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Kindliche Akteurschaft
zwischen Instrumentalisierung und Befreiung der Kindheit
Aliaksandr Kavaliou
kontakt (at) sozialekunst.eu
ber. begl. Bachelor Bildungswissenschaften
Hausarbeit
Note: 1,3
31.01.2022
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis..................................................................................................3
Einleitung........................................................................................................................ 4
1 Konzept kindlicher Akteurschaft als Befreiung der Kindheit..................................6
1.1 Die Wurzeln der Förderung kindlicher Emanzipation..................................................6
1.2 Aktuelles Verständnis der Kinder als Akteure.............................................................7
2 Praktische Umsetzung des Konzepts kindlicher Akteurschaft..............................10
2.1 „Kinder als Akteure in Qualitätsentwicklung und Forschung“...................................10
2.2 „Young children in Kyrgyzstan: Agency in tight hierarchical structures“...................13
3 Akteurschaft im neoliberalen Kontext.....................................................................17
4 Fazit und Forschungsausblick.................................................................................22
Literaturverzeichnis..................................................................................................... 25
Eidesstattliche Erklärung............................................................................................29
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: neoliberale Instrumentalisierung kindlicher Akteurschaft.......................23
Einleitung
Das Interesse der Soziologie an Kindern galt vor den 1990er-Jahren weitgehend ihrer Sozia-
lisation und dem familiären Umfeld. Die empirische Sozialisationsforschung untersuchte vor
allem die schulischen Leistungen im Kontext der Weitergabe gesellschaftlicher Positionen.
Die innere Welt der Kinder besaß bis dahin kaum Relevanz (vgl. Bühler-Niederberger 2020,
S. 10). Blickt man noch weiter zurück, kann die kindliche Realität vor dem Beginn der Neu-
zeit unter Vorbehalt als “grausam“ beschrieben werden. Doch auch wenn die Neuzeit deutli-
che ideelle Tendenzen zur Aufwertung der Sicht auf die Kinder verzeichnete, blieb ihr Alltag
auch im 18. und 19. Jahrhundert weitgehend gewaltvoll und hart. Diese Umstände können in
einer abgeschwächten, aber doch statistisch signifikanten Form bis zur Gegenwart verfolgt
werden (vgl. Bühler-Niederberger 2021, S. 21-24). Bühler-Niederberger beschreibt in diesem
Kontext die gesonderte Stellung der Kinder, die sie als „eine besonders gering bewertete Be-
völkerungsgruppe“ (Bühler-Niederberger 2021, S. 16) darstellt.
Etwas widersprüchlich in Bezug auf die Wertstellung erscheint dagegen die Darstellung na-
tionalstaatlicher Instrumentalisierung der Kinder im 19. Jahrhundert und dem eher damit ver-
bundenen Schutz dieser, die brauchbare StaatsbürgerInnen im Sinne führte (vgl. a.a.O., S.
24 f.). Die Kinder scheinen hier also nicht besonders gering bewertet, sondern ganz im Ge-
genteil eine in vieler Hinsicht wertvolle nationalstaatliche Anlage zu sein. Die Darstellung des
internationalen Einsatzes für die Kinder im 20. Jahrhundert, welcher von Bühler-Niederber-
ger (vgl. a.a.O., S.26 ff.) als ein positiver Paradigmenwechsel im Vergleich zu bisherigen na-
tionalstaatlichen Interessen beschrieben wird, kann somit auch als eine konsequente Umset-
zung bisheriger Instrumentalisierungsabsichten auf transnationaler, global-gesellschaftlicher
Ebene und als eine Delegitimierung staatlicher Erziehungs- und Bildungsvorstellungen ge-
deutet werden. Es ist zumindest nicht ersichtlich, warum Organisationen mit internationalen
Interessen ihre Sorgen um die Kinder nicht wie die Nationalsaaten ebenfalls im Sinne ihrer
wirtschaftlicher, politischer oder auch ideologischer Absichten umsetzen sollen. Die vier von
Bühler-Niederberger genannten Unterschiede zu der bisher gescheiterten Politik der Natio-
nalstaaten (vgl. a.a.O., S. 26-28) könnten also durchaus auch einer globalisierten neolibera-
len Interessens- und Regelungstendenz entsprechen. Diese als positiv dargestellten interna-
tionalen Bemühungen und ebenfalls positiv konnotierte Beispiel der PISA-Studien (vgl.
a.a.O., S. 28), die aufgrund ihrer Normierung, Kompetenzorientierung und überstaatlicher
Macht recht erfolglos, aber dennoch massiv in die Kritik geraten sind (vgl. Brand 2010, S. 5 ;
Kissling/Klein 2010, S. 1-5; Krautz 2016, S. 63-70), erweckt den Bedarf an einer nötigen kriti-
schen Betrachtung dieser Zusammenhänge.
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Aus diesen internationalen Bemühungen um eine geschützte und anfänglich selbstbestimm-
te gesellschaftliche Stellung der Kinder – die man mit der Verabschiedung von World Child
Welfare auf das Jahr 1924 datieren kann (vgl. Bühler-Niederberger 2021, S. 27) – entstan-
den durch das zunehmende wissenschaftliche Interesse an ihrer subjektiven Welt die Child-
hood Studies und die zunehmende Etablierung der Ansicht kindlicher Akteurschaft – Kin-
der seien zentrale und handlungsfähige Mitkonstrukteure ihrer Lebenswelt (vgl. Andresen/
Hurrelmann 2010, S. 64 f.; Betz/Eßer 2016, S. 301 f.; Bollig 2020, S. 21 ff.; Bühler-Niederber-
ger 2020, S. 196-200; Joos et al., S. 8; Müller-Giebeler 2015, S. 1). Doch wie Kluge (vgl. Klu-
ge 2021, S. 175) treffend darstellt, ist das darauf beruhende Konzept nur dann differenziert
genug dargestellt, wenn es die Handlungsfähigkeit der Kinder in einem Netz aus verschiede-
nen Interessen begreift. Als einen solchen Kontext erwähnt er die ökonomische Marktlogik.
Die Vielzahl an kritischen Fragestellungen, die das wissenschaftliche Umfeld der Kindheits-
forschung aktuell beschäftigt und die von Kluge als eine „Irritation der Kindheitsforschung
über sich selbst“ (Kluge 2021, S. 5) bezeichnet wurde, betrifft zwar vor allem ihre Ausrich-
tung, Einheitlichkeit, theoretische Untermauerung und ihr grundsätzliches Fortbestehen (vgl.
a.a.O., S. 3-9), doch auch die Frage nach einer neoliberalen Instrumentalisierung dieser For-
schungsrichtung und der damit verbundenen Lebensphase bedarf einer genaueren Untersu-
chung. Mit Neoliberalismus soll eine gesellschaftliche Bewegung gemeint sein, welche das
Individuum, wie auch den Markt vom staatlichen Einfluss befreien will, indem politische Dere-
gulierung, Etablierung sozialer Hierarchien und die Maxime “jeder ist des eigenen Glückes
Schmied“ zum Leitziel gesellschaftlicher Gestaltung erhoben werden (vgl. Brand 2010, S. 3).
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gründet demnach auf der Tradition der Gesellschafts-
kritik, die man als eine Notwendigkeit kritischer Betrachtung tragender und öffentlichkeits-
wirksamer Organisationen und ihrer Trends in Bezug auf ihre ethische und vernunft- oder un-
vernunftbasierte Inhalte beschreiben kann (vgl. Ritsert S. 49 f., 63). Hieraus ergibt sich fol-
gende Forschungsfrage: Inwiefern trägt das Konzept der kindlichen Akteurschaft und seine
Förderung zur neoliberalen Instrumentalisierung der Kindheit bei?
Der erste Teil der Arbeit beinhaltet die Darstellung des Konzepts der kindlichen Akteur-
schaft und seiner geschichtlichen Entwicklung mit dem aktuellen Forschungsstand. Im zwei-
ten Teil werden zwei Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus dem Bereich der Ak-
teurschaft vorgestellt. Der dritte Teil widmet sich der Diskussion der Forschungsresultate
unter Einbezug neoliberaler Bestrebungen. Der Abschlussteil dient der Verknüpfung zur ge-
stellten Forschungsfrage und ihrer bildungswissenschaftlichen Relevanz im Rahmen der Kin-
der- und Jugendforschung, einer daraus folgenden kurzen Zusammenfassung der Ergebnis-
se und Ansätzen für die weitere Forschungsnotwendigkeit.
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1 Konzept kindlicher Akteurschaft als Befreiung der Kindheit
„Das Kind soll sich selbst werden“
(de Singly 2005, S. 108)
1.1 Die Wurzeln der Förderung kindlicher Emanzipation
Als Jean-Jacques Rousseau (vgl. Rousseau 2010, S. 13) die menschliche Kultur kritisierte
und 1762 einen „Schutzwall um die Seele“ (a.a.O., S. 14) des Kindes wünschte, das Einwi-
ckeln der Kinder als einen „grausamen Zwang“ (a.a.O., S. 27) bezeichnete, welcher ihnen
die gesunde Entwicklung ihrer körperlichen und seelischen Anlagen nimmt (vgl. a.a.O., S. 26
f.), sah er die Erziehung dennoch als die Veredelung des Menschen (vgl. a.a.O., S. 15). Sein
Appell galt jedoch einer Erziehung, die den Menschen als eine Persönlichkeit „ein Ganzes
für sich“ (a.a.O., S. 18) und seinesgleichen versteht und ihn nicht als einen Bürger in der Ge-
sellschaft, als einen Teil der Einheit, die ihm erst die Bedeutung seiner Existenz verleihen
soll, einfügen will (vgl. a.a.O., S. 18 f.). Die Natur nimmt bei Rousseau eine zentrale, die Er-
ziehung leitende Stelle ein (vgl. a.a.O., S. 35, 67). Dabei soll keine äußere Gewohnheit der
Essens-, Schlaf- oder sonstigen Rhythmen die Entwicklung des kindlichen Willens stören.
