/22/2862).
24 Vgl. euroPe jSki PrzeGl ąD SąDoW y 2021, Nr. 9 – Debata o reformach instytucjonalnych w
ramach Konferencji w sprawie przyszłości Europy.
25 Conference on the Future of Europe. Report on the Final Outcome, May 2022, h t t p s : //
futureu.europa.eu/pages/reporting?locale=en (26.05.2022).
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Wie in der Einleitung erwähnt, stieß der Überfall Russlands auf die Ukraine auf
eine entschiedene Verurteilung seitens der internationalen Gemeinschaft, ein-
schließlich der EU. Während einer außerordentlichen Tagung des Europäischen
Rats am 24. Februar 2022 bezeichneten die Staats- oder Regierungschefs der
Mitgliedstaaten den Überfall Russlands auf die Ukraine als Akt der Aggression,
riefen zu seiner unverzüglichen Beendigung sowie zur Achtung der Souverä-
nität und territorialen Unversehrtheit der Ukraine (sowie Georgiens und der
Republik Moldau) auf und kündigten an, dass Russland für sein Handeln zur
Verantwortung gezogen werde. Gleichzeitig riefen sie zur raschen Ausarbeitung
eines neuen Pakets von gegen Russland und Belarus gerichteten Sanktionen
auf, brachten ihre Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck und kündigten
ihre politische, finanzielle, humanitäre und logistische Unterstützung für dieses
Land an. Der Europäische Rat unterstrich auch die »europäischen Bestrebun-
gen der Ukraine und ihre Entscheidung für Europa, wie sie im Assoziierungsab-
kommen zum Ausdruck kommt«.26
Die Staats- oder Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU präzisierten ihren
gemeinsamen Standpunkt in der Erklärung von Versailles vom 11. März 2022,
die während einer informellen Tagung des Europäischen Rats (10./11. März
2022) angenommen wurde.27 In dieser Erklärung ordnete der Europäische Rat
den Überfall Russlands auf die Ukraine als »grundlose und ungerechtfertig-
te Aggression« ein, die gegen die grundlegenden Normen des internationalen
Rechts verstoße, sie unterstrich die Komplizenschaft von Belarus an diesem Akt
der Aggression sowie die zwangsläufige Übernahme der Verantwortung für die
begangenen Verbrechen. Danach rief der Europäische Rat Russland zur Einstel-
lung seiner Militäraktion und zum Abzug all seiner Streitkräfte aus der Ukrai-
ne auf, unterstrich die Notwendigkeit, die nukleare Sicherheit (hinsichtlich der
kerntechnischen Anlagen auf dem Territorium der Ukraine) zu gewährleisten,
versprach der Ukraine politische Unterstützung (u. a. für ihre »europäischen Be-
strebungen«), finanzielle, materielle und humanitäre Hilfe sowie Schutz für alle
Kriegsflüchtlinge. Er kündigte zudem an, Russland immer schärfere Sanktionen
auferlegen zu wollen. Äußerst wichtig ist, dass diese Auffassung während der
beispiellosen Treffen am 24. März 2022 im Rahmen des NATO-Gipfels
28, des
26 Europäischer Rat. Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates, 24.Februar 2022.
Wichtigste Ergebnisse. In: consilium.europa.eu, https://www.consilium.europa.eu/de/
meetings/european-council/2022/02/24/ (26.10.2022).
27 Nieformalne posiedzenie szefów państw lub rządów. Deklaracja wersalska 10–11 marca
2022 r. Wersal, 11 marca 2022 r. (OR. En). In: consilium.europ a.eu, https ://www.consilium.
europa.eu/media/54787/20220311-versailles-declaration-pl.pdf (26.10.2022).
28 Press conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg following the extraor-
dinary Summit of NATO Heads of State and Government. 24 Mar. 2022. In: nato.int,
h t t p s : // www.nato.int/cps/en/natohq/opinions193613.htm (25.03.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.153
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167
Treffens der G7
29, der Tagung des Europäischen Rats am 24./25. März 2022 30
(am 24. März unter Teilnahme des Präsidenten der Vereinigten Staaten Joseph
R. Biden, Jr.) 31 präzisiert wurde, die die Einmütigkeit der demokratischen inter-
nationalen Gemeinschaft angesichts des Überfalls von Russland auf die Ukrai-
ne zum Ausdruck brachten.
Berücksichtigt man die oben skizzierten fundamentalen Strukturprobleme, mit
denen sich die EU konfrontiert sieht, dann zwingt das Ausmaß der Herausfor-
derungen, das aus den Konsequenzen des Überfalls von Russland auf die Ukrai-
ne resultiert, zumindest in den folgenden Angelegenheiten zu einer raschen und
komplexen Beschlussfassung:
_ Inhaltliche Ausfüllung der sich verstärkenden transatlantischen Beziehun-
gen: auf nationaler Ebene (Erhöhung des Rüstungshaushalts) sowie auf der
Ebe ne der EU (Übergang zum Aufbau einer »gemeinsamen Verteidigungs-
politik«, die vertragliche Infrastruktur ist dazu ausreichend, im Entschei-
dungsprozess im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
ist dagegen zweifelsohne in größerem Maß zu einer Beschlussfassung mit
qualifizierter Mehrheit überzugehen;
_ Die EU wird eine zentrale Rolle bei der Schaffung und Verwaltung eines
internationalen Hilfsprogramms für die Ukraine spielen.32 Unabhängig von
den Zuschüssen der einzelnen Staaten für ein solches Programm wird in der
EU die Schaffung eines Fonds nach dem Vorbild des Wiederaufbaufonds
erwogen, dessen Mittel also aus der gemeinsamen Verschuldung der Union
stammen würden.33 Sollte es tatsächlich dazu kommen, dann wäre dies eine
Bekräftigung der Weiterentwicklung der Union, die ihre Rechtssubjektivität
radikal ändern würde (auch im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten);
29 G7 Leaders’ State ment – Brussels , 24 March 2022, https://www.consilium.europa.eu/pl/
press/press-releases/2022/03/24/g7-leaders-statement-brussels-24-march-2022/
(25.04.2022).
30 Vgl. Europäischer Rat. Tagung am 24./25. März 2022. Schlussfolgerungen, Brüssel,
25.März 2022, EUCO 1/22.
31 Joint readout by the European Council and the United States. Europäischer Rat. Pressemit-
teilung vom 24.März 2022.
32 European Commission. Communication from the Commission to the European Parliament,
the European Council, the Council, the European Economic and Social Committee and
the Committee of the Regions. Ukraine relief and reconstruction. European Commission.
Brussels, 18 May 2022, COM(2022) 233 final.
33 Vgl. Thomas Gutschker: Brüssel bringt gemeinsame Schulden für Ukraine-Hilfe ins Ge-
spräch. In: FrankFurter allGeMeine zeitunG vom 17.05.2022, https://www.faz.net/aktuell/
politik/ausland/bruessel-bringt-gemeinsame-schulden-fuer-ukraine-wiederaufbau-ins-
gespraech-18037721.html?premium (18.05.2022).
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168
_ Der »Kern« einer Strukturreform der EU ist die Reform der Eurozone. Das
Projekt der Bankenunion steht kurz vor dem Abschluss. Wenn die Strategie
des »gemeinsamen Wegs« erfolgreich ist, dann stärkt sich die EU auch als
»politische Union«, was unter dem institutionellen Gesichtspunkt eine radi-
kale Stärkung der sog. Gemeinschaftsmethode bedeuten würde (qualifi-
zierte Mehrheit als vorrangige Methode bei der Beschlussfassung im Rat,
Ausweitung der Rechtsprechung des Gerichtshof der Europäischen Union).
Dies verlangt gleichzeitig nach einer Ausweitung der Kompetenzen, die der
Union von den Mitgliedstaaten übertragen wurden (infolge der Pandemie
wird besonders auf den Bereich der öffentlichen Gesundheit verwiesen) so-
wie auf die Stärkung der demokratischen Legitimation der EU (Stärkung der
Rolle der nationalen Parlamente in Unionsangelegenheiten);
_ Zustrom von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine (bis Mitte Mai 2022 reisten
mehr als 3Mio. Flüchtlinge aus der Ukraine nach Polen ein, wovon mehr als
eine Million in andere Mitgliedstaaten der EU weiterzogen). Man kann an-
nehmen, dass dieser Prozess andauern wird, denn der Krieg in der Ukraine
trägt alle Merkmale eines langdauernden Konflikts, der seitens Russlands
auch auf die wirtschaftliche Vernichtung der Ukraine gerichtet ist, eines
Konflikts, in dessen Verlauf die russische Armee internationale Verbrechen
von ungeheuerlichem Ausmaß begeht. Die Offenheit, mit der die Flüchtlin-
ge u. a. in Polen aufgenommen wurden, verweist darauf, dass die Staaten
Vorbehalte verschiedener Art beiseitelassen und das Projekt einer gemein-
samen Migrationspolitik abschließen sollten. Andererseits verzichten leider
populistische Regierungen keineswegs darauf, mithilfe xenophober Argu-
mente und dergleichen Politik zu machen. Ein tragisches Beispiel dafür ist
die humanitäre Katastrophe im polnisch-belarussischen Grenzgebiet;34
_ Die Aggression Russlands gegen die Ukraine hat bewiesen, wie wesent-
lich die Stärkung der Zone der politischen Stabilität, der Demokratie und
der Marktwirtschaft in Europa ist, auch in der Nachbarschaft Russlands.
Die EU sollte weiterhin den Abschluss ihrer Erweiterung um die Westbal-
kan-Staaten vorantreiben. Zugleich sollte sie auch nicht mit der Präzisie-
rung einer solchen Strategie in Bezug auf die Ukraine, die Republik Moldau
und Georgien zögern. Insbesondere nachdem fast unmittelbar nach der
Invasion Russlands, am 28.Februar 2022, der Präsident der Ukraine Wo-
lodymyr Selenskyj einen Antrag auf die Mitgliedschaft der Ukraine in der
34 Beczka dziegciu w łyżce miodu. Haniebne działania władz polskich na pograniczu pol-
sko-białoruskim trwają. Stanowisko Konferencji Ambasadorów RP z 12 maja 2022 r.. In:
ambasadorowiedotorg, https://ambasadorowiedotorg.wordpress.com/2022/05/12/
beczka-dziegciu-w-lyzce-miodu/ (26.05.2022).
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169
EU gestellt hat (der am 1.März 2022 notifiziert wurde)35, sollte die Union
nicht zögern, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen.
Eine solcher Beschluss bedeutet nicht den Beginn von Beitrittsverhandlun-
gen (damit wird man noch einige Jahre warten müssen), aber er wäre ein
eindeutiger politischer Plan für die Ukraine. Gleichzeitig würde das große,
internationale Unterstützungsprogramm für die Ukraine dadurch an die An-
näherung der Strukturreformen der Ukraine und ihrer Wirtschaft an Unions-
standards gebunden.36
5 Schlussfolgerungen
Derart fundamentale Beschlüsse in der EU zu fassen und umzusetzen, wird
Entschlossenheit, Kohärenz und Weitsicht seitens der Mitgliedstaaten der EU
erfordern. Was aber mehr müsste in Europa geschehen als ein brutaler Überfall
auf einen europäischen Staat, eine Aggression, die auch auf das Zerschlagen
des europäischen Inte gra tionsprozesses und das Infragestellen der gemeinsa-
men demokratischen Werte ausgerichtet war, um die Mitgliedstaaten der EU
zu einem Handeln dieser Art zu bewegen?! Die Prüfung der Entschlossenheit
und Berechenbarkeit der Mitgliedstaaten der EU wird brutal sein und sich auf
zwei grundlegende Tests konzentrieren: den der Entschlossenheit im politischen
Bereich und den der Entschiedenheit im Bereich der Werte.
Wenn es um den politischen Bereich geht, dann wird der Test 1) in der Kohä-
renz der Beschlüsse in Sachen der Auferlegung und Umsetzung von Sanktionen
gegen Russland bestehen: Der Aggressor muss politisch und wirtschaftlich iso-
liert werden, er sollte zum Paria in der internationalen Gemeinschaft demokrati-
scher Staaten werden. Die Mitgliedstaaten, die sich vom gemeinsamen Handeln
in diesem Bereich distanzieren, isolieren sich selbst in der Gemeinschaft der
Mitgliedstaaten der EU und stellen – berücksichtigt man die gegenwärtige poli-
tische Lage – die Rechtmäßigkeit ihres Verbleibs in der EU in Frage; 2) müssen
die Mitgliedstaaten der EU Entschiedenheit beim Einfrieren und bei der Be-
schlagnahme des Eigentums der Russischen Föderation zeigen (insbesondere
35 Zelensky signs application for Ukraine to join EU, 28.Februar 2022, euobserver.com/
tickers/ 154455? utm_source=euobs&utm_medium=email (1.03.2022).
36 Ukraina należy do Europy! Wezwanie do stworzenia kompleksowego, konkretnego
i efektywnego planu włączenia Ukrainy do Unii Europejskiej. Stanowisko Konferencji
Ambasadorów RP z dnia 8 marca 2022 r.. In: ambasadorowiedotorg, https://ambasa-
dorowiedotorg.wordpress.com/2022/03/08/ukraina-nalezy-do-europy-wezwanie-
-do-stworzenia-
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170
was die Reserven der russischen Zentralbank anbelangt), dasselbe gilt für das
Eigentum von russischen Oligarchen, die mit dem Putin-Regime verbunden
sind, und diese Mittel sollten zur Befriedigung der Reparationsforderungen der
Ukraine gegenüber Russland für die von der russischen Armee begangenen inter-
nationalen Verbrechen bestimmt werden;37 3) müssen die Mitgliedstaaten über
die nicht eindeutigen Formulierungen der Unterstützung der europäischen Be-
strebungen der Ukraine hinausgehen und ihr eine eindeutige Perspektive für die
Erlangung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union garantieren: eine Ga-
rantie zumindest nach Maßgabe der Kopenhagener Kriterien aus dem Jahr 1993
(im Verhältnis zu den Staaten der »großen« Erweiterung) oder der Erklärung von
Saloniki aus dem Jahr 2003 (im Verhältnis zu den westlichen Balkanstaaten).38
Was hingegen den Bereich der Werte betrifft, die die demokratischen Staaten
vereinigen und gleichzeitig den gemeinsamen Nenner für die europäische Inte-
gra tion bilden, dann ist die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in solchen
Staaten wie Polen und Ungarn eine Grundvoraussetzung für die Bewahrung
der strukturellen Kohärenz der EU. Weder die COVID-19-Pandemie noch der
Krieg in der Ukraine »überdecken« dieses Problem. Zunehmender Autorita-
rismus in einem Mitgliedstaat der EU führt zuerst zu einer Schwächung und
dann zu einer Fragmentierung des europäischen Inte gra tionsprozesses: fehlende
Rechtsstaatlichkeit und Inte gra tion schließen sich gegenseitig aus, denn Inte gra-
tion setzt einen Grad gegenseitigen Vertrauens voraus, der nur im Kreis demo-
kratischer Staaten möglich ist, die eine Rechts- und Wertegemeinschaft bilden.
Die nicht der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Staaten haben insbesondere kei-
ne Chance auf einen Beitritt zur Eurozone, die – wie hier unterstrichen wurde –
den Kern der institutionellen Reform der EU darstellt. Schon allein dies wird zu
einer tiefgehenden Marginalisierung eines nicht rechtsstaatlich funktionieren-
den Staates in der EU führen, und in der Konsequenz zu einer Fragmentierung
des Inte gra tionsprozesses. Ein weiteres, wesentliches Problem ist die destruktive
Rolles eines nicht die Rechtsstaatlichkeit achtenden Staates im Entscheidungs-
prozess der EU. Als Mitgliedstaat ist er nämlich im Stande, bei der Durchfüh-
rung notwendiger Reformen zu stören respektive zu erpresserischen Methoden
37 Lilly Blumenthal, Norman L. Eisen, Robin Lewis: Give Seized Russian Assets to Ukraine
as Reparations. In: Sl ate. juriSPru Dence 2022. April 19, https://slate.com/news-and-
politics/2022/04/seized-russian-assets-yachts-ukraine-reparations.html (6.05.2022);
Jan Barcz: Agresja Rosji na Ukrainę – jak skutecznie dochodzić reparacji od Rosji
(19.05.2022). In: ambasadorowiedotorg, https://ambasadorowiedotorg.wordpress.com/
2022/05/19/agresja-rosji-na-ukraine-jak-skutecznie-dochodzic-reparacji-od-rosji/
(26.05.2022).
38 Vgl. Jan Barcz: Ukraina należy do Europy! Status państwa kandydującego do członko-
stwa w Unii Europejskiej dla Ukrainy wobec agresji Rosji? In: euroPe jSki Pr zeGląD SąDoWy
2022, H. 4 , S. 4f.
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171
zu greifen (die wichtigsten Angelegenheiten erfordern nämlich Einstimmigkeit,
und Änderungen konstitutioneller Natur den Abschluss eines Änderungsver-
trags, der von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss). Das kann die EU
nicht zulassen. Nicht zufällig werden immer häufiger Stimmen laut, die die Sus-
pendierung der Mitgliedschaft von nicht auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit
operierenden Staaten suggerieren (nicht nur in der Union, sondern auch in der
NATO).39 Es ist daher kein Zufall, dass das Schreckgespenst weiterer Austritte
in der Europäischen Union umgeht.
Aus dem Polnischen von Sabine Lipińska
39 Bruce Ackerman: How to Reinvigorate NATO and Deter Putin’s Aggression. Bold mea-
sures are needed to revitalize the alliance and deter Putin’s aggression. In: Politico vom
17.05.2022, www.politico.com/news/magazine/ 2022/05/17/new-nato-21st-century-
revitalize-putin-00032744?mc_cid=bca79a400b&mc_eid=5684c3fac8 (21.05.2022).
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Die Zukunft der Diskussion
über die Rechtsstaatlichkeit (rule of law)
in der Europäischen Union
Agnieszka Grzelak, Leon Koźmiński-Akademie
The future of the discussion on the rule of law in the European Union
The requirement to respect the rule of law is an obvious condition for a new
country to join the club of democratic EU member states. It is also the foun-
dation for the functioning of this organization, expressed in Article 2 of the
Treaty on European Union. However, recent years have shown that some of
the current member states introduce legal solutions and shape their internal
situation in a way clearly violating this principle, as confirmed by reports or
rulings of international courts. Any steps taken so far within the EU to remedy
these problems are, at least in part, ineffective. Moreover, in recent weeks the
discussion of the EU’s internal problems has been overshadowed by the exter-
nal threat and Russia’s aggression in Ukraine. This raises questions, addressed
in the text, about the future of the discussion on the rule of law in the EU, and in
particular whether praiseworthy involvement in the Ukrainian crisis can justify
concessions to governments violating the principles of the rule of law. This text
presents several problems that probably require further discussion, depending
not only on the content of legal norms, but also on political developments. Due
to the author’s specialisation, the considerations in this text will be constrained
to legal issues, based on the analysis of legislation and case law, primarily of
the Court of Justice of the European Union.
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175
1 Einleitung
Der neunzigste Geburtstag von Prof. Bronisław Geremek – eines der Schöpfer
des friedlichen Endes des Kommunismus, des Architekten des Beitritts Polens
zur NATO und später zur Gemeinschaft der zivilisierten europäischen Staaten,
mit anderen Worten der Europäischen Union – ist eine hervorragende Gelegen-
heit, zum ema von Europa in der Sicht Geremeks zurückzukehren: eines of-
fenen Europas, das sich auf Freiheit, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit gründet.1
Im vorliegenden Beitrag wird das ema der Rechtsstaatlichkeit, die einen der
Grundwerte der EU darstellt und in Art. 2 EUV verankert ist, erneut aufge-
griffen.2 Dem Gerichtshof der Europäischen Union zufolge beruht die recht-
liche Struktur der Union auf der Grundannahme, dass jeder Mitgliedstaat die
Grundwerte mit allen übrigen Mitgliedstaaten teilt und anerkennt, dass sie mit
denen übereinstimmen, auf denen entsprechend Art. 2 EUV die gesamte EU
als internationale Organisation beruht.3 Man kann daher sagen, dass die Wer-
te, die in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommen, der »unantastbare Kern« (engl.
untouchable core) der Rechtsordnung der EU sind, und daher ist das Erfordernis
ihrer Beachtung die Voraussetzung für die Erlangung der Mitgliedschaft in der
EU durch jene Staaten, die sich darum bemühen. Unter diesen Werten wird die
Rechtsstaatlichkeit erwähnt.4 Die Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur ein Grund-
wert, auf den sich die EU stützt, sondern auch die Grundlage für den Schutz
1 Bronisław Geremek: Nasza Europa, Kraków 2012.
2 Die Autorin schrieb bereits mehrfach über Probleme im Zusammenhang mit der Rechts-
staatlichkeit. Vgl. beispielsweise: Agnieszka Grzelak: Praworządność tematem wiodącym
Konferencji w sprawie przyszłości Europy? In: euroPejSki PrzeGl ąD SąDoWy 2021, H. 9,
S. 19–26, oder Agnieszka Grzelak: Are the EU Member States still masters of the Treaties?
The European Rule of Law concept as a means of limiting national authorities. In: Timea
Drinóczi, Agnieszka Bień-Kacała (Hrsg.): Rule of Law, Common Values, and Illiberal Con-
stitutionalism. Poland and Hungary within the European Union, London 2020, S. 194–216.
3 Vgl. Marcus Klamert und Dimitry Kochenov: Article 2. In: Manuel Kellerbauer, Marcus
Klamert, Jonathan Tomkin (Hrsg.): The EU Treaties and the Charter of Fundamental Rights:
A Commentary, Oxford Univ. Press 2019. Vgl. auch Gutachten 2/13 des Gerichtshofs
(plenum), 18.Dezember 2014, Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Konven-
tion zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Vereinbarkeit des Entwurfs mit
dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag, ECLI: EU:C:2014:2454, Pkt. 168.
4 In der polnischen Rechtssprache werden die Begriffe der Rechtsstaatlichkeit und des
Rechtsstaats unterschieden, dies ist jedoch nicht Gegenstand der Untersuchungen im vor-
liegenden Text. Vgl. ausführlicher zu diesem Thema Piotr Bogdanowicz: Pojęcie, treść i
ochrona praworządności w prawie Unii Europejskiej. In: Jan Barcz, Anna Zawidzka-Łojek
(Hrsg.): Wniosek Komisji Europejskiej w sprawie wszczęcia w stosunku do Polski procedu-
ry art. 7 TUE. Ramy prawno-polityczne, Warszawa 2018, S. 23.
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176
aller anderen Werte der Europäischen Union, u. a. der Grundrechte und der De-
mokratie. Die Beachtung der rechtsstaatlichen Prinzipien (Rechtsstaatlichkeit)
hat grundlegende Bedeutung für das Funktionieren der gesamten Europäischen
Union: für die wirksame Anwendung des EU-Rechts, für das Funktionieren des
Binnenmarkts, für den Erhalt von investitionsfreundlichen Bedingungen und
gegenseitiges Vertrauen.5 Das Wesen der Rechtsstaatlichkeit ist ein wirksamer
Rechtsschutz, der die Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der
nationalen Justizsysteme erfordert.6
Die Realität der letzten Jahre hat gezeigt, dass manche Mitgliedstaaten der EU
rechtliche Lösungen einführen und ihre innere Lage so gestalten, dass diese
Prin zipien eindeutig von ihnen verletzt werden. Das betrifft selbstverständ-
lich vor allem Polen und Ungarn, was Berichte internationaler Organe oder die
Recht sprechung internationaler Gerichte bestätigen.7 Gleichzeitig erweist sich,
dass die bisher in der EU entwickelten Instrumente, die der Vorbeugung gegen
eine solche Si tua tion dienen sollten, wirkungslos sind.8 Darüber hinaus ist die
Dis kussion über die inneren Problem der EU in den letzten Wochen im Zu sam-
men hang mit der äußeren Bedrohung und mit dem Überfall Russlands auf die
Ukraine in den Hintergrund getreten. Das wirft die Frage nach der Zu kunft
der Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit der EU auf, darunter auch darü-
ber, ob das Engagement und die Verdienste eines »nicht rechtsstaatlichen« Mit-
5 Vgl. Maciej Taborowski: Naruszenie elementów zasady państwa prawa (art. 2 TUE) jako
ograniczenie zasady wzajemnego zaufania w prawie Unii Europejskiej (w świetle wyroku
LM (Celmer). In: Jan Barcz, Anna Zawidzka- Łojek (Hrsg.): Sądowe mechanizmy ochrony
praworządności w Polsce w świetle najnowszego orzecznictwa Trybunału Sprawiedliwo-
ści UE, Warszawa 2018, S. 73.
6 Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 27.Februar 2018 in der Rechtssache C- 64/16 As-
sociação Sindical dos Juízes Portugueses gegen Tribunal de Contas, ECLI:EU:C:2018:117.
7 In Pkt. 342 des Urteils des EuGH vom 16.2.2022 in der Rechtssache C-157/21 Polen ge-
gen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union (ECLI:EU:C:2022:98) stellt
der EuGH fest, dass zu den entsprechenden Informationen aus zugänglichen Quellen von
anerkannten Institutionen insbesondere die Urteile des Gerichtshofs, die Berichte des Euro-
päischen Rechnungshofs, Jahresberichte der Kommission zum Thema Rechtsstaatlichkeit
sowie das EU-Justizbarometer, Berichte des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung
(OLAF), der Europäischen Staatsanwaltschaft (EuStA) und der Agentur der Europäischen
Union für Grundrechte sowie Anträge und Empfehlungen entsprechender internationaler
Organisationen und Netzwerke, u. a. der Organe des Europarats wie GRECO und die
Venedig-Kommission – insbesondere ihre Kontrollliste zum Stand der Rechtsstaatlichkeit–
aber auch das Netzwerk der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der Europäischen
Union sowie das Europäische Justizielle Netz zu zählen sind.
8 Im Besonderen geht es hier um Art. 7 EUV.
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gliedstaats im Verlauf der ukrainischen Krise die Anwendung einer Art von Ra-
batt für diesen Staat und gleichsam einen Sündenerlass rechtfertigen können.9
Im vorliegenden Text werden einige Probleme dargestellt, die sicherlich einer
weiteren Diskussion bedürfen, die nicht nur von den Inhalten der Rechtsnor-
men abhängig gemacht wird, sondern auch von der Entwicklung der politischen
Lage. Aufgrund des Forschungsgebiets der Autorin beschränken sich die Über-
legungen in diesem Text auf rechtliche Fragen, die sich auf eine Analyse der
Vorschriften und der Rechtsprechung stützen, vor allem auf die des EuGH.10
2 Die Kompetenz der EU zur Ergreifung von Maßnahmen,
die den mit der Nichtbeachtung der rechtsstaatlichen Prinzipien
in der EU verbundenen Bedrohungen entgegenwirken
Die erste Fragestellung, die Gegenstand der Diskussion sein kann, bezieht sich
darauf, ob das Problem der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitglied-
staaten in der Tat die EU bedroht und ob die EU als internationale Organisation
das Recht hat, Maßnahmen zu ergreifen, die dieser Bedrohung vorbeugen.
Der Prozess der europäischen Inte gra tion war von Anfang an als Gemeinschaft
demokratischer Staaten konzipiert, und eine Bedingung für den Beitritt neuer
Staaten war (und ist), dass die Beitrittskandidaten Stabilität auf dem Gebiet
der Institutionen erlangen, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der
Menschenrechte und den Minderheitenschutz gewährleisten (sog. erstes Krite-
rium, das in der Kopenhagener Erklärung vom Juni 1993 festgelegt wurde).11
9 Vgl. beispielsweise publizistische Artikel zu diesem Thema, wie etwa Polly Botsford: Uk-
raine: Conflict complicates EU rule of law mission in Hungary and Poland, https://www.
ibanet.org/Ukraine/Conflict/complicates/EU/rule/of/law/mission/in/Hungary/and/
Poland (15.04.2022).
10 Obwohl seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (am 1.Dezember 2009) alterna-
tiv die beiden Abkürzungen GHdEU und EuGH in der Literatur verwendet werden, bleiben
wir in der vorliegenden Analyse der Einfachheit halber bei der traditionellen Abkürzung
EuGH. Vgl. dazu Maria Berger: Die Ausgestaltung der Neuerungen im Rechtsschutz-
system. In: Thomas Eilmansberger, Stefan Griller, Walter Obwexer (Hrsg.): Rechtsfragen
der Implementierung des Vertrages von Lissabon, Wien-New York 2011, S. 344–346
(EuGH); Walter Frenz: Handbuch Europarecht. Bd. 6: Institutionen und Politiken, Berlin-
Heidelberg 2011, S. 386, 1627 (EuGH); Thomas Jaeger: Einführung in das Europarecht:
Grundlagen-Institutionen-Durchsetzung-Binnenmarkt, Wien 2020, S. 18 (GHdEU).
11 Dimitry Kochenov: Behind the Copenhagen Façade: The Meaning and Structure of the
Copenhagen Political Criterion of Democracy and the Rule of Law, European Inte gra tion
online Papers 2004, Nr. 8.
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Die Fortschritte auf diesem Gebiet werden im Verlauf der Beitrittsverhandlun-
gen genau überwacht.
Bis vor kurzem wurde die richtungsweisende Prämisse, dass alle Mitgliedstaaten
demokratische Staaten sind, nicht in Frage gestellt, und dass diejenigen unter
ihnen, die ihre demokratische Grundordnung erst aufbauen (Beitrittsstaaten)
diese Entwicklungsrichtung des politischen Systems vorbehaltlos übernehmen.
Es erwies sich jedoch, dass – zur Überraschung der EU – die uneingeschränkte
Akzeptanz dieser Prämisse während des Prozesses der Beitrittsverhandlungen
nicht zugleich bedeutet, dass eine solche Entwicklungsrichtung während der
Mitgliedschaft in der Organisation vorbehaltlos akzeptiert wird.12 Mehr noch,
es wird dabei versucht, eine Rhetorik zu forcieren, die die Öffentlichkeit davon
überzeugen soll, dass die Rechtsstaatlichkeit eine »Erfindung von Brüssel«
13 sei
und sich nicht eindeutig auf Vertragsbestimmungen gründe, die von den Mit-
gliedstaaten ratifiziert wurden.
Zwar tauchten punktuelle Probleme in mehreren Staaten in verschiedenen ge-
schichtlichen Momenten auf (hier sei nur auf Österreich verwiesen), aber zu syste-
mischen Verletzungen eines so enormen Ausmaßes war es zuvor in der EU nicht
gekommen. Die Lage einer europaweiten Krise wird durch den neuesten Bericht
der Kommission bestätigt
14, aus dem klar hervorgeht, dass abgesehen von Polen
und Ungarn sowie jüngst auch Rumänien oder sogar Slowenien
15 derartige Pro-
bleme kleineren oder größeren Ausmaßes in allen Mitgliedstaaten auftreten. Was
ist der Grund dafür? In juristischen Diskussionen wird auf einige Faktoren ver-
wiesen, u. a. auf die kurze Tradition der Staaten, die nach 2004 der EU beitraten,
beim Aufbau eines Rechtsstaats; auf die Förderung von sozialen Rechten und
einer Identitätspolitik im Gegensatz zu den abstrakten Werten der Rechtsstaat-
lichkeit, aber auch auf den Mangel an ausreichend guten Methoden der Kontrolle
der Übereinstimmung des nationalen Rechts mit dem EU-Recht – das Beitritts-
system war ja ein Entwicklungslabor neuer rechtlicher und politischer Praktiken.16
12 Vgl. den Fall Österreichs: Heather Berit Freeman: Austria: The 1999 Parliamentary Elections
and the European Union Members’ Sanctions, 25 B. C. Int’l Comp. L. Rev. 109 (2002).
13 Emmanuel Macron: Praworządność to nie wymysł Brukseli. In: DW vom 19.01.2022,
https://www.dw.com/pl/macron-praworz%C4%85dno%C5%9B%C4%87-to-nie-wy-
mys%C5%82-brukseli/a-60485873 (15.04.2022).
14 European Commission. Communication from the Commission to the European Parliament,
the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Re-
gions 2021: Rule of Law Report. The rule of law situation in the European Union, Brussels,
20 July 2021, COM(2021) 700 final, S. 1–30.
15 Imposing ‘imaginary’ values risks EU collapse, Slovenian PM claims. In: the GuarDian vom
4 .7. 2021, https://www.theguardian.com/world/2021/jul/04/imposing-imaginary-
values-risks-eu-collapse-slovenian-president-claims (12.08.2021).
16 Vgl. u. a. die Überlegungen von Marek Safjan: Rządy prawa a przyszłość Europy. In: Stu-
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Die systemische Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten
der EU hat jedoch gewisse positive Folgen, hat sie doch die zentrale Bedeutung
der gemeinsamen Werte wie der Rechtsstaatlichkeit als eines Faktors »offen-
bart«, der die europäische Konstruktion zusammenschweißt. Ohne Rechts-
staatlichkeit in den Mitgliedstaaten ist die Rechtsgemeinschaft der EU, die das
Hauptmotiv für das Handeln der Union und ihrer Entwicklung darstellt, zum
Zerfall verurteilt. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist auch keine grundlegende Struk-
turreform der Europäischen Union vorstellbar. Das Anheben der europäischen
Inte gra tion auf ein höheres Niveau ist abhängig von der bedingungslosen Sta-
bilität des Vertrauensprinzips zwischen den Mitgliedstaaten. Somit muss die
Union bei den Maßnahmen, die mit der Verhinderung von Verletzungen der
Rechts staatlichkeit zusammenhängen, an den Erhalt der eigenen Kohärenz und
Effek tivität denken, insbesondere wenn die fehlende Rechtsstaatlichkeit in ei-
nem Mitgliedstaat sich als dauerhaft und irreversibel erweisen sollte. Für einen
nicht rechtsstaatlichen Staat gibt es nämlich keinen Platz im Konstrukt der
euro ischen Inte gra tion. Der Inte gra tionsprozess ist mit der demokratischen
Grund ordnung der an ihr teilhabenden Staaten verbunden, Nationalismus und
Populismus dagegen besitzen desintegrierenden Charakter: sie sind eine Ver-
neinung der Inte gra tion.17
Tatsächlich ist es so, dass die EU nicht im Stande ist, über das politische System
eines Mitgliedstaats zu entscheiden, dass können formal allein die Wähler:innen
bei den Parlamentswahlen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die EU überhaupt
keinen Einfluss auf die Grundrechte eines Rechtsstaats und ihre Achtung in
den Mitgliedstaaten hat. Denn wenigstens prinzipiell erfordert der Begriff der
Rechtsstaatlichkeit, um Anwendungswert zu bekommen, seine Ausfüllung mit
Inhalt,18 denn als Metaprinzip bündelt er in sich alle Elemente, die im Rechts-
system der EU eine eigenständige normative Bedeutung haben, und eben in
diesen Fragen besitzt die EU Kompetenzen, was die Rechtsprechung des Ge-
richtshof der Europäischen Union bestätigt.19 Wissen über Elemente der Rechts-
dia i Analizy Sądu Najwyższego. Przyszłość Europy opartej na rządach prawa, Bd. 8,
Warszawa 2019.
17 Ausführlich zu diesem Thema äußerte sich u. a. Jan Barcz: Unia Europejska wobec
niepraworządnego państwa członkowskiego. In: PAŃSTWO I PRAWO 2019, H. 1, S. 3.
18 Vgl. Maciej Taborowski: Mechanizmy, S. 61 und die dort angeführte, umfangreiche Literatur.
19 Die Rechtsprechung des EuGH zur Rechtsstaatlichkeit wird im gesamten Buch besprochen
(vgl. Maciej Taborowski, Anm. 18). Sie ist auch Gegenstand von zwei Sammelbänden
(der dritte ist in Vorbereitung), ausgewählt und herausgegeben von Jan Barcz, Agnieszka
Grzelak und Rafał Szyndlauer: Problem praworządności w Polsce w świetle dokumentów
Komisji Europejskiej. Okres »dialogu politycznego« 2016–2017, Warszawa 2020, sowie
Problem praworządności w Polsce w świetle orzecznictwa Trybunału Sprawiedliwości UE
(2018–2020), Warszawa 2021.
DOI: 10.13173/9783447120241.173
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180
staatlichkeit kann aus vielen Quellen geschöpft werden, u. a. aus den Kriterien,
die anlässlich des Beitrittsprozesses von Staaten zur EU ausgearbeitet wurden,
aus Bekanntmachungen und Berichten der Europäischen Kommission oder
auch aus den Ergebnissen der Arbeiten der Venedig-Kommission (Europäische
Kommission für Demokratie durch Recht).20 Ein solches Element ist u. a. das
Recht auf wirksamen Rechtsschutz, was der EuGH präzise erläutert hat.
Eben am Beispiel des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz, das ein Bestandteil
des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit ist, hat der EuGH erläutert, woher sich seine
Kompetenz und die Kompetenz der EU zur Beurteilung seiner Beachtung in
den Mitgliedstaaten herleitet. In der Rechtssache C-824/18 AB u. a.21 hat der
EuGH festgestellt, dass Art. 19 EUV, in dem das in Art. 2 EUV zum Ausdruck
gebrachte Prinzip des Rechtsstaats präzisiert wurde, den Gerichten der Mitglied-
staaten und dem EuGH die Aufgabe der Gewährleistung der vollen Anwendung
des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten überträgt sowie den Schutz der Rechte,
die Einzelne aus diesem Recht herleiten.22 Eben auf dieser Grundlage sind die
Mitgliedstaaten zur Schaffung von Mitteln verpflichtet, die unabdingbar sind,
um Einzelnen die Achtung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den
Bereichen zu gewährleisten, auf die sich das Unionsrecht erstreckt. Im Weiteren
verweist der EuGH darauf, dass das Prinzip des wirksamen Rechtsschutzes, das
Einzelne aus dem Unionsrecht ableiten, auf das sich Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV
bezieht, ein allgemeines Prinzip der Union darstellt, dass aus den konstitutio-
nellen Traditionen resultiert, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, und in
Art. 6 und 13 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten zum Ausdruck gebracht und in Art. 47 der Charta der
Grundrechte bestätigt wurde. Infolgedessen sollte somit aufgrund Art. 19 Abs.
1 Satz 2 EUV jeder Mitgliedstaat im Besonderen gewährleisten, dass die zum
System der Berufungsmittel gehörenden Organe, die – als »Gerichte« im Sinne
20 Dabei ist erwähnenswert, dass der Gerichtshof der Europäischen Union bei der Erwäh-
nung von Entscheidungen über die Erfordernisse der Rechtsunion (Urteil C-64/16, Pkt. 31),
als einer Union nach Art. 2 EUV,diesen Begriff auf die gerichtliche Anfechtung »nationaler
Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung [bezieht], mit der eine Hand-
lung der Union auf sie angewandt wird«. Wenn der EuGH wiederum die wirksame gericht-
liche Kontrolle nennt, die sich aus Art. 2 EUV ergibt, dann dient sie »zur Gewährleitung der
Einhaltung des Unionsrechts« gegenüber den Mitgliedsstaaten (Urteil C-64/16, Pkt. 36).
Richterliche Unabhängigkeit als Element von Art. 2 EUV stellt wiederum eine Garantie des
Schutzes »dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte« dar, Art. 2 EUV
schließlich betrifft die wirksame Anwendung des Unionsrechts durch Mitgliedsstaaten (Be-
schluss C-441/17R, Pkt. 102). Mehr dazu M. Taborowski, S. 72.
21 Urteil vom 2.März 2021 in der Recht ssache 824/18 AB, ECLI:EU:C:2021:153, Pkt. 108–
109.