Das Kind soll auf natürliche Weise seine Gewohnheiten entwickeln (vgl. a.a.O., S. 71). Die
Erziehung zielt nach Rousseau auf die Freiheit und nicht auf die Herrschaft des Kindes oder
des Erziehers. Sie soll dem Kind das Verlangen nach Hilfe abgewöhnen (vgl. a.a.O., S. 83).
Der Erzieher eines Kindes, welcher explizit als ein Mann erwähnt wird, sollte für eine echte
Zuneigung möglichst jung sein, da das reife Alter kaum etwas mit der Kindheit gemeinsam
hat (vgl. a.a.O., S. 45).
Anfang des 20. Jahrhunderts kritisiert Maria Montessori (vgl. Montessori 2011, S. 7) die An-
sprüche der erwachsenen Welt gegenüber den Kindern. Sie erwähnt den darin liegenden
wissenschaftsresistenten Glauben an die Formung des kindlichen Charakters durch den Er-
wachsenen und die Betrachtung der Kindheit als ein „Durchgangsstadium zum Erwachsen-
sein“ (ebd.). Das nach innen gerichtete Kind sei ein Objekt der Erziehung, welches sich ge-
genüber der nach außen gerichteten, produktiven und verobjektivierten Erwachsenenwelt
fremd und außersozial fühlt (vgl. a.a.O., S 8 f.). Das Kind und der Erwachsene sind „zwei
vollkommen verschiedene Wesen“ (ebd.). Dieses Problem soll durch das Streben des Er-
wachsenen nach einer harmonischen und verständnisvollen Beziehung mit dem Kind gelöst
werden. Dadurch versteht der Erwachsene dem Kind eine Umgebung zu schaffen, die ihn er-
mächtigt sich darin frei zu entwickeln (vgl. a.a.O., S. 9). Die Formung des kindlichen Charak-
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ters ist ausschließlich die uns fremde, geheimnisvolle Aufgabe – die Erwachsene erst gar
nicht ergründen sollen – der eigenen sich entfaltenden Persönlichkeit des Kindes (vgl.
a.a.O., S. 10). Die Erziehung versteht sich darin lediglich als Schutz und Pflege dieser freien
Selbstentfaltung, mit indirekter Hilfe der durch den Erwachsenen gestalteten, kindliche Be-
dürfnisse befriedigenden äußeren Welt (ebd.). Diese äußere Welt tritt dem Kind in der Form
des speziell für diesen Zweck entwickelten Materials entgegen (vgl. a.a.O., S. 16).
Zieht man einen Vergleich zwischen diesen beiden pädagogischen Meilensteinen, kann man
sie, zumindest in einigen Gesichtspunkten, als eine konsequente Weiterentwicklung der
einen Idee auffassen – die Befreiung der Kindheit oder die Befreiung des Kindes von er-
wachsenen Vorstellungen. Wenn Rousseau die Natur als die Leitlinie der Erziehung be-
trachtete, nach der sich der Erzieher zu richten hat, dann holte Montessori diese ‘Natur‘ in
das Innere des Kindes hinein. Die bei Rousseau auftretende anfängliche Subjektivierung des
kindlichen Erlebens wird durch Montessori geradezu verabsolutiert. Das Kind wird zum Zen-
trum seiner eigenen Entwicklung und der Erwachsene zum Gestalter kindlicher Peripherie.
Sein kindliches Wesen scheint demnach aus sich heraus eine gesunde Gewohnheit und ge-
sunde Bedürfnisse zu entfalten, wenn der Erwachsene einen entsprechenden Schutz, eine
förderliche Umgebung und nötige Pflege bietet.
1.2 Aktuelles Verständnis der Kinder als Akteure
Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erschütterte die Erziehungspraxis und förderte die Aus-
einandersetzung mit zu autoritären Strukturen neigender Persönlichkeit, deren Grundlagen
bereits in der Kindheit gelegt werden (vgl. Baader/Sager 2010, S. 258 f.). Die 1950er Jahre
waren zwar noch stark an der autoritären Erziehung zum Gehorsam, samt körperlicher Be-
strafung und geringer Nachgiebigkeit der Eltern ausgerichtet – in der Überzeugung man
möge so den schlechten Gewohnheiten und dem Hang zum Bösen vorbeugen (vgl. Bühler-
Niederberger 2020, S. 35) – dennoch kann man in dieser Zeit von einem Übergang von der
„Elternbestimmtheit der Kinder zur Kindbezogenheit der Eltern“ (Schütze 2002, S. 72) spre-
chen. Auch wenn es vorerst nicht um die eigenen Bedürfnisse der Kinder, sondern um ihr ei-
genständiges Erfüllen bestimmter sozialer und sittlicher Vorstellungen ging (vgl. Bühler-Nie-
derberger 2020, S. 36), entstand zunehmend um das Ende der 1960er Jahre eine antiauto-
ritäre Erziehungsbewegung, welche sich an den Bedürfnissen der Kinder orientierte. Die
Kinderladenbewegung zeigt diese Zusammenhänge am deutlichsten (vgl. a.a.O., S. 256).
Kindliche Selbstentfaltung und Autonomie sollen die Abhängigkeit von den Erwachsenen re-
lativieren und sie somit resistenter gegen faschistische Ideologien machen (vgl. a.a.O., S.
259). Die Selbstregulation, durch die das Kind seine Bedürfnisse eigenständig und frei äu-
ßern und regulieren soll, kann als ein zentrales Erziehungsprinzip der Kinderladenbewegung
(vgl. a.a.O., S. 260) durchaus auch im Sinne von Rousseau und Montessori verstanden wer-
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den. Auch der Umgang mit Sexualität, welcher nach Reich im Falle ihrer Unterdrückung ganz
zentral zum Faschismus beigetragen hat, sollte dieser Bewegung nach freier und selbstbe-
stimmter ermöglicht werden (vgl. a.a.O., S. 259, 261). Kinder werden somit zunehmend als
eigenständige Akteure in Bezug auf ihre Bedürfnisse und Emotionen betrachtet (vgl. a.a.O.,
S. 262-265).
Seit den 1990er Jahren entsteht ein wachsendes Interesse die gesellschaftliche Entwicklung
und ihre Auswirkung auf das Leben der Kinder empirisch zu fassen und theoretisch zu kodie-
ren (vgl. Braches-Chyrek et al. 2011, S. 9). Mit Hilfe der Sozialberichterstattung (vgl. a.a.O.,
S. 10) können Kinder als „teil-kompetente und teil-autonome AkteurInnen ihres Selbst und ih-
rer Sozialwelten“ (a.a.O., S. 9) untersucht werden. Ihre Handlungsbefähigungen und Kompe-
tenzen, sowie Beurteilungen und Interpretationen der sozialen Umgebung rücken ins Zen-
trum dieser Forschung (ebd.). Um die kindliche Handlungskompetenz in einer Sozialtheorie
zu verankern und somit die Beweggründe und Prinzipien ihres Handelns erklären zu können,
entwickeln James und Prout die ersten theoretischen Überlegungen, die sich auf den rezi-
proken Zusammenhang von struktur-(re-)produzierendem Handeln und handeln-ermögli-
chenden und -regelnden Strukturen beziehen (vgl. Bühler-Niederberger 2020, S. 196 f.).
Gleichzeitig gerät in dieser Zeit der bereits bei Rousseau – inhaltlich, nicht begrifflich – ange-
deutete und bei Montessori stark kritisierte Adultismus in Form der sozialisationsorientier-
ten Forschungsperspektive als symbolische Gewalt in Kritik (vgl. Braches-Chyrek et al.
2011, S. 11). Die auf die Befreiung von der adultistischen Sicht auf die Kinder und auf ihre
handlungsfähige Akteurschaft [Agency] gerichteten ErziehungswissenschaftlerInnen und So-
zialarbeiterInnen hatten zwar kein vorrangiges Interesse an allgemeinen Gesellschaftsanaly-
sen und soziologischen Ansätzen, die handlungstheoretische Perspektive und der interdiszi-
plinäre Zusammenhang trugen jedoch entscheidend zum Entstehen der sogenannten „Child-
hood Studies“ bei. Das sich dadurch energisch entwickelnde Konzept der kindlichen Akteur-
schaft verstand sich in der Funktion der anwaltlichen Vertretung kindlicher Stimmen gegen
die adultistische Sichtweise (vgl. Bühler-Niederberger 2020, S. 197).
Diese, von Leena Alanen als eine „elitist perspective“ (Alanen 1988, S. 58) bezeichnete
Sichtweise, definiert das Kind als einen werdenden, gesellschaftliche Strukturen reproduzie-
renden Erwachsenen. Die elitär und funktionalistisch denkenden Erwachsenen grenzen da-
bei die Beweggründe und Interessen der Kinder aus und lassen sie somit nicht an ihrer eige-
nen Sozialisation aktiv teilnehmen. Die Kinder bleiben dabei passive Objekte und Opfer äu-
ßerer Einflüsse. Alanen bezeichnet dies als einen „sociological determinism“ (ebd.) oder als
„socialization-as-internalization“ (a.a.O., S. 59) und entwickelt ein Konzept der generationa-
len Ordnung, welches als Organisation und Reproduktion sozialer Positionen und Dispositio-
nen durch Machtverhältnisse definiert werden kann (vgl. Braches-Chyrek et al. 2011, S. 12).
Sie beschreibt wie die Idee der modernen Kindheit mit dem Zweck der Reproduktion des so-
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zialen Status der Bourgeoisie in sich strukturell ändernden Umständen entstand, um dann
als Produkt auch den anderen gesellschaftlichen Schichten zugänglich zu werden (vgl.
a.a.O., S. 64). Daraufhin definiert Alanen die „dekonstruktive Kinder- und Kindheitssozio-
logie“ (Braches-Chyrek et al. 2011, S. 11) als eine weitere Perspektive der soziologischen
Kindheitsforschung, in der das Konzept der Generation lediglich symbolisch aufgefasst wird,
ohne einen „analytischen Beitrag“ (ebd.) zur Dekonstruktion zu leisten. Die Familie, wie die
Kindheit stellen dabei gesellschaftlich-historische Konstruktionen dar, die in Form damit ver-
bundener Themen kritisch dekonstruiert werden müssen (vgl. Alanen 1988, S. 61-64). Die
von Braches-Chyrek et al. beschriebene dritte Forschungsperspektive definiert die Generati-
on eher als ein „analytisches Problem“ (Braches-Chyrek et al. 2011, S. 12), als eine soziale
Struktur, die als „ein relationales Merkmal, das nur in der und durch die Relation zu anderen
Merkmalen existiert“ (Bourdieu 1998, S. 18), betrachtet werden kann. Diese Forschungsrich-
tung versteht sich als „der strukturelle Ansatz der Soziologie der Kindheit“ (Braches-
Chyrek et al. 2011, S. 12). Ihr Fokus liegt vorrangig in der kritischen Ergründung der genera-
tionalen Ordnung durch die Analyse der Relationen und nicht in der Verortung bestimmter
durch gemeinsame Merkmale zusammengehaltener Gruppen. Die Relationen beschreiben
dabei „Beziehungen, den Abstand, die Differenzen zwischen Individuen, Strukturen und Sys-
temen und damit eben auch die Verhältnisse“ (ebd.).
Die radikal formulierten Postulate der Childhood Studies für Kinder als bedingungslos kom-
petente Akteure wurden allerdings im fortlaufenden 21. Jhdt. durch internationale Vergleiche
relativiert. Einerseits beeindruckten die Ergebnisse von Studien zu Kindern des Globalen Sü-
dens die herausragende Fähigkeit der Kinder zu Selbstversorgung und Versorgung von Fa-
milienangehörigen, andererseits war die Realisierung ihrer Wünsche und Bedürfnisse sehr
eingeschränkt. Der aktuelle Stand der Forschung bezieht sich deshalb auf verschiedene Pra-
xistheorien, in denen das Soziale in konkreten alltäglichen Interaktionen und Handlungsab-
läufen, Praktiken entsteht. Je nach Bezug zu verschiedenen Theorien aus der Soziologie
können Handelnde sich mehr oder weniger gegen eine vorgegebene Struktur behaupten und
Neues kreieren (vgl. Bühler-Niederberger 2020, S. 198 f.).
Die Auswirkungen dieser recht langen Entwicklung der “befreiten Kindheit“ schlagen sich vor
allem in der rechtskräftigen Zusammenfassung von Rechten Minderjähriger, in der UN-Kin-
derrechtskonvention (vgl. Bandt 2011, S. 71) und somit in dem internationalen Druck zur
Erfüllung transnationaler kindlicher Ansprüche auf Partizipation, persönliche Entfaltung und
körperliche Unversehrtheit nieder (vgl. Bollig 2019, S. 5; Bühler-Niederberger 2021, S. 29 f.).
Dabei wird die Grenze zwischen der Erwachsenheit und Kindheit durch die geförderte und
geforderte Partizipation und Autonomie immer diffuser (vgl. Kluge 2021, S. 111-122). Das
Kind soll zur mündigen Mittätigkeit in einer für lange Zeit als exklusiv geltenden, von Erwach-
senen für Erwachsene gestalteten Welt angeregt werden.
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2 Praktische Umsetzung des Konzepts kindlicher Akteurschaft
2.1 „Kinder als Akteure in Qualitätsentwicklung und Forschung“
Solche Forderungen und Ansprüche der kindzentrierten Mitgestaltung und Autonomie verbin-
den sich nicht nur mit der Mikroebene kindlicher Handlungen, Bedürfnisse und Interaktionen
des praktischen pädagogischen Alltags, wie zum Beispiel in dem baden-württembergischen
Orientierungsplan für Kindergärten und KiTas (vgl. MKJS 2015, S. 96-103), sondern auch mit
der Mesoebene und der nicht ganz neuen Tendenz zur Formgebung institutioneller pädago-
gischer Strukturen, wie die Absicht demokratische Mitgestaltungsrechte an den Schulen zu
integrieren (vgl. Meyer 1973, S. 19 f.; Reisenauer 2020, S. 3-22). Diese institutionelle Mitge-
staltungstendenz betrifft aber nicht nur den Primär- und Sekundärbereich des Bildungssys-
tems, sondern auch ganz aktuell die Qualitätsentwicklung des Elementarbereichs erzieheri-
scher Einrichtungen (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2021, S. 8). Sie bezieht also die jüngeren
Kinder in die institutionelle Gestaltung mit ein und ist für die vorliegende Forschungsarbeit
aufgrund der Komplettierung der zu partizipierenden jüngeren Altersspanne vom Interesse.
Im Folgenden soll die damit zusammenhängende Studie „Kinder als Akteure in Qualitätsent-
wicklung und Forschung“ (ebd.) analysiert werden.
Das Erkenntnisinteresse dieser Studie richtet sich auf die Beteiligung der Kinder an der
„Professionalisierung der frühpädagogischen Fachkräfte“ (a.a.O., S. 11), indem sie an Pro-
zessen der Meinungs- und Entscheidungsbildung, sowie auch am Beschwerdemanagement
partizipiert werden (ebd.). Die Begründung dieser Notwendigkeit liegt in der systemischen
Denkweise bezüglich eines „kompetenten Systems“ (Urban et al. 2012, S. 21) zusammenwir-
kender Akteure. Die Qualität bedingt also aus systemischer Sicht einen interperspektivi-
schen, nicht adultistischen Ansatz, welcher die Kinder in ihrem Akteurstatus anerkennt (vgl.
Nentwig-Gesemann et al. 2021, S. 11).
Die Studie entwickelt einen „Kinderperspektivenansatz“, welcher einerseits auf der dokumen-
tarischen Methode des praxeologischen Ansatzes basiert (vgl. a.a.O., S. 29) und somit zur
Kindheitsforschung und Frühpädagogik beitragen will. Andererseits will dieser Ansatz eine
Basis für die Professionalisierung der Fachkräfte durch die Bereitstellung einer praxisorien-
tierten Methodenpalette zur eigenständigen Erarbeitung des Einblickes in die Kinderperspek-
tiven schaffen (vgl a.a.O., S. 13 f., 170 ff.). Das Zweitere sehen die Autoren und Autorinnen
als eine Forcierung des Paradigmenwechsels in Bezug auf den reflexiven, mit den Kindern
forschenden Blick professioneller Fachkräfte, die zur Auflösung des „hierarchisierten Besser-
wissens“ (vgl. Luhmann 1992, S. 508 ff.) – der hierarchischen Vormachtstellung forschender
10
WissenschaftlerInnen gegenüber den ausführenden Fachkräften – beitragen soll (vgl a.a.O.,
S. 13). Die Methoden zur forschenden Praxis sollen den Fachkräften eine innovative Berufs-
praxis mit der Anwendung vom wissenschaftlichen Wissen und seiner Transformation in den
praktischen Vollzug ermöglichen (vgl. a.a.O., S. 14).
Als leitende Forschungsfrage definieren die VerfasserInnen Folgendes: „Was macht eine
KiTa aus den (expliziten und vor allem impliziten) Perspektiven der Kinder zu einer ‚guten‘
KiTa?“ (ebd.) und präzisieren diese Frage mit einigen weiteren inhaltlich konkreteren Fragen.
Die theoretische Verortung der Studie bewegt sich in dem bereits dargestellten Rahmen
der Childhood Studies und der daraus resultierenden Ansicht kompetenter kindlicher Akteu-
re. Das Konstrukt der Akteurschaft wird jedoch auch in Bezug auf seine Grenzen betrachtet
und die Agency in den Kontext der Mileus, Strukturen und Institutionen gesetzt. Womit eine
relationale Perspektive auf Akteurschaft eingenommen wird, die nicht per Geburt gegeben
ist, sondern durch den obigen Kontext begrenzt und mitgestaltet wird (vgl a.a.O., S. 16 f.).
Der theoretische Rahmen stützt sich also auf aktuelle praxistheoretische Paradigmen.