22 So auch im Urteil vom 5.November 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit der or-
dentlichen Gerichte), C 192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Pkt. 98.
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des EU-Rechts – in den Bereichen, auf die sich das Unionsrecht erstreckt, und
die im Zusammenhang damit in diesem Charakter über die Anwendung oder
Auslegung des EU-Rechts entscheiden können, den Erfordernissen eines wirk-
samen Rechtsschutzes entsprechen.
Weil die rechtsstaatliche Verfasstheit eines Staates eine Bedingung für die Mit-
gliedschaft in der Europäischen Union ist, hat die EU als internationale Or-
ganisation das Recht und die Pflicht, Maßnahmen in drei Grundrichtungen zu
ergreifen: sie macht den Mitgliedstaat auf Probleme aufmerksam, die im Zusam-
menhang mit der Beachtung der Rechtsstaatlichkeit auftauchen; sie bringt die
in den Verträgen, die die Grundlage für die EU bilden, vorgesehenen Verfah ren
und die Verhängung entsprechender Sanktionen in Gang; sie ergreift Maß nah-
men zum Schutz der Interessen der EU und der übrigen Mitgliedstaaten in den
Beziehungen zu einem nicht rechtsstaatlichen Staat.23 Eine solche Kompetenz ist
nichts Mutmaßliches, sondern kommt direkt in Art. 2 EUV zum Ausdruck, aber
auch in anderen Vertragsbestimmungen, z. B. in Art. 19 EUV, der die Tätig keit
der europäischen Gerichte betrifft, u. a. der nationalen Gerichte.
3 Die Effektivität der Maßnahmen, die gegenwärtig
von der EU gegenüber nicht rechtsstaatlichen Mitgliedstaaten
ergriffen werden
Über die Anzeichen einer Krise der Rechtsstaatlichkeit schrieb vor kurzem Ma-
rek Saan,24 der auf einige wesentliche Symptome verwies:
1) das Infragestellen der Rolle des Rechts als Instrument, das die Beziehungen
und Strukturen des Funktionierens der öffentlichen Gewalt, die Beziehun-
gen zwischen Einzelnen, aber auch zwischen den Mitgliedstaaten der EU
und europäischen Institutionen ordnet;
2) das Infragestellen des Mechanismus des demokratischen Systems durch
seine Reduzierung auf das Prinzip der demokratisch legitimierten Mehrheit;
3) das Infragestellen der Rolle einer unabhängigen Justiz.
Saan führte auch Ansichten an, gemäß denen die »existenzielle Gefahr für
Europa und die Angst vor Autoritarismus, zumindest aber vor Tendenzen, die
sich in dieser Richtung abzeichnen, heute größer ist als sogar vor dem drohen-
den Zerfall der EU infolge weiterer ›Austritte‹. In dieser Si tua tion stellt man
23 Barcz: Unia Europejska wobec niepraworządnego, S. 3.
24 Safjan: Rządy prawa a przyszłość Europy, S. 28–58.
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nicht zu Unrecht fest, dass ›die Zeit für eine Diskussion vorbei ist, dass jetzt die
Zeit zum Handeln gekommen ist‹«.25 Die Maßnahmen, die von der EU bislang
ergriffen wurden, waren indessen nicht sehr effektiv in dem Sinne, dass sie nicht
zu wesentlichen Änderungen in den nicht rechtsstaatlichen Staaten führten.26
Mindestens seit 2016 ist eine deutliche Krise bemerkbar.27
Diese Feststellungen enthalten leider viel bittere Wahrheit. Es genügt, sich auf
die einzelnen zur Verfügung stehenden Mechanismen zu beziehen und sich an-
zuschauen, welche Wirkung ihre Einleitung und der Versuch ihrer Anwendung
gebracht hat.28 Weder die Europäische Kommission noch der Rat ergreifen in
diesem Bereich Maßnahmen, die energisch genug wären: die Art und Weise,
wie die Kommission handelt, kann als zu träge betrachtet werden, der Rat wie-
derum unternimmt keine Schritte, die man als bedeutend bezeichnen könnte.29
Manche Autoren schreiben sogar, dass sich die Untätigkeit dieser Institutionen
geradezu auf Unterlassung reduzieren lässt, die im Prinzip Gegenstand einer
separaten Klage sein könnte.30
Es erweist sich ebenfalls, dass, obwohl die Einleitung von Verfahren, die in Art. 7
EUV geregelt sind, und auch die Anwendung anderer wirksamer Mechanismen,
in der Doktrin als »Erwachen des supranationalen Systems«
31 bezeichnet wur-
den, diese nicht effektiv genug sind. Der Rat ist – so hat es aufgrund von zwei
schwebenden Verfahren den Anschein – politisch nicht im Stande, wesentliche
Fortschritte bei der Durchsetzung der EU-Werte in den andauernden Verfahren
25 Ebenda, S. 31.
26 Vgl. European Commission. Communication, S. 1–30, mit den Anhängen bzgl. der einzel-
nen Länder.
27 Seit November 2015 analysierte die Europäische Kommission die Si tua tion in Polen und
führte einen Dialog mit der polnischen Regierung – die Ergebnisse dieser Analysen und die
Resultate des Dialogs wurden in den folgenden, an Polen gerichteten Empfehlungen der
Kommission in Sachen Rechtsstaatlichkeit vorgestellt: vom 27.Juli 2016, vom 21.Dezem-
ber 2016, vom 26.Juli 2017 und vom 20.Dezember 2017, was damit endete, dass die
Kom mission einen Antrag an den Rat aufgrund von Art. 7 Abs. 1 EUV (COM(2017) 835
final) richtete.
28 Ähnliche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Abhandlung von Kim Lane Scheppele,
Dimitry V. Kochenov, Barbara Grabowska-Moroz: EU Values are Law, after All: Enforc-
ing EU Values through Systemic Infringement Actions by the European Commission and
the Member States of the European Union. In: yearbook oF euroPean laW 2020, Bd. 39,
S. 3–121 .
29 Laurent Pech, Patryk Wachowiec, Dariusz Mazur: Poland’s Rule ofLaw Breakdown: AFive
Year Assessment of EU’s (In)Action. In: haGue journal on the rule oF laW 2021, H. 13,
S. 1–43. Ausführlicher zu diesem Thema: Grzelak: Praworządność tematem wiodącym,
S. 19–26 .
30 Pech, Wachowiec, Mazur: Poland’s Rule ofLaw Breakdown, S. 1–43.
31 Taborowski: Mechanizmy, S. 59.
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von Art. 7 EUV zu machen.32 In der Tat kann man sogar der Auffassung sein,
dass dieses Fehlen eines entschiedenen Handelns des Rats und sein Zögern hin-
sichtlich der Anwendung von Art. 7 EUV in Wirklichkeit mit Erfolg zu einer
weiteren Geringschätzung der Werte führt, die in Art. 2 vorgesehen sind, u. a.
zur Nichtbefolgung von Urteilen des EuGH.33
Wie oben zu sehen ist, bewirkte das Fiasko der politischen Reaktionen auf die
Rechtsstaatlichkeitskrise, dass der EuGH in dieser Frage eine führende Rol-
le übernehmen musste. In dieser Hinsicht von Wirkungslosigkeit zu sprechen,
wäre höchst ungerecht. In jedem Fall, in dem die Kommission Klage bezüglich
der richterlichen Unabhängigkeit erhebt 34 oder wenn ein nationales Gericht sich
mit einer Präjudizialfrage an ihn wandte, verteidigte der EuGH die Rechts-
staatlichkeit bei gleichzeitiger Beachtung des Prinzips gegenseitigen Vertrauens
sowohl auf institutioneller Ebene als auch auf der das Funktionieren des ge-
meinsamen Rechtstraums der EU ermöglichenden Ebene, ohne dabei aber bei
der Beachtung der Verfahrensregeln zu zögern, z. B. nicht auf Fragen in einer
Si tua tion zu antworten, in der der EuGH zum Ergebnis gekommen war, dass
die Frage nicht mit der Angelegenheit in Zusammenhang steht, in der sie ge-
stellt wurde – was selbstverständlich einen gewissen Groll bei manchen Kom-
mentatoren weckt.35 Dieser zweite Mechanismus wurde bisher nicht zu diesem
Zweck angewendet und man war sogar der Ansicht, dass die Rechtsstaatlichkeit
als Wert aus Art. 2 EUV sich auf den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten
bezieht,36 was sich letztlich nicht bestätigte, wie im vorherigen Punkt erläutert
wurde. Bei der Auseinandersetzung mit dem Problem der Rechtsstaatlichkeit
32 Vgl. die Resolution des Europäischen Parlaments vom 16.01.2020, P9_TA(2020)0014,
on ongoing hearings under Article 7(1) of the TEU regarding Poland and Hungary
(2020/2513(RSP)).
33 Im Juni 2021 rief das Europäische Parlament zu einer Reflexion über die weitere Anwen-
dung von Art. 7 EUV auf, u. a. über den Umfang der Erfordernisse, die sich auf die Ab-
stimmung beziehen, um die Wirksamkeit dieses Verfahrens zu erhöhen und um Lösungen
zu erarbeiten, die das Problem der erforderlichen Einstimmigkeit bei der Verhängung von
Sanktionen überwinden. Vgl. European Parliament resolution of 24 June 2021 on the
Commission’s 2020 Rule of Law Report (2021/2025(INI)), P9_TA(2021)0313.
34 In polnischen Angelegenheiten erhob die Kommission bislang vier Klagen. Vgl. die Urteile
und die laufenden Verfahren C-192/18, C-619/18, C-791/19 i C-204/21.
35 Vgl. die Medienreaktion auf das Urteil in der Rechtssache C-508/19, z. B. Marek Doma-
galski, Dorota Gajos-Kaniewska: TSUE: pytania prejudycjalne SN ws. sędzi Frąckowiak
są niedopuszczalne. In: rp.pl vom 22.03.2022, https://www.rp.pl/sady-i-trybunaly/
art35915161-tsue-pytania-prejudycjalne-sn-ws-sedzi-frackowiak-sa-niedopuszczalne
(10.04.2022).
36 Diese Auf fassung vertraten u. a. Thomas Würtemberg, Jan Wiktor Tkaczyński: Nowe ramy
Unii Europejskiej na rzecz umacniania praworządności (analiza krytyczna). In: PańSt Wo i
PraWo 2017, H. 9, S. 25.
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in der EU wandelte der Gerichtshof den Wert, den der Rechtsstaat darstell-
te, in ein effektives Rechtsprinzip um, wobei er gleichzeitig unterstrich, dass
die Bindung an die Rechtsstaatlichkeit von jeher ein Element des europäischen
Konstitutionalismus war. Der Gerichtshof musste im Rahmen der an diese In-
stitution gerichteten Rechtssachen die Frage des normativen Charakters des
Rechtsstaatsprinzips berühren, insbesondere im Kontext der Unabhängigkeit
und Unabsetzbarkeit von Richtern auf nationaler Ebene. Es war klar, dass der
Gerichtshof gezwungen sein würde, sich in der Frage des normativen Charak-
ters des Inhalts von Art. 2 oder Art. 19 EUV zu äußern und folglich auch in
der Frage der Bedeutung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäi-
schen Union,37 was auch schrittweise geschah, angefangen mit dem Urteil in
der Rechtssache der portugiesischen Richter über weitere Urteile, insbesondere
Polen betreffend.38 In diesen Rechtssachen entwickelte der Gerichtshof seine
früheren esen bezüglich des Umfangs der Anwendung des Unionsrechts im
Kontext der ausschließlichen Kompetenzen der Mitgliedstaaten, und ihre Folge
war die Feststellung, dass die Organisation der Justiz der Mitgliedstaaten nicht
ausschließlich eine Domäne der Mitgliedstaaten ist, was daher rührt, dass die
nationalen Gerichte, denen der Mitgliedstaat die Anwendung des Unionsrechts
überträgt, die Anforderungen der institutionellen Garantien erfüllen müssen,
die durch das Prinzip eines wirksamen Rechtsschutzes festgelegt sind. Es darf
auch nicht vergessen werden, dass der Gerichtshof ausschließlich im Rahmen
von an ihn gerichteten Klagen oder präjudizialen Fragen handelt und keine
Möglichkeit zu eigenständigem systemischem Handeln hat. Die Tätigkeit des
EuGH hat jedoch nur dann und nur insoweit eine große Bedeutung, wenn die
Behörden der Mitgliedstaaten im Anschluss daran nicht Maßnahmen ergreifen,
die die effektive Anwendung dieser Rechtsprechung unmöglich machen wür-
den. Die nicht dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Staaten verneinen indessen
die Grundprinzipien des Rechtssystems der EU, was wiederum zur Notwendig-
keit führt, weitergehende Maßnahmen zu ergreifen und alternative Lösungen
37 Amtsblatt der Europäischen Union C 202 aus dem Jahr2016, S. 389 – im Weiteren GRC.
38 Vgl. das Urteil des EuGH vom 27.02.2018, C-64/16, Associação Sindical dos Juí-
zes Portugueses gegen Tribunal de Contas, EU:C:2018:117 – ferner C-64/16, Associ-
ação Sindical dos Juízes Portugueses; und die Urteile des EuGH in polnischen Rechts-
sachen: vom 24.06.2019, C-619/18, Europäische Kommission gegen Republik Polen,
EU:C:2019:531– ferner das Urteil C-619/18, Kommission gegen Polen; vom 19.11.2019,
die verbundenen Rechtssachen C-585/18, C-624/18 und C-625/18, A.K. gegen Lan-
desgerichtsrat und CP, DO gegen den Obersten Gerichtshof , EU:C:2019:982 – ferner
das Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-585/18, C-624/18 und C-625/18, A.K.,
oder auch vor kurzem vom 2.03.2021, C-824/18, A.B. u. a. gegen den Landesgerichts-
rat, EU:C:2021:153, sowie vom 15.07.2021, C-791/19, Europäische Kommission gegen
Republik Polen, EU:C:2021:596 – ferner das Urteil C-791/19, Kommission gegen Polen.
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185
auszuprobieren.39 Der Konditionalitätsmechanismus kann eine solche Lösung
sein, aber ob er angewendet werden wird, ist weiterhin unklar, obwohl die Prä-
sidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die Anwendung
gegenüber Ungarn angekündigt hat. Die endgültige Entscheidung wird der Rat
mit qualifizierter Mehrheit treffen.40
Trotz der bedeutenden Leistungen des Gerichtshofs hat sich jedoch erwiesen,
dass die vertragsgemäße Übertragung von Kompetenzen auf EU-Ebene kraft der
Beitrittsverträge und späteren Änderungsverträge in Zeiten von globalem Po pu-
lismus nicht zur Lösung des Problems ausreichte 41, werden doch in einigen Mit-
gliedstaaten, insbesondere die polnischen Gerichte, ganz offen die grund legenden
Kompetenzen des Gerichthofs in Frage gestellt.42 Obwohl die Kom mission, aber
auch die Gerichte der Mitgliedstaaten, insbesondere die polnischen Gerichte, den
Gerichtshof zu einer immer weitergehenden Lagebeur tei lung in den Mitgliedstaa-
ten bewegen wollen, indem sie (entsprechend) das Ver tragsverletzungsverfahren
oder das Verfahren präjudizialer Fragen und den Rechts schutz der EU-Bürger in
Anspruch nehmen und somit Druck auf den Gerichtshof selbst ausüben, hat der
Druck, der vom EuGH auf die Mitgliedstaaten ausgeübt wird, dennoch nur eine
partielle Wirkung. Die Maßnahmen des EuGH haben nämlich nur insoweit eine
große Bedeutung, als die Behörden der Mitgliedstaaten im Anschluss daran kei-
ne Maßnahmen ergreifen, die es den Ge richten der Mitgliedstaaten unmöglich
machen würden, präjudiziale Fragen in Rechtssachen dieser Art an den EuGH
zu richten, oder sich nicht sogar anmaßen, die Rechtsprechung des EuGH in-
frage zu stellen (davon wird im Folgenden die Rede sein). Das wiederum führt
zur Frage der Notwendigkeit eines wei terführenden Dialogs über eine alternative
Herangehensweise und weitere, neue Lösungen.
39 Dimitry Kochenov: De Facto Power Grab in Context: Upgrading Rule of Law in Europe in
Populist Times. In: Xl PoliSh yearbook oF international laW 2021, H. 5.
40 Vgl. z. B. Justyna Łacny: System warunkowości mający chronić budżet UE przed narusze-
niami zasady państ wa prawnego przez państwa członkowskie. In: PAŃSTWO I PRAWO
2021, H. 11, S. 3.
41 Zur Definition und den Folgen von Populismus vgl. Dimitry Kochenov. Barbara Grabow-
ska-Moroz: Constitutional Populism versus EU Law: A Much More Complex Story than You
Imagined. In: reconnect WorkinG PaPer 2021, H. 16.
42 Vgl. das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5.05.2020, 2 BvR 859/15,
2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2BvR 980/16. Vgl. auch die Presseinformationen in
Bezug auf das Urteil des französischen Staatsrats, der das Urteil des Gerichtshof der
Europäischen Union in Frage stellt: Francuska konstytucja nadrzędna wobec prawa eu-
ropejskiego. In: gazetaprawna.pl vom 22.04.2021, https://serwisy.gazetaprawna.pl/
orzeczenia/artykuly/8147733,francja-konstytucja-nadrzedna-prawo-europejskie.html
(11. 0 8. 20 21).
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4 Die Notwendigkeit einer EU-weiten Diskussion
über die Änderungen im Bereich der Kontrollmethoden
für die Beachtung der EU-Grundwerte
Die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten ist der gemeinsame Nenner für
den Erfolg der europäischen Konstruktion in allen Bereichen ihres Handelns.
Die Mitgliedschaft in der EU allein schützt die Mitgliedstaaten jedoch nicht vor
der Möglichkeit der Machtübernahme durch nicht rechtsstaatlich ausgerichtete
Regime. Es gibt auch keine Garantie für eine Umkehr von einem solchen Weg,
wenn er bereits eingeschlagen wurde: nicht rechtsstaatliche Regime können sich
vertiefen und infolgedessen dauerhafte Formen annehmen. Das EU-System der
muss folglich so konstruiert sein, dass es drei Grundvoraussetzungen erfüllen
kann: 1) den negativen Einfluss auf das Handeln der Europäischen Union seitens
des Staates begrenzen, der das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verletzt, 2) diesen
Staat zur Änderung seines Handelns bewegen, 3) die Möglichkeit dafür schaffen,
Staaten aus dem Kreis der Mitgliedstaaten zu entfernen, die dauerhaft und sys-
tematisch die grundlegenden Werte jener Organisation verletzen, deren Mitglied
sie sind.43 Alle in der EU geschaffenen Mechanismen müssen der Notwendigkeit
Rechnung tragen, eben diese Ziele zu erreichen, wobei – außer den bekannten
Mechanismen – darüber hinaus Maßnahmen möglich sind, die zu einer Mar-
ginalisierung nicht rechtsstaatlicher Staaten führen, wie z. B. durch die Intensi-
vierung der Zusammenarbeit mithilfe verstärkter Kontakte, die Verstärkung der
Inte gra tion im Rahmen der Staaten, die zur Eurozone gehören, und schließlich
der Austritt aus der EU oder auch der Ausschluss eines Staates aus der EU.
Wenn es in den Mitgliedstaaten (wie im Fall von Ungarn und Polen) nicht zu
wesentlichen Änderungen kommt, dann stellt sich die Frage, ob die Europäische
Union weitergehende Maßnahmen im Rahmen der vorhandenen Mechanismen
ergreifen kann oder soll bzw. ob eventuell eine Diskussion über systemische
Veränderungen notwendig ist, die Si tua tionen verhindern würden, von denen
in der Rechtsprechung der internationalen Gerichte die Rede ist.44 Eine weitere
Frage stellt sich im Kontext der aktuellen Ereignisse – ob die Europäische Union
angesichts des Kriegs in der Ukraine die Probleme in den Mitgliedstaaten, die
im Zusammenhang mit der Migrationskrise und der Si tua tion in der Ukraine
gleichsam die größte Last auf sich genommen haben, etwas milder betrachten
43 Barcz: Unia Europejska wobec niepraworządnego, S. 20.
44 Sowo hl beim EuGH (vgl. die o.g. Urte ile) als auch beim Europ äischen Geric htshof für Men -
schenrechte (EGMR) – vgl. insbesondere die Rechtssachen Guðmundur Andri Ástráðsson
gegen Island (Klage Nr. 26374/18), Jan Grzęda gegen Polen (Klage Nr. 43572/18)
oder auch Xero Flor gegen Polen (Klage Nr. 4907/18).
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sollte. Zweifelsohne hat der Krieg in der Ukraine die Art und Weise, wie Ungarn
und Polen wahrgenommen werden, etwas verändert – in den ersten Äußerun-
gen der Präsidentin der Europäischen Kommission wurde die Anwendung des
Kon ditionalitätsmechanismus gegenüber Ungarn angekündigt
45, andererseits
wurden jedoch Versuche unternommen, den Konflikt zu entschärfen und die
finanziellen Mittel für Polen freizugeben.46 Jüngst waren – im Zusammenhang
mit Polen – in der öffentlichen Debatte Stimmen vernehmbar, die forderten, das
Handeln der polnischen Behörden im Kontext des Kriegs in der Ukraine und
die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen durch den polnischen Staat mit
der Prozedierung und Annahme des polnischen Wiederaufbauplans durch die
Europäische Kommission »belohnt« werden sollte.47 Ein solches Handeln kann
jedoch als Abrücken von der Grundidee der EU und ihrer Axiologie verstan-
den werden. Das Engagement des polnischen Staats für humanitäre Hilfe und
Unterstützung für die Ukraine hat nämlich nichts mit der Wiederherstellung
des Rechtsstaats zu tun, daher sollte die eine Frage nicht von der anderen ab-
hängig gemacht werden.
All diese Elemente konnten Gegenstand einer Diskussion im Rahmen der De-
batte zur Zukunft Europas sein. Die Diskussion im Rahmen der Konferenz zur
Zukunft Europas umfasste jedoch anfänglich nicht das Problem der Rechts-
staatlichkeit – in den ersten Dokumenten wurde dieses Motiv nicht als eigen-
ständiges Diskussionsthema aufgegriffen, da es ausschließlich ein Element um-
fänglicherer Probleme ist, vor denen die EU steht. Dieses ema sollte jedoch zu
einem Leitthema der Debatte im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas
werden, und die Diskussion müsste sich nicht nur auf die Ursachen, sondern
auch auf die Abhilfemittel konzentrieren, u. a. den Versuch, nicht nur einen
Minimalstandard und ein Minimalverständnis des Rechtsstaatsprinzips zu er-
arbeiten, sondern ein Optimum, das alle Mitglieder der EU anstreben sollten.
Unter den Vorschlägen in Bezug auf die »Werte und Rechte, die Rechtsstaat-
lichkeit und Sicherheit« wurde im Schlussbericht 48 darauf verwiesen, dass nicht
nur die wirksame Anwendung und Beurteilung des Umfangs einer Verordnung
45 Aus Presseberichten geht hervor, dass die Kommission am 18.September 2022 dem Euro-
päischen Rat die Anwendung des Konditionalitätsmechanismus gegenüber Ungarn vor-
schlug. Vgl. die Mitteilung der Pressedienste der Kommission. In: ec.europa.eu, h t t p s : //
ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_22_5623 (23.09.2022).
46 Vgl. die Arbeiten am Gesetz über die Änderungen im Obersten Gerichtshof, Drucksachen
des Sejms Nr. 2011 und 2013. Das Gesetz wurde am 9.Juni 2022 verabschiedet. Dz. U.
po z. 1259.
47 Vgl. die Medienberichte: Domagalski, Gajos-Kaniewska: TSUE: pytania prejudycjalne SN.
48 Der Bericht über die Endergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas wurde den Präsi-
denten von drei Organen am 9.Mai 2022 vorgelegt, https://futureu.europa.eu/pages/
reporting (28.05.2022)
DOI: 10.13173/9783447120241.173
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über die Konditionalität und andere Instrumente notwendig ist, sondern auch
eine eventuelle Erweiterung auf neue Bereiche, unabhängig von ihrer Bedeu-
tung für den EU-Haushalt, ins Auge gefasst werden müsste. Es wurde auch
darauf verwiesen, dass alle unabdingbaren Rechtsmittel in Erwägung zu ziehen
sind, darunter auch Vertragsänderungen, um Verletzungen der Rechtsstaatlich-
keit zu bestrafen.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob Vertragsänderungen tatsächlich notwendig
sind. Allem Anschein nach sind nämlich bereits sehr viele Instrumente vorhan-
den. Die Debatte sollte Fragen der Konsequenz, Entschiedenheit und Kompro-
misslosigkeit in dieser Frage betreffen. Seit einiger Zeit kann man nämlich den
Eindruck gewinnen, dass die EU fortwährend mit der Schaffung neuer Inst-
rumente beschäftigt ist, anstatt konkrete Maßnahmen zu ergreifen – die Be-
hauptung, dass es keine ausreichenden Mechanismen gibt, soll ein Argument
für den Verzicht auf ihre Anwendung bzw. ihre sehr bescheidene oder selektive
Anwendung gegenüber bestimmten Staaten sein. Für den Schutz der Rechts-
staatlichkeit sind keine neuen Instrumente erforderlich, und schon gar nicht
neue Institutionen oder Agenturen. Es gibt rechtlich-politische Mechanismen
(Art. 7 EUV, die alljährliche Bewertung der Europäischen Kommission), ge-
richtliche Mechanismen (die Verfahren vor dem EuGH), finanzielle Druckmit-
tel (Konditionalitätsmechanismus), aber auch institutionelle (vom Gerichtshof
bis hin zur Agentur für Grundrechte), die es zu nutzen gilt. Bis jetzt war jedoch
Zögern zu beobachten – es genügt, die Schwierigkeiten mit dem Übergang zu
weiteren Etappen beim Mechanismus in Art. 7 EUV in den Blick zu nehmen
oder auch die Herausforderung, eine Systemklage gegen einen Staat durch die
Kommission gestützt auf Art. 258 AEUV zu erheben.49
5 Schlussfolgerungen
Dieser kurze Text sollte die Grunddilemmata der Debatte zur Zukunft der
Rechtsstaatlichkeit in der EU zeigen, genauer gesagt die Mechanismen, die die
EU anwenden kann, um nicht rechtsstaatliche Staaten zu einer Umkehr auf
den Weg der in Art. 2 EUV zum Ausdruck gebrachten Werte zu zwingen. Die
Diskussion in dieser Sache geht weiter – sei es im Rahmen der Konferenz zur
Zukunft Europas oder im Rahmen vorhandener rechtlicher Mechanismen. Un-
terdessen sind – in der Ausnahmezeit des Krieges und der realen Bedrohung für
die Sicherheit – diese emen etwas in den Hintergrund gerückt, obwohl doch
49 Dies bezieht sich auf das Systempostulat von Prof. Kochenova, das in den oben erwähnten
Texten angesprochen wurde.
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gerade die Rechtsstaatlichkeit gegenwärtig nicht nur ein Problem für Staaten ist,
die bereits Mitglieder der EU sind, sondern auch für jene Staaten, die der EU in
allernächster Zeit beitreten möchten.50
Man kann feststellen, dass das Infragestellen der Rechtsstaatlichkeit als eines
gemeinsamen Elements des Inte gra tionsprozesses, aber auch als Bedingung für
das Funktionieren einer internationalen Organisation als Rechtsgemeinschaft
eines der aktuellsten Probleme ist, mit denen sich die EU messen muss. Bei der
Diskussion über die Zukunft Europas sind insbesondere zwei Aspekte nicht zu
vergessen: vor allem, dass die fehlende Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten
mit allgemeinen populistischen Tendenzen verbunden ist, die das Modell einer
globalen Zusammenarbeit und liberalen Demokratie ablehnen; zweitens, dass
die mit der Rechtsstaatlichkeit verbundenen Herausforderungen Ausnahme-
charakter haben und ein Präzedenzfall sind. Leider hat die EU bisher keine
großen Erfolge im Bereich der Rechtsstaatlichkeit davongetragen, aber – wie
zu beobachten ist – betrifft das Problem nicht etwa einen Mangel an rechtli-
chen Mitteln, sondern vielmehr den fehlenden politischen Willen, das wirklich
zu nutzen, was bereits vorhanden ist. Das kann eine Begründung für die Not-
wendigkeit einer tiefgehenden Neuinterpretation des Problems und der Heran-
gehensweise an dieses Problem sein. Dieses Problem könnte sich im Grunde
genommen als sogar wichtiger für die gesamte EU erweisen als der Brexit: das
Abrücken von der Idee einer Werte- und Rechtsgemeinschaft kann dazu führen,
dass die EU zur Idee einer wirtschaftlichen Vereinigung zurückkehrt, was den
Zielen des Vertrags von Maastricht und der Idee der Europäischen Union zu-
widerlaufen würde. In Anbetracht dessen sollten die Institutionen der EU und
alle Mitgliedstaaten, denen an der Zukunft einer gemeinsamen Organisation
liegt, alle unverzichtbaren Maßnahmen ergreifen, um einem weiteren desinteg-
rierenden Handeln vorzubeugen. Dabei dürfen ernsthafte Sanktionen nicht von
vorneherein ausgeschlossen und keinesfalls Nachgiebigkeit gezeigt werden, nur
weil Flüchtlingen aus der Ukraine Hilfe geleistet wird.
Aus dem Polnischen von Sabine Lipińska
50 Lily Bayer: War in Ukraine envelops EU rule-of-law fight at home. In: Politico vom
17.03.2022, https://www.politico.eu/article/war-risks-pushing-aside-eu-rule-of-law-
concerns/ (15.05.2022).
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Werte an der Grenze Europas:
Was haben wir aus der Migrationskrise
an der östlichen Grenze der Europäischen Union
und dem Krieg in der Ukraine gelernt?
Beata Ociepka, Universität Wrocław
Values on Europe’s border: what have we learned from the migrant crisis
on the European Union’s eastern border and the war in Ukraine?
The events on the European Union’s eastern border with Belarus since Septem-
ber 2021 and the war in Ukraine since February 2022 are a significant test of
the EU’s normative power and the values it wishes to represent. The power of
attraction, according to Joseph Nye’s concept of soft power, is built on values
represented by actors of international relations. The author of this study points
to significant contradictions in the understanding of European values among
EU states, which became apparent, among other developments, during the mi-
gration crisis on the EU’s eastern border with Belarus in 2021 and when the EU
faced Russian aggression against Ukraine in 2022. These contradictions are
evident among EU member states, but also at the domestic level (the case of
Poland). Openness and dialogue, so important to the “pragmatic idealist” Bro-
nisław Geremek, are still on the EU’s banners. They were the basis of many EU
countries’ relations with Russia after 2014 despite the sanctions imposed on this
country. However, the opinions of the EU’s eastern states were not heeded, and
the EU’s internal dialogue on Russia was shaped mainly by the economic inter-
ests of the member countries. After 2014, “pragmatism” prevailed in relations
with Russia, which was included in the analysis as a context for the study of the
EU’s European values. In Polish reactions to the 2021 crisis and the 2022 war,
openness and dialogue depended on the cultural and political context. Polish
civil society and the Polish ruling class understood these values differently.
DOI: 10.13173/9783447120241.191
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Bronisław Geremek übte einen bedeutenden Einfluss auf die polnische Politik
in Europa aus, aber auch auf die Wahrnehmung der Europäizität von Polen.
Er wurde als »pragmatischer Idealist«
1 bezeichnet und in seinen Texten und
Äußerungen unterstrich er häufig, dass in den europäischen Beziehungen, aber
auch in den Kontakten Europas mit seinen Nachbarn und anderen Staaten,
Offenheit und Dialog notwendig seien. Auf diese Weise fügte er diese dem gut
bekannten Kanon europäischer Werte, wie Menschenwürde, Freiheit, Demo-
kratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, hinzu.2 Diese Offenheit und diesen
Dialog, als Art und Weise der Kommunikation europäischer Werte, gilt es heute
den Lehren gegenüberzustellen, die aus den Ereignissen an der Ostgrenze der
Europäischen Union resultieren: aus der Migrationskrise – u. a. seit Septem-
ber 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze – und aus dem Krieg an der
polnisch- ukrainischen Grenze seit Februar 2022. Die Migrationskrise in Euro-
pa und der Krieg in der Ukraine sind ein wichtiger Test für die normative Kraft 3
der EU und für die Werte, die die sie vertreten möchte, aber auch für das polni-
sche Verständnis dieser Werte.
Der Titel einer der Veröffentlichungen, die dem Werk Geremeks gewidmet sind,
bezeichnet ihn als den Vater des polnischen Liberalismus.4 Der Liberalis mus
ist immer noch eine starke Strömung in der eorie der internationalen Bezie-
hungen und aus der heutigen Sicht würden wir Geremek auch zu den Vertre ter:
innen dieser liberalen Schule rechnen. Vermutlich waren ihm Formulierun gen
vertraut, denen zufolge die Stärke der EU sich u. a. auf die Möglichkeit grün-
dete, andere Staaten anzuziehen, ohne von militärischer Gewalt und ökono-
mischem Übergewicht Gebrauch zu machen, sondern auf der Grundlage der
Attraktivität ihres Wirtschaftsmodells (des Wohlstands der EU, folglich auch
ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Sozialmodelle), ihrer Institutionen, Normen
und Werte. Auf die Werte, die sie vertritt, gründet die Europäische Union ihre
normative Kraft. Selten erinnern wir uns heute daran, dass die EU 2012 für ihr
Handeln zur Förderung von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschen-
rechten in Europa den Friedensnobelpreis erhielt.
Einer der außergewöhnlich häufig zitierten Texte Geremeks ist der, den er im
Jahr 2000 als Außenminister gemeinsam mit dem deutschen Außenminister
1 So betitelt wird Bronisław Geremek von Leszek Jażdżewski: Bronisław Geremek: Euro-
pejczyk w Polsce, Polak w Europie. In: Paweł Luty (Hrsg): Bronisław Geremek, S. 4. Viele
Autoren unterstrichen sowohl den Idealismus als auch den Pragmatismus Geremeks.
2 Gemäß dem Art. 2 EUV sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
3 Im vorliegenden Text wird der Begriff »normative Kraft« nach Manners verwendet: Ian
Manners: Normative Power Europe: A Contradiction, S. 235–258.
4 Paweł Luty (Hrsg.): Bronisław Geremek, S. 1.
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Joschka Fischer verfasste und in dem sich die beiden Minister auf die deutsch-
pol nische Grenze und ihre symbolische Bedeutung für Europa beriefen, als
einer der schwierigsten Grenzen des 20. Jahrhunderts […]. Es ist eine tief
gehende sprachliche und mentale Grenze, in gewisser Weise eine konfessio-
nelle Grenze, und – trotz der polnischen Wirtschaftserfolge der letzten Jah-
re – auch eine ökonomische Grenze, entlang derer die Nachbarn erst seit
kaum einer Generation wieder Nachbarn sind, sich nur in ungenügendem
Maße kennen und einander gegenüber durchaus noch Ängste und Aversio-
nen empfinden. Polen haben Angst vor dem Aufkauf von Grund und Boden
durch Deutsche, Deutsche haben Angst vor polnischer Konkurrenz auf dem
Arbeitsmarkt. Gerade die deutsch-polnische Grenzregion kann und soll ein
Gebiet der Zusammenarbeit, der Modernisierung und Innovation sein.5
Dieses Zitat ist für die vorliegende Studie im Hinblick auf den Begriff der Gren-
ze als Raum wesentlich, der sowohl trennt als auch verbindet, aber auch deshalb,
weil es die Aufmerksamkeit auf die deutsch-polnischen Beziehungen lenkt,
deren Umbau nach 1989 zu einem Element der normativen Kraft Deutsch-
lands, Polens und der ganzen EU geworden ist. Der symbolische Charakter der
deutsch-polnischen Grenze resultiert zugleich aus der großen Wechselhaftigkeit
der deutsch-polnischen Beziehungen, also aus den aus ihnen hervorgehenden
Schlussfolgerungen für den Zusammenprall der europäischen Werte mit der
internationalen Wirklichkeit. Aus der Perspektive des Jahres 2022 kann man
sagen, dass die Erwartungen, die von Geremek und Fischer geäußert wurden, in
hohem Maße erfüllt wurden und dass die deutsch-polnische Grenze zu einem
Ort der Zusammenarbeit geworden ist, selbst wenn diese oftmals problematisch
und weiterhin unvollkommen ist. Inzwischen hat sich, nach dem Jahr 2004,
die Grenze der EU nach Osten verschoben, wobei sie in den letzten Jahren auch
zu einer Grenze zwischen Krieg und Frieden geworden ist, die zunehmend als
Bedrohung statt als ein Vorbote von Zusammenarbeit, Modernisierung und In-
novation wahrgenommen wird. In den Beziehungen zu Russland sind die euro-
päischen Werte auf die Probe gestellt geworden. In dieser – östlichen – Richtung
wurde die Überzeugung der Liberalen von der Möglichkeit einer Annäherung
durch wirtschaftliche Zusammenarbeit negativ verifiziert.
Ich führe hier die Ansicht von Geremek aus dem Jahr 2000 an, um mich einer
Analogie zu bedienen. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Veränderungen, die
an der deutsch-polnischen Grenze eintraten, schwer vorstellbar. In eine ähnliche
Richtung begannen sich die Beziehungen an der polnischen – und unionseige-
nen – Ostgrenze zu entwickeln, auf ihrem ukrainischen Abschnitt. Die Erfah-
5 Bronislaw Geremek, Joschka Fischer: Polen und Deutsche an der Schwelle des neuen Jahr-
hunderts. In: taGeSSPieGel/rzeczPoSPolita vom 17.Februar 2000.
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rungen der deutsch-polnischen Verständigung und der Botschafterfunktion, die
Deutschland im Prozess des Beitritts zur EU gegenüber Polen übernommen hat-
te, schienen sich auf die Beziehungen zur Ukraine übertragen zu lassen, insbeson-
dere weil nach 2014 die polnische normative Kraft einen deutlichen und positiven
Einfluss auf die Ukraine ausübte. Obwohl also nach dem Angriff Russlands auf
die Ukraine Polen nicht an den Verhandlungen in Minsk teil nahm, die zu den
Abkommen Minsk I und Minsk II führten und im sog. Normandie- Format ge-
führt wurden (Frankreich, Deutschland, Russland, Ukraine), und zugleich nach
2015 die Beziehungen zwischen den Regierungen Polens und der Ukraine nicht
mehr so direkt waren wie in den Jahren 2005–2015, wurde die polnische Trans-
formation für die Ukraine doch zu einem nachahmenswerten Modell. Schluss-
endlich widersetzte sich Russland einer Vertiefung der Veränderungen. Die öst-
liche Grenze der EU und die Beziehungen zu Russland werden also in dieser
Studie, in ihrer um Offenheit, Dialog und Solidarität erweiterten Variante, zu
einem Verifizierungsmerkmal der europäischen Werte, die für den »pragmati-
schen Idealisten« Geremek von Bedeutung waren. Die Erfahrungen, die aus der
schwierigen Verständigung zwischen Polen und Deutschland resultieren, für die
sich Geremek als Außenminister Polens einsetzte, sowie die Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Russland werden den Hintergrund dieser Betrachtungen
bilden. Der Begriff »Grenze« wird hierbei sowohl administrativ, vor allem als
territoriale EU-Außengrenze verstanden, aber auch symbolisch, als (auch sym-
bolischer) Raum, in dem die europäischen Werte gewahrt oder verletzt werden.