Das Sampling der Studie beinhaltet eine ältere Studie im gleichen Kontext, welche von April
2016 bis März 2017 durchgeführt wurde und bei der Auswahl von sechs KiTas auf dem Ga-
tekeeper-Prinzip der Experten und Expertinnen basierte. Die aktuelle Studie ergänzte sieben
weitere KiTas und nutzte dafür als Profi-Sampling das Prinzip der maximalen Kontrastierung,
um verschiedene Milieus, Strukturen und Umgebungen abzudecken. Beide Studien waren
hypothesegenerierend angelegt, mit der Absicht möglichst viele Perspektiven der Kinder aus
unterschiedlichen Milieus und Settings zu sammeln. Die bereits aus der älteren Studie defi-
nierten Qualitätsdimensionen konnten somit nicht nur empirisch gesättigt, aber auch erwei-
tert, differenziert und präzisiert werden. Die Teilnahme der vier- bis sechsjährigen Kinder er-
folgte bei gezeigtem Interesse ohne Vorauswahl nach dem erteilten Einverständnis Erzie-
hungsberechtigter. Die Beteiligung betrug insgesamt 193 Kinder (vgl. a.a.O., S. 29 ff.).
Die Erhebungsmethoden stützten sich nach verständlicher Erläuterung des Themas gegen-
über den Kindern auf „den multimethodischen Ansatz des Mosaic Approach“ (a.a.O., S. 31)
und orientierten sich stark an den kindlichen Bedürfnissen, um möglichst viele Freiräume zu
bieten. Die Gesprächsführung baute auf „den Prinzipien der Offenheit, der demonstrativen
Vagheit und der Generierung von Selbstläufigkeit“ (ebd.) auf und wurde durch erzählgenerie-
rende Fragen ergänzt (ebd.). Für die Erhebung wurden zwölf Erhebungsmethoden entwickelt
und genutzt: (videogestüzte) Gruppendiskussion, Bilderbuchbetrachtung, Malbegleitende
Gespräche, foto- / videobasierte KiTa-Führung, Verbesserungsspaziergang, Sozialraumer-
kundung, Kinder fotografieren ihre KiTa, teilnehmende und videobasierte Beobachtung, Be-
schwerdemauer, „Ein ganz verrückter schöner Tag“ (vgl. a.a.O., S. 32-33).
11
Als Auswertungsmethode für die gesammelten Daten wurde die Dokumentarische Metho-
de mit der dazugehörigen komparativen Analyse und der soziogenetischen Interpretations-
haltung angewendet, um „implizites, habitualisiertes und inkorporiertes Wissen begrifflich-
theoretisch zu explizieren“ (a.a.O., S. 34), wiederkehrende Dimensionen herauszukristallisie-
ren, sie empirisch zu sättigen und bestimmte Orientierungen mit bestimmten Milieus zu ver-
binden (ebd.).
Die Ergebnisse der Studie, die explizit im Sinne einer „Kinderperspektivenstudie“ (a.a.O., S.
163) gedeutet werden, können in sieben Qualitätsbereichen und insgesamt 23 Qualitätsdi-
mensionen zusammengefasst werden (vgl. a.a.O., S. 36), die hier aufgrund des engen Rah-
mens nicht genau besprochen werden können. Die Qualitätsdimensionen wurden unmittel-
bar aus den rekonstruierten kindlichen Erlebnissen, Bedürfnissen und Praktiken formuliert.
Sie bewegen sich zwischen den „positiven und negativen (Gegen-)Horizonten“ (a.a.O., S.
163) rekonstruierter habitueller Orientierungen der Kinder. Es war nicht die Absicht der Stu-
die, die Erfüllung der Dimensionen zu prüfen, sondern zu beleuchten, wie alle Akteure mit
den Qualitätsdimensionen umgehen und sie im Alltag ausgestalten (ebd.). Die Qualitätsbe-
reiche abstrahieren die inhaltliche Nähe der Dimensionen in zusammenfassenden Clustern.
Die Einteilung weist allerdings teilweise mehrere Querverbindungen zwischen verschiedenen
Dimensionen und Qualitätsbereichen auf (vgl. a.a.O., S. 37 f.).
Der Faktor des subjektiven Wohlbefindens der Kinder wird als ein „zweifelsfrei starker Indika-
tor für ‚gute‘ KiTa-Qualität“ (a.a.O., S. 163) interpretiert. Wobei die Studie eine bisher vorhan-
dene Forschungslücke zu schließen meint, indem sie genaue Bedeutung des Wohlbefindens
aus der Perspektive der Kinder herausarbeitet und somit zur Wohlbefindensforschung beitra-
gen will (ebd.). Das Wohlbefinden, auch in Bezug auf die Eltern und Fachkräfte, wird grund-
sätzlich als ein bestimmendes Thema vorgeführt (a.a.O., S. 165, 166).
Die Ebene der Qualitätsbereiche verdeutlicht, dass die Kinder sich einerseits sehr stark mit
den sozialen Beziehungen in der KiTa beschäftigen. Ihnen scheint es aber weniger um indi-
viduelle Bindungsbeziehungen zu Fachkräften zu gehen, sondern um ein „allgemeines inter-
generationales Beziehungs- und Interaktionsklima, das von Sicherheit und Vertrauen,
Freundlichkeit und Humor sowie für die Kinder interessanten Angeboten und Aktivitäten ge-
prägt ist“ (a.a.O., S. 164). Andererseits wünschen sich die Kinder „interessante und anre-
gungsreiche, bedeutungsoffene und von ihnen selbst gestaltbare Räume, Materialien und
Dinge“ (ebd.), um ihre Umgebung „handlungspraktisch und / oder kognitiv zu durchdringen“
(ebd.). Außerdem kamen die subjektive Bedeutung ihrer Individualisierung – im Sinne der
Wichtigkeit der Wahrnehmung und Anerkennung ihrer Individualität – und ihr Potenzial zur
Aushandlung von Regeln und zum Herausfordern der generationalen Ordnung in dialogi-
schen Prozessen zum Vorschein (ebd.).
12
Die Studie kommt mit folgender Aussage zu einer sehr eindeutigen Schlussfolgerung, die
aufgrund ihrer Deutlichkeit vollständig zitiert werden soll: „Da die vorgelegte Studie zeigen
konnte, dass vier- bis sechsjährige Kinder sehr wohl in der Lage sind, selbst differenziert
über ihre expliziten und impliziten Orientierungen hinsichtlich ‚guter‘ Qualität Auskunft zu ge-
ben, wenn ihnen dafür Frei- und Schutzräume zur Verfügung gestellt werden, ist es nicht zu
rechtfertigen, sie aus der Einschätzung und Entwicklung von KiTa-Qualität auszuschließen“
(a.a.O., S. 166). Demnach müssen die Kinder in den Qualitätsdiskurs über den normativen
Rahmen einer “guten“ KiTa miteinbezogen werden (ebd.). Als den eigenen metanormativen
Kontext erwähnen die Autoren und Autorinnen der Studie die Kinderrechte nach der UN-Kin-
derrechtskonvention und den Dialog im Sinne einer „dialogorientierten Praxis“ (a.a.O., S.
165).
Abschließend betonen die AutorInnen noch einmal die Bedeutung der Professionalität in Be-
zug auf den Paradigmenwechsel hin zu einer wissenschaftlich-forschenden Haltung im Ar-
beitsalltag der Fachkräfte, die nicht auf die bloße Umsetzung von gegebenen Normen baut,
sondern sich auf das eigene reflektierte Erfahrungswissen stützt und erwähnen die Möglich-
keit der „Weiterbildung zur Fachkraft für Kinderperspektiven“ (a.a.O., S. 170-172).
Aufgrund der praxistheoretischen Orientierung, welche in diesem Kontext vor allem die insti-
tutionelle und berufsspezifische intergenerationale Gestaltung eines „kompetenten Systems“
(Urban et al. 2012, S. 21) – unter aktivem Einbezug kindlicher Partizipation – im Blick hatte
und die Einbettung dieses Systems in den gesellschaftskritischen und internationalen Kon-
text nicht beabsichtigte, kann diese Studie nicht direkt zur Klärung der Forschungsfrage die-
ser Arbeit beitragen. Sie zeigt jedoch unmittelbar, in welcher Art die Umsetzung der Paradig-
men kindlicher Akteurschaft in die erzieherische, institutionelle und berufsbildende Realität
einzieht. Um zumindest den internationalen Vergleich zu realisieren, wird im folgenden Kapi-
tel eine Studie aus Kyrgyzstan herangezogen, da sie in Bezug auf die Gesellschaftsform
konstrastierend wirkt.
2.2 „Young children in Kyrgyzstan: Agency in tight hierarchical structures“
Die Autorinnen der Studie „Young children in Kyrgyzstan: Agency in tight hierarchical structu-
res“ (Bühler-Niederberger/Schwittek 2013, 2014) beschreiben innerhalb ihres theoretischen
Rahmens vorerst die besondere ökonomische, politische und soziale Lage in Kyrgyzstan,
die von Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption geprägt ist. Aus diesem Grund besteht eine
hohe Abhängigkeit von sozialen Netzwerken und gegenseitiger Unterstützung. Die jüngere
Generation ist verpflichtet die Älteren zu achten und für sie zu sorgen, was sich bis in die
Verhaltensregeln und verfassungsrechtliche Strukturen niederschlägt. Es besteht also eine
klare Altershierarchie und kaum Investition in die Erziehung von Kleinkindern. Der Umgang
13
mit Kindern ist durchzogen von einer strengen Disziplin (vgl. Bühler-Niederberger/Schwittek
2013, S. 503). Die dort herrschende Gesellschaftsstruktur, die aus den Erkenntnissen in den
ostasiatischen Ländern abstrahiert wird, wird mit dem Konzept der kollektivistischen Gesell-
schaft umschrieben. Diese Gesellschaftsform basiert auf einem loyalen Miteinander und der
Selbstdefinition über die sozialen Erwartungen. Im dichotomischen Sinne wird als konträre
Gesellschaftsform die amerikanische Kultur erwähnt, die vom Individualismus, persönlicher
Unabhängigkeit und einem Drang zum Vorwärtskommen durchzogen ist (vgl. a.a.O., S. 504).