Der Standpunkt eines Teils der EU-Staaten gegenüber Russland lässt sich mit-
hilfe der liberalen Konzeption der »Komplexen Interdependenz« von Joseph Nye
und Robert Keohane erläutern.6 Seit dem Zerfall der Sowjetunion glaubten vie-
le europäische Staaten, mit Deutschland als einem der Hauptakteure der EU-
Politik gegenüber Russland, an die Wirksamkeit ökonomischer Lösungen auf
dem Weg zur Entstehung eines umgestalteten, demokratischen Russland. Die
Idee einer komplexen Interdependenz, die bei der Erweiterung der europäischen
Werte nach Osten helfen sollte, funktionierte jedoch in der Praxis der Beziehun-
gen zu Russland nicht. Die deutschen Maßnahmen gemäß dem Ansatz »Wandel
durch Handel« zeitigten nicht die erwarteten Folgen. Wie die Kommentato-
ren der internationalen Ereignisse in den sozialen Medien bemerkten, blieb von
»Wandel durch Handel« hauptsächlich der Handel (das bezieht sich auch auf
China).7 Geschäftsinteressen und der Handel mit der EU zogen die Russische
6 Joseph S. Nye, Robert Keohane: Power and Interdependence Revisited. In: international
orGanization 41 (1987), H. 4, S.725–753.
7 Auf das Fiasko dieser Konzeption in den Beziehungen zu China hat Jörg Lau in folgendem
Text seine Aufmerksamkeit gelenkt: Wandel durch Handel. In: internationale Politik vom
1.09.2021, https://internationalepolitik.de/de/wandel-durch-handel-0 (15.06.2022),
DOI: 10.13173/9783447120241.191
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Föderation zweifellos stärker an als die weiche Kraft der Europäischen Union,
verstanden in dem Sinne, den J. S. Nye
8 diesem Begriff gegeben hatte, also ge-
stützt auf die Werte und die Außenpolitik der EU. Infolgedessen werde ich zu
den Werten, auf die die EU sich gründet, in dieser Studie nicht nur Offenheit,
Dialog und Solidarität hinzufügen, die für den »pragmatischen Idealismus« Ge-
remeks so wesentlich sind, sondern auch den Pragmatismus der Außenpolitik
der EU-Mitgliedstaaten. Ich gehe davon aus, dass er zu einem der Faktoren ge-
worden ist, die die Russische Föderation stark anziehen. Folglich gehe ich von
der Annahme aus, dass der Wert, der autoritäre Staaten in Richtung der EU
zieht, der Pragmatismus ihrer Außenpolitik ist, genauer gesagt der Pragmatis-
mus der Außenpolitik ihrer Mitgliedstaaten.
Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon acht Jahre und aus dieser Perspek-
tive können wir heute sagen, dass der Blick zurück auf 2014 darauf hindeutet,
dass die Hauptprobleme, die damals definiert wurden, sich in der Zwischenzeit
vervielfacht haben. In diesem Kontext möchte ich mich auf zwei Fälle konzent-
rieren, die zur Verifizierung der Anziehungskraft dienen, die die Werte der EU
über ihre Grenzen hinaus hat. Der erste Fall ist der russisch-ukrainische Krieg,
der hier angeführt werden soll, um die Bedeutung und Folgen des Pragmatis-
mus einiger EU-Staaten als eines Wertes zu beurteilen, der gewöhnlich kaum
wahrgenommen und in ihrer Außenpolitik selten diskutiert wird. Der russische-
ukrainische Krieg hat indessen die Auswirkungen dieses Pragmatismus sichtbar
gemacht. Der zweite Fall ist die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen
Grenze (also an der Ostgrenze der Union), an die ich anknüpfen möchte, um
die Diskussion auf die Ebene der Mitgliedstaaten zu verlagern, unter Berück-
sichtigung der inneren Dimension der Frage der EU-Werte. Die Si tua tion an
der polnisch-belarussischen Grenze im Jahr 2021 war nur Teil einer breiteren
Flüchtlingskrise in der Europäischen Union, die sich in der gegenwärtigen Pha-
se seit 2014 mit unterschiedlicher Intensität entwickelt.
In dieser Studie stütze ich mich auf die Metaanalyse von Veröffentlichungen, in
denen die Kategorie europäischer Werte und des Pragmatismus in der Außen-
politik sowie der Menschenrechte und der Migrationskrise in dem mich interes-
sie renden Kontext auftaucht, sowie auf die Ergebnisse einer Analyse von Me-
dien inhalten. Ich werde zudem die Ergebnisse breiterer Untersuchungen zur
gleich zeitigen Anwendung von außenpolitischen Instrumenten wie politische und
ökonomische Sanktionen sowie kulturelle Diplomatie im selben Zeitraum (2014–
2016) durch ausgewählte Staaten der EU gegenüber Russland einbeziehen.9
der noch vor der nächsten Etappe des Angriffs Russlands auf die Ukraine im September
2021 veröffentlich wurde.
8 Joseph S. Nye: Soft Power: The Means to Success in World Politics, New York 2004.
9 Im Rahmen des Forschungszuschusses NCN Nr. 2016/23/B/HS5/00486.
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1 Der russisch-ukrainische Krieg als Überprüfungsmerkmal
der europäischen Werte
Ich möchte mit dem Pragmatismus beginnen, wobei es mir vor allem um eine
Handlungsweise in der Außenpolitik oder – wie ich oben gezeigt habe – um
einen Wert geht, der die Strategie der Außenpolitik beeinflusst. Eine solche
Auff assung des Pragmatismus ist weit entfernt vom »pragmatischen Idealismus«
Geremeks. Nur im Hintergrund werde ich an den Pragmatismus im philoso-
phischen Sinn anknüpfen, also an den Einfluss des Pragmatismus in der Philo-
sophie auf die eorie der internationalen Beziehungen.
Die deutsche Politik gegenüber Russland und insbesondere das Handeln von
Kanzlerin Angela Merkel ist einer der in den polnischen Medien am häufigs-
ten angeführten Kontexte für den Pragmatismus in den internationalen Be-
ziehungen.10 Die Politik von Merkel gegenüber der Russischen Föderation
sollte »schmerzhaft pragmatisch« sein. Einer Auffassung zufolge, die von der
Pol ni schen Presseagentur (Polska Agencja Prasowa, PAP) im Jahr 2006 geäu-
ßert wurde, sei Ideologie in der Politik der deutschen Regierung durch Prag-
ma tismus er setzt worden, auch in den Beziehungen zu Polen.11 Über Kanzle-
rin Merkel wurde geschrieben, dass sie sich durch einen Pragmatismus »bis zur
Schmerz grenze« oder einen »radikalen Pragmatismus« 12 auszeichne sowie durch
die »Formel pragmatischer Politik – ohne überflüssige Gesten, offen, geradlinig,
ohne sich von Rücksichten auf Status und Prestige leiten zu lassen«. Diese »prag-
matische Angela Merkel«, so konnte man lesen, würde über eine »besondere
Gabe ver fügen, andere Politiker für sich zu gewinnen und Konflikte zu ent-
schärfen. Ihrem Charme erlagen u. a. George Bush, Władimir Putin oder auch
Lech Kaczyński«.13 Diese Meinung rückt die Haltung Angela Merkels in der
Außenpolitik in die Nähe der Offenheit und des Dialogs im Sinne Geremeks.
Aus der Perspektive des Jahres 2022 wissen wir jedoch, dass dieser pragmatische
Ansatz in der Außenpolitik nicht die erwarteten Folgen brachte, u. a. die erwar-
tete Entschärfung von Konflikten.
10 Diese Feststellung ist jedoch als Hypothese zu betrachten, die weiterer systematischer
Untersuchungen zum Thema Medien bedarf.
11 Niemc y – 100 dni Angeli Merkel – pragmatyzm zamiast ideologii. Polska Agencja Praso-
wa vom 27.Februar 2006.
12 Angela Merkel przechodzi do historii. Wywiad Łukasza Grajewskiego z Robi-
nem Alexandrem. In: tyGoDnik PoWSzechn y vom 13. September 2021, https://www.
tygodnikpowszechny.pl/angela-merkel-przechodzi-do-historii/ (15.06.2022).
13 Zitate aus Gazeta Wyborcza vom Januar 2006 nach: Justyna Arendarska, Agnieszka
Łada- Kornefał, Bastian Sendhardt: Sąsiedztwo w ramach. Polacy i Niemcy o sobie na-
wzajem w przekazie prasowym, Warszawa 2022, S.231.
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Pragmatismus in der Außenpolitik ist laut der Auffassung, die in dieser Studie
zugrunde gelegt wird, dem Ansatz Ralstons folgend zu verstehen, der darauf
verweist, dass »das wirksame Lösen von Problemen einer Vielzahl theoretischer
Ansätze bedarf, unabhängig davon, ob der Problembereich lokal oder global,
moralisch oder praktisch, landesweit oder international ist«. Er kann auch als
Fähigkeit verstanden werden oder als Eigenschaft des Diplomaten der Zukunft.
Stephan M. Walt erwartete, dass ein solcher Diplomat eine realistische Auffas-
sung von Stärke, eine liberale Herangehensweise an den Einfluss der Innenpoli-
tik auf die Außenpolitik sowie eine konstruktivistische »Vision des Wandels«
verbinden würde. Nach James Scott Johnston erfordern »für den Pragmatiker
verschiedene Kontexte, in denen verschiedene emen betrachtet werden, un-
terschiedliche Techniken, unterschiedliche Herangehensweisen, ja sogar einen
anderen Gebrauch (abweichender) abstrakter Ideen«.14 Ein so verstandener Prag-
matismus ist die Fähigkeit, sich an äußere und innere Umstände der Entschei-
dungsdimension in der Außenpolitik anzupassen.
Die Ergebnisse der Anziehung dank der pragmatischen Politik sehen jedoch an-
ders aus, als man gemäß der Konzeption der »weichen Macht« (Soft Power) von
Nye oder der »normativen Macht« (Normative Power) von Manners erwarten
könnte. Die Offenheit und der Dialog Geremeks als eines pragmatischen Idea-
listen brachte ebenso wenig immer die erwarteten Folgen. Ein Überprüfungs-
merkmal dieser Annahme sind u. a. die EU-Beziehungen zu Russland und der
Ukraine seit 2014, ja im Grunde genommen seit 2004. Bis vor kurzem konnte
man in Europa hören und lesen, dass Polen, aber auch Litauen, Lettland und
Estland nicht im Stande seien, in den Beziehungen zu Russland pragmatisch
zu handeln und dass die Ursache dieses Unvermögens in der Geschichte
15 und
ihrer Bedeutung in der Außenpolitik dieser Staaten zu suchen wäre. Damit fehl-
te es innerhalb der Union an einem offenen Dialog zum ema Russland, weil
Pragmatismus einerseits die Voraussetzung für Offenheit ist, aber die in Bezug
auf Russland pragmatischen Mitglieder der Union lieber einen Dialog mit Russ-
land führen wollten, anstatt mit den nichtpragmatischen Mitgliedern der Union
über Russland zu sprechen.16 Die EU-Staaten handelten also nicht solidarisch.
14 Alle Autoren werden nach Ralston zitiert: Shane J. Ralston: Pragmatism in International
Relations Theory and Research. In: eiDoS 14, 2011, S. 72–105.
15 Arendarska, Łada-Kornefał, Sendhardt: Sąsiedztwo w ramach, S. 77.
16 Diese Beobachtung fand Bestätigung in der Äußerung Ursulas von der Leyen im Septem-
ber 2022 im Europäischen Parlament, als sie feststellte: »Man hätte auf die Stimmen im
Inneren der EU, in Polen, in den baltischen Staaten und in Mittel-Osteuropa hören sollen«.
Von der Leyen w PE: Trzeba było słuchać Polski, państw bałtyckich. In: rp.pl vom 14.Sep-
tember 2022, https://www.rp.pl/konflikty-zbrojne/art37052441-von-der-leyen-w-pe-
trzeba-bylo-sluchac-polski-panstw-baltyckich (15.09.2022).
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Es wäre eine falsche Annahme, dass Pragmatismus der polnischen Außenpolitik
fremd ist. In einem Dokument mit dem Titel Strategie der Polnischen Außen-
politik für die Jahre 2017–2021 lesen wir nämlich, dass »die grundlegende Prä-
misse der polnischen Außenpolitik politischer Realismus ist, das Bestreben,
entsprechend der polnischen Staatsräson pragmatische Lösungen zu suchen«.17
Dieselbe Taktik (oder derselbe Wert) wird entsprechend der Staatsräson ver-
wirklicht – insbesondere in Bezug auf die geopolitischen Bedingungen. Ich habe
diesen Pragmatismus als Taktik verfolgt, die in den Beziehungen zu Russland in
einer Frage auftaucht, die erwartungsgemäß marginal ist. Als nämlich 2014 in
der Ukraine die Intervention der sog. grünen Männchen begann und es danach
zur Annexion der Krim kam, feierten einige europäische Staaten – Österreich,
Großbritannien und Deutschland – wichtige kulturelle Ereignisse mit Russland
und in Russland. Die Österreicher organisierten das größte Kulturprogramm
im Rahmen der Österreichischen Kultursaison in Russland 2013/2014, die Bri-
ten feierten das Russia Year of Culture und die Deutschen das Jahr der Deut-
schen Sprache und Literatur. All diese Ereignisse waren als Element einer regen
Zusammenarbeit und des kulturellen Austauschs mit Russland im Geist des
Dialogs, der Offenheit und mit deutlichem Akzent auf die Einbindung und Un-
terstützung der Zivilgesellschaft in Russland geplant. Keines dieser Ereignisse
wurde abgebrochen, trotz der Annexion der Krim, des Kriegs in der Ostukraine
und des Abschusses eines malaysischen Flugzeugs im Juli 2014; man verzichtete
nur auf die glanzvollsten Konzerte (Deutschland) oder zog politisches Personal
von der Eröffnung der Veranstaltungen zurück (Deutschland und Großbritan-
nien). Im Juni 2014 war der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Pu-
tin trotz der Sanktionen in Wien zu Gast. Die damals in Österreich regierende
ÖVP erklärte diesen Besuch mit dem Wunsch nach einer »Öffnung neuer Ka-
näle« in der ersten Phase des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine.18
Österreich unterhielt traditionell sehr zahlreiche und enge Kontakte zu Russ-
land. Es unterstützte die Sanktionen, aber unterhielt gleichzeitig enge politische
Beziehungen zur Russischen Föderation.
Keines der hier erwähnten kulturellen und politischen Ereignisse rief Dis-
kussionen über den Sinn ihrer Fortsetzung angesichts des Krieges hervor, die
zumindest mit der Diskussion über die moralische Dimension der Skirennen
2014 in Sotschi vergleichbar gewesen wären, als auf dem Majdan in Kiew Men-
schen starben. Nur der Pragmatismus der polnischen Außenpolitik äußerte sich
damals in der Absage des für 2015 geplanten Polnischen Jahres in Russland.
17 Strategia Polskiej Polityki Zagranicznej 2017–2021. Ministerstwo Spraw Zagranicznych
RP, Warszawa 2017.
18 Beata Ociepka, Justyna Arendarska: Cultural Diplomacy and Sanctions as Foreign Policy
Instruments during a Time of Conflict, zur Rezension eingereichter Artikel.
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200
Der Pragmatismus wurde auch als Grund für die Fortsetzung der politischen
und kulturellen Unternehmungen mit Russland durch die Niederländer 2013
genannt, trotz der angespannten und sich verschlechternden Beziehungen zu
Russland, darunter diplomatischer Skandale, deren Kontext die Proteste der
Niederländer gegen die Verletzung der Menschenrechte in Russland waren –
also zur Verteidigung der EU-Grundwerte. Die Belange von Gasunie
19 waren
jedoch wichtiger als der weniger messbare Bereich der Werte. Seit 2014, als die
EU politische und ökonomische Sanktionen gegen Russland verhängte, war die
andere und offizielle Begründung für die Aufrechterhaltung der Kontakte im
Bereich der kulturellen Diplomatie das Bedürfnis, »offene Kommunikations-
kanäle« aufrechtzuerhalten, zu denen kulturelle Kontakte gehören sollten sowie
der Wunsch, die Zivilgesellschaft in Russland zu unterstützen. Zur Idee der
»offenen Kanäle« in der Politik gegenüber Russland werde ich im weiteren Teil
des vorliegenden Textes zurückkehren.
Im Jahr 2022 scheint die Si tua tion anders gelagert zu sein, wenn dies auch aus
einer beispiellosen Eskalation des Angriffs Russlands auf die Ukraine resultiert.
In diesem Fall schließen sich alle Kommunikationskanäle – darunter auch ganz
wörtlich die Rundfunk- und Fernsehsender, die Frage der Zivilgesellschaft in
Russland wird nicht mehr aufgeworfen. Das Jahr 2022 hat die Beeinflussung
Russlands durch Werte – durch die »Soft Power« und die »Normative Macht« –
negativ verifiziert, aber es ist auch ein Beweis für die Effektivität einer solchen
Einflussnahme der Union auf die Ukraine. Die Union steht jedoch derzeit vor
der Frage, ob ihre Anziehungskraft in Richtung Ukraine die erwarteten Resul-
tate gebracht hat. Wie sollen wir jetzt weiter vorgehen? Ich gebe hier keine Ant-
wort auf diese Frage, aber ich möchte die Aufmerksamkeit doch darauf lenken,
dass ein Teil dieser Frage die Verifizierung der weichen Beeinflussungsstrategien
betrifft, also mittels Werten, Kultur und Außenpolitik, denn nicht nur »Wandel
durch Handel«, sondern auch der »Wandel« durch Kultur und Werte hat als
Strategie eine Niederlage erlitten. Es ist die Ukraine, die jetzt einen schreck-
lichen Preis für die europäische Anziehungskraft bezahlt.
19 N. V. Gasunie ist eine staatliche niederländische Firma, die im Bereich des Gastransfers
und der Gasinfrastruktur in den Niederlanden und in Deutschland tätig ist.
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2 Menschenrechte und Solidarität – die Flüchtlinge
an der polnisch-belarussischen Grenze im Jahr 2021
Jene Ereignisse, die sich an der östlichen EU-Außengrenze im Verlauf der sog.
Migrationskrise an der polnisch-belarussischen sowie der litauisch- belarussischen
und der lettisch-belarussischen Grenze seit dem Sommer 2021 ereignet haben,
sind ein Überprüfungsmerkmal für die Achtung der Rechte des Menschen und
seiner Würde, von Offenheit, Dialog und Solidarität, aber auch von Freiheit ver-
standen als Meinungs-, Bekenntnis- und Versammlungsfreiheit sowie als freier
Zugang zu Informationen. In dieser Zeit begann nämlich die Zahl der Perso-
nen, die von Belarus aus kommend zunächst die Grenze nach Lettland, später
dann die zu Litauen und Polen illegal passierten, heftig anzusteigen. An der EU-
Ostgrenze tauchten in einer durch das Regime von Lukaschenka gesteuerten
Aktion Flüchtlinge auf, u. a. aus Syrien und Afghanistan, die legal nach Bela-
rus gekommen waren. Die Si tua tion im polnischen Abschnitt der EU-Außen-
grenze mit Belarus verschärfte sich im September und die damit verbundene
Krise erreichte im November 2021 ihren Höhepunkt. Der polnische Grenz-
schutz bediente sich illegaler Pushbacks, weswegen die Flüchtlinge praktisch
keine Möglichkeit zum Stellen von Asylanträgen hatten. Die Lage, in der sie
sich befanden – vom polnischen Grenzschutz nach Belarus zurückgedrängt und
von den Belarussen wiederum erneut in Richtung Polen getrieben, im Wald,
ohne warme Kleidung und Nahrungsmittel im Winter – verletzte nicht nur
die Menschenrechte, sondern auch die Menschenwürde der Flüchtlinge. Die
an der polnischen Ostgrenze andauernde Migrationskrise (2022) wurde also zu
einem weiteren Grund für Menschenrechtsverletzungen in der EU, wie sie seit
Jahren in den Staaten Südeuropas, die mit starken Migrationswellen zu kämp-
fen haben, zu beobachten sind. Untersuchungen bestätigen, dass die EU, die die
Menschenrechte auf ihr Banner geschrieben hat, sie gegenüber aus Afrika und
dem Nahen Osten herbeiströmenden Migrant:innen
20 verletzt und auf diese
Weise unter Bruch ihrer selbst angenommenen Werte handelt. Die EU-Staaten
entschieden sich in der Krise 2014 eher für eine »utilitaristische als eine humani-
täre« Vorgehensweise, wie Barbulescu in seinen Untersuchungen schrieb. Dieser
»Utilitarismus« entspricht meiner Auffassung nach dem Pragmatismus.
20 Vgl. die Untersuchungsergebnisse, die die Jahre 2014–2016 betreffen: Roxana Barbule-
scu: Still a Beacon of Human Rights? Considerations on the EU Response to the Refugee
Crisis in the Mediterranean. In: MeDiterr anean PoliticS 22 (2017), H. 2, S. 301–308; Simas
Grigonis: EU in the Face of Migrant Crisis: Reasons for Ineffective Human Rights Protection.
In: internationa l coMParative juriSPruD ence 2016, H. 2, S . 93–98.
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Solidarität ist einer der zentralen Werte, der die Basis für die Inte gra tion im
Rahmen der EU darstellt.21 Was den polnischen Staat und seine Bevölkerung
betrifft, so wurde Solidarität über Jahre hinweg als ein für sie repräsentativer
Wert betrachtet. Der Verweis auf die Gewerkschaftsbewegung Solidarność wur-
de als Mittel zur Ausgestaltung der internationalen Marke Polens genutzt. Das
polnische Verständnis von Solidarität in der EU erlebte in den Jahren 2015 und
2016, während der Welle von Flüchtlingen, die nach Italien und Griechenland
gelangten und dann in Deutschland aufgenommen wurden, eine brutale Kon-
fron tation mit der Wirklichkeit. Während der europäischen Migrationskrise
lehnte die polnische Regierung letztlich die Aufnahme von Flüchtlingen ab,22
wodurch sie die Idee der europäischen Solidarität auf die Probe stellte. Den
nächsten Test der Solidarität mussten die EU-Staaten während der COVID-
19-Pandemie ablegen, in diesem Fall allerdings mit positivem Ergebnis. Un-
ter suchungen von Lorenzo Cicchi (und seinen Mitautoren) über die Solida ri tät
während der Pandemie zeigten, dass sie in der EU während der Krise an erster
Stelle eine nationale Dimension besaß, sich an zweiter Stelle auf die Nachbarn
be zog und an dritter auf Europa. Die Europäer zeigten sich bei einer äuße-
ren Krise wie der der Pandemie solidarischer, als dies etwa bei Schwierigkeiten
ein zelner Staaten aufgrund von übermäßiger Verschuldung, also wegen inne-
rer Ursachen, der Fall war.23 Dieselbe Solidarität wird als Wert zurzeit in der
polnisch-ukrainischen Konfiguration auf die Probe gestellt, aber auch in den
Be ziehungen zwischen Polen und der EU, da sich eine Flüchtlingskrise und der
Krieg in der Ukraine überlagern. Damit haben wir es also erneut mit der Si tua-
tion einer äußeren Krise zu tun, bei der folglich eine tiefere und dauerhaftere
So lidarität zu erwarten ist.
Offiziell unterstreicht die polnische Regierung in ihren Agenden aus der Zeit
der Krise an der polnisch-belarussischen Grenze im Jahr 2021 weiterhin die
Bedeutung der Solidarität als eines Werts, der für die polnische Identität kons-
titutiv ist. Auf dem Webauftritt der polnischen Regierung lässt sich folgende
Aussage finden:
Nach 41 Jahren tragen die Polen weiterhin das Gen der Solidarität in ihrer
DNA. Sie erinnern sich daran, dass ihnen in den finsteren Zeiten der kom-
munistischen Regierungen viele Länder aus der ganzen Welt mit finanzieller
21 Andrea Sangiovanni: Solidarity in the European Union. In: oXForD journal oF leGal StuD-
ieS33 (2013), H.2, S. 213–241.
22 Mieczysław Stolarczyk: Stanowisko Polski wobec kryzysu migracyjno-uchodźczego Unii
Europejskiej. In: krakoWSkie StuDia MięDzynaroDoWe 2017, H. 2, S. 15–41.
23 Lorenzo Cicchi, Philipp Genschel, Anton Hemerijck, Mohamed Nasr: EU solidarity in times
of Covid-19. In: Policy brieFS, 34, 2020. European Governance and Politics Programme,
https://hdl.handle.net/1814/67755 (15.06.2022).
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Hilfe und geistiger Unterstützung unter die Arme gegriffen haben. Heute be-
gleichen die Polen diese Schuld, indem sie anderen helfen: den Partnern in
Europa, u. a. Belarus, Georgien, Moldau, der Ukraine und den Ländern des
Westbalkans, aber auch denen Afrikas und des Nahen Ostens. Gleicher-
maßen spontan hat die polnische Diaspora auf der ganzen Welt ihre Solida-
rität während der COVID-19-Pandemie bekundet, indem sie lokal denjeni-
gen geholfen haben, die von der Pandemie am stärksten betroffen waren.24
Das Verkünden von Solidarität als Wert bei gleichzeitiger Ablehnung der Auf-
nahme von Flüchtlingen im Jahr 2016 und der Anwendung illegaler Pushbacks
durch den polnischen Grenzschutz an der Grenze zu Belarus 2021 erklärt ihr
Verständnis, das in der Strategie der Polnischen Außenpolitik für die Jahre
2017–2021 dargelegt wurde:
Bei der Verwirklichung der Idee einer elastischen Solidarität wird sich Polen
an Maßnahmen der EU beteiligen, die auf eine Lösung der Probleme an
ihren Quellen abzielen. Das wird sich auf alle Gebiete erstrecken: von der
humanitären Hilfe für Flüchtlinge über die Entwicklungshilfe für die Staaten
Afrikas und des Nahen Ostens, eine entsprechende Gestaltung der han-
delspolitischen Instrumente der EU, die Unterstützung für Reformen, die die
Strukturen der Migrationsländer festigen, bis hin zur Bekämpfung des so-
genannten Islamischen Staats.25
Die »elastische Solidarität« ist ein Ergebnis des Pragmatismus, der auch in der
»Strategie« signalisiert wurde. Meines Erachtens ist dies ein weiterer Beweis für
die Notwendigkeit, Pragmatismus in die Überlegungen über Wertefragen in der
europäischen Außenpolitik einzubeziehen.
»Elastizität« kennzeichnet sowohl den Pragmatismus als auch die Solidarität. Im
Falle einer Krise an der polnisch-belarussischen Grenze ist der Zugang zur Uni-
on mehrfach versperrt: physisch (durch eine Mauer), administrativ (indem An-
träge auf Asyl oder internationalen Schutz nicht angenommen wurden, durch
eine Zone des Ausnahmezustands und eines befristeten Aufenthaltsverbots im
Grenzgebiet, zuerst bis zum 1. März 2022, dann bis Ende Juni 2022) und kom-
munikativ – in Polen hatten die Medien zunächst keinen Zugang zur Grenze,
danach wurde gegenüber den Journalisten embedding angewendet, sie konnten
also das Grenzgebiet nur dort betreten, wo der polnische Grenzschutz es ihnen
gestattete und nur unter seinem Geleit. In diesem Fall beschränkte die polni-
24 Solidarność, droga Polski do wolności. In: gov.pl vom 7.10.2021, https://www.gov.pl/
web/nato/solidarnosc-droga-polski-do-wolnosci (15.06.2022).
25 Strategia po lskiej polit yki zagraniczn ej 2017–2021. In. gov.pl, ht tps://www.gov.pl/web/
dyplomacja/strategia, S.24 (20.03.2022).
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sche Regierung, indem sie sich auf die Sicherheit berief, auch die Freiheit der
Bürgerinnen und Bürger, darunter die Freizügigkeit und den freien Zugang zu
Informationen. Der Zustrom von Migrant:innen über Belarus rief jedoch eine
Reaktion der Zivilgesellschaft in Polen hervor, es entstanden solche Vereine wie
die »Gruppe Grenze« (Grupa Granica), die den Opfern dieser Krise halfen, es
entstand ein Hilfsnetz von Ärzten und Einwohner:innen der betroffenen Region
arbeiten mit der Grupa Granica zusammen.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bewirkte, dass
die Krise an der Grenze zu Belarus in den Hintergrund trat. Entsprechend der
Handlungslogik der Medien würden wir sagen, dass ihr Informationswert im
Vergleich mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine erheblich fiel. Dieser Um-
stand ist jedoch als Überprüfungsmerkmal dafür, wie es um die Interna li sie-
rung der EU-Werte u. a. in Polen bestellt ist, höchst relevant. Er verifiziert die
Solidarität als Wert (der Polen, die die Solidaritätsschuld begleichen) negativ,
zugleich aber auch hinsichtlich der Menschenrechte und der Rechtsstaatlich-
keit. Dies kommt im beschränkten Informationszugang zum Ausdruck: ein
Durchschnittsbürger der EU, der an ihrer Ostgrenze wohnt, erlebt eine gewisse
Ratlosigkeit, wenn er sich darüber informieren möchte, was mit jenen Men-
schen geschieht, die von einem autoritären Regime geschmuggelt wurden oder
wenn er ihnen sogar helfen möchte. Ein Vergleich der Si tua tion an der pol-
nisch-belarussischen Grenze und der polnisch-ukrainischen Grenze nach dem
24. Februar 2022 verweist auf eine wesentliche Diskrepanz im Verständnis von
Solidarität und Menschenrechten nicht nur zwischen den europäischen Staaten,
sondern auch im Inneren von stark polarisierten Staaten wie Polen – genauer
gesagt zwischen den Regierenden und zumindest einem Teil der Gesellschaft.
An der Grenze Polens (und somit auch an der EU-Ostgrenze) zu Belarus und
zur Ukraine entstanden nach dem 24. Februar 2022 parallele Wirklichkeiten.
Andere EU-Staaten (wie etwa Deutschland) und das Europäische Parlament
verkündeten volle Solidarität mit Polen während der Migrationskrise in Belarus,
aber kurz darauf fiel in Polen die Entscheidung, an der Grenze eine Mauer zu
errichten. In diesen beiden Krisen zeichnete sich die EU durch innere Solidari-
tät und Solidarität mit der Ukraine (ich übergehe hier Fragen der militärischen
Hilfe) aus, wohingegen ihre östlichen Mitgliedstaaten in den Jahren 2015–2016
dieselbe Solidarität gegenüber den Flüchtlingen aus Syrien vermissen ließen.
Überdies zeigte die polnische Regierung keinerlei Offenheit und Bereitschaft
zu einem Dialog, um die Migrationskrise an der polnischen Ostgrenze in Zu-
sammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen zu lösen.
In beiden Si tua tionen haben wir Gelegenheit zu überprüfen, was die europäi-
schen Werte in Extremsituationen bedeuten. In jedem Fall ist es aber so, dass ihr
Kontext nicht nur vom Pragmatismus der Regierenden in den internationalen
Beziehungen, sondern auch vom Pragmatismus der Bürgerinnen und Bürger be-
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stimmt wird – sowohl derjenigen, die den Flüchtlingen an der Grenze zu Hilfe
geeilt sind, als auch derjenigen, die passiv geblieben sind. Ein Teil von ihnen
verstärkt vermutlich die Reihen der regierenden Eliten.
3 Offenheit und Dialog
Geremek unterstrich die Bedeutung von Offenheit und Dialog in der europäi-
schen Inte gra tion, er betrachtete sie als Bedingung für eine Verständigung in
den deutsch-polnischen Beziehungen
26. Dies sind zwei Grundwerte, deren Be-
deutung dann offenkundig wird, wenn wir die internationalen Beziehungen als
Prozess internationaler und interkultureller Kommunikation betrachten. Offen-
heit bedeutet u. a. die Fähigkeit zuzuhören, die für den Erfolg eines Dialogs
Schlüsselbedeutung hat. In der Praxis der internationalen Beziehungen gibt es
den Begriff »offene Kommunikationskanäle«. Diese Funktion übernehmen je
nach Lage und entsprechend der Konzeption des Pragmatismus in der hier an-
genommenen Bedeutung verschiedene Instrumente der Außenpolitik: Verhand-
lungen, Medien, öffentliche Diplomatie, internationale kulturelle Ereignisse. Im
Falle einer Krise oder eines Kriegs wird die Aufrechterhaltung »offener Kom-
munikationskanäle« gewöhnlich mit ihrer strategischen Bedeutung erklärt: sie
werden als die letzten Instrumente betrachtet, dank denen weiterhin Informa-
tionen verschickt oder Kontakte angeknüpft werden können, etwa dann, wenn
es zur Verhängung von Sanktionen kommt, die die politischen Kontakte oder
den Wirtschaftsaustausch beschränken.
Simond de Galbert zufolge, der die Wirksamkeit der gegen Russland verhäng-
ten Sanktionen ein Jahr nach ihrer Einführung (also im Jahr 2015) untersuchte,
unterstützte ein Teil der EU-Staaten diese Sanktionen, gleichzeitig unterhielten
sie aber weiter »offene Kommunikationskanäle« in den Beziehungen zu Russ-
land. Damals verstanden die Regierungen der erwähnten Länder darunter auch
die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Verknüpfungen.27 Zu diesen offenen
Kanälen gehörte, wie ich oben gezeigt habe, in den Jahren 2014–2016 auch die
kulturelle Diplomatie. Offenheit und Dialog sind grundlegende Eigenschaften
moderner kultureller Diplomatie, insbesondere wenn man sie als symmetrische
Kommunikation versteht, deren Ziel es ist, durch die Teilnahme an der Kultur
26 Mehr dazu vgl. Beata Ociepka: Polens Public Diplomacy. Deutschlands Auswärtige Kultur-
politik und die gemeinsamen Beziehungen, Darmstadt – Warschau 2022.
27 Simond De Galbert: A Year of Sanctions against Russia: Now What? European Assess-
ment of the Outcome and Future of Russia Sanctions. A Report of the CSIS Europe Program
2015, S. 14
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zu Verständnis und Verständigung zwischen Partnern zu gelangen. Im kosmo-
politischen Verständnis der kulturellen Diplomatie sollen solche Maßnahmen
zu Verständigung zwischen den Akteuren der internationalen Beziehungen füh-
ren.28 »Offene Kommunikationskanäle« scheinen zum Instrumentarium einer
Außenpolitik zu gehören, das Geremeks Postulat des Dialogs und der Offenheit
in den internationalen Beziehungen verwirklicht. In den von mir untersuchten
Ereignissen der Jahre 2014–2016, aber auch während des Niederlande-Russ-
land-Jahres 2013, waren allerdings sehr pragmatisch verstandene ökonomische
Interessen ein Hauptargument für die Fortsetzung der kulturellen Ereignisse
und der Aufrechterhaltung von politischen Kontakten zu Russland.
In der Krise an der polnisch-belarussischen Grenze 2021 war kein Platz für
Offenheit und Dialog in den Beziehungen zu Belarus, weil diese Krise auch
eine sehr ausgeprägte propagandistische Dimension hatte, die sich gegen Polen
und die gesamte EU richtete. Seitens des polnischen Staates gab es überdies
keinen Raum für Offenheit in der Kommunikation mit den Flüchtlingen, und
die Würde des Menschen als Grundwert der EU wurde ihnen gegenüber mit
Füßen getreten. Es fehlte auch an Offenheit und Dialog in den Beziehungen
zu polnischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie zu frei-
willigen Helfern, die den Flüchtlingen zu Hilfe eilten, weil sie die Si tua tion an
der Grenze vor allem als eine humanitäre Krise sahen. Die Regierungsagenden
stellten zur selben Zeit die Ereignisse an der Grenze als einen Angriff auf die
Sicherheit Polens dar und blieben taub für alle Appelle polnischer Nichtregie-
rungsorganisation, die die Einstellung der illegalen Pushbacks und Hilfeleis-
tung für die Flüchtlinge forderten. Die »Globale Strategie der Union«, die 2016
angenommen wurde, weist indessen darauf hin, dass ein Stakeholder der EU
die Zivilgesellschaft ist, also auch Nichtregierungsorganisationen, und dass die
Methode der Zusammenarbeit mit ihnen u. a. der Dialog, ihre Unterstützung
und das Engagement für neue Unternehmungen ist. Das Ziel solchen Handelns
besteht in der Schaffung von Bedingungen für die dynamische Entwicklung der
Zivilgesellschaft in globalem Ausmaß.29 Es hat jedoch den Anschein, dass das
Erreichen dieser Ziele nach außen, in globalem Ausmaß, unmöglich ist, wenn
einzelne Mitgliedstaaten der Union – wie etwa Polen – den Dialog mit den
nichtstaatlichen Akteuren im Innern des Staates beschränken.
28 Vgl. ausführlicher: Cesar R. Villanueva: Theorizing Cultural Diplomacy All The Way Down:
A Cosmopolitan Constructivist Discourse from an Ibero-American Perspective. In: inter-
national journal oF cultural Policy 24 (2018), H. 5, S. 681–694.
29 »Wspólna wizja, wspólne działanie. Silniejsza Europa« Globalna strategia na rzecz poli-
tyki zagranicznej i bezpieczeństwa Unii Europejskiej 2016. In: eur-lex.europa.eu, h t t p s : //
eur-lex.europa.eu/legal-content/PL/TXT/?uri=LEGISSUM:4413648 (5.11.2022).
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Die Migrationskrise an der östlichen EU-Außengrenze zu Belarus und der Krieg
in der Ukraine verändern das polnische Verständnis der Bedeutung von Dialog
und der Aufrechterhaltung »offener Kommunikationskanäle« grundlegend, und
dies gilt auch für andere Staaten, wenn auch aus verschiedenen Gründen. In
Deutschland, Österreich und den Niederlanden überwogen ökonomische Inter-
essen; in Polen hingegen politische, die sich historischen Erfahrungen beruhen.
Die Werte und Strategien weichen Handelns besitzen eine gewisse Anziehungs-
kraft, aber sie bringen autoritären Regime weder eine Demokratisierung noch
öffnen sie – angesichts einer 80%igen Unterstützung der russischen Bevölke-
rung für Putin während des Kriegs in der Ukraine
30 – die Gesellschaften die-
ser Staaten für demokratische Werte und den Dialog. Der Raum für weiches
Handeln in Europa schrumpft. Obwohl im Jahr 2014, trotz der Einführung
von Sanktionen, die meisten Staaten der Europäischen Union die Meinung ver-
traten, dass der Dialog fortgesetzt werden müsse, insbesondere mit der Zivilge-
sellschaft in Europa, ist dies 2022 nicht mehr selbstverständlich.
4 Schlussfolgerungen
Im Jahr 2022 verhielten sich die europäischen Staaten trotz der ernsten Energie-
krise solidarisch. In der Außenpolitik Deutschlands erfolgte eine spektakuläre
Wende, und der Krieg in der Ukraine war ein »äußerer Schock«
31, der diesen
Wandel hervorrief. Von symbolischer Bedeutung war die Stilllegung der Erd-
gaspipeline Nord Stream 2. Es hat den Anschein, dass in dieser Etappe des
Kriegs in der Ukraine (September 2022) die europäischen Werte den Pragmatis-
mus der Außenpolitik überwogen, insbesondere die Bedeutung der Geschäfts-
beziehungen zu Russland.
Nach Auffassung von Nye gehört die Außenpolitik zu den Reservoirs der wei-
chen Macht, die andere Staaten anziehen, folglich ermöglichen sie es, in den
internationalen Beziehungen den Einsatz militärischer Gewalt oder von Kor-
ruption im internationalen Handel zu vermeiden. Aus dieser kurzen Studie
geht hervor, dass die pragmatische Außenpolitik der EU-Staaten eine besonde-
re Anziehungskraft für autoritäre Staaten hat. Sie widerspricht gleichzeitig der
30 83 proc. Rosjan popiera działalność Putina. Dwie trzecie uważa, że Rosja zmierza w do-
brym k ierunku. In: rzeczPoSPolita vom 30.März 2022, https://ww w.rp.pl/spoleczenstwo/
art35981401-83-proc-rosjan-popiera-dzialalnosc-putina-dwie-trzecie-uwaza-ze-
rosja-zmierza-w-dobrym-kierunku.
31 Charles F. Hermann: Changing Course: When Governments Choose to Redirect Foreign
Policy. In: international StuDieS Quarterly 34 (1990), H. 1, S. 3–21.
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Wirksamkeit der liberalen Konzeption des »Wandels durch Handel«, denn der
elastische Ansatz, der von den EU-Mitgliedstaaten jahrelang praktiziert wurde,
führte nicht zu den erwarteten Veränderungen in der Außenpolitik Russlands.
Zwar sollte diese Strategie der wirksamen Lösung von Problemen dienen, aber
in der Beziehung zu Russland war dies nicht der Fall, ganz im Gegenteil – der
europäische Pragmatismus wurde von Russland ausgenutzt und falsch inter-
pretiert. In den inneren Beziehungen der EU musste es folglich zu einer Si-
tua tion kommen, die in den internationalen Beziehungen als »äußerer Schock«
be zeichnet wird, damit die Werte schließlich eine größere Wichtigkeit als der
Prag matismus der Außenpolitik erlangten.
Durch das in dieser Studie vorgenommene Lenken der Aufmerksamkeit auf die
europäischen Werte während einer Krise konnte der Pragmatismus als Taktik
oder als Wert, der im internationalen Handeln besonders sichtbar wird, in die
Analyse einbezogen werden. Dieser Pragmatismus tritt jeweils verschieden zu-
tage, so etwa in Form von Elastizität bei der Achtung europäischer Werte in der
Außenpolitik oder als Utilitarismus – als Gegensatz von Humanitarismus – in
der Migrationskrise. Trotz vieler pragmatischer Handlungen und Projekte ist
die östlichen Außengrenze der Europäischen Union auf ihrem belarussischen
und russischen Abschnitt kein Gebiet der Zusammenarbeit und des Friedens.
Die Migrationskrise und der Krieg in der Ukraine verweisen in ihrer gegenwär-
tigen Gestalt auf Inkonsequenzen bei der Beachtung der europäischen Werte
durch die Länder der Europäischen Union, aber andererseits hat das Fiasko der
wirtschaftlichen Interdependenz in den Beziehungen mit Russland die EU-
Mitgliedstaaten zu größerer Solidarität, Offenheit und Dialog im Inneren der
Union gezwungen, also zu einer Rückkehr zu jenen Werten, auf die Geremek
verwiesen hat.
Aus dem Polnischen von Sabine Lipińska
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Kultureller Gemeinschaftsgeist Europas:
von Bronisław Geremeks historiosophischen Idealen
zum kulturbildenden Metanarrativ
Bożena Gierat-Bieroń, Jagiellonen-Universität in Krakau
Cultural “togetherness” of Europe: from the historiosophical ideals
of Bronisław Geremek to the contemporary cultural meta-narrative
The idea of “togetherness” as one of the most important concepts of Bronisław
Geremek’s historical discourse found its application in the cultural policy of
the European Union. This was in line with Geremek’s conviction that although
the paradigm of “unity in diversity” may seem utopian, the EU treated it as
a “directional intention” of policy (Geremek, Nasza Europa, p. 97). Based
on the analysis of EU cultural policy in terms of the application of the idea of
“togerherness” in the cultural sector since 1993 (secondary legislation analy-
sis), the author performs a contemporary reading of the concept. All areas of
EU cultural policy and EU cross-sectoral work implement “togetherness” in an
operationalised way, i.e. creating a formal environment for cooperation of cul-
tural actors, exchange of experiences, mutual learning, networking and build-
ing ties between European artists. The idea of “togetherness” is most strongly
defined in the area of preservation and promotion of European cultural heri-
tage, since in this area it relates to the formation of European cultural identity
and the exploration of history and memory. Recalling European history in a
modern way, that is dialogical, comprehensive, transborder and transcultural,
as well as exploration of the memory of the past of many European nations,
contributes to the processual formation of a level of European meta-narrative
of a conciliatory nature, despite the conflicts of memory (Assman, 2014).
DOI: 10.13173/9783447120241.209
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Wir müssen uns auf das konzentrieren, was uns zusammenbringt, nicht auf
das, was uns trennt. Und unser kulturelles Erbe ist das Bindeglied in diesem
schwierigen Puzzle. Wenn wir wollen, dass Europa ein Leuchtturm der Hoff-
nung und der Solidarität in einer verletzlichen Welt ist, müssen wir unsere
Gemeinsamkeiten und unser aller Fundament – das, was uns verbindet –
wiederentdecken und stärken.
Hermann Parzinger 1
1 Einleitung
Das Konzept des europäischen »Gemeinschaftsgeistes« lag Bronisław Geremek
als Historiker und Politiker am Herzen. Der Gelehrte zählte auf, dass inner-
halb von sechs Jahrhunderten etwa 180 Initiativen versuchten, die politische
Einheit Europas zu schaffen. Zur Herrschaftszeit Karls des Großen wurde sie
durch die Realisierung des Konzeptes der »christianitas« erreicht, das dem mo-
dernen ethischen System Europas als Grundlage diente. Geremek bedauerte,
dass die Einheit Europas auf »apokalyptische Angst« und nicht auf Hoffnung
gegründet wurde. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte diesen
Blickwinkel. Das Bedürfnis nach Frieden wurde zum »obersten« Wunsch in der
Ethik der internationalen und innereuropäischen Politik. Als Forscher nahm
er die europäische Einheit als überaus schwierige Aufgabe der heutigen Zeit
wahr, besteht Europa doch aus verschiedenen Ländern und Kulturen sowie aus
unterschiedlichen politischen und religiösen Traditionen, ist also durch »Viel-
falt« gekennzeichnet. Ihn interessierten die Ursachen für den Niedergang des
Konzepts der europäischen Einheit als Hindernisse, die uns vom sog. European
dream entfernten. Bei der Analyse des historischen Diskurses behauptete Gere-
mek: »[…] es handelt sich um die Geschichte der europäischen Utopie […], die
Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft ist Europas Einheit«.2 Nach
der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht (1992) und der Einführung
des Paradigmas der Einheit in Vielfalt schlug er seine metaphorisch-symbolische
Interpretation als »Horizont der Absichten« und »richtungsweisende Intention«
vor 3. Die Gestaltung der politischen – und nicht nur der ökonomischen – Ge-
meinschaft im Rahmen der Europäischen Union sollte seiner Meinung nach zu
Überlegungen über die Geschichte, das Gedächtnis und das kulturell-religiöse
1 Herman Parzinger: Was uns verbindet – Ein New Deal für das Kulturerbe Europas, Brüssel
2020, S . 7.
2 Bronisław Geremek: Nasza Europa, S. 76.
3 Ebenda, S. 97.
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Erbe Europas führen. Zur Stärkung dieses Bereichs sollten die Gemeinschafts-
politiken initiiert werden.
Im vorliegenden Beitrag wird bewusst der Begriff Gemeinschaftsgeist bzw. Ge-
meinschaftssinn statt Gemeinschaft gebraucht. Dies resultiert zunächst aus dem
europäistischen Narrativ Geremeks (sprach er doch über »den Geist Europas«).
Zweitens rührt es von der Überzeugung her, dass der »Gemeinschaftsgeist« bzw.
der »Gemeinschaftssinn« einen tieferen und komplexeren Begriff darstellen. Der
»europäische Gemeinschaftsgeist« wird hier als Förderung »der Zugehörigkeit zu
einem transnationalen Kulturraum, der sich auf gemeinsame Werte, historische
Erfahrungen, Gedächtnis sowie auf das Gefühl einer kollektiven Anstrengung
beim Aufbau einer sich durch die friedliche Koexistenz von Menschen mit un-
terschiedlicher Weltanschauung und Gesinnung kennzeichnenden Wirklichkeit
nach vergangenen Konflikten stützt«
4, verstanden. In der nachstehenden Ana-
lyse wird dieser Begriff durch den Filter der sich aus den sekundären EU-Rechts-
vorschriften und der Fachliteratur ergebenden Ziele der Gestaltung von Politik
im Kulturbereich interpretiert
5. In der kritischen Analyse wird eine historische
Perspektive eingenommen, die sich mit dem zeitlichen Aufeinanderfolgen von
kulturbezogenen Rechtsakte deckt, die durch die Europäische Kommission, das
Europäische Parlament, den Rat der Europäischen Union sowie den Ausschuss
der Regionen verabschiedet wurden.
Im Beitrag werden zwei Forschungsfragen gestellt: (1) Auf welche Art und Weise
stärkt die EU-Kulturpolitik die Ideen des »kulturellen Gemeinschaftsgeistes«
Europas und was hat Einfluss auf ihre Schwächung? (2) Welche der Komponen-
ten des Auf baus der Einheit der Europäischen Union trägt zur gesellschaftlichen
Verschmelzung der Europäer und zur Herausbildung eines Raums gemeinsamer
Werte bei? Im Grunde genommen wird im Beitrag nach Bindemitteln gesucht,
die es erlauben würden, die Gebiete des politischen Handelns der EU im Be-
reich der Kultur zu verknüpfen und ihnen einen kommunitären Charakter zu
verleihen. Geremek meinte, dass »das kollektive Gedächtnis ein Fundament der
ge meinsamen Identität ist« 6. Es soll hier analysiert werden, ob das Handeln der
EU auf der Ebene ihrer normativen Akte eine gemeinschaftliche Methode ge-
staltet, die eine größere Interdependenz der Länder im Kulturbereich gewähr-
leistet und zur Vertiefung des kollektiven Gedächtnisses der Europäer beiträgt.
Dazu wurde die folgende Forschungshypothese aufgestellt: Die »richtungswei-
4 Grażyna Michałowska: Uwarunkowania międzynarodowej współpracy kulturalnej. In:
Agata W. Ziętek (Hrsg.): Międzynarodowe stosunki kulturalne, Warszawa 2010, S. 41.
5 Zur Kulturpolitik der Europäischen Union vgl. Bożena Gierat-Bieroń: Polityka kulturalna
Unii Europejskiej, Kraków 2018.
6 Bronisław Geremek: Europa wielu ojczyzn. In: Gazeta Wyborcza vom 19.–20.07.2008,
S. 14f.
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sende Intention« der Gestaltung der EU-Politiken im Kulturbereich wurde rea-
lisiert und die Träume Geremeks wurden somit zu einer gängigen politischen
Praxis. Gegenwärtig geht es nicht mehr um eine Überprüfung des Paradigma
von der Einheit in Vielfalt, sondern um eine Intensivierung der Diskussion über
die Werte und das europäische Gedächtnis vor dem Hintergrund der Tendenz
zur Ökonomisierung des Kultursektors. Der Prozess der Unterwerfung der Kul-
tur unter das Marktprinzip diente dem Auf bau von Geschäftsmodellen und
-beziehungen, aber indem er dem Konkurrenzprinzip Genüge tat, ging er zu-
gleich der prinzipiellen Ziele der Inte gra tion verlustig, zu denen der Gemein-
schaftsgeist gehört.
2 Gemeinschaftsgeist als bindungsbildendes Instrument
von EU-Programmen im Kulturbereich
Bereits in den ersten Programmen der Europäischen Gemeinschaft (EG) und
später der EU bezüglich des Kultursektors wurde der als internationale Zu-
sammenarbeit der Europäer definierte »Gemeinschaftsgeist« zur Bildung ge-
meinsamer Bindungen zwischen Künstlerinnen und Künstlern regelmäßig in
den Inte gra tionsprozessen umgesetzt. Schon im Programm KALEIDOSKOP
(1996–1999) wurde Folgendes festgestellt:
Eine Gemeinschaftsaktion zugunsten von europäisch ausgerichteten, künst-
lerischen und kulturellen Veranstaltungen sowie umfangreiche, innovative
oder beispielgebende Aktionen der europäischen Zusammenarbeit fördern
die Ausstrahlung der Kulturen und führen Künstler und Kulturschaffende nä-
her an die europäische Öffentlichkeit heran; sie können auch in sozioöko-
nomischer Hinsicht deutliche Verbesserungen bewirken, da konkret-prakti-
sche Synergieeffekte und Partnerschaftsbeziehungen gefördert werden.7
Als das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Ver-
längerung des Programms für Buchkultur und Leseförderung ARIANE (1997–
1999) bei der Europäischen Kommission beantragten, argumentierten sie,
dass es zur Entwicklung einer qualitativ hochwertigen grenzüberschreitenden
Kooperation und insbesondere zu einer auf Partnerschaft und Kulturnetze ge-
7 Beschluss Nr. 719/96/EG des Europäisc hen Parlaments und d es Rates vom 29.März 1996
über ein Programm zur Förderung künstlerischer und kultureller Aktivitäten mit europäischer
Dimension (Kaleidoskop). Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L, 1996, Nr. 99.
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stützten Zusammenarbeit beigetragen habe.8 In den Voraussetzungen für das
Programm Kultur 2000 (2000–2006) wurde in Pkt. 7 Folgendes festgestellt:
Die Gemeinschaft ist folglich verpflichtet, auf die Errichtung eines offenen,
diversifizierten, den Europäern gemeinsamen Kulturraums hinzuwirken, der
sich auf die Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität, die Zusammen-
arbeit zwischen den Kulturakteuren […] gründet.9
In Pkt. 5 wurde wiederum ergänzt:
Um die volle Zustimmung und Beteiligung der Bürger am europäischen Auf-
bauwerk zu gewährleisten, bedarf es einer stärkeren Hervorhebung ihrer
gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln als Schlüsselelement ihrer
Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die sich auf Freiheit,
Demokratie, Toleranz und Solidarität gründet.10
Die seit 1985 mit einigen Änderungen im prozeduralen Verfahren funktionie-
rende Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung Kulturhauptstadt
Europas (ECoC) definierte – besonders nach dem Vertrag von Maastricht – die
neuen Ziele als wesentliche Voraussetzungen des Aufbaus einer sozialen Syn-
ergie der europäischen Metropolen. Der die Kulturhauptstadt betreffende Be-
schluss 1419/1999/EG betonte in Pkt. 25 die gemeinsamen Merkmale der euro-
päischen Kulturen sowie die Notwendigkeit der Anwendung von transparenten
und einheitlichen Vorschriften gegenüber allen am Programm teilnehmenden
Mitgliedstaaten. Diese Richtlinien zielten einerseits auf die Entwicklung en-
gerer Beziehungen sowie auf die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen
den Kulturakteuren, andererseits gestalteten sie die Grundlagen für die Ent-
wicklung von europäischen Städten im Geist einer Bürgergemeinschaft (civitas)
und für die Wahrung des Kulturerbes:
Da die Ziele dieses Beschlusses, nämlich Wahrung und Förderung der Viel-
falt der Kulturen in Europa, Hervorhebung ihrer Gemeinsamkeiten und För-
derung des Beitrags der Kultur zur langfristigen Entwicklung der Städte, von
den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern
vielmehr wegen der Notwendigkeit gemeinsamer, klarer und transpa ren ter
8 Vgl. European Commission. Proposal for European Parliament and Council Decision
amending Decision No 2085/97/EC establishing a support programme, including trans-
lation in the field of book and reading (Ariane Programme), Brussels, 23 September 1998,
COM(1998) 539 final.
9 Beschluss Nr. 508/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.Feb-
ruar 2000 über das Programm »Kultur 2000«. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaf-
tenL, 2000, Nr. 63, S. 1.
10 Ebenda.
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Kriterien und Verfahren für Auswahl und Monitoring der ›Kultur haupt städte
Europas‹ sowie wegen der Notwendigkeit einer verstärkten Ko or dination
zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund der Größenordnung und der er-
warteten Wirkung dieser Aktionen auf Unionsebene besser zu ver wirklichen
sind, kann die Union im Einklang mit dem in Ar t. 5 des Vertrags über die Euro-
päische Union verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden.11
Im neuesten EU-Programm KREATIVES EUROPA (2021–2027) kam man
auf die Wahrnehmung der Kultur als einer die Inte gra tionsprozesse begüns-
tigenden Kraft zurück: »Kultur ist ein wichtiger Faktor für die Förderung in-
klusiver, solidarischer Gemeinschaften«
12, wobei ihre den interkulturellen Dia-
log unterstützende Rolle in den Vordergrund gerückt wurde. Dies betrifft vor
allem die Inte gra tion von Migranten sowie Geflüchteten. Ihre Aufgabe ist auch
die Förderung der europäischen Werte (Pkt. 14) in modernen künstlerischen
Gemeinschaften, die sich auf die grenzüberschreitende und multidisziplinäre
Zusammenarbeit stützen. Diese Kooperation beeinflusst wiederum die soziale
Einheit und das Wohlbefinden der Europäer.13 Hinzuzufügen ist, dass die Leit-
prinzipien der Schlussfolgerungen des Rates zum Arbeitsplan für den Bereich
der Kultur 2019–2022 vom 12. Dezember 2018
14 darauf verwiesen, dass »die
Einbeziehung der Kultur in alle Politikbereiche […] einen ganzheitlichen und
horizontalen Ansatz in Bezug auf Rechtsetzung, Finanzierung und sektoren-
übergreifende Zusammenarbeit [erfordert]«, was eine noch komplexere Wahr-
nehmung dieses Bereichs erzwang. Aus diesem Grund konnte sich eine Refle-
xion über die Einbindung der Kultur ins Handeln zugunsten der Gestaltung
der Klimaschutzmaßnahmen in der neuen strategischen Agenda 2019–2024 des
Europäischen Rates vom 19. Juni 2019
15 wiederfinden. Die Kultur wurde hier
auch als eine der Komponenten der Migrations- und Verteidigungspolitik wahr-
genommen. In »einer neuen strategischen Agenda« 16 wurde explicite festgestellt,
11 Beschluss Nr. 445/2014/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.April
2014 zur Einrichtung einer Aktion der Europäischen Union für die »Kulturhauptstädte Euro-
pas« im Zeitraum 2020 bis 2033 und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 1622/2006/
EG. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2014, Nr. 132, S. 1.
12 Kreatives Europa 2021–2027.
13 Vgl. Realizacja postulatów Deklaracji z Davos z dnia 22 stycznia 2018 r. »Ku wysokiej
jakości Baukultur dla Europy«.
14 Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates zum Arbeitsplan für Kultur
2019–2022. Amtsblatt der Europäischen Union C, 2018, Nr. 460, S. 10.
15 Europäischer Rat. Tagung am 20.Juni 2019. Schlussfolgerungen, Brüssel, 20.Juni 2019,
EUCO 9/19.
16 Europäischer Rat. Eine neue strategische Agenda 2019–2024, Brüssel 2019. In: consilium.
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dass die EU »[] in die Kultur und in unser kulturelles Erbe investieren [wird],
die das Fundament unserer europäischen Identität ausmachen«.17
Bei einem Resümee des gemeinschaftlichen Charakters der relevantesten EU-
Programme und -Dokumente aus den Jahren 1996–2021 ist festzustellen, dass
der Kultursektor dank dem Subsidiaritätsprinzip sowie der unterstützenden
Zuständigkeit der EU zur Stärkung der europäischen Gesellschaften und ihrer
Künstler:innen beiträgt. Die zweckdienliche Wahrung der »Einheit« und der
»Kohärenz« im Handeln zugunsten der Kultur sorgt dafür, dass die Kultur die
immanenten Werte des europäistischen kulturbildenden Prozesses generiert.
3 Zur kohärenzerzeugenden Rolle der Kunstpreise
und Orchester der EU
Die EU-Programme, die den europäischen Künstlerinnen und Künstlern lite-
rarisch-künstlerische Preise verleihen, enthalten ebenfalls eine Komponente des
»Gemeinschaftsgeistes«. Wie aus dem Reglement des Mies van der Rohe-Preises
der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur hervorgeht, betont der
Preis den Einsatz der EU für die Förderung sowohl der Qualität als auch der
Vielfalt der europäischen Architektur sowie deren Rolle in der Definition einer
eigenen europäischen Kultur.18 Der Literaturpreis der Europäischen Union hat
zum Ziel, die Literatur und die Mehrsprachigkeit aller EU-Mitgliedstaaten zu
fördern, wodurch die Basis für eine empathische Herangehensweise an die an-
deren Völker Europas gebildet wird – den Rezipienten vermittelt er nämlich
Geschichte, künstlerische und literarische Sensibilität sowie Aufgeschlossenheit
gegenüber gegenwärtigen Wandlungsprozessen: »Ziel des Preises ist es, die Krea-
tivität und den vielfältigen Reichtum der europäischen Gegenwartsliteratur […]
ins Rampenlicht zu rücken […]«.19 Der Europäische Preis für Pop- und Zeit-
genössische Musik (vormals European Border Breakers Award, EBBA) wurde
europa.eu, https://www.consilium.europa.eu/media/39963/a-new-strategic-agenda-
2019-2024-de.pdf (21.08.2022).
17 Ebenda, S. 5.
18 Vgl. Nagroda UE w dziedzinie architektury współczesnej im. Miesa van der Rohego,
https://culture.ec.europa.eu/pl/cultural-and-creative-sectors/architecture/eu-prize-for-
contemporary-architecture-mies-van-der-rohe-award (28.08.2022).
19 Literaturpreis der Europäischen Union: Nominierungen 2022 bekannt gegeben, https://
buecher.at/literaturpreis-der-europaeischen-union-nominierungen-2022-bekannt-
gegeben/ (12.11.2022); vgl. auch Nagroda Literacka Unii Europejskiej 2022/Lista No-
minowanych, https://kreatywna-europa.eu/nagroda-literacka-unii-europejskiej-2022-
nominowani/ (29.08.2022);
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mit dem Ziel der Verbreitung der Vielfalt des europäischen Repertoires gestif-
tet.20 In einem ähnlichen Geist – das heißt zur Hervorhebung der künstlerischen
Leistungen in der EU – funktionieren die im Rahmen des Programms KREA-
TIVES EUROPA laufende Initiative Music Moves Europe sowie eine spezielle
Plattform des Förderprogramms Horizont 2020 für Forschung und Innovation
unter dem Titel »Towards a competitive, fair and sustainable European Music
Ecosystem«.21 Die sektoralen Initiativen der Europäischen Kommission beziehen
sich auch auf Kunst und Kunstschaffende, so etwa das Programm i- Portunus
(ab 2022 innerhalb des Programms KREATIVES EUROPA). »Hauptziel ist
es, internationale Künstlerinnen und Künstler, Kreative und Kulturschaffen-
de miteinander zu verbinden und internationale Kooperationen zwischen allen
Ländern, die am Programm ›Creative Europe‹ teilnehmen, zu unterstützen«. Es
funktioniert also wie ein »›Erasmus‹ für die Kulturwelt«.22 Im Programm wird
der multidimensionale Austausch von Vertreter:innen der Kunstwelt auf dem
Gebiet der EU vorgeschlagen, dessen Ziel es sein soll, sich gegenseitig kennenzu-
lernen und zu verstehen. Das neueste Programm der Europäischen Kommission
mit dem Namen »Neues Europäisches Bauhaus«
23, das von der Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen initiiert wurde, zeichnet sich durch eine inte-
grative Herangehensweise an Kultur, Gesellschaft, Wissenschaft und Techno-
logie aus. Sein Ziel ist wiederum die Klimatransformation als gemeinschaftliche
Sorge vieler Kulturakteure um die Zukunft Europas.24
20 Vgl. Zostań organizatorem Nagrody UE w dziedzinie muzyki popularnej i współczesnej,
https://kreatywna-europa.eu/zostan-organizatorem-nagrody-ue-w-dziedzinie-muzyki-
popularnej-i-wspolczesnej/ (29.08.2022).
21 Music Moves Europe, https://culture.ec.europa.eu/cultural-and-creative-sectors/music/
music-moves-europe (1.09.2022).
22 »Culture Moves Europe«: »Erasmus« für die Kulturwelt, https://www.bundeskanzleramt.
gv.at/themen/europa-aktuell/2022/culture-moves-europe-erasmus-fuer-die-kulturwelt.
html (12.11.2022); vgl. auch About the programe, https://www.i-portunus.eu/about-the-
programme/general-information/ (25.08.2022).
23 Vgl. Nowy europejski Bauhaus: nowe działania i finansowanie, aby zrównoważony roz-
wój miał swój styl i zapewniał włączenie społeczne. In: ec.europa.eu, https://ec.europa.
eu/regional_policy/pl/newsroom/news/2021/09/15-09-2021-new-european-
bauhaus-new-actions-and-funding-to-link-sustainability-to-style-and-inclusion
(25.08.2022).
24 Das Programm Neues Europäisches Bauhaus korrespondiert auch mit der »Erklärung von
Davos 2018. Eine hohe Baukultur für Europa!« vom 22. Januar 2018, die das integra-
tive Handeln zugunsten einer hohen Qualität der ländlichen bebauten Umwelt und der
Nutzung dieser Gebiete zwecks der Verbesserung der Lebensqualität der Europäer:innen
voraussetzte.
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Von Anfang an war die Aktivität der europäischen Orchester (EUYO, EUBO) 25,
auf den Auf bau einer übernationalen Zusammenarbeit der Symphonieorchester,
Solist:innen, Musiker:innen und Komponist:innen ausgerichtet, deren europäi-
sches Repertoire das musikalische Erbe Europas verbreitet. Zu den Zielen ihrer
Tätigkeit gehörte die Inte gra tion des gegenwärtigen musikalischen Milieus.
Wie aus der Mission des EU-Jugendorchesters (European Union Youth Orches-
tra, EUYO) hervorgeht, »[…] lernen die EUYO-Musiker:innen nicht nur, sich
auf eine Tournee vorzubereiten oder musikalische Fähigkeiten zu entwickeln,
sondern auch im Einklang mit der Maxime der EU ›Einheit in der Vielfalt‹
zu leben«.26 Praktisch bedeutete das, dass die Künstler:innen die europäischen
Ideen der Toleranz, der Aufgeschlossenheit und der Pluralismus teilen. Im for-
mellen, die Finanzierung des EUYO betreffenden Dokument ist festgehalten,
dass das Orchester seit seiner Gründung eine tragende Rolle in der Verbreitung
des interkulturellen Dialogs, des gegenseitigen Respekts und des Verständnis-
ses durch Kultur spielt.27 Ähnlich funktioniert auch das Barockorchester der
Europäischen Union (European Union Baroque Orchestra, EUBO), das jungen
Musikerinnen und Musikern von Barockorchestern die Möglichkeit zu einer
einjährigen Teilnahme an der Aktivität des internationalen Orchesters sowie an
zahlreichen Kammerkonzerten bietet. Das EUBO gilt auch als offizieller Kul-
turbotschafter der EU.
Ein wesentliches Ziel der obigen EU-Programme ist die Sorge um die Qua-
lität von Kunstwerken, die Ausbildung von Kunst- und Literaturschaffenden
sowie die Talentförderung. Architektonische Objekte, Musikaufnahmen oder
ästhetische Artefakte üben eine expressive, soziale und städtebauliche Funktion
in der europäischen Dimension aus und als solche erinnern sie an die Vereini-
gungsidee. Die Programme, die im Geist der gemeinsamen Teilhabe am künst-
lerischen Schaffen und an einer meisterhaften Ausführung zuerkannt wurden,
fördern die Anerkennungskultur der EU und der europäischen Gesellschaften
für ihre Künstlerinnen und Künstler.
25 Hinzuzufügen sei, dass neben den unter der Schirmherrschaft der EU stehenden interna-
tionalen Orchestern auch weitere internationale Kulturinstitutionen (darunter Orchester) in
Europa gegründet wurden, die sich ganz bewusst auf die europäistischen Missionen ihrer
Tätigkeit bezogen. Dies bezeugt, dass sich die europäischen Ideen spontan als Effekt der
EU-Kulturpolitik verbreiteten. Als Beispiele können hier genannt werden: die Europa Phil-
harmonie in Baden-Württemberg oder EFFE (Europe for Festivals, Festivals for Europe)
eine Initiative der Europäischen Festivals-Vereinigung (European Festivals Association,
EFA), die als Dachorganisation für die besten Kultur festivals in den EU -Mitgliedstaaten gilt.
26 EUYO, https://www.euyo.eu/projects/what-we-do/spring-tours/# (25.09.2022).
27 Vgl. ebenda.
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4 Kulturmarkt: Merkantilisierung des »Gemeinschaftsgeistes«
Nach dem Vertrag von Nizza (2001) und seit dem Programm »Kultur« (2007–
2013) legten die Unionsinstitutionen Nachdruck auf die Ökonomisierung des
Kultursektors, was ihn des Gemeinschaftsgeistes beraubte und in die Richtung
der Ausarbeitung moderner Kooperationstechniken und des politischen Prakti-
zismus lenkte. Ein solches Handeln ergab sich aus der Notwendigkeit der Rea-
lisierung der Lissabon-Strategie (2000), die die Anwendung von innovativen
Lösungen in der Kultur voraussetzte, welche die gesellschaftliche Entwicklung
gewährleisteten und zum Wachstum des BIP in der EU beitrugen. Die Imple-
mentierung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds) im
Kultursektor machte neue Möglichkeiten der Institutions- und Markttransfor-
mation von künstlerischen Objekten und in den europäischen Metropolen und
Städten gelegenen Kunstvierteln sichtbar. Die Kultur wurde als Katalysator für
wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum definiert. In der EU-Kulturpolitik
begannen daraufhin Kommodifizierungsprozesse, die in ihrer Tragweite auch
den Buchmarkt erfassten. Die die Lissabon-Strategie realisierenden Unionspro-
gramme sollten die Kultur ins Format eines Handelns einbinden, das die EU als
globalen Spieler durch soft power zu stärken hat.
Die Ökonomisierung der europä ischen Kultur ist nac h wie vor die wichtigste Pro-
gramm- und Entwicklungstendenz des Kultursektors, was sich am besten in der
Komponente »Medien« des Programms KREATIVES EUROPA (2021–2028)
manifestiert. Die Union investiert in die Entwicklung der kreativen Industrien,
indem sie das europäische Kino und die europäische audiovisuelle Produktion
fördert, die eine wesentliche Rolle in der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
der EU auf den globalen Märkten spielen. Von der Europäischen Kommission
wurde KREATIVES EUROPA als Antwort auf die digitale Transformation in
den kreativen Industrien und die wirtschaftliche Konkurrenz der EU sowie in
Reaktion auf die sich in den freien Medien verbreitende Desinformation vorbe-
reitet. Trotz seiner sehr kommerziell gefassten Ziele bezieht sich KREATIVES
EUROPA (2021–2028) programmatisch auf die Idee des »Gemeinschaftssinns«:
Das neue Programm Kreatives Europa soll es den Teilnehmern ermöglichen,
technisch und künstlerisch innovative europäische grenzüberschreitende
Initiativen für den Austausch, das gemeinsame Schaffen, die Koproduktion
und die Verbreitung europäischer Werke zu entwickeln und sie einem brei-
ten und vielfältigen Publikum zugänglich zu machen.28
28 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm Kreatives
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Somit werden »gemeinsames Schaffen« oder »Koproduktion« als Vertiefung der
Marktbeziehungen verstanden und sind deswegen als Versuch der Intensivie-
rung des Handelns zugunsten der Stärkung der europäischen kreativen Indus-
trien interpretierbar. Das Programm legt die merkantilen Prioritäten fest, wie
etwa die Gründung von internationalen Konsortien oder von Kulturclustern
und -netzen, hat aber – ähnlich wie die anderen oben genannten Programme –
zugleich einen Einfluss auf die Gestaltung des Wohlstands und eines starken
Marktes, indem es die Wirtschaftsindikatoren verbessert.
Durch die konsumbezogene und kommerzielle Dominanz in den wichtigsten
EU-Rahmenprogrammen im Kulturbereich kann es zu einer Marginalisierung
der in Art. 167 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU festgeschriebe-
nen »Einheit« kommen. Die Kultur unterliegt überdies wegen strategischer Do-
kumente der EU aus den Bereichen Agenda 2008 und Agenda 2018 Kommodi-
fizierungsprozessen. In der von der Kommission erarbeiteten Kulturagenda im
Zei chen der Globalisierung (2008) wurde die »Förderung der Kultur als Kata-
lysator für Kreativität im Rahmen der Strategie von Lissabon für Wachstum
und Beschäftigung« als eine der Prioritäten angesehen.29 »Eine neue europäische
Agenda für Kultur« (2018) bestimmte das strategische Ziel 4.2 folgenderma-
ßen: »Wirtschaftliche Dimension – kulturbasierte Kreativität in Bildung und
In no vation fördern, um Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen«.30 Obwohl
sich die beiden Rechtsakte bezüglich ihrer Prioritäten auf den Kulturdialog und
die externe Dimension der EU bezogen, schlugen ihre ökonomischen Konzepte
jedes Mal in die nächsten EU-Rahmenprogramme im Kulturbereich durch, in-
dem sie auch die Handelsrichtung der Inte gra tion in den Vordergrund schoben.
Selbstverständlich diente die Öffnung des Raums für das externe Handeln der
Europäischen Union im Kulturbereich – künftige Kulturdiplomatie – dem Ge-
meinschaftsgeist nur in einem solchen Maße, in dem sie die Grundlagen für die
Förderung der europäischen Kultur im Ausland als Ganzes und für das Porträ-
tieren der EU als normative Großmacht auf der internationalen Bühne schaffen
konnte. Die wirtschaftliche Dimension erwies sich als nützlich für die Strategie
Europa (2021 bis 2027) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) (Text von Bedeutung für
den EWR). Amtsblatt der Europäischen Union L, 2013, Nr. 189, S. 2.
29 Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den
Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regio-
nen über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung, Brüssel, 10.Mai
2007, COM(2007) 242 final.
30 Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den
Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen.
Eine neue europäische Agenda für Kultur, Brüssel, 22.Mai 2018, COM(2018) 267 final.
DOI: 10.13173/9783447120241.209
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221
Europa 2020, weil sie Ziele für das nachhaltige Wachstum in Europa setzte.31
Laut Kazimierz Łastawski ist es dazu gekommen, denn
heutzutage wird die Inte gra tion vor allem vom Streben nach der Verbesse-
rung der Wirtschaftlichkeit und vom sich entwickelnden Globalisierungs-
prozess stimuliert, der die zurückgehende Fähigkeit der Staaten zu einem
eigenständigen Wettstreit mit transnationalen Konzernen und dem interna-
tionalen Kapital nach sich zieht […].32
5 Rückkehr zur Diskussion über Werte als Gemeinwohl
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts – insbesondere nach dem Inkrafttre ten
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2009) – begannen die sich
auf die Kultur beziehenden Unionsdokumente die Bindung an die EU-Wer te
zu akzentuieren (dritte Dimension nach der Zusammenarbeit und Wirtschaft).
Bezeichnet wurden sie als »gemeinsame Werte«, »geteilte Werte«, »euro päi sche
Werte« oder »europäische Kulturwerte«. In Pkt. 3 des das Programm Kul tur
2007–2013 ins Leben rufenden Beschlusses 1855/2006/EG wurde festgestellt:
Um die volle Zustimmung und Beteiligung der Bürger am europäischen Auf-
bauwerk zu gewährleisten, sollten ihre gemeinsamen kulturellen Werte und
Wurzeln als Schlüsselelement ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit zu ei-
ner Gesellschaft, die sich in uneingeschränkter Achtung der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union auf Freiheit, Gerechtigkeit, Demokra-
tie, Achtung der Würde und der Unversehrtheit des Menschen, Toleranz
und Solidarität gründet, stärker hervorgehoben werden.33
KREATIVES EUROPA (2014–2020) bezog sich nicht detailliert auf die euro-
päischen Werte. Der Wandel kam nach der Migrationskrise 2015, als die EU die
Rolle der Bildung und der Kultur in der axiologischen Narration zu schätzen
lernte. Aus diesem Grund kam sie auf die normativen Fragen zurück. Während
des EU-Gipfels 2017 in Rom äußerten die Staats- und Regierungschefs in der
31 Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates zum Beitrag der Kultur zur Um-
setzun g der Strategie Europa 2020. Amtsblatt der Europäischen Union C, 2011, Nr. 175, S. 1.
32 Kazimierz Łastawski: Historyczne i współczesne cechy tożsamości europejskiej. In: Polity-
ka i SPołeczeńStWo 2004, H. 1, S. 209f.
33 Beschluss Nr. 1855/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.De-
zember 2006, S. 1.
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222
sog. Erklärung von Rom
34 ihre Überzeugung, dass im weiteren Handeln der
EU die Förderung des gemeinsamen Erbes und der kulturellen Vielfalt Priorität
haben wird. Einen ähnlichen Standpunkt vertraten die Staats- und Regierungs-
chefs auf dem EU-Sozialgipfel im November 2017 in Göteborg und während
der Tagung des Europäischen Rates (14. Dezember 2017) in Brüssel.35 Sie be-
tonten die Rolle des Erlernens von Sprachen, der Erweiterung des Programms
Erasmus+, der strategischen Partnerschaften zwischen Hochschuleinrichtungen
in der gesamten EU sowie der Entwicklung von mit Digitalisierung und Cyber-
sicherheit im Kulturbereich verbundenen Kompetenzen.
Am 14. November 2017 legte die Kommission ihre Mitteilung zum ema der
europäischen Identität 36 vor, die ihr Beitrag zum Treffen des Europäischen Rates
in Göteborg sein sollte. Angeschnitten wurde die Frage der sich auf die Werte
stützenden Identität ebenfalls in der neuen Agenda für Kultur 2018 (vgl. oben)
sowie in den anderen Dokumenten der EU samt der Gemeinsamen Mitteilung
an das Europäische Parlament und den Rat zum ema »Künftige Strategie
der EU für internationale Kulturbeziehungen« (2016).37 Die Einleitung zum
Programm KREATIVES EUROPA (2021–2027) schenkte den gemeinsamen
Werten die meiste Aufmerksamkeit, was von der Bedeutung dieser Problematik
für die EU-Kulturpolitik im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zeugt. Die
drei ersten Punkte der Einleitung beziehen sich auf diese Werte, was eine bemer-
kenswerte Veränderung im Vergleich mit dem Vorgängerprogramm KREATI-
VES EUROPA (2014–2020) darstellt. Betont wurde die Relevanz des Art. 2 des
Vertrags von Maastricht, der als axiologische Sammlung der den europäischen
ethischen Kodex bildenden Elemente zu betrachten ist. Dieser Kodex betrifft
auch die Kunst, weil er die Standards im Bereich der Meinungs-, Informations-,
34 Erklärung von Rom, März 2017: »Wir wollen eine Union, in der die Bürgerinnen und
Bürger neue Möglichkeiten zu kultureller und gesellschaftlicher Entfaltung und wirtschaft-
lichem Wachstum haben. […] In diesen Zeiten des Wandels […] bekennen wir uns zur
Agenda von Rom und wollen uns für Folgendes einsetzen: […] eine Union, in der junge
Menschen die beste Bildung und Ausbildung erhalten und auf dem gesamten Kontinent
studieren und Arbeit finden können; eine Union, die unser kulturelles Erbe bewahrt und
kulturelle Vielfalt fördert«.
35 Europäischer Rat. Tagung am 14.Dezember 2017. Schlussfolgerungen, Brüssel, 14.De-
zember 2017, EUCO 19/1/17 REV 1.