In diesem Sinne unterscheidet sich auch die Wertevermittlung von Eltern an die Kinder. Indi-
vidualistische Kulturen vermitteln „fast ausschließlich psychologische Werte (Liebe, Freude,
Stolz)“ (ebd.), kollektivistische vermitteln „auch ökonomische / utilitaristische Werte […] (Mit-
hilfe im Haushalt und im Unternehmen der Familie, Beitrag zum Erhalt der Familie)“ (ebd.).
Trotz der Betonung der Relevanz dieser kulturellen Besonderheit bei der Interpretation von
erhobenen Daten, kritisieren die Autorinnen das dichotome Gesellschaftskonzept und beru-
fen sich einerseits auf die interne Heterogenität gesellschaftlicher Kulturen, die kollektivisti-
sche wie individualistische Haltungen gleichzeitig vorweisen und andererseits auf einen Kul-
turbegriff, der als eine ständig von allen Akteuren zu erarbeitende und auszuhandelnde rela-
tionale Ordnung definiert wird und nicht in sich stabil und langfristig ist (vgl. a.a.O., S. 504 f.).
Dabei verdeutlichen sie die entscheidende Realität der Globalisierungsprozesse, die in ver-
schiedenen Gesellschaften ihre eigene Form der Modernität schaffen. Von Pieterse wird die-
ser Prozess Hybridisierung genannt (vgl. a.a.O., S. 505).
Aus dem eben beschriebenen Verständnis des Kulturbegriffs stellen die Autorinnen eine Ver-
bindung zur entsprechend aktiven, durch alle Beteiligten auszuhandelnden Enkulturation und
beziehen sich in diesem Kontext auf das Konzept kindlicher Akteurschaft und Handlungsfä-
higkeit (ebd.). Wobei sie dieses Konzept mit dem theoretischen Ansatz der Chicagoer Schule
verbinden und somit zwischen sozialer Struktur und dem jeweiligen Akteur keine dualistische
Ansicht vertreten (vgl. a.a.O., S. 506), sondern lediglich eine strukturelle und eine selbstbe-
zogene Dimension der kindlichen Handlung differenzieren (vgl. a.a.O., S. 507).
Das Erkenntnisinteresse der Studie richtet sich darauf, empirische Belege für die theoreti-
schen Konzepte der kollektivistischen Gesellschaft und kindlichen Akteurschaft zu sammeln.
Die daraus gebildete Forschungsfrage fokussiert sich auf die sozialen Beziehungen der
Kinder, ihre Wahrnehmung und Selbstdefinition darin, was sie daraus bekommen und selbst
dazu beitragen (ebd.).
Bei dem Sampling handelt es sich um eine nicht repräsentative Stichprobe von 117 Kindern
im Alter von drei bis sechs Jahren, die nach dem Gatekeeper-Prinzip durch Kindergärtnerin-
nen in Bezug auf ihre kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten ausgewählt wurden. Wo-
bei die Autorinnen darin die Erklärung der Überrepräsentation von Mädchen sehen [67 zu
14
50]. Die Erhebung fand in drei Phasen je zwei bis vier Wochen zwischen April 2010 und April
2011 in vier verschiedenen – dörflichen und städtischen – Regionen statt. UNICEF und Aga-
Khan-Stiftung ermöglichten dabei den Zugang zu ihren Kinderbetreuungseinrichtungen und
den Einsatz von Dolmetschern (vgl. a.a.O., S. 507 f.).
Die Erhebungsmethoden bestanden aus 60 Elterninterviews zu Erziehungsstilen und Wer-
ten für Kinder, 30 zusätzlichen Hausbesuchen mit Feldnotizen über die Wohnsituation,
grundsätzlichen Feldnotizen, die im Hinblick auf die theoretischen Konzepte relevant erschie-
nen und sechs altersgerechten, zuvor entwickelten und erprobten Kinderübungen in Grup-
pen von vier Kindern [Lieblingsmenschen; Smileys; Hilfreiche Wanze; Mein Lieblingsort; Zu-
kunftswünsche; Puppenhaus – mein Tag]. Diese Übungen dauerten etwa eine Stunde und
wurden an zwei aufeinander folgenden Tagen eingesetzt (vgl. a.a.O., S. 507 ff.). Die Erhe-
bung Kind- und Elternbezogener Daten diente der „Kreuzvalidierung mit den Perspektiven
der Kinder auf soziale Beziehungen“ (a.a.O., S. 509). Als ihre Auswertungsmethode nutz-
ten die Autorinnen die Prinzipien der Grounded Theory und den entsprechenden Prozess
des Kodierens (vgl. a.a.O., S. 507).
Bei der Interpretation der Ergebnisse werden die unterlegene Position der Kinder innerhalb
der sozialen Hierarchie (vgl. a.a.O., S. 509), fehlende explizite Kinderräume (vgl. a.a.O., S.
512 f.), der starke funktionale Charakter der sozialen Beziehungen, welcher wenig emotiona-
ler Beiträge enthält (vgl. a.a.O., S. 510) und die Einbindung der meisten Kinder [85%] in die
Bewältigung alltäglicher Haushaltspflichten sichtbar (ebd.). Die Kinder erleben aber diese
Funktionalität als „eine positive Quelle der Selbsteinschätzung“ (ebd.) in Bezug auf ihr mora-
lisches Selbstbild. Außerdem entsprechen die zukünftigen Vorstellungen der Kinder den ho-
hen elterlichen und gesellschaftlichen Erwartungen (vgl. a.a.O., S. 511). Gleichzeitig be-
schweren sich die Kinder über verbale und körperliche Aggression, der sie sich zwar bei
hierarchischer Unterlegenheit fügen, sich aber dennoch darüber ärgern (vgl. a.a.O., S. 511
f.) und sie hinterfragen die sozialen hierarchischen Regeln (vgl. a.a.O., S. 513). Die Autorin-
nen interpretieren den Ärger, das Hinterfragen und die Zimmer- und Ortspräferenzen der
Kinder, die sich auf die außerhalb der Familienräume liegenden Räume beziehen, als „An-
zeichen von Widerstand und Selbstbehauptung“ (a.a.O., S. 511). In ihrer Schlussfolgerung
betonen die Autorinnen die Reproduktion der sozialen Ordnung durch die Kinder und ihren
Gehorsam gegenüber den Behörden, der einen Teil der wertbezogenen Selbstdefinition dar-
stellt. Diese Komplizenschaft zeigt allerdings auch Grenzen, wenn Verteilungsregeln und Ag-
gression das Selbstverständnis der Kinder stören. Diese Versuche der Selbstbehauptung
werden aber als bescheiden eingestuft. Die Autorinnen sehen allerdings ihre Einwände ge-
gen statische Annahmen individualistischer und kollektivistischer Gesellschaften trotz weitge-
hender struktureller Reproduktion als bestätigt an, da die vorhandene gesellschaftliche Ord-
nung im Alltag stets ausgehandelt werden muss. Sie wird auch nicht von Kleinkindern, die
15
ein eigenständiges Ich zur Geltung bringen wollen, bedingungslos vorausgesetzt (vgl. a.a.O.,
S. 513 f.).
Die vorliegende Studie trägt zwar zum internationalen und interkulturellem Vergleich bei und
zeigt somit gewisse Grenzen des Akteurschaft-Konzepts in Bezug auf den strukturell begren-
zenden gesellschaftlichen Rahmen, der zumindest zu einem Teil mit Hilfe der Kinder sich
selbst reproduziert, trotz der als explizit bescheiden beurteilten Selbstbehauptungsversuche
der Kinder resümiert diese Studie aber vor allem die aktive Mitgestaltung der gesellschaftli-
chen Ordnung durch die Kinder. Erstens, geben die Autorinnen der gesellschaftskritischen
Betrachtung der entdeckten strukturellen Reproduktion im Rahmen ihrer Studie zu wenig Be-
achtung. Zweitens, kommt darin die Notwendigkeit der Frage nicht auf, inwiefern die spezifi-
schen Muster neoliberaler, meritokratischer, eher individualistischer Gesellschaften, für die
die amerikanische Kultur stellvertretend steht (vgl. a.a.O., S. 504), ebenfalls in der Kinderer-
ziehung ihre partielle Reproduktion erfahren könnten. Auch wenn das Konzept der individua-
listischen und kollektivistischen Gesellschaftsformen nicht statisch aufzufassen ist, wäre die
Untersuchung beider Tendenzen in Bezug auf die erwähnte Reproduktion plausibel und in
Anbetracht gesellschaftskritischer Analyse notwendig.