36 Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den
Rat, den Europäischen Wirtschafts- Und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regio-
nen. Stärkung der europäischen Identität durch Bildung und Kultur. Beitrag der Europäi-
schen Kommission zum Gipfeltreffen in Göteborg am 17.November 2017, Straßburg,
14.November 2017, COM(2017) 673 final.
37 Europäische Kommission. Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik.
Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat. Künftige Strategie der
EU für internationale Kulturbeziehungen, Brüssel, 8.Juni 2016 JOIN(2016) 29 final.
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223
Kommunikations-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit thematisiert (Pkt. 2). In
Pkt. 4 wurden der Schutz und die Förderung von eigenständigen Kulturwer-
ten, des künstlerischen Ausdrucks sowie des künstlerischen Schaffens hervor-
gehoben (Pkt. 4). Die in früheren Dokumenten vorhandene Idee der Achtung
der reichen Kultur- und Sprachvielfalt Europas wurde ebenfalls angeführt.38 In
Pkt. 5 wurde wiederum der Begriff des gemeinsamen Raums der Kulturvielfalt
unter den europäischen Völkern geprägt. Bei der »Kultur« als Komponente des
Programms KREATIVES EUROPA wurde besonderer Nachdruck auf die kol-
lektiven und verschiedene Akteure verbindende Formen der Zusammenarbeit
gelegt, wie etwa Künstlergruppen, Plattformen und internationale Netze. Man
kann also davon ausgehen, dass die Kommission in allen Rahmenprogrammen
bezüglich der Kultur einen Ausgleich bestehender Defizite im Bereich Verge-
meinschaftung anstrebte. Aus diesem Grund betonte sie neben der direkten Be-
zugnahme auf Fragen der Zusammenarbeit und der Festigung von Beziehungen
die Mobilität von Künstler:innen, den Umlauf von Kunstwerken, europäische
Bildung, die Einführung moderner Methoden der Gewinnung eines interna-
tionalen Publikums sowie eine Erhöhung der Ausgaben für die Übersetzung
von Belletristik. Alle diese Instrumente haben über die Jahre hinweg einen
künstlerisch- kulturellen Gemeinschaftssinn des vereinigten Europa aufgebaut.
6 Gemeinschaftssinnerzeugende Dynamik
des Schutzes des europäischen Erbes
6.1 Schutz des europäischen Erbes – Übertragung der Idee des Gemein-
schaftssinns
Die Punkte 6, 18 und 28 der Einleitung zum Programm KREATIVES EURO-
PA (2021–2027) betreffen den Schutz des Kulturerbes, das – wie bereits erhnt
wurde – zur Priorität der EU-Kulturpolitik im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahr-
hunderts erhoben wurde. Der Begriff Kulturerbe ist seit 2011 im Umlauf, als
die Initiative des Europäischen Kulturerbe-Siegels initiiert wurde. Nach dem
Jahr 2018, das von der Kommission als Europäisches Jahr des Kulturerbes aus-
gerufen wurde, gewann er auch als Träger der Werte von Toleranz, Demokratie,
Pluralismus und Freiheit an Bedeutung. Obwohl der Vertrag von Lissabon auch
den wirtschaftlichen Aspekt der Kultur betonte, bestätigte die Auslegung von
Art. 103 Abs. 3, Art. 165 Abs. 1 und Art. 167 Abs. 1–5 EUV sowie des Art. 2
38 In Bezug auf die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt
kultureller Ausdrucksformen (2005).
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224
EUV die Intensivierung der Aufgaben im Bereich des Schutzes des kulturellen
Erbes in Hinsicht auf die Notwendigkeit der Stärkung der Idee der kulturel-
len Identität Europas sowie mit Blick auf die Förderung des Erbes im äußeren
Handeln der EU. Das Erbe ist jener spezifische Bereich der EU-Kulturpolitik,
in dem sich die Idee der »Einheit« in realen Objekten materialisiert, weshalb sie
wissenschaftlich einfacher analysiert werden kann. In den Dokumenten der EU
finden sich verschiedene Definitionen des Erbes. Im Kontext der hier erörterten
Frage des »Gemeinschaftsgeistes« werden Formulierungen wie »gemeinsames
und europäisches [Erbe]«
39, »Ausdruck der nationalen und regionalen Identi-
tät und der Bindungen zwischen den Völkern«
40 oder »gemeinsame kulturelle
Werte und Wurzeln« 41, die unbedingt geschützt werden müssen, verwendet. In
den Rechtsakten wurde festgestellt, dass die Sorge für das Gedächtnis und Erbe
Europas unsere gemeinsame Pflicht ist 42 und dass die Europäer:innen »zu einem
gemeinsamen Kulturraum« gehören.43
In den Schlussfolgerungen des Rates vom 21. Mai 2014 zum Kulturerbe als
strategische Ressource für ein nachhaltiges Europa
44 wurde das Kulturerbe als
gemeinsame strategische Ressource definiert.45 Darüber hinaus wurde betont,
dass es »für die Entwicklung einer Gesellschaft auf der Grundlage demokrati-
scher, ethischer, ästhetischer und ökologischer Werte« erforderlich ist (Pkt. 9).
39 Beschluss Nr. 1855/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.De-
zember 2006, S. 1, Pkt. 1.
40 Beschluss Nr. 2228/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.Oktober
1997 für ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Erhaltung des kulturellen Erbes– Pro-
gramm »Raphael«. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L, 1997, Nr. 305, S. 31.
41 Beschluss Nr. 1855/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.De-
zember 2006, S. 1.
42 Vgl. ebenda.
43 Beschluss Nr. 1194/2011/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.No-
vember 2011 zur Schaffung einer Maßnahme der Europäischen Union für das Europäi-
sche Kulturerbe-Siegel. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2011, Nr. 303, S. 1.
44 Art. 2. »Das Kulturerbe [besteht] aus von der Vergangenheit hinterlassenen Ressourcen in
sämtlichen Formen und Aspekten materiell, immateriell und digital (digital entstanden oder
digitalisiert) – […], einschließlich Denkmäler, Stätten, Landschaften, Fertigkeiten, Brauch-
tum, Kenntnisse und Formen menschlicher Kreativität, sowie Sammlungen, die von öffentli-
chen und privaten Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken und Archiven erhalten und ge-
pflegt werden. Es entspringt der Interaktion zwischen Menschen und Orten im Lauf der Zeit
und es erfährt eine ständige Entwicklung. Diese Ressourcen sind von großem Wert für die
Gesellschaft unter kulturellen, ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunk-
ten, und daher ist ihre nachhaltige Pflege von strategischer Bedeutung im 21. Jahrhundert«.
Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates vom 21.Mai 2014 zum Kultur-
erbe als strategische Ressource für ein nachhaltiges Europa. Amtsblatt der Europäischen
Union C, 2014, Nr. 183, S. 36.
45 Ebenda.
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In den Schlussfolgerungen wurde den Mitgliedstaaten empfohlen, für das kul-
turelle Erbe als Bestandteil der europäischen kulturellen Hinterlassenschaft
und Tradition Sorge zu tragen. Darin schlug die Kommission auch die weitere
Förderung der Rolle des kulturellen Erbes in den Politiken der Mitgliedstaaten
zwecks der Stärkung der axiologischen Felder der EU sowie eines gekonnten
Umgangs mit den Werten vor. Sie gab sich davon überzeugt, dass das Resultat
der europäistischen Wende in den Politiken der Mitgliedstaaten und auch der
EU-Kulturpolitik die Herausarbeitung einer neuen Herangehensweise an das
historische Narrativ sein sollte, das auf einem Übergang von nationalen (parti-
kularen) Erzählungen hin zu einer objektivierten Sozialgeschichte Europas be-
ruht. Die Kommission kam außerdem zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei,
die historischen Ereignisse auf eine weniger monumentale Art und Weise und in
einem versöhnlichen Geist des Dialogs darzustellen, wodurch sich die jüngeren
europäischen Generationen den sog. Sünden der Väter – das heißt den Trauma-
ta oder historisch heiklen und schwierigen Fragen –stellen könnten.
6.2 Integrative und partizipative Herangehensweise an das Erbe
In der Mitteilung »Für ein integriertes Konzept für das kulturelle Erbe Euro-
pas« 46 forderte die Europäische Kommission, den Schutz des kulturellen Erbes
in andere Unionsprogramme aufzunehmen, damit ein größerer Einfluss auf die-
sen Sektor ausgeübt und finanzielle Mittel konzentriert werden können.
Außerdem wurde eingeräumt, dass das Erbe über die europäische Identität ent-
scheidet und die Quelle für den Aufbau einer Gemeinschaft (darunter auch
eines post-nationalen historischen Narrativs) ist.
Das Kulturerbe hat die Kapazität, sozialen Zusammenhalt und soziale Inte-
gra tion zu fördern, indem benachteiligte Gebiete aufgewertet und lokale
Arbeitsplätze geschaffen werden, aber auch indem ein gemeinsames Ver-
ständnis und ein Gemeinsinn gefördert werden. Der Sektor bietet jungen und
alten Menschen zahlreiche Möglichkeiten der Bildung und der Freiwilligen-
arbeit und fördert den interkulturellen und intergenerationellen Dialog.47
In der Mitteilung der Kommission wurde eine integrative Herangehensweise an
den Schutz des Erbes postuliert, die in einer Verbindung verschiedener Sekto-
ren und EU-Politikbereiche besteht. Dabei sollen auch Instrumente gebraucht
46 Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den
Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regio-
nen. Für ein integriertes Konzept für das kulturelle Erbe Europas, Brüssel, 22.Juli 2014,
COM(2014) 477 final, S. 4–5.
47 Ebenda.
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226
werden, die eine intensivere innereuropäische Kooperation möglich machen.
Das Erbe wurde auch mit der Problematik des Klimaschutzes verknüpft. Dabei
darf nicht vergessen werden, dass die Aufgaben der Unionspolitiken bezüglich
der Kul tur seit 2005 mittels der Richtlinien des UNESCO-Übereinkommens
zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen geregelt
wurden (das erstmals gemeinsam von der EU im Namen der Mitgliedstaaten
un terzeichnet wurde).48 Darin wurde die »Kultur als strategisches Element in
die Entwicklungspolitik eingebunden […, als] Träger von Identität und Wer-
ten« bezeichnet.49 Die EU engagierte sich auch für ein Handeln zugunsten der
Di gi talisierung im Bereich des Erbes,50 was zur Verbesserung der Fähigkeit der
euro ischen Gesellschaften beitrug, ein gemeinschaftlicheres Leben zu führen.
Die Schlussfolgerungen des Rates zur partizipativen Verwaltung des kulturel-
len Erbes (2014)
51 waren eine Folge der integrativen Herangehensweise an das
Erbe. Die wichtigste Prämisse dieses Aktes sekundären Rechts war das Prob-
lem der in klusiven Teilnahme der europäischen Bürgerinnen und Bürger an der
Förderung des Erbes. Der Rat ermunterte zum Auf bau eines vielschichtigen,
sich auf die Vielfalt von Akteuren stützenden Rahmens für die Verwaltung des
Erbes. Er sollte von der Achtung der Demokratie und des Pluralismus zeugen.
Die in tensivere Beteiligung der europäischen Bevölkerungen an Aktivitäten zum
Schutz des Kulturerbes sollte Ausdruck dessen sein, dass die Aufgabe des »Zu-
sammenwirkens« 52 von Menschen und Sektoren (auch mit dem Erbe verwand-
ter Sektoren) im Namen der Überzeugung realisiert wird, dass das Erbe in den
gegenwärtigen Politiken zu einer »geteilten Ressource« wird. Eines der Beispiele
für die partizipative Verwaltung des Erbes war die Verortung dieses Bereichs im
Kontext des Grünen Deals sowie Maßnahmen zugunsten der Kontrolle der Luft-
verschmutzung und deren Auswirkung auf Denkmäler. Solche Untersuchungen
waren dank der Unterstützung im Rahmen von Horizont 2020 möglich.53
48 Beschluss Nr. 515/2006/EG des Rates vom 18.Mai 2006 über den Abschluss des Über-
einkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Amts-
blatt der Europäischen Gemeinschaften L, 2006, Nr. 201, S. 15.
49 Vgl. Jakub Olchowski, Agata W. Ziętek: Instytucjonalizacja międzynarodowej współpra-
cy kulturalnej na poziomie globalnym. In: Agata W. Ziętek (Hrsg.): Międzynarodowe sto-
sunki kulturalne, Warszawa 2010, S. 228.
50 Vgl. Biblioteka Europeana, https://www.europeana.eu/pl.
51 Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates zur partizipativen Steuerung
des kulturellen Erbes. Amtsblatt der Europäischen Union C, 2014, Nr. 463, S. 1.
52 Ebenda, S. 2.
53 Vgl. Dziedzictwo zagrożone: unijne badania i innowacje zwiększające trwałość dzie-
dzictwa kulturowego. Projekte Cordis, https://cordis.europa.eu/article/id/400947-he-
ritage-at-risk-eu-research-and-innovation-for-a-more-resilient-cultural-heritage/pl
(14.11.2022).
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Da das Erbe mit seinem kulturellen Potential in viele EU-Politiken indirekt auf-
genommen wird, wächst seine Bedeutung für die Öffentlichkeit. Der Stärkung
des europäischen Erbes dienen auch ESI-Fonds (EFRE, ESF) sowie die Regional-,
Sozial-, Bildungs- und Geschichtspolitik.54 Diesen Sektor gestalten die Richt-
linien und Ziele der Strategie für intelligentes, nachhaltiges und inte gra tives
Wachstum EUROPA 2020. Dies kommt wiederum dadurch zum Vor schein,
dass die Mitgliedstaaten das Erbe so verwalten sollten, dass es zur nach haltigen
Entwicklung und zum Umweltschutz beiträgt.55 Das Erbe fand seinen Platz in
der Wiederbelebung von ländlichen Gebieten, der maritimen Wirt schaft und im
Tourismus. Es war auch ein Teil der digitalen Agenda und der Er forschung von
Innovationen. In Zukunft soll dieser Sektor mit den Gemein schaftspolitiken –
auch mit der Politik der maritimen Wirtschaft – kohärent sein.
6.3 Europäisches Kulturerbe-Siegel
Der Beschluss zur Schaffung des Europäischen Kulturerbe-Siegels (2011) 56 legte
das Ziel des Programms wie folgt fest:
Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls der europäischen Bürgerinnen und
Bürger, insbesondere von jungen Menschen, zur Union auf der Grundlage
gemeinsamer Werte und Elemente der europäischen Geschichte und des
Kulturerbes sowie einer Würdigung des Stellenwerts der nationalen und re-
gionalen Vielfalt« (Art. 3 Abs. a)57 und »Förderung des interkulturellen Dia-
logs (Art. 3 Abs. b).58
Den Hauptzielen wurden mittelfristige Ziele zugeordnet: Förderung des Wis-
sens um Kunst und europäische Kulturdenkmäler, Ausschöpfung der Syner gien
zwischen dem Kulturerbe einerseits und zeitgenössischer künstlerischer und
kreativer Arbeit andererseits, Hervorhebung des symbolischen Wertes von Stät-
ten, die in der Geschichte und Kultur Europas und/oder beim Aufbau der Uni-
on eine bedeutende Rolle spielten, sowie Aufbau von Wissen über Europa unter
Bezugnahme auf demokratische Werte und Menschenrechte, die das Funda-
ment der europäischen Inte gra tion bilden. In den Richtlinien wurde auf die Ge-
schichte Europas unter Berücksichtigung positiver und negativer Erfahrungen
54 Vgl. etwa das Programm des Europäischen Solidaritätskorps (24.03.2022).
55 Mehr zur Definition des Erbes: Rat der Europäischen Union. Schlussfolgerungen des Rates
vom 21.Mai 2014, S. 36-38.
56 Beschluss Nr. 1194/2011/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.No-
vember 2011 zur Schaffung einer Maßnahme der Europäischen Union für das Europäi-
sche Kulturerbe-Siegel. Amtsblatt der Europäischen Union L, 2011, Nr. 303, S. 1.
57 Ebenda.
58 Ebenda.
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verwiesen. Ein charakteristisches Merkmal der mit dem Siegel ausgezeichneten
Objekte ist deren spezifische Bedeutung für die Prozesse der europäischen Inte-
gra tion sowie für die Einnahme einer pro-europäischen Haltung (Art. 3 Abs.
2). Sie spielen eine symbolische und kulturbildende Rolle und müssen nicht un-
bedingt zum Kanon des europäischen Erbes gehören: Vielmehr sind sie für die
Geschichte der Völker und dadurch auch für die Geschichte Europas von Be-
deutung. Sie sind ebenso ein Zeugnis dramatischer Ereignisse, die Barbarei und
Missachtung der Menschenrechte bezeugen, wie auch Akte der Aussöhnung,
Beispiele für den Esprits der Europäer und eine visionäre politische Einstellung.
Im Programm Europäisches Kulturerbe-Siegel finden die Prozesse der Europäi-
sierung 59 (bottom-up) von historischen Erinnerungsorten und Artefakten statt,
die sich auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten befinden. Das bedeutet, dass die
Ideenüberlieferung eines gegebenen Ortes oder eines Geschehnisses auf die Stu-
fe des europäischen Narrativs übergeht und dadurch zur Herausbildung des kol-
lektiven Gedächtnisses beiträgt (Assman). Das lokale oder nationale Gedächtnis
wird damit unentwegt ergänzt oder umgekehrt: Das europäische Gedächtnis
unterliegt Modifikationen. Die von der europäischen Dimension des Siegels in-
spirierte Veränderung im Narrativ bezüglich der Vergangenheit ermöglicht eine
Neudefinition der Geschichte, eine Neuorientierung des Diskurses und eine
Einbindung der nationalen Identität in einen breiteren, europäischen Kontext.
Die Anwendung des Europäischen Kulturerbe-Siegels als Werbeelement, eines
Ortes und als Bildungswerkzeug verhilft zur Verarbeitung der nationalisierten
Vergangenheit und zu deren Darstellung im Prozess der kulturellen und so-
zialen Entwicklung Europas. Die Europäischen Kulturerbe-Siegel dienen der
Ver handlung und der Neuverhandlung der Geschichte. Sowohl die Bildung
eines gemeinsamen Narrativs als auch der Bezug zur gemeinsamen Geschichte
sind identitätsstiftende EU-Strategien. Dank dem Europäischen Kulturerbe-
Siegel wird die Entstehung eines neuen Epos über die Vergangenheit gefördert
und eine nicht monopolisierte Erzählung von der Geschichte inspiriert, an der
sich nun auch andere Erzähler beteiligen können. Die Vielfalt an Narrativen
sowie die Ergänzung des nationalen Narrativs durch einen supranationalen As-
pekt lassen sich mit der gegenwärtigen Wahrnehmung des kulturellen Erbes
verknüpfen (Aashworth). Aufgrund dessen wird die europäische Gedächtnis-
gemeinschaft heutzutage dialogisch gestaltet, das heißt durch den Diskurs der
59 Rafał Riedel: Europeizacja – koncept i agenda badawcza. In: Anna Pacześniak, Raf
Riedel (Hrsg.): Europeizacja. Mechanizmy, wymiary, efekty. Oslo, Toruń, Wrocław 2010,
S.15–32; Johan P. Olsen: The Many Faces of Europeanization. In: journal oF coMMon
Market StuDieS 40 (2002), H. 5, S. 921–951; Claudio M. Radaelli: The Europeanisation of
Public Policy. In: Kevin Featrherstone, Claudio M. Radaelli (Hrsg.): The Politics of Europe-
anisation, Oxford 2003, S. 27–56.
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Vergangenheit mit der Zukunft, durch die verschiedenen Möglichkeiten der
Interpretation unterschiedlicher Tatsachen, durch die Parallelität der Narrative
und schließlich durch die »Besänftigung« des ungewollten Gedächtnisses. Die
Europäischen Kulturerbe-Siegel ermöglichen es den europäischen Völkern, mit
ihren historischen Erfahrungen einen Beitrag zum gemeinsamen europäischen
Erbe und der Tradition zu leisten.
6.4 Europäisches Kulturerbejahr (2018)
Der Beschluss über die Ausrufung eines Europäischen Kulturerbejahres wurde
am 17. Mai 2017 gefasst.60 Das Programm verfolgte das Ziel, die Aufmerksam-
keit auf den Schutz und die Förderung von Kulturdenkmäler und -stätten zu
lenken sowie ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. In Pkt. 2 des Art. 2 des EP-
Beschlusses wurde Folgendes festgestellt:
Ziel des Europäischen Jahres ist es, zur Teilung des Kulturerbes zu ermuntern
und es als gemeinsames Gut zu schätzen, das Bewusstsein für die gemein-
same Geschichte und die gemeinsamen Werte zu schärfen und das Gefühl
der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen europäischen Raum zu stärken.61
Zu den das Europäische Jahr des Kulturerbes implementierenden Instrumenten
gehörten: interkultureller Dialog und sektorenübergreifende Herangehensweise
(z. B. Einfluss des Erbes auf den Umweltschutz, Tourismusentwicklung, Förde-
rung von Initiativen zur Verhinderung des illegalen Handels mit Kulturgütern).
Die Initiative sollte für die Beziehungen innerhalb der EU sorgen, dank denen
das Erbe als soft power später auch im Rahmen der Außenbeziehungen geför-
dert werden konnte (und weiterhin gefördert werden kann). Es wurde verein-
bart, dass das Jahr 2018 besonders die historischen Jahrestage mit symbolischer
und historischer Bedeutung für Europa und sein Kulturerbe in den Vorder-
grund rücken sollte.
Um die obigen Ziele zu realisieren, wurden zahlreiche Schritte auf nationaler,
regionaler und auf der EU-Ebene unternommen, einschließlich der Wahl ein-
zelstaatlicher Koordinatoren. Es handelte sich um unterschiedliche Initiativen,
die zum Zweck hatten, Debatten über die Bedeutung und den Wert des kul-
turellen Erbes, Ausstellungen und Bildungskampagnen mit den europäischen
Werten im Brennpunkt zu veranstalten und zu fördern. Offiziell startete die
Initiative des Europäischen Jahres des Kulturerbes während des Europäischen
60 Beschluss (EU) 2017/864 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.Mai 2017
über ein Europäisches Jahr des Kulturerbes (2018). Amtsblatt der Europäischen Union L,
2017, Nr. 131, S. 1.
61 Ebenda, S. 4.
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Kulturforums, das am 7./8. Dezember 2017 in Mailand stattfand. Sie umfasste
viele Aktivitäten, die die Förderung des kulturellen Erbes unterstützten und
zahlreiche Projekte, aber auch soziales Engagement nach sich zogen. Wichtige
Ereignisse waren der Europäische Kulturerbe-Gipfel in Berlin sowie die Verlei-
hung des Europäischen Preises für Kulturerbe/Europa Nostra Award.
Im Bericht des Europäischen Parlaments über das Europäische Jahr des Kultur-
erbes vom 20. Januar 2021wurde in Pkt. 1 festgestellt:
[…] das Kulturerbe [ist] eine Ressource von unschätzbarem Wert […], die
eine Rückbesinnung auf und kritische Auseinandersetzung mit unserer Ge-
schichte ermöglicht und ein Bewusstsein nicht nur für die unterschiedlichen
Erinnerungen, sondern auch für die Gemeinsamkeiten schafft […].62
Darin wurde auch das Ergebnis der »Gestaltung von Gemeinschaftsgefüh
unter Europas Bürger:innen betont, der von den zahlreichen Schritten der EU
zugunsten der Förderung des Erbes herrührt.
6.5 Haus der Europäischen Geschichte: Metanarrativ der Geschichte
Besondere Aufmerksamkeit im Kontext der Überlegungen zur gemeinsamen
Geschichte Europas verdient das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel,
das als einziges Museum dem europäischen Metanarrativ gewidmet ist. Diese
von anerkannten Expert:innen und Museolog:innen konzipierte Dauerausstel-
lung stellt die transnationale Perspektive der Geschichte Europas dar, was aber
keinesfalls bedeutet, dass sie die nationalen Geschichten ersetzen will. Im Fokus
der Dauerausstellung stehen die für viele Länder und Gebiete relevanten Ge-
schehnisse sowie die Zusammensetzung der einen Kontrast zueinander bilden-
den Tatsachen aus der Geschichte der europäischen Völker: von der Entführung
der Europa, über die Geschichte der Demokratien, Aufklärung, Kolonialismus,
nationalstaatliche Konzepte, Marxismus und Kommunismus, Geschichte der
Proteste und Streiks bis hin zu Kapitalismus und Völkermord. Die Hauptaufga-
be der Einrichtung ist es, Debatten über die Vergangenheit sowie über europäi-
sches Gedächtnis und Bewusstsein zu initiieren
63, die zu einer Antwort auf die
Frage führen sollen, warum die EU entstand. Von Bedeutung ist die Tatsache,
62 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20.Januar 2021 zum Europäischen Jahr
des Kulturerbes: Erzielung eines wirksamen politischen Vermächtnisses (2019/2194(INI))
(2021/C 456/03). Amtsblatt der Europäischen Union C, 2021, Nr. 456, S. 24.
63 Vgl. Dom Historii Europejskiej. Pytania i odpowiedzi dotyczące projektu. PDF, h t t p s : //
historia-europa.ep.eu/sites/default/files/assets/pytania_i_odpowiedzi_pl_2017.pdf,
S. 2 (4 .09.2022).
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231
dass das vorgeschlagene europäistische Narrativ auch kritisch, heterogen und
komplex ist.
Man kann also konstatieren, dass der Aufbau des »Gemeinschaftssinnes« in
Europa ebenfalls institutionell vonstattengeht. Er weist jedoch weder Merkmale
von Propaganda auf noch verherrlicht er Europa. Somit ist das Haus der Versuch
einer holistischen Gestaltung des historischen Narrativs über Europa unter Ko-
operation aller Beteiligten, die sich dabei der dramatischen Vergangen heit Euro-
pas, der Diskrepanzen zwischen den differenten Interpretations mög lich keiten
angesichts der Voreingenommenheit, der Abneigung oder der Stereo type in der
menschlichen Vorstellung vollauf bewusst sind. Aus diesem Grund ist das keine
einfache Aufgabe. Nichtsdestotrotz unterstützt sie die Herausbildung des Ge-
fühls der Selbstidentifizierung mit Europa als schwierigem, aber familiä rem Ort.
7 »Solidarität« und COVID-19. Erbe und Krisengefahr
»Solidarität« ist einer der wichtigen Unionswerte und zweifelsohne auch eine
der Komponenten der Idee des »Gemeinschaftsgeistes«. Es darf nicht vergessen
werden, dass die COVID-19-Pandemie die Idee der »Solidarität« als axiologi-
schen EU-Wert positiv verifizierte. Sowohl die EU-Mitgliedstaaten als auch die
EU selbst zeigten ihre Empathie im Bereich der Hilfe für den Kultursektor, was
die Möglichkeit zur Aufbietung riesiger Mittel und Kräfte in einer Gefah ren-
situation und dadurch auch die Möglichkeit der Neuintegration unter Extrem-
bedingungen aufzeigte. Am 13. Mai 2022 wurde der sich auf 800 Mrd. EUR
belaufende Wiederaufbauplan von der Europäischen Kommission verkündet,
dessen Ziele den Schutz und die Unterstützung von Kultureinrichtungen so-
wie von individuellen, am Programm KREATIVES EUROPA (2014–2020)
beteiligten Künstler:innen umfassten. Schöpfer:innen wandten sich ebenfalls
mit der Bitte um die Veränderung der Kostenabrechnungsregeln im dauernden
Rahmenprogramm sowie um eine Fristverlängerung für die Realisierung von
Aufgaben an die Kommission. Die Kommission wurde zudem um die Ertei-
lung ihrer Zustimmung zur Erhebung eines Solidaritätsbeitrags für individuelle
Künstler:innen gebeten, die an wegen der Pandemie abgesagten Projekten mit-
gearbeitet hatten.
Als Geste der Zustimmung nahm Maryia Gabriel, EU-Kommissarin für For-
schung, Innovation und Bildung, Kultur und Jugend Veränderungen in der Be-
richterstattung bezüglich bereits laufender, aus Unionsprogrammen finanzierter
Kulturprojekte vor. Besonderes Augenmerk wurde auch auf die Widerstands-
fähigkeit des Kultursektors in der postpandemischen Realität gelegt. Gegenwär-
tig wird die Kultur zusätzlich vom Europäischen Wiederaufbauplan, Horizon
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232
Europe und Erasmus+ unterstützt. In den Schlussfolgerungen des Rates zum
Risikomanagement im Bereich des Kulturerbes (2020) wurde die Kooperation
aller Mitgliedstaaten und der Kommission zugunsten des Schutzes aller Formen
des kulturellen Erbes angesichts verschiedener Gefährdungen in der Welt emp-
fohlen. Gemeint sind hier Klimabedrohungen, Naturkatastrophen, pandemische
Gefahren oder Entvölkerung. Dem Schutz des kulturellen Erbes dienen heute
viele Möglichkeiten der Finanzierung und Subventionierung aus dem EU-Bud-
get, weil der EU sehr an einer Bewältigung des europäischen Gedächtnis gelegen
ist, das als Methode zur Entwicklung engerer Beziehungen für die Stärkung von
Inte gra tions- und Reintegrationsprozesse dienen kann. Die Kultivierung des eu-
ropäischen Erbes ist somit sozusagen eine gewisse Taktik der Zurückgewinnung
der Vergangenheit für eine bessere Zukunft, und die Transformation des Ge-
dächtnisses dient der Gemeinschaftsgestaltung. Nach der pandemischen Krise
und angesichts des Krieges in der Ukraine gewinnt die solidarische Haltung der
europäischen Bürgerinnen und Bürger an Bedeutung. Die Kultur erzeugt zwei-
fellos Empathie und führt zur Achtung der Menschenrechte.
8 Schlussfolgerungen
Die Gemeinschaftsziele der europäischen Inte gra tion sind in allen Prämissen
der EU-Kulturprogramme enthalten – sogar in denen, die einen starken Markt-
charakter aufweisen. Sie funktionieren sowohl horizontal als auch vertikal. Sie
überkreuzen sich mit den mittelfristigen und verwandten Zielen, indem sie eine
komplexe Pyramide von kulturbildenden Aufgaben im Gefüge der Multi-Le-
vel-Governance der EU bilden.64 Aufgrund dessen, was in der Einleitung des
vorliegenden Beitrags festgestellt wurde, haben wir es heutzutage mit fortge-
schrittenen Inte gra tionsprozessen zu tun, in denen die Idee des »Gemeinschafts-
geistes« die Form von operationalisierten Multi-Akteurs-Aktivitäten annimmt,
die innerhalb der konkreten finanziellen Rahmen und mit bürokratischen
Prozeduren initiiert werden. Man kann also sagen, dass sich der im Konzept
Geremeks als »Geist Europas« vorhandene »Gemeinschaftsgeist« im Laufe der
Zeit in einen »technisierten«, in der Gesetzgebungs- und Entscheidungswirk-
lichkeit präsenten Terminus der rechtlichen Namengebung der EU verwandelte.
Somit erfüllte er seine Rolle als »europäische Wertschöpfung« 65, die als eine den
Prozess der Gestaltung des Zugehörigkeitsgefühls der Bürgerinnen und Bürger
64 Vgl. Philip C. Schmitter: Neo-Neo functionalism, Florence 2002.
65 Piotr Borgoński verbindet dieses Konzept mit zwei anderen, das heißt mit der europäi-
schen Dimension und mit der europäischen Wertschöpfung. Vgl. Piotr Borgoński: Sposób
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zum vereinten Europa stärkende Referenzkategorie für Kultur anzusehen ist.
Dank der EU-Kulturpolitik (seit dem Vertrag von Maastricht) kann man heute
mit Recht feststellen, dass die »[…] Menschen zusätzliche Erfahrungen sam-
meln, einander besser kennenlernen und verstehen, was es bedeutet, Europäer
zu sein«.66 Die Forschungsfrage nach den Quellen einer Stärkung des »kulturel-
len Gemeinschaftsgeistes« findet ihre Antwort in der durchgeführten Analyse.
Er wird durch die politische Taktik der Europäischen Union gestärkt, die auf
der komplexen Herangehensweise der EU an die Kultur beruht, einschließ-
lich sektorenübergreifendes Handeln, Partizipation, Inte gra tion von Methoden
und Kooperationsarten, Kohärenz der Unionspolitiken und vor allem Gestal-
tung des interkulturellen Dialogs, der sich auf Pluralismus und die Achtung
der »Andersartigkeit« stützt. Das sind keine Propagandaslogans, im Gegenteil:
es handelt sich dabei um seit mindestens 30 Jahren empirisch implementierte
Europäisierungsverfahren, die das als »europäisches Wesen« bezeichnete Meta-
narrativ bilden. Die das »europäische Wesen« erzeugende Europäisierung ist ein
Mechanismus der Kulturtransformation, der den Übergang von der von Gere-
mek vorgeschlagenen »kulturellen Intention« der Inte gra tionsprozesse im Kul-
turbereich zum Aufbau der supranationalen »Einheitsverhältnisse und -struktu-
ren« 67 ermöglicht. In Anlehnung an Janusz Ruszkowski sind diese Verhältnisse
und Strukturen wiederum ein Teil der »gemeinsamen operativen EU-Politik«.68
Der »Gemeinschaftssinn«, der das Subjekt dieser Logik ist, unterstützt somit die
Modellierung des gegenwärtigen Europa, das von Goran eborn als »kollektive
Identifizierung, deren Wesen in der historischen Diskontinuität lieg
69, inter-
pretiert worden ist.
Aus dem Polnischen von Piotr A. Owsiński
podejścia do sfery kultury w stanowiskach Rady Unii Europejskiej. In: StuDia euroPejSkie
2017, H. 1, S. 164.
66 Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission, COM(2017) 673 final, S. 10.
67 Tadeusz Paleczny: Stosunki międzykulturowe: zarys problematyki, Kraków 2005, S. 354.
68 Janusz Ruszkowski: Europeizacja. Analiza oddziaływania Unii Europejskiej, Warszawa
2019, S. 139.
69 Goran Therborn: Drogi do nowoczesnej Europy, Warszawa-Kraków 1998, S. 373.
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Ideen von Bronisław Geremek
für eine zentrale europäische Herausforderung:
Rohstoffe, Energiewende und das Erproben
globaler Zusammenarbeit *
Maciej Jastrzębiec-Pyszyński, Gemeinsame Forschungsstelle der
Europäischen Kommission
Appling ideas of Bronislaw Geremek to a key European challenge:
raw materials, energy transition and prototyping global collaboration
Bronislaw Geremek believed that the European Union ‘’will become a great
partner of the global game in economy and politics (…) and will connect the Eu-
ropean historical experience with thinking about the future’’. With the European
goal of carbon neutrality by 2050, there is an important field where we need
to apply this thinking. In the foresight report published in September 2020, the
European Commission predicts that over the next 10 to 30 years Europe’s de-
mand for lithium, cobalt and graphite (key raw materials for energy storage in
the green transition) will increase several times. Depending on the development
of individual energy storage technologies: batteries, hydrogen technologies,
etc., even in the most optimistic scenarios, Europe will not be able to meet the
needs for these key raw materials alone. Yet, according to recent study, the
electrification of transport might constitute the tipping point in the decarbonisa-
tion efforts. Europe has the necessary structure and gravitas to move the global
sourcing system into a more collaborative mode. Its history shows that collab-
orative solutions can overcome conflicts over power and resources. The histor-
ic compromise on the exploitation and production of coal and steel between
France and Germany (Schuman Plan) shows the role of well-designed joint
institutions. Can this type of political innovation be applied to current, urgent
challenge with potential ramifications to the whole humanity? Can we apply
innovative approaches from the field of complexity to the field of international
relations? The author analyses the recent actions of the EU and proposes a
novel approach to move the system towards more collaboration, predictability
and possibly fairness that could have positive spill-over to the global system.
* Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten entsprechen keinesfalls dem offiziellen Stand-
punkt der Europäischen Kommission.
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1 Bronisław Geremek zu Politik und globaler Zusammenarbeit
Bronisław Geremek war ein Denker, Politiker und Diplomat, der entschlos-
sen versuchte, die Zukunft zu gestalten. Er engagierte sich leidenschaftlich für
Europa, die Demokratie und soziale Inklusion. Gemeinsam mit Madeleine Al-
bright setzte er sich für die Gründung der Community of Democracies mit
ihrem ständigen Sekretariat in Warschau ein. Die auf internationaler Zusam-
menarbeit beruhenden demokratischen Werte lagen ihm am Herzen.
Er war ein überzeugter Befürworter des europäischen Inte gra tionsprozesses.
Während seiner Amtszeit als Außenminister begann Polen mit den offiziellen
Verhandlungen über den Beitritt zur EU. Er war ein Vordenker, der über den
Status quo hinausblickte. Seiner Ansicht nach »hat der Inte gra tionsprozess den
Entwicklungsweg vorgegeben«, und er hoffte, dass »dieser Trend beibehalten
wird«.1 Er versuchte, die Ethik mit der Machtausübung zu verknüpfen. Im Jahr
2004 erklärte er in einem Interview: »Pascal glaubte, dass wir danach streben
sollten, dass das, was gerecht ist, stark sein sollte und das, was stark ist, gerecht
sein sollte«.2 Im Jahr 2003 äußerte er seine Überzeugung, dass die EU »ein be-
deutender Partner im globalen wirtschaftlichen und politischen Spiel« werden
wird, und »dass es ihr gelingen wird, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen
und dass sie in der Lage sein wird, die historische Erfahrung Europas mit dem
Denken über die Zukunft zu verknüpfen«.
Er meinte: »Die EU braucht, wie jede andere Gemeinschaft, große Mythen,
langfristige Visionen und manchmal sogar Träume. Die Politik erfordert aller-
dings auch Realismus und die Fähigkeit, die Visionen und Träume in politische
Projekte umzusetzen«.3
In diesem Denken ähnelt Bronislaw Geremek den Worten, die Robert Schuman
im Jahr 1950 formulierte:
Der Weltfrieden kann nicht bewahrt werden, wenn keine schöpferischen
An strengungen unternommen werden, die in einem angemessenen Verhält-
nis zu den Gefahren stehen, die ihn bedrohen. Der Beitrag, den ein geord-
netes und lebhaftes Europa zur Zivilisation leisten kann, ist für die Aufrecht-
erhaltung friedlicher Beziehungen unerlässlich.
Wir müssen die Denkweise von Bronisław Geremek, Robert Schuman und
Madeleine Albright auf die wichtigsten Herausforderungen zu Beginn des
1 Jacek Głażewski: Profesor to nie obelga. Alfabet Bronisława Geremka, Kraków 2013,
S.158
2 Ebenda, S.155.
3 Ebenda, S.143.
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21. Jahr hunderts anwenden. Wir müssen Kreativität und Lehren aus unserer
Vergangenheit umsetzen. Wir müssen Visionen in realistische Projekte umwan-
deln. In diesem Artikel geht es um die Verwendung der Komplexitätstheorie
und neu entwickelter wissenschaftlicher Instrumente, um Möglichkeiten für
eine globale Zusammenarbeit im Bereich der Energiewende und damit zusam-
menhängender Technologien zu erkunden. Das Ziel besteht darin, zu prüfen,
ob in einem sehr begrenzten Anwendungsbereich Bedarf und Platz für eine Zu-
sammenarbeit auf subglobaler Ebene vorhanden ist, die eines Tages auf die gan-
ze Welt übergreifen könnte.
2 Ziel der Klimaneutralität und Vorausschau
in Bezug auf Rohstoffe
Im Jahr 2019, als Ursula von der Leyen das Europäische Parlament um ihre poli-
tische Bestätigung ersuchte, formulierte sie ihre Vision für ein klimaneutrales
Europa bis 2050.4 Im Juli 2021 trat das europäische Klimagesetz in Kraft, wel-
ches eine rechtsverbindliche Verpflichtung zur Verwirklichung dieses Ziels ent-
hält. Das Ausmaß des Wandels erfordert enorme Investitionen in neue Techno-
logien und einen wirtschaftlichen Strukturwandel von noch nie zuvor gesehener
Größe. Ein Bestandteil dieses Übergangs ist die Beschaffung der Rohstoffe, die
für die Erzeugung und Speicherung grüner Energie benötigt werden.
Je nach angewandter Technologie und Art der Studie sind folgende Materia-
lien für die Energiespeicherung (Batterien und Brennstoffzellen) erforderlich:
Lithium, Kobalt und Grafit.
Betrachtet man diese drei ausgewählten Rohstoffe näher, so ist ein exponen-
tieller Nachfrageanstieg in den kommenden Jahrzehnten zu erkennen. Insbe-
sondere Lithium, der Hauptbestandteil der beliebtesten Lithium-Ionen-Batte-
rien, wird besonders begehrt sein. Bis 2030 wird Europa das 6- bis 18-fache
des derzeitigen Lithiumverbrauchs benötigen (derzeit werden sechs Kilotonnen
pro Jahr verbraucht). Bis 2050 könnte die Nachfrage schätzungsweise auf das
18- bis 55-fache des derzeitigen Verbrauchs ansteigen. In Bezug auf Grafit oder
Kobalt sind die Zahlen weniger beeindruckend, aber dennoch bemerkenswert.
Die Nachfrage nach diesen Rohstoffen wird im Jahr 2050 im Durchschnitt fünf
bis 14 Mal höher sein als heute.
4 Eröffnungsrede in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments von Ursula von der Ley-
en, Kandidatin für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. In: ec.europa.
eu vom 16.07.2019, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_
19_4230 (16.07.2019).
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239
Hinter diesen Zahlen stecken Schätzungen, wie z. B. die des Weltwirtschafts-
forums, die von einer Notwendigkeit zur 19-fachen Steigerung der weltweiten
Batterieproduktion zur Beschleunigung des Übergangs zu einer emissionsar-
men Wirtschaft ausgehen.5
Angesichts dieser Herausforderungen hat die Kommission selbstverständlich
entsprechende Maßnahmen vorgeschlagen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser
Initiative ist die Bewertung des kritischen Charakters aller in der Industrie ver-
wendeten Rohstoffe und der Vorschlag zur Entwicklung strategischer Partner-
schaften in der ganzen Welt.
3 Aktionsplan der Kommission für kritische Rohstoffe
Am 3. September 2020 hat die Kommission einen Aktionsplan für die Versor-
gung mit kritischen Rohstoffen vorgelegt. Maroš Šefčovič, Vizepräsident der
Kommission, kündigte die Gründung eines starken Bündnisses an, um gemein-
sam den Wandel von einer starken Abhängigkeit hin zu einer diversifizierten,
nachhaltigen und sozial verantwortlichen Rohstoffbeschaffung, Kreislaufwirt-
schaft und Innovation zu vollziehen – die Europäische Rohstoffallianz.6
Mit dem Rahmenplan werden folgende Ziele verfolgt:
a) Entwicklung widerstandsfähiger Wertschöpfungsketten für industrielle Öko-
systeme in der EU;
b) Verringerung der Abhängigkeit von kritischen primären Rohstoffen durch
kreislauforientierte Verwendung von Ressourcen, nachhaltiger Produkte
und Innovationen;
c) Förderung der nachhaltigen und verantwortungsvollen inländischen Be-
schaffung und Verarbeitung von Rohstoffen in der Europäischen Union; und
d) Diversifizierung der Versorgung durch nachhaltige und verantwortungs-
volle Beschaffung aus Drittländern; Förderung eines geregelten und freien
Rohstoffhandels und Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im inter-
nationalen Handel.
5 Weltwirtschaftsforum und Globale Batterie-Allianz: Eine Vision für eine nachhaltige Bat-
terie-Wertschöpfungskette in 2030: Erschließung des Potenzials zur Förderung der nach-
haltigen Entwicklung und des Klimaschutzes, 2019.
6 Kommission kündigt Maßnahmen an, um die Rohstoffversorgung Europas sicherer und
nachhal tiger zu machen . In: ec.europa.eu, 3.09.2020, https://ec.europa.eu/commission/
presscorner/detail/en/ip_20_1542 (3.09.2020).
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Dies soll durch 10 Einzelmaßnahmen erreicht werden: 7
1) Gründung einer industriegesteuerten Europäischen Rohstoffallianz im drit-
ten Quartal 2020, vorerst zum Aufbau von Widerstandsfähigkeit und einer
offenen strategischen Autonomie für die Wertschöpfungsketten der seltenen
Erden und Magnete, bevor sie auf andere Rohstoffbereiche erweitert wird;
2) Entwicklung nachhaltiger Finanzierungskriterien für den Bergbausektor, die
Rohstoffgewinnung und die Verarbeitungsindustrie in delegierten Rechtsak-
ten zur Taxonomie bis Ende 2021;
3) Einleitung kritischer Rohstoffforschung und Innovationen im Jahr 2021 in
Bezug auf Abfallverarbeitung, fortschrittliche Materialien und Ersatzstoffe
mit Unterstützung von Horizont Europa, dem Europäischen Fonds für regio-
na le Entwicklung und den nationalen Programmen für Forschung und Inno-
vation (Research & Innovation, R&I);
4) Bestandsaufnahme der potenziellen Versorgung mit kritischen Sekundär-
rohstoffen aus EU-Vorräten und -abfällen und Ermittlung tragfähiger Rück-
gewinnungsprojekte bis 2022;
5) Bestimmung von Bergbau- und Verarbeitungsprojekten sowie des Investi-
tionsbedarfs und der damit verbundenen Finanzierungsmöglichkeiten für
kritische Rohstoffe in der EU, die bis 2025 in Betrieb genommen werden
können, mit Schwerpunkt auf Kohleabbaugebieten;
6) Entwicklung von Fachwissen und Kompetenzen in den Bereichen Bergbau,
Rohstoffgewinnung und Verarbeitung als Teil einer ausgewogenen Über-
gangs strategie in den im Wandel befindlichen Regionen ab dem Jahr 2022;
7) Durchführung von Erdbeobachtungsprogrammen und Fernerkundungspro-
grammen für die Gewinnung von Rohstoffen, den Betrieb und das Umwelt-
management nach der Betriebseinstellung;
8) Weiterentwicklung von Horizont Europa R&I-Projekten im Bereich der Ver-
fahren zur Gewinnung und Verarbeitung kritischer Rohstoffe zur Verringe-
rung der Umweltauswirkungen ab 2021;
9) Entwicklung strategischer internationaler Partnerschaf ten und damit verbun-
dener Finanzierungen zur Sicherung einer diversifizierten und nachhaltigen
Versorgung mit kritischen Rohstoffen, unter anderem durch uneingeschränk-
te Handels- und Investitionsbedingungen, beginnend mit Pilotpartnerschaf-
ten mit Kanada, interessierten Ländern in Afrika und den Nachbarländern
der EU im Jahr 2021;
7 Die Europäische Kommission. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den
Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regio nen.
Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen: Einen Pfad hin zu größerer Si cher heit
und Nachhaltigkeit abstecken, Brüssel, 3.September 2020, COM(2020) 474 final.
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10) Förderung verantwortungsvoller Bergbaupraktiken für kritische Rohstoffe
durch die rechtlichen Rahmenbedingungen der EU (Vorschläge im Zeitraum
für 2020 bis 2021) und die entsprechende internationale Zusammenarbeit.
In der analysierten Mitteilung verweist die Kommission auf bestehende inter-
nationale Partnerschaften zu kritischen Rohstoffen und Nachhaltigkeit und er-
wähnt dabei unter anderem Foren wie:
a) die jährlichen trilateralen Verhandlungen zwischen der EU, den USA und
Japan über kritische Rohstoffe (Versorgungsrisiken, Handelshemmnisse, In-
novation und internationale Normen);
b) die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Kon-
flikt mineralien8, Richtlinien für Rohstoffe, verantwortungsvolle Rohstoffbe-
schaffung);
c) die Vereinten Nationen (globale Aussichten, Umweltbelastungen, Ressour-
cen bewirtschaftung, Bewirtschaftung von Bodenschätzen),
d) die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, W TO) (Marktzu-
gang, technische Handelshemmnisse, Exportbeschränkungen);
e) die G20 (Ressourceneffizienz).
Ferner werden bilaterale Gespräche über Rohstoffe mit einer Reihe von Län-
dern, darunter China, erwähnt. Außerdem heißt es dort:
Die EU muss strategische Partnerschaften mit rohstoffreichen Drittländern
eingehen, indem sie sämtliche außenpolitischen Instrumente einsetzt und
ihren internationalen Verpflichtungen nachkommt. Das Potential für den
Ausbau nachhaltiger und verantwortungsvoller strategischer Partnerschaf-
ten mit rohstoffreichen Ländern ist noch lange nicht ausgeschöpft. Diese um-
fassen hochentwickelte Bergbauländer wie Kanada und Australien, ver-
schiedene afrikanische und lateinamerikanische Entwicklungsländer sowie
EU-nahe Länder wie Norwegen und die Ukraine, die Beitrittsländer und die
westlichen Balkanländer. […] Anstatt zu versuchen, all diese Partnerschaften
gleichzeitig zu fördern, beabsichtigt die Kommission, vor der Einleitung von
Pilotpartnerschaftsprojekten im Jahr 2021 die Prioritäten mit den Mitglied-
staaten und der Industrie zu besprechen, auch in den betroffenen Ländern,
da diese über lokales Fachwissen und ein Netz von Botschaften der Mit-
gliedstaaten verfügen. Solche strategischen Partnerschaften, die den Ab-
8 Von »Konfliktmineralien« spricht man, wenn die Einkünfte aus dem Handel mit diesen Mi-
neralien verwendet werden, um einen bewaffneten Konflikt zu finanzieren, in diesem Fall
in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) und benachbarten Ländern (DRK-Region).
Es handelt sich vor allem um Zinn, Tantal, Wolfram und Gold.
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bau, die Verarbeitung und die Verfeinerung betreffen, sind für rohstoffrei-
che Entwicklungsländer und Regionen wie Afrika besonders wichtig. Die
EU kann unseren Partnerländern dabei helfen, ihre Rohstoffvorkommen
nachhaltig zu entwickeln, indem sie eine bessere lokale Verwaltung und die
Verbreitung verantwortungsvoller Bergbaupraktiken unterstützt, was wie-
derum einen Mehrwert im Bergbausektor und Triebkräfte für die wirtschaft-
liche und soziale Entwicklung schafft.
4 EU testet strategische Partnerschaften mit Kanada
und der Ukraine
Im Februar 2021 veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung über einen
erneuerten Multilateralismus, der für das 21. Jahrhundert geeignet sei, in der
sie erklärte:
Um die gesamte multilaterale Szene zu verändern, brauchen wir eine neue
Generation von Partnerschaften. Die EU wird neue Allianzen mit Drittlän-
dern eingehen, die Zusammenarbeit mit multilateralen und regionalen Or-
ganisationen sowie mit anderen Beteiligten verstärken, insbesondere mit
denjenigen, mit denen sie demokratische Werte teilt, und sich je nach The-
ma um Berührungspunkte mit anderen bemühen. Sie wird die Partnerländer
dabei unterstützen, sich effektiver in das multilaterale System einzuschalten,
und für eine systematische Weiterverfolgung der bilateralen Verpflichtun-
gen mit Partnern zur Förderung multilateraler Ziele sorgen.
Im Juni/Juli 2021 unterzeichnete die EU ihre ersten strategischen Partnerschaf-
ten mit zwei Ländern: mit Kanada und mit der Ukraine. Die Partnerschaft
mit Kanada wurde im Rahmen des bilateralen Dialogs über Rohstoffe unter-
zeichnet, der durch das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-
Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement EU-Kanada, CETA)
eingeleitet wurde.9 Ziel ist es, »den Wert, die Sicherheit und die Nachhaltigkeit
des Handels und der Investitionen in widerstandsfähige Rohstoffe und nach-
folgende Wertschöpfungsketten zwischen Kanada und der EU zu fördern«. Es
umfasst drei Bereiche der Zusammenarbeit: (1) Inte gra tion der Rohstoff-Wert-
schöpfungsketten zwischen Kanada und EU; (2) Zusammenarbeit auf den Ge-
bieten von Wissenschaft, Technologie und Innovation; und (3) Umwelt-, Sozial-
9 Die EU und Kanada haben eine strategische Partnerschaft für Rohstoffe gegründet. In: ec.
europa.eu, https://ec.europa.eu/growth/news/eu-and-canada-set-strategic-partnership-
raw-materials-2021-06-21_en (21.06 . 2021).
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und Governance-Kriterien wie auch Standards.10 Beide Seiten erörterten auch
die Zusammenarbeit in den internationalen Foren (einschließlich des Beitritts
Kanadas zur trilateralen EU-US-Japan-Konferenz über kritische Materialien)
und die Fortschritte bei der Ausarbeitung von Normen der Internationalen Or-
ganisation für Normung (International Organization for Standardization, ISO)
für kritische Mineralien.
Die strategische Partnerschaft mit der Ukraine 11 umfasst einen Rahmenplan, in
dem folgende Aspekte behandelt werden:
a) Entwicklung einer CO2-armen Strategie und eines Rahmenplans zur Dekarbo-
nisierung der Rohstoffabbau, -gewinnung und -verarbeitung in der Ukraine;
b) Stärkung der nachhaltigen und verantwortungsvollen Beschaffung und Ver-
arbeitung von Rohstoffen und Batterien in der Ukraine durch die Einrichtung
von Veranstaltungen zum Kapazitätsaufbau für die öffentliche Verwaltung
und Schulungen für Unternehmen;
c) Digitalisierung und Verbesserung der Datenverwaltung der ukrainischen
Rohstoffvorkommen durch Einrichtung eines »Datenraums« – eines Spei-
chers mit digitalen geologischen Berichten – und Aufhebung und Neube-
wertung der Rohstoffreserven nach internationalen Normen;
d) Ausweitung des Gebrauchs von Erdbeobachtungsprogrammen und Fern-
erkundung zur Förderung der Erforschung neuer Vorkommen und zur Über-
wachung der Umweltverträglichkeit von Bergwerken während des Betriebs
und nach ihrer Schließung;
e) Ermittlung und Durchführung von Joint-Venture-Projekten für Industrie- und
Investitionsakteure aus der EU und der Ukraine unter Nutzung von Business
Investment Plattformen der europäischen Industrieallianzen.
10 Treffen im Rahmen des bilateralen Dialogs zu Rohstoffen. In: international.gc.ca, 21.06.2021,
https://www.international.gc.ca/trade-commerce/trade-agreements-accords-
commerciaux/agr-acc/ceta-aecg/2021-07-15-final-report-rapport-final.
aspx?lang=eng (21.06 .20 21).
11 EU und Ukraine starten strategische Partnerschaft im Bereich Rohstoffe. In: ec.europa.eu,
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_21_3633 (21.06.2021).
DOI: 10.13173/9783447120241.235
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244
5 Russlands Invasion in die Ukraine
und der neue Kontext für Rohstoffe
Laut dem von der Gemeinsamen Forschungsstelle erstellten Newsletter des
Rohstoffinformationssystems (Raw Material Information System Newsletter)
hat die russische Invasion erhebliche Auswirkungen auf die Versorgungssicher-
heit der EU. In ihrer Bewertung weist sie auf drei Konsequenzen hin:
a) Die Sanktionen, die sich auf die Finanzierung der russischen Bergbau- und
Metallindustrie und ihre Fähigkeit zur Einfuhr von Rohstoffen oder zur Aus-
fuhr von Endprodukten auswirken, werden wahrscheinlich zu einer Unter-
brechung der globalen und der EU-Lieferketten führen;
b) Die gezielten Ausfuhr-/Einfuhrbeschränkungen für bestimmte Rohstoffe im
Zusammenhang mit zusätzlichen Sanktionen der EU und/oder Gegenmaß-
nahmen aus Russland;
c) Der Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund von Versorgungsengpässen und
hohen Energiepreisen sowie die Unterbrechung der EU-Ausfuhren in die
am Krieg zwischen der Ukraine und Russland beteiligten Länder.
Laut Eurointelligence wird im Jahr 2022 das:
bloße Ausmaß und der Umfang des Preisanstiegs der Rohstoffe darauf hin-
deuten, dass wir eine neue Welt auf den Rohstoffmärkten betreten. Die Tage
der fröhlichen Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte sind vorbei (…).
Nach der Auffassung von Philippe Chalmin, Professor an der Universität
Dauphine, sind wir dabei, uns auf eine bipolare Welt einzustellen, mit libe-
ralen Demokratien und ihren freien Märkten auf der einen Seite und Auto-
kratien, die sich die Unterstützung anderer Länder durch Gefälligkeiten er-
kaufen, auf der anderen Seite.12
12 Eurointelligence Newsletter, 8.06.2022.
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245
6 Einschränkungen der Marktlösungen
Die Wirtschaftstheorie besagt, dass Märkte auch im Bereich der Rohstoffe unter
bestimmten Bedingungen die beste Verteilung der Ressourcen gewährleisten
können. Langfristig sollte der Preis ein Gleichgewicht zwischen Bedarf und
Nachfrage herstellen. Im Rohstoffbereich gibt es jedoch eine Reihe von Proble-
men, die Marktlösungen in Frage stellen.
Erstens geht es um die Frage der Preissignale im Zeitverlauf. Die Errichtung
eines Bergwerks dauert mehrere Jahre (10 bis 15), so dass es zu einer deutlichen
Verzögerung der Angebotssteigerung kommt, die sich aus höheren Rohstoff-
preisen ergeben würde. Investoren, die aufgrund hoher Preise neue Anlagen
(Bergwerke) errichten, könnten aufgrund mangelnder Koordination ein über-
mäßiges Angebot erzeugen. Diese Verzögerung zwischen Investition und Pro-
duktion birgt die Gefahr eines wirtschaftlichen »Schweinezyklus«-Problems,
bei dem Preissignale und Lieferverzögerungen den Markt in einem ständigen
Ungleichgewicht halten.
Zweitens können wir auch behaupten, dass wir angesichts des Klimawandels als
globales, gemeinsames Problem ein Interesse an einer vorausschauenden Steue-
rung der Märkte haben, damit sich die neuen Technologien, die Rohstoffe er-
fordern, schnell über den Globus verbreiten können (und so zur Begrenzung
der CO2-Emissionen beitragen). Laut der neuesten Veröffentlichung des Global
Systems Institute zum ema »positive Wendepunkte auf dem Weg zur globalen
Nachhaltigkeit« könnte die Rohstoff-Wertschöpfungskette im Zusammenhang
mit Elektrofahrzeugen einen erheblichen Wandel zur Erreichung der Klimaziele
bewirken.13
Drittens gibt es einige Anbieter auf dem Markt, die ihre führende Rolle miss-
brauchen wollen. Vergleichbar mit der Art und Weise, wie China 2010 die Liefe-
rung bestimmter Rohstoffe an Japan einstellte und damit wirtschaftlichen Druck
ausübte, können wir ein gewisses Interesse einiger wichtiger Beteiligter an der
Dominanz der Märkte erkennen.14 Das Europäische Institut für Sicherheitsstu-
dien hat 2020 ein hypothetisches Szenario vorgestellt, in dem China seine Liefe-
rungen an unerwünschte Handelspartner reduziert.15 Diese Ausgangslage zeigt
eindeutig, dass es in diesem Bereich keinen perfekten Wettbewerb mehr gibt.
13 Simon Sharpe, Timothy M. Lenton: Upward-scaling-Kippkaskaden zur Erreichung der
Klimaziele: plausible Gründe für Hoffnung, Klimapolitik, 21:4, London 2021, https://doi.
org/10.1080/ 14693062.2020. 1870097, S . 421-4 33 (21.06. 2021).
14 Guillaume Pitron: La guerre des métaux rares : La face cachée de la transition énergétique
et numérique, Paris 2019, S.144.
15 Florence Gaub (Hrsg.): What if. 14 Futures for the 2024, ISS, Switzerland 2020, S.67.
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246
Viertens besteht die Frage der sozialen Gerechtigkeit und des Umweltschutzes.
In vielen Fällen haben die Rohstofferzeuger den Anreiz, durch weniger stren-
ge Sicherheitsstandards, niedrigere Löhne oder fehlende Rücksichtnahme auf
Umweltbelastungen im Zusammenhang mit der Rohstoffgewinnung und -ver-
arbeitung ihre Kosten zu senken. Die Mitgliedstaaten der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic
Co-operation and Development, OECD) haben 2016 entsprechende Leitprin-
zipien veröffentlicht.16 Nach wie vor ist die diesbezügliche internationale Kon-
trolle verhältnismäßig gering (es gibt keine zentrale Behörde zur Durchsetzung
der Vorschriften) und der Wettkampf um die niedrigsten Preise ist für viele
Unternehmen nach wie vor eine attraktive Strategie.
7 USA schlagen Freundschaftsdienste vor,
um Sicherheitsrisiken zu vermindern
In ihrer Rede auf dem Brüsseler Wirtschaftsforum im Mai 2022 hat die ameri-
kanische Finanzministerin Jannet Yellen folgenden Ansatz vorgeschlagen:
Wir müssen die Ansätze modernisieren, die wir zum Aufbau der Handelsin-
tegration verwendet haben, um unsere gemeinsamen Grundwerte und
Grundsätze besser zu berücksichtigen und wirtschaftliche Sicherheit zu ge-
währleisten. Wir sind mittlerweile zu verwundbar für Länder, die ihre Markt-
position im Bereich der Rohstoffe, Technologien oder Produkte dazu nutzen,
einen geopolitischen Hebeleffekt auszuüben oder Märkte zu ihrem eigenen
Vorteil zu beeinflussen. […] Wir haben seit langem eine erhebliche Abhän-
gigkeit von China bei der Versorgung mit seltenen Erden akzeptiert. Diese
Rohstoffe und Werkstoffe sind für die Luftfahrt, die Fahr zeug pro duk tion, die
Herstellung von Batterien, die erneuerbaren Ener gie systeme und die Tech-
nologieherstellung von entscheidender Bedeutung. China ist verantwortlich
für 60Prozent des Abbaus seltener Erden und für fast 40Prozent der Roh-
stoffvorkommen, was dem Land einen geo stra te gi schen Vorteil ver leiht. […]
Obwohl viele dieser Rohstoffe auf der Erde im Überfluss vorhanden sind, ist
ihre Gewinnung kostspielig und in einigen Fällen auch umweltschädlich.
16 OECD-Leitlinien für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller
Lieferketten für Mineralien aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, https://www.oecd.org/
corporate/mne/mining.htm (21.06.2021).
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247
Ich schlage vor, dass wir die Auswirkungen dieser anderen Erwägungen
– nämlich die Konzentration, die geopolitischen Bedenken, die Sicherheits-
risiken und die Werte – angemessen berücksichtigen. Was die seltenen
Erden betrifft, so verfügen zahlreiche andere Länder über derartige Reser-
ven. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, dass sie mit Rücksicht auf
die Umwelt und andere Konsequenzen einen erhöhten Rohstoffabbau be-
treiben. Bei hochtechnologischen Produkten könnte es sinnvoll erscheinen,
zusätzliche Anreize für alternative Lieferketten zu schaffen – mit geringeren
Marktanteilen und mit vertrauenswürdigeren Ländern.
Ich bin der Ansicht, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir Anreize
für die Verlagerung von Lieferketten in eine größere Anzahl verlässlicher
Länder für eine Vielzahl von Produkten schaffen können, damit wir den
Marktzugang weiterhin sicher und mit geringeren Risiken für unsere Wirt-
schaft und die unserer Handelspartner erweitern können.17
Diese Aussage der amerikanischen Regierung ist eine Aufforderung an Europa,
gemeinsam zu handeln, steht aber weiterhin im Einklang mit dem Gedanken
der strukturellen Konkurrenz zwischen dem Westen und der aufstrebenden chi-
nesischen Macht. Dennoch ist dies nicht die einzige mögliche Lösung.
8 Eine Weltgemeinschaft für die Bewirtschaftung ausgewählter
Rohstoffe? Hacking John McClintock
Die Europäische Union und in ihrem Ursprung die Europäische Gemeinschaft
für Kohle und Stahl (EGKS) können als ein Beispiel für eine globale Zusam-
menarbeit betrachtet werden. In dem Buch Die Einheit der Nationen schlägt
John McClintock vor, schrittweise eine Weltgemeinschaft zu gründen, ähnlich
wie in den ursprünglichen sechs Ländern, die sich bereit erklärt haben, die Sou-
veränität in einem begrenzten Bereich wie Kohle und Stahl zu teilen.18
Eine solche globale Organisation würde technische Lösungen vorschlagen, die
»für alle Beteiligten politisch akzeptabel« wären. Er nennt folgende Grund-
sätze: stufenweise Einführung, Inklusion, freiwillige Mitgliedschaft und Bei-
trittsmöglichkeit für alle Nationen, die ihre Souveränität in dem betreffenden
Bereich teilen können und die Staaten außerhalb der Gemeinschaft nicht beein-
17 Ausführungen der Finanzministerin Janet L. Yellen auf dem Brüsseler Wirtschaftsforum,
17.05.2022, https://home.treasury.gov/news/press-releases/jy0788 (21.06.2022).
18 John McClintock: Die Einheit der Nationen: An Essay on Global Governance, P.I.E. Peter
Lang, USA 2010.
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248
trächtigen. Alle Staaten müssten sich in Regionen organisieren (ähnlich wie die
derzeitige EU), so dass sich die globale Gemeinschaft aus 15 bis 25 regionalen
Mitgliedern zusammensetzen würde.19 Die Staaten könnten zunächst einzeln
beitreten, müssten sich aber später mit anderen Nationen derselben Region zu-
sammenschließen, um eine einzige regionale Organisation zu bilden. Sie würde
gute Beziehungen zu allen Ländern anstreben, die noch nicht Mitglied sind,
könnte aber als Notlösung harte Maßnahmen wie die Einstellung des Handels
und der Zusammenarbeit ergreifen.
Am interessantesten erscheint am Vorschlag von McClintock die schrittweise
Vor gehensweise. Eine solche Gemeinschaft könnte von einer kleinen Gruppe
von Ländern ins Leben gerufen werden, z. B. nur mit der EU und Kanada. Ent-
scheidend für den Erfolg einer solchen Einrichtung ist eine klare Abgrenzung
des Tätigkeitsbereichs der Organisation und eine Gruppe von Pionieren, die
bereit sind, eine solche offene Einrichtung in die Wege zu leiten.
Wir können den Standpunkt vertreten, dass der Rohstoff bereich im Zusam-
menhang mit umweltfreundlichen Technologien alle Merkmale aufweist, die
der Beschreibung des globalen Bereichs entsprechen würden, der einer gemein-
samen Regulierung und Verwaltung bedarf. Die europäische Erfahrung zeigt,
dass bei sorgfältiger Vorbereitung durchaus geeignete Lösungen realisiert wer-
den können. Die bestehenden Partnerschaften mit Kanada und der Ukraine
könnten als möglicher Ausgangspunkt für eine Zusammenarbeit angesehen
werden. Was derzeit allerdings noch fehlt, ist eine eher strukturierte Vorstellung
von einer solchen Lösung.
9 Globale Allianz für Kreislaufwirtschaft
und Ressourceneffizienz– ein Vorläufer?
Im März 2020 schlug die Kommission in ihrem Aktionsplan für die Kreislauf-
wirtschaft ein globales Bündnis vor, um Wissenslücken und Steuerungslücken
bei der Förderung einer globalen Kreislaufwirtschaft zu ermitteln und Partner-
schaftsinitiativen voranzutreiben, die auch die wichtigsten Wirtschaftsmächte
einschließen. Die Globale Allianz für Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizi-
enz (Global Alliance on Circular Economy and Resource Efficiency, GACERE)
zielt darauf ab, Initiativen im Zusammenhang mit dem Übergang zur Kreislauf-
wirtschaft, Ressourceneffizienz und nachhaltigem Verbrauch und nachhaltiger
Produktion auf der Grundlage internationaler Bemühungen einen globalen Im-
19 Ebenda, S.193.
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249
puls zu geben. Die GACERE-Mitglieder haben sich darauf geeinigt, auf politi-
scher Ebene und in multilateralen Foren, insbesondere in der Generalversamm-
lung der Vereinten Nationen, der Umweltversammlung der Vereinten Nationen
und der G7/G20, zusammenzuarbeiten und sich dafür einzusetzen.20
Interessant für die GACERE-Initiative ist nicht nur ihr Ziel, sondern auch die
bisherige Mitgliederschaft. In Europa umfasst sie die EU, Norwegen und die
Schweiz. Kanada, Chile und Peru vertreten Amerika. Südafrika, Ruanda, Ma-
rokko, Kenia und Nigeria kommen aus dem afrikanischen Kontinent. Japan,
Indien und Südkorea repräsentieren Asien. Neuseeland vervollständigt dieses
Bild zusammen mit dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der
Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung.
Wäre es denkbar, das Bündnis in einen strukturierteren Rahmen zu verwandelt,
da das Ziel des Bündnisses mit der der Regelung der Ressourcenproblematik
im Einklang steht? Könnte sie als Vorläufer für die von John McClintock vor-
gesehene Art von Organisation angesehen werden? Ist es überhaupt möglich,
eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die optimale Struktur für regionale
Verbände innerhalb des Bündnisses aussehen könnte?
10 Experimente im internationalen Bereich:
Komplexität, Geschichten und Vektortheorie des Wandels
Ist es möglich, auf der internationalen Ebene Experimente durchzuführen? Im
historischen Rückblick kann man feststellen, dass der Versuch der EGKS weit-
gehend erfolgreich war, wenngleich der Römische Vertrag einige wesentliche
Änderungen im institutionellen Bereich mit sich brachte. Ist eine Verbindung
von Rohstoffen und Freundschaftsdiensten mit der Sorge um globale Güter wie
dem Klimaschutz vorstellbar? Ist es möglich, vor Beginn der Zusammenarbeit
Einblicke von den potenziellen Teilnehmern zu erhalten?
Laut Linda Doyle vom Cynefin Centre, die die »Vektor-eorie des Wandels«
erläutert, benötigen wir einen vierstufigen Ansatz, um komplexe Umgebungen
zu managen 21:
20 Global Alliance on Circular Economy and Resource Efficiency (GACERE). In: ec.europa.
eu, https://ec.europa.eu/environment/international_issues/gacere.html (21.06.2021).
21 Linda Doyle, Change & Complexity: Vektortheorie des Wandels, Cynefin Centre, 2022,
https://thecynefin.co/ vector-theory-of-change-explainer/ (21.06.2022).
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250
a) Wir sollten damit beginnen, den aktuellen »Bereitschaftszustand« des Sys-
tems zu erfassen, der uns sagt, wie das System derzeit zusammenhängt
und wie es sich wahrscheinlich verändern wird. Ein Ansatz hierfür wäre,
ein »menschliches Sensornetzwerk« zu errichten und dieses zu bitten, die
Veränderungen im System zu beschreiben, die sich z. B. durch die Pandemie
und die russische Invasion ergeben haben (erfahrungsbasiert);
b) Der nächste Schritt besteht darin, die gewünschte Richtung zu bestimmen
(in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der Gemeinschaft). Diese Rich-
tung ließe sich dadurch festlegen, indem man sich überlegt, was man in
der betreffenden Si tua tion vermehrt haben möchte, und dies dann weiter
vorantreibt. Dies könnte man herausfinden, indem man ein großes, vielfäl-
tiges Netzwerk von Menschen darüber befragt, welche Auswirkungen sie
bei dem Versuch sehen, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen (im
Gegensatz zu einem idealen Endzustand);
c) Anschließend sollten die potenziellen Mitglieder der Gemeinschaft in einen
Prozess der Mitgestaltung einbezogen werden, um darüber beraten, wie
die Gemeinschaft mehr Geschichten (oder Narrativdaten) erstellen kann,
wie diejenigen, die als positiv eingestuft wurden (und weniger von denen,
die als negativ empfunden werden). Dadurch liegt die Entscheidungsbefug-
nis in den Händen der Gemeinschaften, um die Richtung zu spezifizieren
und zu bestimmen, die sie einschlagen wollen, und Maßnahmen zu ent-
werfen, die in diese Richtung gehen (wobei sie offen für andere mögliche
Ergebnisse sind);
d) Um einen Kontext der Exploration zu schaffen, ist es unter anderem not-
wendig, sogenannte »safe-to-fail«-Sonden zu entwickeln. Kleine, einge-
schränkte Sonden, deren Ausfälle tolerierbar wären. Um Informationen
über den Erfolg oder Fehlschlag der Eingriffe zu sammeln, ist es erforder-
lich, eine kontinuierliche Überwachung und Rückkopplungsschleifen einzu-
führen, um den Bereitschaftszustand des Systems zu beobachten.
Können wir unter den gegenwärtigen Bedingungen ein funktionierendes Ex-
periment im Bereich der Rohstoffe für die Energiespeicherung durchführen?
Welches ist das ideale Forum, um einen solchen Vorschlag zu testen: das EU-
USA-Japan-Kanada-Australien Forum, OECD, WTO, GACERE oder ein an-
deres Forum? Oder sollten wir eher von der Basis ausgehend mit internatio nalen
Netzwerken wie der Europäischen Batterie-Allianz beginnen (eine Zusammen-
arbeit von 750 Teilnehmern, die die gesamte Batterie-Wertschöpfungskette ab-
deckt)? Wie wichtig sollte der demokratische Charakter der beteiligten Län-
der sein (schon aus dem Grund, um eine neutrale Informationssammlung und
Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten)? China scheint der große Elefant in die-
sem Raum zu sein.
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251
Eine weitere Variable, die gleichzeitig entwickelt werden sollte, ist der Umfang
der Zusammenarbeit, der auch von den zusammenarbeitenden Parteien abhän-
gen wird. Die gemeinsam zu verwaltenden Bereiche müssten zwar beschränkt
sein, aber dennoch sollte es sich lohnen, eine Zusammenarbeit aufzubauen. Aus-
gehend von den gemeinsamen Elementen der EU-Partnerschaften mit Kanada
und der Ukraine könnte der Schwerpunkt auf den Standards für die Sorgfalts-
pflicht beim Abbau, der Gewinnung und der Verarbeitung von Rohstoffen lie-
gen. Sollte sie auch die Frage der Preisstabilisierung umfassen, damit die Wert-
schöpfungskette für Batterien das Versprechen zur Dekarbonisierung erfüllen
kann? Welche Bedingungen sollten für eine solche Zusammenarbeit gelten?
Wie sollte der optimale Verlauf einer solchen Vereinbarung aussehen? Sollten
wir mit der Suche nach Vorkommen und Regeln im Bergbau beginnen, wie im
Abkommen mit Kanada und der Ukraine von 2021 vorgesehen, oder mit der
Erkundung des Bereichs für ein Abkommen mit großen Produzenten wie Chile
oder der Demokratischen Republik Kongo (DRK)? Bedarf es eines Gemein-
schaftskonzepts (à la Immanuel Kant und seiner Abhandlung Zum ewigen Frie-
den) oder sollten wir uns an den kaufmännischen Rahmen von Locke halten?
Dabei ist es besonders wichtig, über das postkoloniale Narrativ hinauszugehen.
Und schließlich, können wir auf der Grundlage des Managements dieser
Schlüs selrohstoffe und ihrer Rolle bei der Vermeidung einer Klimakatastrophe
eine subglobale Gemeinschaft schaffen, die sich mit dem gerechten (und sogar
um verteilenden) Management der Wertschöpfungskette beschäftigt?
Sollten angesichts eines globalen Problems und der geringen Erfolgserlebnisse
bei der Lösung der Herausforderung der CO2-Reduktion andere Teilnehmer des
globalen Systems, vor allem Sozial- und Umweltorganisationen, in die Diskus-
sion einbezogen werden? Oder würde die Ausweitung einer solchen Diskussion
bestimmte Staaten, die eifersüchtig die diplomatischen Kanäle bewachen, auf
natürliche Weise ausschließen?
Wie kann eine Struktur geschaffen werden, die eine ausreichende Berechenbar-
keit für die Versorgung mit Rohstoffen und Technologien bietet, ohne dabei
die Innovation zu beschränken? Beispielsweise kann sich die Zusammensetzung
von Batterien im Einklang mit neuen Informationen und Innovationen im Be-
reich der Technologien ändern (ein aktuelles Beispiel: Tesla änderte seine Tech-
nologie, um Kobalt aus neuen Batterien zu entfernen).22 Diese anspruchsvollen
Fragen erfordern ein stufenweises Vorgehen bei der Entwicklung und Erpro-
bung von Ideen gemeinsam mit einer immer breiteren Gruppe von Experten
und Praktikern.
22 Fred Lambert: Tesla is already using cobalt-free LFP batteries in half of its new cars pro-
duced. In: electrek.co, 22.04.2022, https://electrek.co/2022/04/22/tesla-using-
cobalt-free-lfp-batteries-in-half-new-cars-produced/ (2.06.2022).
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252
11 Europas einzigartige Position zum Anstoßen
eines Systemwandels
Es stellt sich die Frage, warum Europa eine besondere Verantwortung für die
Einleitung einer solchen Zusammenarbeit trägt. Erstens, da die Zusammenar-
beit und die Friedensbemühungen in ihrer DNA enthalten sind. Das eigentliche
Wesen des Schuman-Vorschlags bestand darin, einen Wettbewerb um Rohstof-
fe, der einen künftigen Krieg auslösen könnte, zu vermeiden. Zweitens verfügt
Europa über das nötige Ansehen und den Einfluss, um einen Systemwandel
anzustoßen. Gemäß dem kürzlich veröffentlichten Internationalen Kompass für
den Systemwandel ist Europa die Region mit der höchsten Importabhängigkeit
auf dem Planeten (wenn man Produktion und Verbrauch aller Materialien ein-
schließlich Biomasse, fossiler Brennstoffe und Mineralien vergleicht).23 Europa
ist besonders stark von Importen abhängig, die für die Gestaltung der für den
umweltfreundlichen Wandel erforderlichen Infrastruktur notwendig sind.
Den Autor:innen des Berichts zufolge ist »die EU zwar befugt, als Katalysator
für den Systemwandel zu fungieren, doch werden Staaten wahrscheinlich zu-
rückdrängen, und viele in der EU selbst werden politische Einwände haben.
Dennoch ist es von entscheidender Bedeutung, dass die EU ihre internationale
Verantwortung als Vorreiter übernimmt und mit denjenigen zusammenarbeitet,
die sich einer solchen Verschiebung im globalen Regierungssystem widerset-
zen«.24 Die Autor:innen befürworten die folgenden Maßnahmen:
a) Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen auf internationaler Ebene durch
Förderung der Verantwortlichkeit multinationaler Unternehmen für die Ein-
hal tung von Umwelt- und Sozialstandards entlang der Wertschöpfungsketten;
b) Einführung eines gemeinsamen Verständnisses und gemeinsamer Ziele in
Bezug auf die globale Nutzung von Ressourcen und die gerechte Vertei-
lung der Gewinne;
c) Bereitstellung von einheitlichen, hochwertigen Daten über die Nutzung von
Ressourcen und deren Auswirkungen;
d) Handelsabkommen, die eine wirtschaftliche Vielfalt in Ländern mit niedri-
gem Einkommen ermöglichen;
e) Berücksichtigung der Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen
bei der Formulierung der langfristigen Auswirkungen.