Wenn die zuvor betrachtete Studie „Kinder als Akteure in Qualitätsentwicklung und For-
schung“ die Integration kindlicher Mitgestaltung erzieherischer Einrichtungen – im Kontext
der grundsätzlichen Partizipation an gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen – fordert
und strukturell, methodisch fördert, zeigt die Studie „Young children in Kyrgyzstan: Agency in
tight hierarchical structures“ eindeutige Grenzen dieser Förderung, die in Form hemmender
kultureller Strukturen sichtbar werden. Das Konzept der kindlichen Akteurschaft erscheint
hier also wie ein Advokat für die eher westlich orientierte Kultur, die sich als ein globaler Be-
freier der partizipierenden Kindheit versteht. In Anbetracht der Sorge um das Kindeswohl ist
seine beinahe zum heutigen Selbstverständnis gehörende theoretische und praktische Um-
setzung nachvollziehbar. Da diese westlich orientierte Kultur – die hier ausdrücklich nicht
statisch verstanden wird – sich aber nicht als per se moralisch aufrichtig definieren kann und
einige auf dem Neoliberalismus und Überwachungskapitalismus (vgl. Zuboff 2018, S. 22-27)
basierende moralisch-soziale Probleme aufweist (vgl a.a.O., S. 411-564), muss auch dieses
Bestreben im Lichte neoliberalistisch-globalisierender Ideale und Techniken betrachtet wer-
den, um einer differenzierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerecht zu werden. Al-
lein die zentrale Konzentration der Studie zur Qualitätsentwicklung an KiTas (S. 10) auf das
subjektive Wohlbefinden der Kinder und ihre Wünsche nach Freiräumen, Angeboten und Ak-
tivitäten (S. 12) weckt den leisen Verdacht nach einer zumindest potenziell darin enthaltenen
Analogie zu einer konsumgesteuerten Generation, welche sich auf den timelines von social
media Plattformen zwischen Konsum, dem krampfhaften Bedienen der eigenen Harmoniebe-
dürftigkeit und gelegentlichen Hassausbrüchen ausleben wird.
16
3 Akteurschaft im neoliberalen Kontext
„Junge Menschen haben einen tiefen Wunsch nach radikalen Änderungen […]
Die junge Generation ist ein entschlossener Vorreiter des sozialen Wandels.“
(Schwab/Malleret 2020, S. 118)
„Unsere Kinder haben in einem Schwarm groß zu werden, der im Namen des Überwa-
chungskapitalismus von den Vertretern der angewandten Utopistik gesteuert wird, überwacht
und ausgeformt von den wachsenden Kräften instrumentärer Macht.“
(Zuboff 2018, S. 515)
Das Bestreben die Partizipation der jungen Menschen an der Gesellschaftsstruktur zu for-
dern und zu fördern und ihre Akteurschaft zu betonen geschieht nicht in einem gesellschaftli-
chen Vakuum. Die neoliberal geprägte, von Techkonzernen beinahe global durchdrungene
international-ubiquitäre Kulturlandschaft des Internets, aus der die jungen Menschen ihre
„psychologische Nahrung“ (a.a.O., S. 513) beziehen, hat für eine gewisse Handlungsfähig-
keit vor allem junger Menschen, die sie selbst als einen zwanghaften Job wahrnehmen (vgl.
a.a.O., S. 514) einen eigenen Begriff geprägt – Influencer. Nymoen und Schmitt bezeichnen
Influencer als „das perfektionierte Testimonial“ (Nymoen/Schmitt 2021, S. 40), eine der klas-
sischen Werbung überlegenere Werbungsform, welche die Werbeprodukte mit Hilfe der per-
sönlichen, gefilmten Glaubwürdigkeit unter die potenziellen Kunden bringt. Das Entscheiden-
de für die vorliegende Arbeit soll allerdings nicht die spezifische Thematik eines Influencers
sein, die man gewiss nicht komplett deckungsgleich mit dem Konzept kindlicher Akteurschaft
bringen kann, sondern die annähernd ununterbrochene, massive Fremdsteuerung des Ver-
haltens junger Menschen, Schaffung von Abhängigkeit (vgl. Zuboff 2018, S. 511-515) und
die Realisierung der „von den Überwachungskapitalisten gebilligten sozialen Prinzipien der
instrumentären Gesellschaft“ (a.a.O., S. 514) durch die jungen Menschen selbst. In Anbe-
tracht der Forderung, dass die Kinder und Jugendlichen gleichzeitig als scheinbar eigenstän-
dige und handlungsfähige Akteure unsere Gesellschaft bis in die politische und institutionelle
Ebene mitgestalten sollen, ihnen – wie auch vermutlich vielen Erwachsenen – aber das um-
fassende Wissen um den höchst manipulativen neoliberalen, überwachungskapitalistischen
gesellschaftlichen Kontext fehlt, erscheint der kritische Blick auf diesen Zusammenhang sehr
angebracht. Der Gründer des Weltwirtschaftsforums und der “Kaderschmiede“ „Young Global
Leaders“ Klaus Schwab (vgl. Schwab 2020, S. 206-212), welcher zwar nicht explizit als ein
aktueller konservativer Vertreter neoliberaler Praktiken bezeichnet werden kann (vgl. Zeit
17
Online, v. 21.09.2020, S. 1), der aber die modernen Techniken der durch die Corona-Pande-
mie beschleunigten Digitalisierung – die den Boden für den Überwachungskapitalismus dar-
stellt – als ein „Muss“ betrachtet, sieht gerade in den jungen Menschen die unausweichliche
Radikalität [!] für den nötigen sozialen Wandel (vgl. a.a.O., S. 117 f.), den er selbst in seinem
Buch „Covid-19: Der große Umbruch“ beschreibt. Die jungen Aktivisten werden laut Schwab
(vgl. a.a.O., S. 222-224), in Bezug auf die notwendige Wandlung zu einer nachhaltigeren Zu-
kunft, als Überwacher und „Bestrafer“ von Unternehmen auftreten. Die genaue kritische Be-
trachtung dieser “nachhaltigeren Zukunft“, die durch die Aktivisten geradezu erzwungen wer-
den soll, kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht geleistet werden. Bezieht man den
Umstand der umfassenden Verhaltenssteuerung vor allem junger Menschen, erscheint die
Frage plausibel, inwiefern diese in ihrer Akteurschaft gestärkten Kinder und Jugendliche als
Influencer und radikale Aktivisten Ziele umsetzen und Gesellschaftsstrukturen fördern, die
mehr dem Überwachungskapitalismus dienen als ihnen selbst.
Die Instrumentalisierung der Kinder und Jugendlichen für Ideologien ist geschichtlich
durchaus bekannt. Der Sozialismus hatte ihre Pioniere und den Anschluss an die FDJ (vgl.
BPB 2016, S. 3), der Nationalsozialismus hatte die Hitlerjugend mit den Idealen HJ-Junge
und BDM-Mädel (vgl. Klönne 1990, S. 77). „Erziehung zum Aktivismus“ (ebd.) und die ganz
zentrale Bedeutung der Jugend als der treibenden Kraft des Nationalsozialismus (vgl. a.a.O.,
S. 84 f.) sind darin allerdings nicht die einzigen Parallelen zu der zuvor erwähnten radikalen
Aktivisten- und Influencer-Rolle moderner Kinder und Jugendlicher. Die nationalsozialistische
Jugendarbeit fand ihren Erfolg einerseits in der „Berücksichtigung jugendspezifischer Motiva-
tionen und Reaktionsweisen“ (a.a.O., S. 86) und andererseits in der zumindest anfänglichen
Auflehnung gegen die alte Generation (ebd.). Die jungen Menschen bekamen zumindest teil-
weise die Macht und den dazugehörigen Genuss als „Aufseher, Ankläger und Richter über
die Älteren“ (a.a.O., S. 87) aufzutreten. Zuboff beschreibt dagegen das Erfolgskonzept der
modernen Verhaltenssteuerung junger Menschen in überwachungskapitalistischer Gesell-
schaft und stellt fest, dass es in „einer Kombination von Verhaltenswissenschaft und brillian-
tem Design, das passgenau auf die Bedürfnisse dieser Alters- und Entwicklungsgruppe zu-
geschnitten ist“ (Zuboff 2018, S. 516), liegt. Betrachtet man beispielhaft die Bewegung „Fri-
days For Future“ und ihre radikalen Forderungen nach kleineren Wohnungen (vgl. Penne-
kamp 2020, S. 1) oder nach klimafreundlicher Politik (vgl. Obertreis 2019, S. 1) und bedenkt
das radikale Streben des Überwachungskapitalismus nach Effizienz (vgl. Zuboff 2018, S.
474) und den Umstand, dass die Hinwendung zu mehr oder weniger emissionsfreien Elektro-
geräten und entsprechenden Energiestrukturen einer der zentralen Bausteine der Digitalisie-
rung und somit der digitalen Überwachbarkeit darstellt [erst elektrische Strukturen ermögli-
chen zumindest potenziell eine datenbezogene Auswertbarkeit und Steuerung jeglicher Le-
bensbereiche], entsteht auch hier – trotz klimabedingter Bedrohungen – die plausible kriti-
18
sche Frage nach der reflexiven Handlungsfreiheit der dahinterstehenden jungen Menschen.
Es liegt also recht nahe die These aufzustellen, dass der Überwachungskapitalismus sich als
Ideologie junger Menschen bedienen will und sie als die Gestalter der unmittelbaren Zukunft
betrachtet.