23 Kompass für internationale Systemänderungen. Die globalen Auswirkungen der Verwirk-
lichung des europäischen Grünen Deals, Mai 2022, https://www.systemiq.earth/wp-
content/uploads/2022/05/International-System-Change-Compass-main-report.pdf
(2.06.2022).
24 Ebenda, S.121.
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253
Um die übergeordneten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, sollte Europa Tech-
nologietransfers, Amnestien für geistiges Eigentum 25 und eine gerechte Beteili-
gung an der Wertschöpfung in der gesamten Wertschöpfungskette einbeziehen.
Die Autor:innen schlagen das Konzept einer »Koopkurrenz« (von engl. Coope-
tition) vor, bei dem die Vorteile von Wettbewerb (competition) und Zusammen-
arbeit (cooperation) miteinander kombiniert werden.
Schließlich würde Europa durch die Förderung der weltweiten partnerschaft-
lichen Zusammenarbeit ihr internationales Umfeld verbessern und damit die
Spannungen abbauen, die im Kampf um begrenzte Ressourcen naturgemäß
auftreten. Europa könnte das System von einem Hobbes’schen zu einem eher
Locke’schen Weltsystem verändern.26 Wie in einem der Szenarien des Berichts
Global Trends 2040 dargestellt,
könnte die EU in Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern die Gründung
einer neuen internationalen Organisation in Gang setzen, deren Schwer-
punkt auf den transnationalen Sicherheitsherausforderungen des 21. Jahr-
hunderts liegt.27
12 Lehren aus der Ostrom-Studie
zum Umgang mit Gemeinschaftsgütern 28
Im Rahmen der Untersuchungen zur Ausgestaltung des Systems muss versucht
werden, herauszufinden, welche Form von Gemeinschaftsgütern ins Auge ge-
fasst werden könnte, wer Mitglied der Gruppe sein sollte, wie ihr Verhalten
überwacht werden kann und welche Art von Sanktionen gegen Regelbrecher
gelten würden. Diese Auffassung basiert auf der umfangreichen Arbeit der No-
25 Amnestie für geistiges Eigentum bedeutet, dass einige derzeit kodifizierte Rechte (Patente
usw.), die den Transfer bestimmter Technologien behindern, in bestimmten Fällen nicht ange-
wendet werden sollten (Beispiel: Patente und Technologie für Covid-Impfstoffe usw.). Dies
ist daher eine Amnestie im Sinne eines Verzichts auf Rechte an geistigem Eigentum in be-
stimmten Fällen. Vgl. Global Health Summit: Leaders must waive intellectual property rights
and push ph arma companies t o share life-sa ving technolo gy, Press Rel ease, 20 May 2021,
https://www.amnesty.org/en/latest/press-release/2021/05/global-health-summit-
leaders-must-waive-intellectual-property-rights-and-push-pharma-companies-to-share-
life-saving-technology/, S. 1 (23.03.2023).
26 Alexander Wendt: Social Theory of International Politics, Cambridge 1999.
27 Globale Trends 2040. Eine konfliktreichere Welt, National Intelligence Council, März
2021.
28 Jay Walljasper: Elinor Ostrom’s 8 Principles for Managing A Commmons. In: onthecom-
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254
belpreisträgerin Elinor Ostrom, die eine eorie aufgestellt hat, wie Gemein-
schaftsgüter in einer Gemeinschaft nachhaltig und gerecht verwaltet werden
können:
1) Bestimmen eindeutiger Gruppengrenzen;
2) Anpassen der Vorschriften für die Verwendung von Gemeinschaftsgütern
an die lokalen Bedürfnisse und Bedingungen;
3) Sicherstellen, dass die von den Regeln Betroffenen an der Änderung der
Regeln mitwirken können;
4) Sicherstellen, dass die Rechtsetzungsrechte der Mitglieder der Gemein-
schaft von externen Behörden geachtet werden;
5) Entwickeln eines von den Mitgliedern der Gemeinschaft betriebenen Sys-
tems zur Verhaltensüberwachung der Mitglieder;
6) Anwenden abgestufter Sanktionen für Regelverstöße;
7) Bereitstellen zugänglicher, kostengünstiger Mittel zur Streitbeilegung;
8) Aufbau von Verantwortung für die Verwaltung der gemeinsamen Ressource
in geschachtelten Ebenen von der untersten Ebene bis zum gesamten Ver-
bundsystem.
13 Bronislaw Geremek: Solidarität und Fairness
Professor Geremek wurde von dem dramatischen Paradoxon erschüttert, dass
»in dem Moment, in dem sich die Welt so schnell entwickelt, in dem neue Tech-
nologien entstehen, die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten immer
größer wird«.29
Angesichts der geografischen Verteilung der natürlichen Ressourcen, die für
den ökologischen Wandel benötigt werden, muss die Frage der »absichtlichen
Umverteilung« der Einnahmen aus den neuen Batterietechnologien von Beginn
an in Betracht gezogen werden. Um das Etikett des Neokolonialismus (west-
liche Demokratien, die ihre prosperierende Zukunft sichern wollen) zu vermei-
den, muss ein inklusives Umfeld geschaffen werden, in dessen Mittelpunkt der
Nord-Süd-Pakt steht. Deshalb sollten die potenziellen großen Lithiumprodu-
zenten (Chile, Argentinien und Bolivien) und diejenigen mit den größten Ko-
baltreserven (DRK, Zentralafrikanische Republik und Sambia) in die ersten
Verhandlungen einbezogen werden.
mons.org, 2.10.2011, https://www.onthecommons.org/magazine/elinor-ostroms-8-
principles-managing-commmons (21.06.2022).
29 Głażewski: Profesor to nie obelga, S.158.
DOI: 10.13173/9783447120241.235
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255
Die weltweite »Solidarität«, die Professor Geremek so sehr am Herzen lag, sollte
wahrscheinlich auch auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen ange-
wandt werden. Deshalb sollten inklusive Veranstaltungsformate, die auch junge
Menschen mit in die Diskussionen und Verhandlungen einbinden, gefördert
werden. Wenn man den Worten von Professor Geremek Glauben schenkt, ist
das wichtigste Prinzip jedoch weiterhin der Realismus und die Umsetzung von
Visionen und Träumen in politische Projekte.
Wie wirkt sich die fortdauernde russische Invasion der Ukraine auf das Poten-
zial für eine globale Zusammenarbeit aus? Während wir aus Fukuyamas Traum
aufzuwachen scheinen, haben wir uns in der Welt der Hobbes’schen Anarchie
wiedergefunden? Oder vielleicht sind wir uns doch der globalen Verwicklungen,
der Handelsverbindungen und der Bedrohung durch den Klimawandel stärker
bewusst geworden?
In diesem Zusammenhang klingt Schumans Formulierung – »Der Friede in der
Welt kann nur dann erhalten werden, wenn kreative Anstrengungen unternom-
men werden, die den Gefahren, die ihn bedrohen, angemessen sind« – wie die
Forderung nach neuem Handeln. Professor Geremek und Madeleine Albright
wollten mit ihrer Idee der »Community of Democracies« experimentieren und
einen neuen Rahmen schaffen, der über das realistische Paradigma hinausgeht,
in dem ein souveränes, staatszentriertes System zum Wettbewerb verpflichtet ist.
Die Energiewende und die Rohstoffe, die für eine positive Kettenreaktion benö-
tigt werden, scheinen ein gutes Gebiet für die Suche nach Zusammenarbeit ab-
zugeben, insbesondere im Bereich der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit
ihrer Beschaffung. Im Geiste der mittelalterlichen Geschichte, die Bronislaw
Geremek gelehrt hat, wie man in die Zukunft blicken sollte, könnten wir auch
den Geist des Schuman-Plans wieder aufleben lassen und einen neuen globalen
Pakt in einem weltweit entscheidenden Bereich anstoßen. In schwierigen Zeiten
müssen wir unsere Annahmen infrage stellen und offene Wege für intellektuelle
und praktische Experimente finden. Der in diesem Artikel dargestellte Kontext
zeigt, dass das System möglicherweise bereit ist umzukippen.
Aus dem Englischen von Maciej Kremer
DOI: 10.13173/9783447120241.235
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Migration und Sicherheit in der Europäischen Union
in Krisenzeiten: Die Dynamik der
Versicherheitlichung menschlicher Mobilität
im politischen Denken von Bronisław Geremek
Maciej Stępka, Jagiellonen-Universität in Krakau
Migration and security in the European Union in times of crises:
The dynamics of securitisation of human mobility in the political thought
of Bronisław Geremek
In this text, the securitisation of migration in the European Union, which has
become one of the most important themes in academic and political debates
in recent years, is juxtaposed with Bronisław Geremek’s values and views on
security, migration and border protection. Bronisław Geremek strongly be-
lieved in a liberal international order, human security, solidarity and the need
to protect refugees and protecting borders without erecting walls and barriers
to mobility. The analysis shows that the policy and discourse of the European
Commission has largely diverged from the views propounded by Geremek,
focusing mainly on security at the expense of mobility, humanitarianism and
responsibility for refugees. The text also identifies some positive aspects in the
development of the EU’s approach to migration, primarily related to the re-
ception of refugees from Ukraine, which could represent an opportunity to
develop a more humane approach to migration and asylum in the EU.
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259
1 Einleitung
Bronisław Geremek war eine der wichtigsten Persönlichkeiten, die den polni-
schen Weg in die Europäische Union und die NATO gestalteten. Als Intel-
lektueller, demokratischer Oppositioneller und später als Politiker und Außen-
minister der Republik Polen (in den Jahren 1997–2000) bemühte er sich, den
polnischen und europäischen politischen Diskurs zu beeinflussen, indem er die
für Ideen des Humanitarismus, des demokratischen Liberalismus und der Ach-
tung der Menschenwürde warb.1 Die Äußerungen Geremeks betrafen häufig
die Notwendigkeit des Schutzes fundamentaler Menschenrechte und humanis-
tischer Werte, den Aufbau eines universalen internationalen Systems, das sich
auf Frieden und Solidarität mit den am meisten Notleidenden stützen würde.2
Geremek glaubte an eine europäische Identität, und in den universellen euro-
päischen und integrativen Werten suchte er die Verwirklichung des großen Frie-
dens- und Wohlstandsprojekts der europäischen Staaten.
In einer Zeit zunehmender Radikalisierung des politischen Diskurses, des Po-
pulismus und der Demagogie, der Krise des Rechtsstaats und der europäischen
Demokratie, scheinen die Ansichten Bronisław Geremeks weit von der Realität
entfernt, vielleicht sogar idealistisch zu sein. Blickt man auf die jüngsten Ereig-
nisse in Europa und in der Welt, dann wird man gewahr, wie eine wachsende
Zahl von Bewegungen und politischen Parteien ihre Stärke und Unterstützung
auf dem Grunde quasi stammeseigener und ethnozentrischer Ressentiments ab-
stützen, die eine Politik der Angst vor Ausländern und vor allem, was fremd und
unbekannt ist, stärken.3 Es ist unverkennbar der Diskurs zu Migration und
Sicherheit, der zu einem Prüfstein sui generis für den Zustand der Gesellschaft
und der demokratischen Institutionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Gemeinschaft geworden ist. Während der »Migrationskrise« in den Jahren
2015/2016 zeigten die Frage der Flüchtlingsbetreuung, der sog. Relokations-
mechanismus und die Hilfe für die EU-Staaten, die mit dem Zustrom von Im-
migranten kämpften, die Schwäche der Solidarität und der europäischen Werte,
an die Geremek so fest geglaubt hatte. Das Problem der Radikalisierung des
Diskurses und der sog. Versicherheitlichung der Migration hält sich bis heute
auf der nationalen Ebene der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie auch
auf der transnationalen Ebene, auf der die EU zu einem wesentlichen politi-
1 Jacek Głażewski: Uwagi o myśli politycznej Bronisława Geremka. In: annaleS univerSitatiS
PaeDaGoGicae cracovienSiS. StuDia PolitoloGica 14 (2015), H. 181, S. 28–37.
2 Vgl. Geremek: Głos w Europie, S. 35–95.
3 Ruth Wodak: The Politics of Fear. The Shameless Normalization of Far-Right Discourse,
London 2021.
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260
schen Akteur geworden ist, der Anteil an der Idee der »Festung Europa« hat, mit
anderen Worten an einer europäischen Gemeinschaft, die, abgeschlossen und
stark bewacht, in Unsicherheit vor Neuankömmlingen lebt.
Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Bestimmung der aktuellen Richtun-
gen der Migrationspolitik und des Schutzes der EU-Grenzen sowie ihr Vergleich
mit den Werten und Prämissen, für die Geremek geworben hatte. Zu diesem
Zweck konzentriert sich der Autor der Analyse auf den Diskurs der Europäi-
schen Kommission, der in den alljährlichen Reden der Präsident:innen der
Kommission über den »Stand der Union« zum Ausdruck kam, wie sie in den
Jahren 2017–2022 veröffentlicht wurden. In einer breiteren Perspektive erlaubt
dies die Darstellung und Erörterung des Herangehens der EU an Migration
und Sicherheit nach der »Migrationskrise« in den Jahren 2015/2016 und das
Sichtbarmachen bestimmter Logiken, aus denen sich diese Herangehensweise
zusammensetzt.
Die in diesem Beitrag vorgestellte Analyse wurde in Anlehnung an die Ver-
sicherheitlichungstheorie und die Methode der »Versicherheitlichung als Rah-
mungsprozess« durchgeführt. Versicherheitlichung wird hier in der diskursiven
Fassung verstanden, wie sie von der sog. Kopenhagener Schule propagiert wur-
de. Es handelt sich um einen Prozess der Konstruktion von Sicherheit durch das
diskursive Verweisen auf Akteure oder Phänomene, die eine existenzielle Be-
drohung darstellen, und in der Konsequenz die Einführung außergewöhnlicher
Sicherheitsmittel, die jene Bedrohung zu beseitigen vermögen.4 Die Methode
der »Versicherheitlichung als Rahmungsprozess« wiederum konzentriert sich auf
die Bestimmung von Fragen und narrativen Rahmen, die von einem konkreten
Versicherheitlichungsakteur propagiert werden, und von konkreten Sicherheits-
logiken, die jene Rahmen konstituieren. Logiken werden hier als bestimmte dis-
kursive Manifestationen einer bestimmten Definition der Sicherheit verstanden,
wie sie in konkreten grammatischen Prinzipien und Sicherheitsmaßnahmen
zum Ausdruck kommen.5 Sie spiegeln die Art und Weise, wie ein Akteur die
Bedrohung definiert und beschreibt, sowie die Objekte, die Schutz erfordern,
wie auch die Abhilfemittel, die für die Beseitigung oder die Eindämmung der
gezeigten Gefahren unabdingbar sind. In diesem Verständnis kann sich eine
Sicherheitslogik beispielsweise auf das Prinzip der Sicherheit des Einzelnen und
des Humanitarismus, des Risikomanagements oder des Militarismus stützen.6
4 Barry Buzan, Ole Waever, Peter de Wilde: Security. A New Framework for Analysis, Boul-
der 1998, S. 26.
5 Maciej Stępka: Identifying Security Logics in the EU Policy Discourse. The »Migration Cri-
sis« and the EU, Cham 2022, S. 40.
6 Thierry Balzacq (Hrsg.): Contesting Security. Strategies and Logics, London – New York
2015.
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Meistens durchdringen sich alle erwähnten Logiken oder ihre Reflexe oder
Mischungen im Prozess der Konstruktion von Sicherheit und der kollektiven
Kreierung von Bedrohungen. Sie schaffen Interpretationshybride, die den Kom-
plexitätsgrad der Sicherheitspolitiken und -diskurse zeigen.7
Der vorliegende Beitrag besteht im Weiteren aus drei Abschnitten und Schluss-
bemerkungen. Der erste Abschnitt ist dem Blick Geremeks auf das ema Si-
cherheit, Migration und Grenzschutz gewidmet. Dieses Vorgehen ermöglicht
eine synthetische Darstellung seiner Ansichten in Bezug auf die Versicherheitli-
chung menschlicher Mobilität und der Grenzen der EU, was die Grundlage für
eine weitere Analyse darstellen wird. Im folgenden Abschnitt werden die Haupt-
richtungen und Versicherheitlichungslogiken der EU im Hinblick auf Migra-
tion bis zum Jahr 2016 dargestellt. Der nächste Abschnitt wird der inhaltlichen
Analyse der Reden zur »Lage der Union« zwischen 2017 und 2022 gewidmet.
Die Schlussfolgerungen werden eine Diskussion darstellen, auf welche Weise der
analysierte Diskurs zum ema Migration und Sicherheit in der EU sich mit
den Ansichten Geremeks deckt.
2 Bronisław Geremek – Sicherheit, Migration und Schutz
Wenn sich Sicherheitsfragen auch wie ein roter Faden durch die Äußerungen
Geremeks zogen, sind Migration und Grenzschutz weniger bekannte, wenn-
gleich nicht weniger bedeutsame Fragen in seinem Diskurs. Dieser Abschnitt
konzentriert sich auf eine synthetische Darstellung der Auffassungen Geremeks
zu Fragen der Sicherheit, der Migration und des Grenzschutzes, was den Be-
zugspunkt für die weitere Diskussion darstellen wird.
Geremeks Auffassung zum ema Sicherheit, internationale Ordnung und
Migration kann man als liberal zusammenfassen. Er war ein Befürworter
starker internationaler Institutionen die über Ordnung, internationale Sicher-
heit und Menschenrechte wachen sollten.8. Für Geremek konnte ein sicherer
Staat vor allem in einer sicheren Gemeinschaft demokratischer Staaten funk-
tionieren, die für allgemeinen Wohlstand arbeiten und die Bürgerrechte und
-freiheiten achten. Gleichzeitig war er sich der neuen Welle von Veränderungen
im Sicherheitsdenken bewusst, die von der staatszentrierten Perspektive abwich.
Er vertrat die Meinung, dass
7 Stępka: Identifying Security, S. 54.
8 Geremek: Nasza Europa, S. 55–71.
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262
die gegenwärtige Ökonomie und Kultur sich durch immer schnellere Ver-
änderungen kennzeichnet; Migrationen überwinden Barrieren und Gren-
zen, gesellschaftliche, ethnische und kulturelle Ausgrenzung werden immer
weniger akzeptiert, der Kampf gegen Armut und Not wird zu einem natür-
lichen Bestandteil der Politik der ›menschlichen Sicherheit‹ aufgrund der-
selben Rechte wie bei der Prävention militärischer Konflikte oder der Stö-
rung der öffentlichen Ordnung.9
Somit war Geremek ein Befürworter eines holistischen Ansatzes in Bezug auf
die Sicherheit des Menschen, der Ausdruck in der bereits erwähnten Idee der
»Sicherheit des Einzelnen« (human security) fand. Im weiteren Sinne wird die
Sicher heit des Einzelnen in den Kategorien »Freiheit von Angst« (freedom from
fear), »Freiheit von Mangel« (freedom from want), der Naturrechte und des
Rechts staats bestimmt.10 Der Mensch ist hier der grundlegende Bezugspunkt,
und sein Recht auf Leben und Streben nach Glück sollten seitens des Staates
und der internationalen Gemeinschaft unterstützt und geschützt werden. Diese
Denk weise deckt sich mit der Idee des internationalen Humanitarismus, der in
An lehnung an das internationale Recht und die Gemeinschaft der demokrati-
schen Staaten die Probleme von »Kriegen und bewaffneten Konflikten, von Men-
schenrechtsverletzungen, Armut, schweren Krankheiten, sozialer Ausgrenzung
oder Migration« bekämpfen sollte«.11 Wie Geremek feststellte, kann und sollte
»eben in diesem holistischen Herangehen an das Problem der internatio nalen
Sicherheit Europa eine führende Rolle spielen – mit Sicherheit bei der Inspi ration
internationaler Maßnahmen, aber vielleicht auch in der Rolle einer Leitfigur«.12
Für Geremek sollte das Wesen des Sicherheitsmanagements und der Aufrecht-
erhaltung einer friedlichen Koexistenz die Sorge für Schwächere und Ärmere
sein.13 In diesem Kontext glaubte Geremek fest an das Solidaritätsprinzip, das in
seinem Verständnis »eine der Grundlagen des Funktionierens der Europäischen
Union als Gemeinschaft ist«.14 Das Element der Solidarität und Sorge sollte in
der Europäischen Union sowohl nach innen, vor allem im Kontext von Projek-
ten und Entwicklungspolitiken, die auf die neuen Mitgliedstaaten und die Bei-
trittskandidaten ausgerichtet waren, als auch nach außen zielen – im Hinblick
auf internationale Verpflichtungen gegenüber Verfolgten, Flüchtlingen und Re-
9 Ebenda, S. 53.
10 Fen Osler Hampson: Bezpieczeństwo jednostki. In: Paul D. Williams (Hrsg.): Studia bez-
pieczeństwa, Kraków 2012, S. 225–240.
11 Geremek: Nasza Europa, S. 42.
12 Ebenda, S. 43.
13 Ebenda.
14 Ebenda.
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263
gionen, in denen Krieg und Armut herrschen.15 Als Außenminister der Republik
Polen sprach sich Geremek stets für Humanitarismus und die Notwendigkeit
eines solidarischen Schutzes der Opfer von Völkermord und ethnischen Säube-
rungen auf dem Balkan aus. Wie er in einer der Parlamentsdebatten im Sejm
hervorhob, haben »Albaner und Serben, die bis zum Beginn der antialbanischen
›ethnischen Säuberungen‹ im Kosovo lebten, das Recht auf einen entsprechen-
den, wirksamen Schutz« 16.
Fragen der Migration waren bei Geremek stark mit dem Bedürfnis verbunden,
eine Balance zwischen dem Schutz der Grenzen und der Erhaltung von Mobilität
im Rahmen der Innen- und Außengrenzen der Europäischen Union zu finden.
Der erste Punkt in seinen Überlegungen war das Problem eines alternden Euro-
pas und der Förderung einer legalen, inklusiven und offenen Migrationspolitik
als rationale Lösung für die Mitgliedstaaten der gesamten Union. Ihm zufolge
hat Europa angesichts der demographischen Veränderungen bisher keine
wirksamen Instrumente für eine Trendumkehr gefunden und muss mit der
Notwendigkeit der Kompensation von Verlusten durch Immigration von
außerhalb Europas rechnen. Das verleiht der in der europäischen Zivilisa-
tion traditionellen Fähigkeit, neue kulturelle Erbschaften und Multikulturalität
zu absorbieren oder auch – wie Umberto Eco sagt – der Akzeptanz von
Durchmischung als kreativer Kraft eine neue Dynamik. Europa muss auf
positive Weise die Herausforderung des amerikanischen Erfolgs anneh-
men, sowohl auf dem Gebiet der Wirtschaftsinnovation und der Entwick-
lung von Hochtechnologien als auch auf dem Gebiet des Zusammenlebens
von Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und Mentalitäten. Nicht
nur für Europa selbst ist dies notwendig, sondern auch für die Welt.17
Gleichzeitig fürchtete sich Geremek vor einer neuen Welle von Xenophobie,
Rassismus, Populismus und Demagogie, die in einer Zeit des Zustroms von
Ausländern unter den einheimischen Europäern an Popularität gewinnen konn-
ten. Er schrieb dazu: »Verächtliche und hasserfüllte Haltungen gegenüber Im-
migranten in einer Zivilisation, die dereinst für Offenheit und Gastfreundschaft
bekannt war – aus der sie ihre Dynamik zu schöpfen pflegte – können nur be-
unruhigen«.18 Deshalb war er ein Fürsprecher der Förderung der Europäischen
15 Eb enda, S. 43–46.
16 Sejm Rzeczpospolitej Polskiej: Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława
Geremka opodstawowych kierunkach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie na
forum Sejmu RP wdniu 8 kwietnia 1999 roku. In: sejm.gov.pl, http://orka2.sejm.gov.pl/
Debata3.nsf/main/0078DB0D (2.09.2022).
17 Geremek: Nasza Europa, S. 44.
18 Ebenda, S. 53.
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264
Union als »offene Gesellschaft« im Gegensatz zu einer »Stammesgesellschaft«,
die sich mit einem »ethnozentrischen Fundamentalismus deckt, der sich auf
Egoismus stützt, ja manchmal sogar auf Hass gegen den Mitmenschen«.19
In den Äußerungen Geremeks verflicht sich das Element der Migrationspolitik
mit dem Konzept der Sicherheit und des Grenzschutzes. Für Geremek war die
Kontrolle von Grenzen unter dem Gesichtspunkt der Staatsverwaltung etwas
Natürliches. Seiner Ansicht nach sollte jedoch die Grenze an sich keine Barriere
für Prozesse wie Migration oder Handels- und Kulturaustausch darstellen, die
unter dem Gesichtspunkt des Funktionierens des Staates wesentlich sind. Gere-
mek gab deutlich zu verstehen, dass »in jedem demokratischen und geordneten
Staat die Grenze unter Kontrolle sein soll. Man muss hingegen alles tun, damit
diese Grenze für die einen und die anderen leicht passierbar ist«.20 Im Kontext
des polnischen Beitritts zur EU und der Gestalt der Migrationspolitik nach dem
Beitritt sowie des Schutzes der EU-Grenzen blieb der Standpunkt Geremeks
kohärent. So betonte er während einer der Debatten im Sejm: »Die Intention
unserer Arbeiten ist es, dass die polnischen Grenzen kontrolliert werden, aber
dass die polnischen Grenzen nicht zu einer geschlossenen Mauer werden. Wir
wollen Grenzkontrollen, wir wollen keine geschlossenen Grenzen«.21 Gleich-
zeitig war sich Geremek als Außenminister der nach dem Beitritt eintretenden
negativen Folgen der Infrastrukturstärkung der polnischen Ostgrenze bewusst.
Deshalb rief er zu einer dauernden »Analyse der politischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Folgen nach der Einführung des neuen Kontrollsystems
an der Ostgrenze« 22 auf.
Diese kurze Darstellung lässt einen vergleichsweise stimmigen Standpunkt in
Bezug auf Sicherheit, Migration und Grenzschutz erkennen. Geremek glaub-
te an die Idee der Demokratie, der Menschenrechte und des Humanismus. Es
war eine Mischung von Sicherheitslogiken, die ihm vorschwebte, wenn er sich
zum ema Flüchtlinge, internationale Verantwortung, aber auch Solidarität
äußerte. Hier werden Elemente der Sicherheit deutlich, die sich auf internatio-
nale Verpflichtungen, Hilfe und Sorge für die Opfer von Armut und Konflikten
19 Ebenda.
20 Vgl. Sejm Rzeczpospolitej Polskiej: Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława
Geremka opodstawow ych kierunkach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie na forum
Sejmu RP wdniu 5 marca 1998 roku. In: sejm.gov.pl, http://orka2.sejm.gov.pl/Debata3.nsf/
main/4DAE95D 1 (2.09.2022).
21 Vgl. Sejm Rzeczpospolitej Polskiej: Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława
Geremka opodstawowych kierunkach polityki zagranicznej Polski. Przemówienie na
forum Sejmu RP wdniu 8 kwietnia 1999 roku In: sejm.gov.pl, http://orka2.sejm.gov.pl/
Debata3.nsf/main/0078DB0D (2.09.2022).
22 Vgl. Sejm Rzeczpospolitej Polskiej: Informacja ministra spraw zagranicznych Bronisława
Geremka opodstawowych kierunkach polityki zagranicznej Polski (2.09.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.257
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stützt. Unter diesem Blickwinkel war Geremek ein Befürworter einer humani-
tären und offenen Migrations- und Asylpolitik, die sich auf die weitestgehen-
den Möglichkeiten legaler Mobilität innerhalb der Europäischen Union und
in die Europäische Union konzentrierte. In seinen Äußerungen war die Grenze
ein Element, das Kontrolle verlangte, aber keine unüberwindbare Barriere oder
Mauer, die Europa und die Europäer vom Rest der Welt trennte.
3 Migration, Sicherheit und »Migrationskrise« in der EU
Im Verlauf der letzten Jahre ist die Versicherheitlichung der Migration in der
Europäischen Union zu einem der wichtigsten Diskussionsthemen auf akade-
mischer, aber auch auf politischer Ebene geworden.23 Probleme des Schutzes
und der Kontrolle der Grenzen, des Kampfes gegen das grenzüberschreitend or-
ganisierte Verbrechen oder Terrorismus verflechten sich immer stärker mit den
Fragen der Erwerbsmobilität, des Asyls und des internationalen Schutzes für
Flüchtlinge und Verfolgte. In der Zeit der »Migrationskrise« von 2015 begannen
die EU und die Mitgliedstaaten eine Neuinterpretation bestimmter politischer,
auf Migration und Sicherheit bezogener Richtungen, was zu einer intensiven
Politisierung und Versicherheitlichung der Migration in Europa führte, oder
anders gesagt dazu, dass die Frage menschlicher Mobilität in den Politik- und
Sicherheitsdiskurs hineingezwängt wurde, der auf die Kontrolle, den Bau von
Barrieren und die Nutzung außerordentlicher Abhilfemittel gerichtet ist.
Auf nationaler Ebene ist die Versicherheitlichung auf differenzierte und einan-
der häufig durchdringende Formen des xenophoben, rassistischen oder populis-
tischen Diskurses gestützt.24 Nicht selten bauen politische und gesellschaftliche
Akteure ihre Unterstützung auf Versicherheitlichung auf, wobei sie sich die »Po-
litik der Angst« vor Ausländern zunutze machen, die ein Gefühl der Bedrohung,
der Abneigung und schließlich der Feindschaft gegenüber Erwerbsimmigranten
antreibt.25 In diesem Fall haben wir es oft mit Manipulationen und einer Falsch-
darstellung der Kategorien und der Nomenklatur zu tun, die mit Emigration
oder irregulärer Immigration verbunden ist, was es ermöglicht, die Angst vor
23 Krzysztof Jasku łowski: The securitisation of migration: Its limits and consequences. In: int er-
national Political Science rev ieW 40 (2019), H. 5, S. 710–720.
24 Wodak: The Politics of Fear, S. 99, 131.
25 Krzysztof Jaskułowski: The Everyday Politics of Migration Crisis in Poland: Between Na-
tionalism, Fear and Empathy, Cham 2019.
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Ausländern in der betreffenden Gesellschaft nach Belieben zu steuern.26 Infolge
solcher Handlungen werden Immigranten als eine der Hauptbedrohungen der
nationalen, gesellschaftlichen, gesundheitlichen oder auch individuellen Sicher-
heit wahrgenommen.
Auf dem Höhepunkt der »Migrationskrise« wandten sich viele politische Par-
teien in den Mitgliedstaaten der EU einer »Politik der Angst« zu, indem sie sich
die Abneigung gegenüber Flüchtlingen und Immigranten zunutze machten, die
hauptsächlich aus dem Nahen Osten, Afrika oder Asien kamen. Polen kann hier
ein interessantes Beispiel sein, weil Migration und Asyl dort vor 2015 kein stark
politisiertes oder versicherheitlichtes ema war.27 Eine der ersten versicher-
heitlichenden Äußerungen in Polen fand auf dem Höhepunkt der Krise im Jahr
2015 statt. Jarosław Kaczyński, gegenwärtig der wichtigste Politiker im Lande
und Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit, die im selben Jahr die Parlaments-
wahlen gewann, beschrieb seine Einstellung zu Flüchtlingen folgendermaßen:
Das sind Fragen, die mit verschiedenen Gefahren in diesem Bereich ver-
bunden sind. Es gibt ja bereits Anzeichen dafür, dass sehr gefährliche und
lange in Europa nicht zu beobachtende Krankheiten auftauchen: Cholera
auf den griechischen Inseln, Dysenterie in Wien, Parasiten und Protozoome
verschiedener Art, die in den Organismen dieser Leute nicht gefährlich sind,
können hier gefährlich sein.28
Als Resultat der »Migrationskrise« wurden Migranten im weiteren Sinne of-
fen als gefährliches, risikoreiches, kriminelles Element dargestellt, das Über-
wachung und Kontrolle durch Polizei- und sogar Strafmaßnahmen erforderte.29
Auf diese Weise entstand innerhalb der europäischen Gesellschaften Unterstüt-
zung für die Idee, Mauern, Stacheldrahtverhaue und Auffanglager zu errichten,
um die »Wellen« aufzuhalten oder sich sogar von »Tsunamis« von Flüchtlingen
und Migranten abzuschneiden, die aus Kriegsgebieten oder Regionen kamen,
die von extremer Armut betroffen waren.
26 Artur Gruszczak: »Refugees« as a Misnomer: The Parochial Politics and Official Discourse
of the Visegrad Four. In: PoliticS anD Governance 9 (2021), H. 4, S. 174–184.
27 Monika Trojanowska-Strzęboszewska: Polityzacja imigracji w Polsce – wyzwania kon-
cepcyjne. In: Anita Adamczyk, Andrzej Sakson, Cezary Trosiak (Hrsg.): Migranci i mniej-
szości jako obcy i swoi w przestrzeni polityczno-społecznej, Poznań 2019, S. 23-36.
28 Newsweek Polska: Kaczyński: Pasożyty i pierwotniaki w organizmach uchodźców groź-
ne dla Polaków. In: newsweek.pl vom 13.Oktober 2015, https://www.newsweek.pl/pol-
ska/jaroslaw-kaczynski-o-uchodzcach/89mwbx3 (2.09.2022).
29 Witold Klaus: How does crimmigration unfold in Poland? Between securitization introduced
to Polish migration policy by its Europeanization and Polish xenophobia. In: Robert Koulish,
Maartje van der Woude (Hrsg.): Crimmigrant Nations, New York 2020, S. 298–314.
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Obwohl in vielen Staaten der EU die vorherrschende Formel der Versicherheitli-
chung gegenüber Migration die »Politik der Angst« und die Steuerung von Ab-
neigung gegenüber Ausländern war, sieht es auf der EU-Ebene etwas anders aus.
Die Anfänge der Versicherheitlichung, genauer gesagt der Risikodarstellung der
Migration 30 in die EU, reichen bis in die Mitte der 1980er Jahre und zu den
Anfängen des Projekts des Schengenraums zurück.31hrend der Verhandlun-
gen über die Liberalisierung des Grenzverkehrs unter einigen Mitgliedstaaten
der Europäischen Gemeinschaft begannen die Außenminister einen Prozess,
bei dem die Politik der menschlichen Mobilität mit den Rahmen nationaler Si-
cherheit und der öffentlichen Ordnung verbunden wurde.32 Dies war kein stark
politisierter, sondern ein technokratischer Prozess, der selten über geschlossene
Verhandlungen hinausging. Während der Schaffung des Schengenraums wurde
auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, Migration und Migranten durch
Agenturen und Sicherheitsdienste steuern zu lassen, was als Antwort auf ein sog.
Sicherheitsdefizit präsentiert wurde. Im Ergebnis begann die Union im Lau-
fe der folgenden Jahre eine innere Sicherheitsdimension zu schaffen,33 die sich
auf Monitoring-Mechanismen und Mobilitätsüberwachung stützte (z. B. das
Schengener Informationssystem), auf das Sammeln und den Austausch biome-
trischer Daten von Asylbewerbern (z. B. das Europäische Fingerabdruck-Iden-
tifizierungssystem für den Abgleich von Fingerabdruckdaten – Eurodac), auf
Formen der Satellitenüberwachung der Grenzen der EU (z. B. das Europäische
Grenzüberwachungssystem – Eurosur) oder die Verteilung von Asylbewerbern
innerhalb der EU (das sog. Dublin-Verfahren).34
Bis zur Phase der »Migrationskrise« war die EU hauptsächlich auf Migration
als Risiko konzentriert, das man mit Hilfe einer breiten Zusammenarbeit und
mit entsprechenden Technologien steuern konnte. Vorherrschend war die Lo-
gik technokratischer und technologischer Kontrolle potenzieller Gefahren,
30 Risikodarstellung beruht auf der Benennung eines bestimmten Phänomens oder Akteurs in
den Kategorien von Risiko und Unsicherheit, die man wirkungsvoll steuern kann. Es ist eine
al ter native Form zur traditionellen Versicherheitlichung, die in ihrer ursprünglichen Gestalt
die Definition von B edrohungen als exis tenziell vorsieh t, was zur Folge hat, da ss diese Be d ro-
hun gen unverzüglich mit Hilfe außerordentlicher Sicherheitsmittel beseitigt werden müssen.
31 Der Schengenraum war anfänglich ein separates Inte gra tionsprojekt, dass außerhalb der
Europäischen Union funktionierte. Er wurde 1999 kraft des Amsterdamer Vertrags von den
Strukturen der EU absorbiert.
32 Rens van Munster: Securitizing immigration. The Politics of Risk in the EU, Houndmills-
Nowy Jork 2009.
33 Heute die Gemeinschaftspolitik, die als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
bezeichnet wird.
34 Julien Jeandesboz: Smartening border security in the European Union: An associational
inquiry. In: Security DialoGue 47 (2016), H. 4, S. 292–309.
DOI: 10.13173/9783447120241.257
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die mit grenz überschreitender Mobilität und Aktivität der Europäer verbun-
den waren. Im Jahr 2015 bedurfte dieser Ansatz der EU im Kontext eines der
größ ten Flücht lingszuströme nach dem Zweiten Weltkriege einer Überprü fung
und Er nzung. Als Antwort auf die »Welle« von Flüchtlingen begann die EU
in höherem Maße die Notwendigkeit eines humanitären Herangehens an die
Krise zu unterstreichen. Obwohl dies hauptsächlich auf deklarativer Ebene ge-
schah, führte es zu einer »humanitären Versicherheitlichung« der Migration, wo
die Idee des Humanitarismus zu einer gewissen Rechtfertigung und diskursi-
ven Fassade für die Mobilisierung außergewöhnlicher Sicherheitsmittel an der
EU-Außengrenze wurde.35 Beispiele dafür können vor allem die militärische
Grenzmission (EUNAVFOR MED Operation SOPHIA) oder die Missionen
der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) sein, die
die Grenzen der EU schützen, gegen das organisierte Verbrechen kämpfen und
Migranten auf hoher See retten sollten.36
Das bedeutet nicht, dass als Antwort auf die »Migrationskrise« die Logik des
Risikomanagements und der Migrationskontrolle von der Sicherheitsagenda der
EU verschwand – ganz im Gegenteil. Risikomanagement wurde zum domi-
nierenden Paradigma, und die Migrations- und Asylpolitik wurde durch neue
Instrumente der Cyber-Überwachung verstärkt, die Kompetenzen der Sicher-
heitsagenturen wie Frontex oder Europol erweitert, die Filterungs- und Veri-
fizierungskomponente an den Grenzen der EU in Form der Schaffung sog. Hot-
spots verstärkt.37
Da die »Migrationskrise« die Schwäche der europäischen Solidarität,38 der
Asylpolitik und des Grenzschutzes enthüllte, erklärten die führenden EU-Poli-
tiker wiederholt, dass die Frage der Kontrolle über ein Territorium, die Gren-
zen und den Zustrom von Menschen eine der Sicherheitsprioritäten der EU für
die nächsten Jahre sein würde. In dieser Frage erwies sich die sog. Resilienz
der Grenzen und des Steuerungssystems der Migrations- und Asylpolitik als
eines der Schlüsselwörter. Das bedeutete die Erhöhung der Widerstandsfähig-
35 Maciej Stępka: Humanitarian Securitization of the 2015 »Migration Crisis«. Investigating
Humanitarianism and Security in the EU Policy Frames on Operational Involvement in the
Mediterranean. In: Ibrahim Sirkeci, Emilia Lana de Freitas Castro, Ulku Sozen (Hrsg.): Mi-
gration Policy in Crisis, London 2018, S. 9–30.