Bei dem Einwand, diese Darstellung betreffe vor allem Jugendliche, soll auf die KIM-Studie
verwiesen werden, die sich mit der Integration der Medien in den Alltag der Kinder [6 bis 13
Jahre alt] beschäftigt. Dadurch ist es ersichtlich, dass die Medien und die darin mehr oder
weniger wirkenden überwachungskapitalistischen Akteure einen beachtlichen Teil zur Ent-
wicklung der Kinder beitragen (vgl. Kröger 2018, S. 57 ff.; mpfs 2020, S. 86 ff.). Wobei man
untersuchen müsste, inwiefern diese Studie, die von drei Medienanstalten als ein Kooperati-
onsprojekt durchgeführt wird (vgl. mpfs 2022, S. 1), aufgrund eines Interessenskonflikts vor
allem an der Profilierung von Medienkonsumenten, also eigenen Kunden und nicht an dem
kritischen Blick auf den tatsächlichen Medienkonsum interessiert ist. Kröger analysiert außer-
dem die Werbetechniken auf Kinderwebseiten, die ihm nach „einer Überwachungslogik fol-
gen“ (vgl. Kröger 2018, S. 265) und spricht, angelehnt an Meister und Sander (vgl. Meister/
Sander 2000, S. 351), von einer „vorkritischen Werbekompetenz“ (Kröger 2018, S. 264) der
Grundschüler, die einer medienpädagogischen Unterstützung und Reflexion bedarf. Er er-
wähnt in diesem Kontext, dass das durch das digitale Verhalten der Heranwachsenden ent-
stehende „Filter Bubble“ möglicherweise zur Begrenzung der Horizonte kindlicher Lebens-
welten beiträgt [!] (vgl. a.a.O., S. 266). Der Begriff der „vorkritischen Werbekompetenz“, der
sich auf die Übernahme der Meinungen über Werbung aus der Umgebung bezieht (vgl.
Meister/Sander 2017, S. 198), kann allerdings nicht unkritisch gebraucht werden, da er den
Eindruck eines Euphemismus erweckt, in dem das “Kritische und Kompetente“ darin sich le-
diglich auf einen gewissen Autoritätsglauben bezieht. Zu der regen Nutzung von klassischen
Medien und dem dazugehörigen horizontbeschränkenden Werbekonsum der Kinder, be-
schreibt Zuboff den Einzug interaktiver Puppen und Spielzeugroboter als „Hubs für minder-
jährigen Verhaltensüberschuss“ (vgl. Zuboff 2018, S. 305 ff.) und erläutert: „Kinder werden
als Erstes lernen, dass es keine Grenze gibt zwischen Selbst und Markt“ (a.a.O., S. 306).
Die früher als Spiegel der ungezügelten Kinderphantasie geltende Puppe, mit dem Kinder-
zimmer und dem gesamten Elternhaus, beschreibt Zuboff als „vorgemerkt für Rendition, Be-
rechnung, Vernetzung und Profit“ (ebd.) und stellt die Frage, ob wir die Kinder im Sinne des
Schutzes vor „maschineller Invasion aus Profitgier“ (a.a.O., S. 318) in einer grundsätzlichen
Ängstlichkeit dem gegenüber erziehen sollen (ebd.). Es herrscht also eine massive grund-
sätzliche Prägung der Kindheit und Jugend durch digitale Technologien (Stapf et al. 2021, S.
11 ff.).
Aus diesem Blickwinkel neoliberaler, überwachungskapitalistischer Problematik können die
zuvor betrachteten Studien über die Akteurschaft der Kinder in Deutschland und Kyrgyzstan
19
noch einmal anders in Beziehung gebracht werden. Die Reproduktion kyrgyzischer Gesell-
schaftsform durch Mitgestaltung der Kinder kann nicht nur als eine Hemmung – durch westli-
che Lebenswelten geprägter (vgl. Kleeberg-Niepage 2018, S. 17) – kindlicher Entfaltung ge-
sehen werden, sondern auch als ein möglicher Faktor jeder Gesellschaftsform, welcher in
den Charakteren der Kinder bestimmte, der entsprechenden Kultur förderliche Eigenheiten
prägt. Die mit dem neoliberalen Überwachungskapitalismus verwobene Gesellschaftsform,
die nicht mehr auf klare nationale und geschichtlich-kulturelle Grenzen bezogen werden
kann, sondern durch die globale Vernetzung eine kulturelle, über Staaten und Regionen hin-
weg sich erstreckende ubiquitäre Metaebene bildet, zeigt Erscheinungen, die eine eindeutige
Verhaltenssteuerung und eine partielle Reproduktion durch die jungen Menschen selbst auf-
weisen. Es scheint also nicht nur der kyrgyzischen Gesellschaft angehörige immanente re-
produktionsfördernde Prägung der Kinder durch Erziehungsvorstellungen und Erziehungs-
praktiken zu geben, sondern auch die sogenannte “westlich geprägte Gesellschaftsform“
deutet auf ein subtiles, eher verschleiertes Vorhandensein ihrer entsprechenden Prägung ge-
rade in dem Zusammenhang mit dem Akteurschaftskonzept selbst. Denn wenn Kinder und
Jugendliche erstens einer massiven Verhaltensanalyse und Verhaltenslenkung unterliegen
und partielle Reproduktion überwachungskapitalistischer Muster aufweisen, die gewiss für
empirisch gesättigte Aussagen weiter untersucht werden muss, zweitens diese komplexe
Zusammenhänge bereits aufgrund ihres Alters oder aufgrund fehlender oder nicht genügen-
der systematischer Aufklärung nicht kritisch-reflexiv Durchdringen und drittens – wie die Stu-
die zur Qualitätsentwicklung an KiTas, aber auch die grundsätzliche Förderung kindlicher Ak-
teurschaft zeigen – möglichst früh zur aktiven Mitgestaltung gesellschaftlicher Institutionen
gedrängt werden, dann liegt die Vermutung nahe, dass das Konzept kindlicher Akteurschaft
an dieser Stelle zumindest potenziell nicht nur der Förderung einer “Befreiung der Kindheit“
und ihrer kindgerechten Partizipation dient, sondern auch zur Sicherung, Reproduktion, aber
auch – durch das positiv konnotierte und zum Schutz und zur Förderung der Kinder notwen-
dig erscheinende Konzept kindlicher Akteurschaft – zur Verschleierung globaler überwa-
chungskapitalistischer Strukturen und Absichten dienen kann.
Die Rousseausche Forderung das Kind der Natur zu überlassen, die Forderung Montessoris
diese “Natur“ in dem Kind selbst zu sehen, die darauffolgende antiautoritäre Erziehung, die
Loslösung von der adultistischen Sicht zugunsten struktureller und praxistheoretischer Per-
spektiven und die Förderung der Kinder als Experten ihrer eigenen Entwicklung [auch wenn
diese kindzentrierte Perspektive mittlerweile ins Wanken geraten ist (vgl. Bühler-Niederber-
ger 2020, S 199)], all diese Schritte können zwar das Kind als ein Individuum befreien und
die Kindheit schützen; Sie können aber auch die Sichtweise fördern – und dafür bietet diese
Arbeit Anhaltspunkte – das Kind, wie auch jegliches zum Verhalten fähiges “Etwas“ ganz im
Sinne des neoliberalen Überwachungskapitalismus als ein „Organismus unter Organismen“
20
(Zuboff 2018, S. 424) zu betrachten, der möglichst früh eine Mündigkeit besitzt, die im Hinter-
grund von überwachungskapitalistischen Strukturen verwaltet wird. Das Kind wird somit zwar
auf sich gestellt und vom Erwachsenen losgelöst, gleichzeitig wird es aber durch Verhaltens-
steuerung instrumentalisiert und an Technologien angebunden. Da diese Strukturen, auf-
grund ihrer technokratischen, [eher im behavioristischen, verhaltensanalytischen Sinne] wis-
senschaftsorientierten Grundlage “wissenschaftlicher Fakten“ als transadultistisch und trans-
personell verstanden werden können, kann nicht einmal der Einwand erhoben werden, dass
die Erwachsenen durch die Gestaltung kindlicher Peripherie doch einen adultistischen Ein-
fluss nehmen. Bemerkenswerterweise bezieht sich die Akteurschaft in dem neuen Ansatz
nicht nur auf alle beteiligten Akteure, sondern auch auf in den Praktiken partizipierende Ob-
jekte (vgl. Bühler-Niederberger 2020, S. 200), was einer ähnlichen abstrakt organischen Lo-
gik zu folgen scheint und jegliche Machtstrukturen negiert (ebd.). An dieser Stelle kritisiert
Bühler-Niederberger (ebd.) die Praxistheorien und deutet auf die Relevanz einschränkender
Strukturen. Wobei diese Arbeit aufzeigt, dass nicht nur das Einschränkende, sondern auch
das subtil Gestaltende der Strukturen kritisch betrachtet werden muss.