36 Ebenda.
37 Arne Niemann, Natascha Zaun: EU Refugee Policies and Politics in Times of Crisis: The-
oretical and Empirical Perspectives. In: jcMS: journal oF coMMon Marke t StuDieS 56
(2018), H. 1, S. 3 -22.
38 Vor allem in Bezug auf den sog. Relokationsmechanismus von Flüchtlingen, der im Namen
der europäischen Solidarität die Staaten hatte entlasten sollen, die am meisten von der
»Migrationskrise« betroffen waren. Er war eine kontroverse Lösung, die in den darauffol-
genden Jahren von der Europäischen Kommission selbst aufgegeben wurde.
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keit für kommende Krisen und den Erhalt des Funktionierens der Asylpolitik,
der Überwachung der EU-Außengrenzen sogar in Si tua tion eines verstärkten
Zustroms von Migranten.39 Im Namen der Resilienz der Außengrenzen setz-
te die Union auf eine Externalisierung der Migrationssteuerung, was zu einer
Stärkung der Zusammenarbeit im Rahmen von Sicherheit und Grenzschutz in
den Herkunftsstaaten der Migranten und zu einem Abbremsen ihrer Mobili-
tät schon in den ersten Etappen ihrer Wanderung führen sollte.40 Ein Beispiel
dafür kann die kontroverse EU-Türkei-»Erklärung« sein, die zum Ziel hatte, die
syrischen Flüchtlinge von dem illegalen Überschreiten der Grenze zur EU abzu-
halten. Gemäß dem Inhalt der Erklärung sollten die Behörden Bürger Syriens
auf das türkische Territorium zurückschicken, nachdem sie auf den griechischen
Inseln festgenommen worden waren.41
Fasst man diesen Abschnitt zusammen, dann ist zu betonen, dass sich die Euro-
päische Union als Antwort auf die Flüchtlingskrise stärker der Migrationssteue-
rung und -kontrolle zuwandte, der Vergrößerung der Resilienz des Asylsystems
und der Außengrenzen sowie der Militarisierung bestimmter Maßnahmen, die
mit dem Kampf gegen irreguläre Migration und das grenzüberschreitende orga-
nisierte Verbrechen verbunden waren. Humanitarismus wurde nur zu einem zu-
sätzlichen Element, das mehr dazu diente, die Sicherheitspraktiken in den Au-
gen der öffentlichen Meinung zu legitimieren als das Prinzip zu verwirklichen,
das sich mit der Idee der Sicherheit des Einzelnen, mit Sorge und Betreuung
verband. Alles verwies darauf, dass das Jahr 2015 der Anfang eines intensiven
Prozesses der Versicherheitlichung und der Risikodarstellung der Migration auf
institutioneller Ebene sowie im Rahmen der Mitgliedstaaten der EU selbst sein
würde. Ein weiterer Abschnitt des vorliegenden Beitrags konzentriert sich nun
auf die neuesten Richtungen der europäischen Migrations- und Sicherheitspoli-
tik, indem er überprüft, auf welche Weise sich die EU entschied, diese bereits
stark versicherheitlichte Domäne weiterzuentwickeln.
39 Vgl. ausführlicher Roman Lehner: The EU-Turkey-’deal’: Legal Challenges and Pitfalls. In:
international MiGration 57 (2019), H. 2, S. 176–185.
40 Marbiel Casas-Cortes, Sebastian Cobarrubias, John Pickles: ‘Good neighbours make
good fences’: Seahorse operations, border externalization and extra-territoriality. In: eu-
roPean urban anD reGional StuDieS 23 (2016), H. 3, S. 231–251.
41 Vgl. ausführlicher Stępka: Identifying Security, S. 144–147.
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270
4 Der Nexus von Migration und Sicherheit in der EU
nach der »Migrationskrise«
An dieser Stelle konzentriert sich die Analyse auf die Europäische Kommission,
weil sie als Institution einer der politischen Hauptakteure war, die den Dis-
kurs von Migration und Sicherheit in der EU bestimmten. Natürlich dauerte
der Zustrom von Flüchtlingen in die EU nach 2016 weiter an, aber die EU
selbst ging von einer Handlungsweise, die auf Krisenmanagement konzentriert
war, zur Formulierung langfristiger Lösungen über, die die Mitgliedstaaten und
die Union selbst auf die nächsten sog. Migrationsschocks vorbereiten sollten.
Im weiteren Teil dieses Abschnitts werden die Hauptrahmen und die Fragen
zur Versicherheitlichung, auf die selektiv in den Reden der Präsident:innen der
Europäischen Kommission Bezug genommen wurde, analysiert.
In den ersten Informationsbroschüren, die über die »Lage der Union« nach dem
Jahr 2016 informierten, führte die Europäische Kommission einen Text mit
politischen Richtlinien aus den Jahren 2015–19 an, der ihren Äußerungen zum
ema Migration einen humanitären Ton gab:
Die jüngsten furchtbaren Vorfälle im Mittelmeer haben uns gezeigt, dass
Europa seinen Umgang mit der Migration in jeder Hinsicht verbessern muss.
Dies ist zuallererst ein Gebot der Menschlichkeit. Nach meiner Überzeu-
gung müssen wir im Geist der Solidarität eng zusammenarbeiten.42
Unmittelbar nach dem Höhepunkt der »Migrationskrise« sollte die Europäische
Union für eine humanitäre Öffnung in ihrem Herangehen an die Migrations-
steuerung und den Schutz der Außengrenzen bereit sein. In der Realität stärk-
ten jedoch weitere Erklärungen und Ansprachen nur den Prozess humanitärer
Versicherheitlichung, und die Motive von Sorge, Schutz und Betreuung wurden
nur als zusätzliches Element oftmals militärischer Sicherheitsmaßnahmen ge-
nutzt. In dieser Hinsicht setzt die Europäische Kommission die Unterstützung
für die Militär- und Grenzmissionen fort, indem sie deutlich auf ihre Leistun-
gen bei der Lebensrettung auf hoher See verwies.43
Die nächsten Reden bestätigten, dass die auf Humanitarismus gestützte Rheto-
rik oftmals von Erklärungen über die Notwendigkeit einer verstärkten Grenz-
kontrolle und grenzüberschreitender Sicherheit gekrönt wurde und in geringe-
rem Maße das ema der Flüchtlinge in Europa selbst betraf. In diesem Kontext
verwies Ursula von der Leyen im Jahr 2020 deutlich darauf, dass »wir einen
42 Die EU im Jahr 2016 – Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Union (europa.
eu), S. 70 (13.11.2022).
43 Ebenda.
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271
menschlichen und menschenwürdigen Ansatz [verfolgen]. Die Rettung von
Men schen in Seenot ist […] Pflicht«, wobei sie gleichzeitig unterstrich, dass ein
Schlüsselelement der Migrationspolitik effektive Rückführungsverfahren (das
heißt Deportationen) sind und dass wir angesichts dessen »klar unterscheiden
[müssen] zwischen Menschen, die ein Recht haben, zu bleiben – und Menschen,
bei denen es nicht so ist«.44
Nach 2016 wurden die Logiken des Humanitarismus und der Sicherheit des
Einzelnen noch stärker externalisiert, mit Hilfe der bereits erwähnten EU-Tür-
kei-Erklärung und der Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei, spezieller Missio-
nen und Investitionspläne (in Mali, Senegal, Äthiopien, Nigeria, Niger) oder
im Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika.45 Immer deutlicher waren die
Instrumente humanitärer Hilfe für Flüchtlinge vor allem über die Grenzen der
EU hinaus adressiert, an die Herkunfts- und Transitländer. Dies ist mit der
Logik der Resilienz der Grenzen und des Asylsystems verbunden, die mit gro-
ßen Schritten in den Krisendiskurs der EU Eingang fand. In dieser Hinsicht
konzentriert sich die EU auf Maßnahmen, die die Migration und Immigration
schon an den Quellen dieses Phänomens begrenzen sollen. Deshalb werden oft
die erwähnten ausländischen Programme angeführt, die darauf abzielen, die
»Sicherheit des Einzelnen« in den Herkunfts- und Transitländern zu erhöhen,
aber auch mit Hilfe lokaler Sicherheitsdienste die Grenzen abzudichten und den
Zustrom von Flüchtlingen und Migranten zu stoppen.46
Im Jahr 2020 begann die Europäische Kommission mit der Förderung eines
neuen Migrations- und Asylpakets, dass eine holistische Antwort auf weitere
Migrationskrisen sein sollte.47 Die neue Strategie sollte »gleichzeitig ein Sys-
tem […] entwickeln, das die Migration langfristig steuert und normalisiert und
sich vollständig auf europäische Werte und das Völkerrecht stützt«.48 Auf der
Grundlage dieser Strategie wurden die Elemente einer strengen Grenzkontrolle
und Migrationssteuerung zu wesentlichen Fragen im Diskurs der Europäischen
Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen. Eine Priorität war für
44 Europäische Kommission: Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union 2020,
16.September 2020 soteu_2020_de.pdf (europa.eu), (20.09.2022), S. 22.
45 Europäische Kommission: Rede zur Lage der Union 2018. In: ec.europa.eu, h t t p s : //e c .
europa.eu/info/sites/default/ files/soteu2018-brochure_de.pdf, S. 50 (21.06 . 2021).
46 Europäische Kommission: Präsident Jean-Claude Juncker: Rede zur Lage der Union 2017,
13.September 2017. In: ec.europa.eu, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/
detail/en/SPEECH_17_3165, S. 3 (21.06.2022).
47 Europäische Kommission: Rede zur Lage der Union 2020, S. 10.
48 Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission Ein neues Migrations- und Asylpaket,
COM/2020/609 final, vom 23.November 2020. In: eur-lex.europa.eu, https://eur-lex.
europa.eu/resource.html?uri=cellar:85ff8b4f-ff13-11ea-b44f-01aa75ed71a1.0001.02/
DOC_3&format=PDF, S.1 (2.09.2022).
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die neue Kommissionspräsidentin seit dem Beginn ihrer Amtszeit »die Rück-
kehr zu einem voll funktionierenden Schengenraum mit freiem Personenver-
kehr, der die Hauptantriebskraft unseres Wohlstands und unserer Sicherheit
sowie unserer Freiheiten ist«.49 In der Realität erwies sich das Paket als Instru-
ment zu einer intensiveren Versicherheitlichung und Risikodarstellung der Mi-
gration auf EU-Ebene. Unter der Parole der Kontrolle der EU-Grenzen begann
die Europäische Union stärker die Notwendigkeit herzugeben, die Mittel für die
Agentur Frontex zu erhöhen, einen besonderen Ausnahmezustand aufgrund hö-
herer Gewalt einzuführen, sowie beschleunigte Grenz- und Rückkehrverfahren
oder auch ein stärkeres Überwachungssystem der Grenzen und der Flüchtlinge
selbst zu schaffen.50
Das bedeutet nicht, dass der ganze Diskurs, der in den Reden der Kommission
zum Ausdruck kam, sich lediglich auf eine Vertiefung der Versicherheitlichung
der Migration stützte. In einzelnen Reden tauchten Bezüge auf die Notwen-
digkeit der Schaffung legaler Formen von Migration und des Aufbaus einer
offeneren europäischen Gesellschaft auf. Legale Formen der Migration (z. B. die
Richtlinie zur Blauen Karte) sollen eine Alternative für die irreguläre Erwerbs-
immigration oder grenzüberschreitende Handlungen von Schleusergruppen
sein, auf die oft als eine der größten Bedrohungen für Migranten sowie auch
für die Union selbst verwiesen wird.51 Gleichzeitig ist zu betonen, dass lega-
le Migration im Verständnis der Europäischen Kommission hauptsächlich auf
hoch qualifizierten Arbeitnehmern beruhen soll, um »so die Menschen zu uns
zu bringen, deren Fähigkeiten und Talente wir benötigen«.52
Unter dem Gesichtspunkt des Flüchtlingsdiskurses wurde die Frage von Flücht-
lingen aus der vom Krieg erschütterten Ukraine zum Ausgangspunkt für eine
»humanitäre Versicherheitlichung« der Migration in die EU. Die Europäische
Union wurde zum ersten Mal ihren Erklärungen gerecht und ergriff Maßnah-
men, die mehr auf die Flüchtlinge als auf die Sicherheit der Grenzen gerichtet
waren. Die beispiellose Öffnung der Außengrenzen des Schengenraums und der
Gesellschaften selbst für Millionen von Flüchtlingen stieß auf eine positive Re-
aktion der Europäischen Kommission, was eine vorsichtige Hoffnung für eine
humanitärere Migrations- und Asylpolitik in der Zukunft wecken kann. Die
Kommissionspräsidentin stellte in ihrer Rede 2022 fest: »Unser Engagement
49 Komisja Europejska: Orędzie o Stanie Unii 2021 Ursuli von der Leyen, Przewodniczącej
Komisji Europ ejskiej 15 września 2021. In: ec.europa.e u, https://ec.europa.eu/info/sites/
default/files/soteu_2021_address_pl_0.pdf, S. 18 (20.09.2022).
50 Ebenda.
51 Europäische Kommission: Rede über die Lage der Union 2018, S. 27.
52 Europäische Kommission: Politische Richtlinien für die künftige Europäische Kommission
2019–2024. In: ec.europa.eu, https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/political-
guidelines-next-commission_de.pdf, S. 19 (20.09.2022).
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für die ukrainischen Flüchtlinge darf keine Ausnahme bleiben. Sie kann unser
Modell für die Zukunft sein«.53
5 Schlussfolgerungen
Im Verlauf der letzten Jahre schuf die Union einen relativ komplizierten und
diskursiv verwickelten Versicherheitlichungsrahmen, der eine Vielzahl von Si-
cherheitslogiken spiegelt (Humanitarismus, Risikomanagement, Resilienz, Mi-
litarismus), die das ema der Migration in der Politik im weiteren Sinne und
im Diskurs der inneren als auch der äußeren Sicherheit der EU konsolidieren.
Seit dem Beginn der »Migrationskrise« kann man gewisse dauerhafte Sicher-
heitsfragen unterschieden, die den EU-Ansatz zur Migration in verschiedener
Stärke bestimmten. Der nächste und letzte Abschnitt dieses Beitrags konzen-
triert sich auf die Beschreibung, wie Motive und Rahmen von Versicherheitli-
chung sich mit den Ansichten von Bronisław Geremek verbinden.
Wenn auch die humanitären Motive, vor allem auf deklarativer Ebene, im Dis-
kurs der Europäischen Kommission und anderer EU-Institutionen stark betont
werden, dann hätte dennoch die Art und Weise, wie sie verwirklicht wurden,
bei Geremek gewisse Vorbehalte hervorrufen könnten. Geremek vertrat, was
die rechtlich-internationale Verantwortung für die Flüchtlinge anbelangt, eine
sehr klare Auffassung von der Notwendigkeit von Offenheit, die in der Sorge
und Betreuung für die am meisten Hilfsbedürftigen zum Ausdruck kommen
sollte. Ein derartiger Ansatz wurde im Diskurs der Kommission und der EU
selbst kaum sichtbar. Gewiss brachte die Europäische Union die Notwendig-
keit humanitärer Maßnahmen zum Ausdruck, aber vor allem außerhalb ihrer
Grenzen, wobei sie die Sicherheitslage der Flüchtlinge auf dem Territorium der
Mitgliedstaaten nur selten in ihre Überlegungen einbezog.
Bei der Frage der Kontrolle und des Schutzes der EU-Außengrenzen könnte
man sagen, dass die Idee einer »Festung Europa«, die sich auf den Bau immer
fortgeschrittener physischer und elektronischer Barrieren stützt, für Geremek
schwer zu akzeptieren wäre. Er glaubte an das Recht des Staates zur Kontrolle
der eigenen Grenzen, aber gleichzeitig widersetzte er sich ihrer Versicherheitli-
chung, die zu einer Einschränkung der Mobilität führen würde. Zwar weigerte
sich die Europäische Union selbst längere Zeit, die Finanzierung von Mauern
und Grenzbarrieren zu übernehmen, aber im Jahr 2021 brach der Präsident des
53 Europäische Kommission: Rede von Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union 2022,
14.S eptembe r 2022. In: ec.europa .eu, https://state-of-the-union.ec.europa.eu/index_de,
S. 13 (20.09.2022).
DOI: 10.13173/9783447120241.257
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Europäischen Rates Charles Michel diesen Konsens und stellte fest, dass dies
rechtlich möglich sei und dass er solche Maßnahmen nicht ausschließe.54 Es ist
zu unterstreichen, dass die Idee des Baus von Barrieren in den Mitgliedstaaten
selbst viel populärer ist als auf EU-Ebene, aber es ist bei den EU-Beamten kein
Tabuthema mehr.
Die nächste Frage und Versicherheitlichungslogik, die im Widerspruch zu den
politischen Ansichten Geremeks stehen könnte, ist die pragmatische Stärkung
der Resilienz von Grenzen und Migration außerhalb der EU-Grenzen. Die
Schaffung einer Festung Europa unter Nutzung der Sicherheitsdienste von Staa-
ten, die oftmals die demokratischen Kriterien nicht erfüllen oder Probleme mit
der Achtung der Menschenrechte haben, könnte erhebliche Zweifel wecken.55
Schließlich verwies Geremek eindeutig darauf, dass demokratische Staaten, die
die Menschenrechte respektieren und die Menschenwürde achten, die Pflicht
zum Aufbau eines friedlichen und sicheren internationalen Systems haben.
Ein Element, dass sich mit den Ansichten Bronisław Geremeks decken würde,
ist der Versuch, legale Migrationskanäle zu schaffen, die eine Antwort auf den
demographischen Kollaps in den Mitgliedstaaten der EU darstellen könnten.
Dies stellt sich als der Versuch dar, eine etwas offenere Migrationspolitik zu
schaffen, die sich auf Gastfreundschaft, Toleranz und Multikulturalität grün-
det. Und um an diese Frage anzuknüpfen – Geremek würde mit Sicherheit die
Reaktion der Mitgliedstaaten und der EU selbst loben, die ihre Grenzen für
Flüchtlinge aus der Ukraine öffneten. Dies ist eine von wenigen Aktivitäten
der Mitgliedstaaten und der EU selbst im Bereich der Migrationspolitik, die
eindeutig der Idee und den europäischen Werten entsprechen, die im Diskurs
Geremeks so wichtig waren – Solidarität, Freiheit, Verantwortung Sorge und
Sicherheit. Wie er selbst in einem seiner Interviews feststellte: »In der europäi-
schen Idee habe ich Hoffnung gefunden. Vielleicht sogar anders gesagt: in der
Bejahung der Würde der menschlichen Person, im Streben nach Freiheit, bei
der Verwirklichung der Idee der Solidarität, und dem kam die europäische Idee
am nächsten«.56
Aus dem Polnischen von Sabine Lipińska
54 Lili Baye r: Michel ope ns door to EU fund ing for border wal ls. In. polit ico.eu vom. 10.Novem-
ber 2021, https://www.politico.eu/article/eu-money-for-border-infrastructure-legally-
possible-charles-michel-says/ (20.09. 2022).
55 Bruno Oliveira Martins, Michael Strange: Rethinking EU external migration policy: contes-
tation and critique. In:Global aFFairS 5 (2019), H. 3, S.195–202.
56 Bronisław Geremek: Marzenie o Europie. In: Wyborcza.pl vom 22.Mai 1998, h t t p s : //
wyborcza.pl/ 7,75248, 139284.html (22.09.2022).
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Abkürzungsverzeichnis
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AfD – Alternative für Deutschland
ALDE – Alliance of Liberals and Democrats for Europe
ASEAN – Association of South–East Asian Nations
AstV – Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten
AU – African Union
AWS – Akcja Wyborcza Solidarność (Wahlaktion Solidarność)
BRD – Bundesrepublik Deutschland
CBOS – Centrum Badania Opinii Społecznej (Zentrum für öffentliche Meinungs-
forschung)
CDU – Christlich–Demokratische Union Deutschlands
CEFTA – Central European Free Trade Agreement
CETA – Comprehensive Economic and Trade Agreement EU–Canada
CFE – Conventional Forces in Europe Treaty
CPCC – Civilian Planning and Conduct Capability
CSU – Christlich–Soziale Union
DDR – Deutsche Demokratische Republik
DRK – Demokratische Republik Kongo
EDA – European Defence Agency
EDF – European Defence Fund
EDIDP – European Defence Industrial Development Programme
EDTID – EU’s Defence Technological and Industrial Base
EEAS – European External Action Service
ESI–Fonds – Europäische Struktur– und Investitionsfonds
EFTA – European Free Trade Association
EGKS – Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EIB – European Investment Bank
EK – Europäische Kommission
EP – Europäisches Parlament
EPF – European Peace Facility
ESM – European Stability Mechanism
ESVU – Europäische Sicherheits– und Verteidigungsunion
EU – Europäische Union
EU RDC – European Union Rapid Deployment Capacity
EUBO – European Union Baroque Orchestra
EUGBs – European Union Battlegroups
EuGH/GHdEU – Gerichtshof der Europäischen Union
EUMC – European Union Military Committee
290
EUSC – European Union Satellite Centre
EUV – Vertrag über die Europäische Union
EUYO – European Union Youth Orchestra
EWG – Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWWU – Europäische Wirtschafts– und Währungsunion
GACERE – Global Alliance on Circular Economy and Resource Efficiency
GASP – Gemeinsame Außen–und Sicherheitspolitik
GSVP – Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ISO – International Organization for Standardization
KOR – Komitet Obrony Robotników (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter)
LREM – La République En Marche
MPCC – Military Planning and Conduct Capability
NSZZ »Solidarność« – Unabhängige Selbstverwaltungsgewerkschaft »Solidarität«
OECD – Organization for Economic Co–operation and Development
OKP – Obywatelski Klub Parlamentarny (Parlamentarische Bürgerfraktion)
OSZE – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
PADR – Preparatory Action on Defence Research
PAP – Polska Agencja Prasowa (Polnische Presseagentur)
PCF – Parti communiste français
PESCO – Permanent Structured Cooperation
PiS – Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit)
PO – Platforma Obywatelska (Bürgerplattform)
PSL – Polskie Stronnictwo Ludowe (Polnische Volkspartei)
PZPR Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei)
R&D – Research & Development
R&I – Research & Innovation
RGW – Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
RN – Rassemblement National
RP – Republik Polen
RSFSR – Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik
SIAC – Single Intelligence Analysis Capacity
SLD – Sojusz Lewicy Demokratycznej (Allianz der Demokratischen Linken)
SPD – Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SSZ – Ständige Strukturierte Zusammenarbeit
TKN – Towarzystwo Kursów Naukowych (Gesellschaft der Wissenschaftskurse)
UD – Unia Demokratyczna (Demokratische Union)
UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
UP – Unia Pracy (Arbeitsunion)
UW – Unia Wolności (Freiheitsunion)
V4 – Visegrád–Gruppe
VVE – Vertrag über eine Verfassung für Europa
WTO – World Trade Organization
Biogramme
Prof. Dr. Jan Barcz – Ordentlicher Professor für Völkerrecht, Diplomat, u. a.
Botschafter der Republik Polen in Wien (1995–1999), Akademiker (Vorlesun-
gen an der Staatsschule für öffentliche Verwaltung, der Universität in Opole, der
Wirtschaftsuniversität in Warschau (SGH) und der Leon Koźmiński-Akademie
in Warschau); Leiter des Lehrstuhls für Internationales und EU-Recht an der
Leon Koźmiński-Akademie in Warschau. Mitglied des Team Europe und der
Botschafterkonferenz der Republik Polen.
Prof. Dr. Józef M. Fiszer – Ordentlicher Professor für Zeitgeschichte und Poli-
tologie am Institut für Politische Wissenschaft der Polnischen Akademie der
Wissenschaften (PAN) (Leiter des Lehrstuhls für Europäische Studien) sowie
an der Warschauer Łazarski-Universität (Leiter des Lehrstuhls für Internationa-
le Politische Beziehungen). Haupt interessengebiete: neueste Geschichte Polens,
Deutschlands und Russlands, europäische Inte gra tion, Sicherheit Europas. Mit-
glied und stellvertretender Vorsitzender des Komitees für Politikwissenschaften
der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) sowie Mitglied des Aus-
schusses für Internationale Politik beim Präsidenten der Re publik Polen.
Dr. Michel Foucher – Geograf und Essayist. Er war Berater des Außenministers
(1997–2002), Direktor des Plannungstabs (1999-2002), französischer Botschaf-
ter in Lettland (2002–2006) und anschließend Botschafter mit einer Mission zu
europäischen Fragen (2006–2007). Von 1994 bis 2002 lehrte er am Europakol-
leg in Natolin. Zu seinen jüngsten Werken zählen u.a.: Ukraine Russie, la carte
mentale du duel, Tract N° 39, Éditions Galli mard, 2022 (Ukraine Russland, die
mentale Karte des Duells; Ukraine, une guerre coloniale en Europe, Éditions de
l’Aube, 2022 (Ukraine, ein Kolonialkrieg in Europa).
Dr. habil. Bożena Gierat-Bieroń – Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut
für Europäische Studien der Jagiellonen-Universität in Krakau. Hauptinter es-
sen gebiete: Kulturpolitiken, EU-Kulturpolitik, kulturelles Erbe Europas, EU-
Außen beziehungen im Kulturbereich, Kulturdiplomatie. Gastprofessorin an
den Universitäten in Leuven (2020), di Sassari (2012), Glasgow (2011), Gronin-
gen (2009), Trinity College Dublin (2006). Stipendiatin der Programme der
Euro päi schen Kommission (Universität Osaka, 2009) und UJ-JAM (Universi-
tät Kōbe, 2016) sowie von TEMPUS POLSK A und SYLF. Sie hielt Vorlesungen
an der Sommerschule der Polnischen Kultur in Rom sowie am Colle gium Civi-
tas in Warschau; Autorin von Monographien, wissenschaftlichen Beiträgen und
292
EU-Gutachten; ECURES-Mitglied; Koordinatorin des englischsprachigen Pro-
gramms EUROCULTURE an der Jagiellonen-Universität in Krakau (2002–
2009); Beauftragte des Leiters des Nationalen Kulturzentrums für Wrocław
ESK 2016; ausgezeichnet mit den Preisen des Rektors der Jagiellonen-Univer-
sität sowie des Dekans der Fa kultät für Politikwissenschaft und internationale
Be ziehungen der Jagiellonen-Universi tät; derzeit Leiterin des postgraduellen
Stu diums Kulturdiplomatie an der Jagiellonen- Universität.
Dr. habil. Agnieszka Grzelak – Professorin am Lehrstuhl für Internationales und
Europäisches Recht im Rechtskollegiums Leon Koźmiński-Akademie. Rechts-
anwältin. Mitarbeiterin der öffentlichen Verwaltung und der Justizverwal tung
(2000–2004 Komitee für Europäische Inte gra tion, 2004–2015 Kanzlei des Sejms,
2015–2019 Büro des Beauftragten für Bürgerrechte, seit 2019 Büro für Stu dien
und Analysen des Obersten Gerichts). Autorin von Publikationen zum Rechts-
system der EU, zum Schutz von Personaldaten im Kontext der Sicherheit, aber
auch zur politischen und gerichtlichen Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU.
Dr. Maciej Jastrzebiec-Pyszyński – Bediensteter der Europäischen Kommission.
Zur zeit beschäftigt bei der Gemeinsamen Forschungsstelle (Joint Research Cen-
tre, JRC). Während seiner Arbeit im JRC-Lab für EU-Politik versucht er, die
neuesten Forschungsarbeiten im Bereich der Komplexität und Anwendung von
Designkonzepten auf die Herausforderungen der Kommissionsdienststellen an-
zuwenden. Zuvor war er in verschiedenen Abteilungen der Kommission tätig,
u. a. in den folgenden Arbeitsgebieten: Meinungsumfragen, Medienanalysen und
Bewertung internationaler Entwicklungsprojekte. Er verfügt über einen Doktor-
titel in Politikwissenschaft der Jagiellonen-Universität in Krakau, in dem er die
Bildung politischer Institutionen (am Beispiel des Konvents zur Zu kunft Euro-
pas) untersuchte. In seiner Magisterarbeit an der Krakauer Wirt schafts universität
befasste er sich mit der Gestaltung der europäischen »Außenpolitik«, d. h. mit
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Ge mein samen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik (GASP und GSVP). Als Marie- Curie-Stipendiat
an der Universität von Wales in Aberystwyth befasste er sich mit den Fragen der
Legitimität im Zusammenhang mit der europäischen Inte gra tion.
Prof. Dr. Bogdan Koszel – Ordentlicher Professor für Zeitgeschichte und Po-
litologie an der Fakultät für Politikwissenschaft und Journalismus der Adam
Mickiewicz-Universität in Posen. Leiter der Abteilung für Deutschland-Studien.
Chefredakteur von R I E; Mitglied des Redak-
tionsrates der Monatszeitschrift WT. D A J-
 (Potsdam/Berlin); Senior Research Fellow bei WT am Institut für
Internationale Politik in Potsdam; Experte der Kom mission für Wissenschafts-
evaluation im Bereich wissenschaftlicher Monographien; Seine Interessengebiet
293
sind die Außenpolitik Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert, insbesondere
die Rolle Deutschlands im europäischen Inte gra tionsprozess.
Dr. habil. Krzysztof Koźbiał, Univ.-Prof. – Direktor des Instituts für Euro-
päische Studien der Jagiellonen-Universität in Krakau. In seinen Untersuchun-
gen be schäftigt er sich mit politischen Systemen (insbesondere des Fürstentums
Liech tenstein und der Tschechischen Republik; mit der Außen- und Innen-
politik der Staa ten Mitteleuropas (unter Einbeziehung des deutschsprachigen
Raums), sowie mit Fra gestellungen bzgl. der europäischen Inte gra tion. Zu
seinen wissenschaftlichen In teressensgebieten gehören auch die Balkanregion,
ins besondere in Bezug auf den EU-Erweiterungsprozess. Autor von mehr als
120 wissenschaftlichen Ver öffentlichungen (Monographien und enzyklopädi-
sche Stichwörter). Stipendien- und wissenschaftliche Aufenthalte an den Uni-
ver sitäten in Heidelberg und Bo chum, am Liechtenstein-Institut in Bendern
(Liechtenstein) sowie am Karl-Renner- Institut in Wien; Lehrbeauftragter an
den Universitäten in Chemnitz (Deutsch land), in Prešov und in Banská Bystrica
(Slo wakei) sowie in Piliscsaba und Pécs (Ungarn).
Dr. Agnieszka Nitszke – Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Po li-
tikwissenschaft und Internationale Beziehungen der Jagiellonen-Univer si tät in
Krakau. Mitglied des Team Europe. Hauptinteressengebiete: euro i sche Inte-
gra tion, europäische Politiken (darunter Immigration und Asyl politik); EU-
Institutionen und deren Kompetenzen, politische Parteien und deren Rolle im
Entscheidungsprozess. Monographien: Zasady ustroju federalnego w państwach
niemieckojęzycznych. Studium porównawcze ustrojów federalnych Szwajcarii, Nie-
miec i Austrii (2013), System agencji UE (2017); wissenschaftliche Beiträge zum
ema der EU und der politischen Parteien.
Prof. Dr. Beata Ociepka – Ordentliche Professorin für Politologie am Institut
für Internationale Studien der Universität in Breslau. Leiterin der Forschungs-
stelle für Untersuchungen zur Öffentlichen Diplomatie. Gründerin und Leite-
rin der Abteilung für Internationale Kommunikation (ebendort) in den Jahren
2002–2017, außerdem Leiterin des Lehrstuhls für Politologie am Willy Brandt
Zen trum an der Universität Breslau von 2002–2004; Mitglied des Komitees
für Politikwissenschaft der Akademie der Wis senschaften in der Amtszeit
2020–2024; Vorsitzende der Sektion für Internationale Kom munikation in der
Pol nischen Gesellschaft für Internationale Studien; Expertin des Nationalen
Wis senschaftszentrums (NCN). Sie verbindet Untersuchungen zu den in ter na-
tionalen Beziehungen mit Medien- und Kommunikationsanalyse; Autorin u. a.
des Bu ches: Poland’s New Ways of Public Diplomacy (Peter Lang, 2017 ) und der
Veröffentlichung Polens Public Diplomacy. Deutschlands Auswärtige Kulturpolitik
294
und die gemeinsamen Be ziehungen (Deutsches Polen Institut Deutsches Polen Ins-
titut/Institut für Öffentliche An gelegenheiten, Darmstadt – Warschau 2022).
Dr. Maciej Stępka – Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische
Studien der Jagiellonen-Universität in Krakau. Seine Forschungsinteressen sind
Sicherheit, Krisenmanagement und Migration im Kontext der europäischen
Inte gra tion. Absolvent der Universität von Amsterdam und der Jagiellonen-
Universität in Krakau. Autor von Publikationen zum Diskurs und zu den Rah-
men der europäischen Sicherheit, dem Frühwarnsystem der EU, Resilienz und
Ver sicherheitlichung von Migration.
Prof. em. Dr. Henryk Szlajfer – Chefredakteur von S  M
(1991–2014). In den Jahren 1993–2008 im Ministerium für Auswärtige Angele-
genheiten tätig: Botschafter ad personam; Leiter des Departements für Strategie
und Planung der Politik sowie für Amerika; Mitglied der Verhandlungsgruppe
in den Verhandlungen bezüglich des NATO-Beitritts Polens; Mitglied des inter-
nationalen Teams für die Entwicklung des Konzeptes Community of Democra-
cies (Koordinator der Konferenz in Warschau, 2000); Ständiger Vertreter der
Re publik Polen bei der OSZE, UNO, IAEO und UNIDO in Wien (2000
2004); Autor und Herausgeber von Büchern und Beiträgen zur Wirtschaftsge-
schichte und den internationalen Beziehungen, u. a. Western Europe, Eastern Eu-
rope and World Development 13th –18th Centuries. Collection of Essays of Marian
Małowist (in Zusammenarbeit mit Jean Batou, Leiden – Boston 2010), Economic
Nationalism and Globalization: Lessons from Latin America and Central Europe
(Leiden – Boston 2012), Współtwórcy atlantyckiego świata. Nowi chrześcijanie i
Żydzi w gospodarce kolonialnej Ameryki Łacińskiej XVI–XVII wieku (Warszawa
2018). Ehemaliger antikommunistischer Dissident; am 4. März 1968 wurde er
zusammen mit Adam Michnik von der Universität Warschau verwiesen.
Prof. Dr. Janusz Józef Węc – Ordentlicher Professor für Zeitgeschichte, inter-
nationale Beziehungen und Europäische Studien am Institut für Politikwissen-
schaft und Internationale Beziehungen der Jagiellonen-Universität in Krakau.
Leiter des Lehrstuhls für Studien an den Inte gra tionsprozessen; 2016–2019 Lei-
ter des Projekts der Europäischen Kommission im Rahmen des Jean- Monnet-
Lehrstuhls unter dem Titel European Union in Crisis: What is Wrong and How
to Fix It?; Jean-Monnet-Professor an der Jagiellonen-Universität; Mitglied des
Team Europe; Autor von mehr als 300 im In- und Ausland herausgegebenen
wissenschaftlichen Publikationen, darunter 21 Monographien und Synthe-
sen, in deren Fokus u. a. das System der Europäischen Gemeinschaften und
der Europäischen Union, europäische sowie außereuropäische Inte gra tion, die
deutsch-polnischen Beziehungen, die Zeitgeschichte Deutschlands und das
deutsche politische System stehen.
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Book
Full-text available
This open access book investigates the complexity and the modalities of securitization of migration and border control at the EU level. It discusses and compares how different EU institutions and agencies have been deploying different logics of security, e.g. humanitarianism or management of risk, while framing increased migratory flows and so called migration crisis as a security problem. The book argues that the (re)development of EU migration and border control policies in response to increased migratory flows of 2015 have revealed an increasingly tangled nature of securitization of migration in the EU. This is reflected in the intertwining of security logics where migrants and human mobility tend to be securitized through different, sometimes multiple, interpretative lenses at different stages of policy framing. From a theoretical point of view, the book develops a fresh analytical perspective that further contributes to burgeoning discussion on securitization theory. By bridging the literature on policy framing and securitization it makes a significant contribution to the debates on both securitization and migration. As such this book is of great interest to students, academics, policy makers and all those working in the fields of EU politics, migration, security, and international relations.
Article
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The study is devoted to Poland’s accession to NATO and the European Union (EU) and describes Germany’s stance on Poland’s Euro-Atlantic aspirations after 1989, which, despite various assessments, was not explicit and enthusiastic. However, it evolved gradually and was determined by a difficult internal situation after the reunification of Germany and its new geopolitics and geoeconomics. For Germany that reunified on 3 October 1990, an issue of greater importance than Polish accession to NATO and the EU was the presence of Soviet troops on the territory of the former GDR and normalization of relations with neighbors, particularly with France, Poland, the Soviet Union, and the United States. Both France and the United Kingdom, as well as the Soviet Union, and to a lesser extent, the United States initially were afraid of a reunified Germany and opposed Polish membership in Euro-Atlantic structures. At the time, hopes and fears were rife about the future of Europe. A common question was being asked in Paris, London, Moscow, Washington, and Warsaw – would reunified Germany remain a European state, or would Europe become German? Should Germany stay in NATO or leave after the reunification? There were questions also about Moscow’s policy towards reunified Germany and its position on Poland’s accession to Euro-Atlantic structures. Unfortunately, for a long time, it was negative. Today, thirty years after the fall of the Berlin Wall and the reunification of Germany, we can see that the black scenarios that were outlined in 1989-1990 did not actually come true. Despite the fears, those events opened the way for Poland to “return to Europe” and to gain membership in Euro-Atlantic structures, i.e., NATO and the European Union (EU). The path was not at all simple and it was not easy for Poland to make it through. In the study the author analyses subjective and objective difficulties related to Poland's accession to NATO and the EU and describes the evolution and role of Germany in this process.
Book
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The book is dedicated to minorities and migrants as their own and strangers in the social and political space.
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The externalization of the EU’s migration policies has seen a sharp increase in recent years but many aspects of its historical roots, internal dynamics, and broader implications remain insufficiently explored. This special issue analyses recent developments in the EU’s external migration policies including the extra-territorial reach of EU migration policies; the power relationships between the EU and third countries involved in EU migration policies; the overlap with critical development studies and post-colonialism; the replication of many of Australia’s external migration policies; the impact of EU external migration policies on third countries, and civil society contestation of those policies. As the contributions show, the series of policies discussed here go beyond the specific empirical area of migration control to have significance for both the future of the European Union and its role in global affairs.
Article
Political theorists aiming to articulate normative standards for the EU have almost entirely focused on whether or not the EU suffers from a ‘democratic deficit'. Almost nothing has been written, by contrast, on one of the central values underpinning European integration since at least the European Coal and Steel Community (ECSC), namely solidarity. What kinds of principles, policies, and ideals should an affirmation of solidarity commit us to? Put another way: what norms of socioeconomic justice ought to apply to the EU? This is not an empirical or narrowly legal question. We are not trying to gauge the degree of attachment there currently is in the EU by, for example, citing the latest Eurobarometer poll. We are also not attempting to state the implicit rationale followed by the Court of Justice in its recent ‘solidarity’ jurisprudence, let alone trying to fix what the Commission might mean by it. In this article, I ask the more fundamental question underlying both the legal and the empirical questions: What principles of social solidarity ought to apply between states and citizens of the emerging European polity? This question has rarely been asked or answered by political theorists in an EU context, so we are entering largely uncharted territory. The article develops a tripartite model of EU solidarity in Section 2, and then applies it to the case of free movement of persons in Section 3.