Etwa zur gleichen Zeit, in der Montessori ihre Ideen vorstellte, entwickelte John B. Watson
das behavioristische Paradigma, indem er den introspektiven Zugang zu Erkenntnissen als
„erstickenden Seelenqualm“ (Watson 1968, S. 37) bezeichnete. In Anbetracht von Zuboffs
(vgl. Zuboff 2018, S. 423-431) Ausführungen zum Zusammenhang des Überwachungskapita-
lismus und der recht eindeutigen Anzeichen darin realisierter behavioristischer Grundsätze,
in Anbetracht der aktuellen Erwähnung des gesellschaftlichen „Bonus-Systems“ durch eine
Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF 2020, S. 123-130) – in
Anlehnung an das „Steuerungsinstrument aus dem autoritären chinesischen Kontext“
(a.a.O., S. 129) – als eine der sechs „plausibilisierte[n] Beschreibungen möglicher Zukünfte“
(a.a.O., S. 9) und in Anbetracht der „Smart City Charta“ der Bundesregierung, welche sich
unter Anderem für eine „post-choice-, post-ownership- und post-voting-society“ mit Sätzen
wie „Künstliche Intelligenz ersetzt Wahl“ (BMI 2017, S. 43) oder „Da wir genau wissen, was
Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstim-
mungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feed-
backsystem ersetzen“ (ebd.) stark macht, erscheint die Beschäftigung mit den aktuellen be-
havioristischen Praktiken und ihrer Verbindung mit der neoliberalen Bestrebung aus gesell-
schaftskritischer Sicht sehr angebracht. Den Anfang für die mögliche Integration des autori-
tären „social credit system“ wurde bereits gelegt (vgl. BMBF 2020, S. 125). Skinner, als pro-
minenter Vertreter von Behaviorismus, verspottete die Demokratie und sah die Lösung in der
Verhaltensanalyse und wissenschaftlichen Macht (vgl. Zubott 2018, S. 434 f.). Zuboff (vgl.
a.a.O., S. 590-593) sieht in diesem Kontext die Aktualität der Gefahr für demokratische
Strukturen.
21
4 Fazit und Forschungsausblick
Sicherlich kann und soll mit dieser Arbeit nicht die gesamte Bemühung um den Schutz eines
kindgerechten Entwicklungsraums der neoliberalen Instrumentalisierung gleichgesetzt wer-
den. Diese Arbeit will jedoch einen ergänzenden kritischen Blick auf die globalen Ansprüche
einer akteurzentrierten Förderung der Kinder leisten und zur weiteren interdisziplinären For -
schung anregen. Sie zeigt Anhaltspunkte (Abb. 1, S. 23), die auf einen möglichen, vor allem
strukturellen und eher verschleierten Zusammenhang zwischen den potenziellen subjektiven
Inhalten und Zielen kindlicher Akteurschaft und den subtilen Inhalten auf Verhaltensanalyse,
Behaviorismus und Demokratiefeindlichkeit gestützter überwachungskapitalistischer Ideolo-
gie hindeuten.
Der Neoliberalismus, welcher auf den effizienten Einsatz vom Humankapital zielt und sich in
der grundsätzlichen ökonomischen Instrumentalisierung der KiTa-Funktionen (vgl. Bollig
2018, S. 4) oder der Familienpolitik (vgl. Veil 2011, S. 105 f.) zeigt, will darüber hinaus mit
Hilfe von behavioristischen Methoden und Überwachungstechnologien als eine „eigene Herr-
schaftsform […] seine ökonomischen Verhaltens- und Handlungsweisen für alle Lebensbe-
reiche gelten“ (Schmidt-Karakatsanis 2018, S. 2) lassen. Die Forderung von möglichst frühen
kindlichen Entscheidungen zur Mitgestaltung kann durchaus auch das komplexe erziehe-
risch-pädagogische Feld, zu dem auch konfliktreiche Interaktionen gehören, auf beziehungs-
arme Bedarfsanalysen, ihre Bedarfsdeckung und die Optimierung eines nicht zu hinterfra-
genden Systems reduzieren (vgl. a.a.O., S. 2 ff.). Das durch Verhaltensanalysen und Verhal-
tenssteuerung präparierte Kind wäre dann lediglich „ein Bedarf unter Bedarfen […], der mit
anderen Bedarfen konkurriert“ (a.a.O., S. 4) oder wie von Zuboff darstellt ein „Organismus
unter Organismen“ (Zuboff 2018, S. 424), welcher als eine Verhaltensquelle unter vielen zu
verwalten gilt. Die Bezugspersonen würden dabei laut Schmidt-Karakatsanis als „Bedarfsbe-
dienung“ (Schmidt-Karakatsanis 2018, S. 4) gelten. Eine eher positive Konnotierung am
kindlichen Bedarf orientierter Bezugspersonen wurde in der zuvor dargestellten Studie zur
Qualitätsentwicklung an KiTas (S. 10) als „Fachkraft für Kinderperspektiven“ (Nentwig-Gese-
mann et al. 2021, S. 170) erwähnt. Da diese Studie allerdings von der Bertelsmann-Stiftung
organisiert wurde, die recht bekannt dafür ist „die Gesellschaft wie ein Unternehmen zu füh-
ren und durch Unternehmen führen zu lassen“ (Schuler 2010, S. 1), dürfte auch hier eine kri-
tische Analyse in Bezug auf neoliberale Interessenskonflikte nicht fehlen. Doch neben der
Kreation von steuerbaren und kalkulierbaren Bedarfen spannt auch die starke Förderung des
rationalen, zweckgebundenen und wissenschaftlich-analytischen Bezugs zur Welt, die be-
reits im Bereich der Elementarpädagogik stattfindet (vgl. a.a.O., S. 6 f.) die Kinder in eine
neoliberale Technokratie ein und entfremdet sie ihrer Natürlichkeit. Die dazugehörige Be-
22
zeichnung dieser Zusammenhänge als Professionalität (vgl. a.a.O., S. 4) und zumindest an
dem Verbindungspunkt zum Neoliberalismus weitgehend fehlende kritische Betrachtung tra-
gen zur Verschleierung neoliberaler Verhältnisse bei.
Da eine staatliche Regulierung, im Sinne eines rechtlichen Schutzes vor überwachungskapi-
talistischen Übergriffen nach Zuboffs (vgl. Zuboff 2018, S. 243) Ausführungen eher utopisch
ist, bleibt die Förderung und Systematisierung einer gesellschaftskritischen, reflexiven Bil-
dung – welche sich der Transparenz in Bezug auf die Einwirkung überwachungskapitalisti-
scher Techniken und Strukturen auf die Meinungsbildung und Verhalten vor allem junger Ge-
neration widmet – eine Möglichkeit, um die Verschleierung zu durchbrechen und den jungen
Menschen somit zumindest einen reflektierten Umgang mit diesen neoliberalen Übergriffen
zu ermöglichen.
Abbildung 1: neoliberale Instrumentalisierung kindlicher Akteurschaft
Es bleibt der weiteren soziologischen und bildungswissenschaftlichen Forschung vorbehal-
ten, die erwähnte kulturelle Metaebene des Überwachungskapitalismus (S. 20) theoretisch
weiter zu präzisieren, ihren Einfluss auf die jungen [und alten] Menschen und die Zeichen ei-
ner möglichen, zu ihnen “nach unten“ transferierten Reproduktion empirisch zu untersuchen
und eine im angedeuteten Sinne gesellschaftskritische Bildung aufzubauen.
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Da diese Arbeit aufgrund ihres begrenzten Umfangs die Thematik lediglich andeutet, bleibt
auch eine weitere vertiefte Untersuchung der Verbindung zwischen dem Akteurschaftskon-
zept und neoliberalen Entgrenzungen und verhaltensanalytischen Ansprüchen angebracht.
Es kann also nicht ohne einer kritischen Betrachtung hingenommen werden, dass andere
Gesellschaftsformen – in dem Fall die in der Studie zu den Kindern in Kyrgyzstan (S. 13)
dargestellte kollektivistisch geprägte Gesellschaft – der transnationalen, globalen Agenda zur
Förderung von Kinderrechten und der damit verbundenen Akteurschaft gegenüber sich ledig-
lich als Hemmung in den Weg stellen und Reproduktion eigener Gesellschaftsprinzipien rea-
lisieren. Diese Feststellung kann auch als eine Gelegenheit genutzt werden, den gesell-
schaftlichen Kontext, von dem diese Förderung ausgeht, auf ähnliche immanente Prinzipien
der Reproduktion kritisch zu analysieren.
Somit kann die These, dass die globalisierten Bestrebungen die Kinder und die Kindheit zu
schützen und für sie als ein Advokat aufzutreten die bisherigen nationalen Bestrebungen op-
timieren und besser umsetzen (vgl. Bühler-Niederberger 2021, S. 26 ff.), nicht ohne einer kri-
tischen Ergänzung stehen gelassen werden. Der gleiche Vorwurf, den Bühler-Niederberger
(vgl. a.a.O., S. 24 f.) auf die nationalstaatliche Instrumentalisierung der Kinder im 19. Jahr-
hundert stützt, kann durchaus auch in Richtung moderner transnationaler Bestrebungen er-
hoben werden. Der von ihr erwähnte, in der Einleitung dieser Arbeit beschriebene Paradig-
menwechsel (vgl. a.a.O., S. 26 ff.) kann auch als eine konsequente Fortführung der gleichen
Instrumentalisierungslogik auf internationaler Ebene verstanden werden. Die Kinder wären
demnach keine „gering bewertete Bevölkerungsgruppe“ (Bühler-Niederberger 2021, S. 16),
sondern eine der zentralen Wertanlagen neoliberaler Ideologie. Wurde das Kind also einer-
seits in den letzten Jahrhunderten so energisch von erwachsenen Vorstellungen befreit, um
es dann andererseits ganz subtil an das transadultistische, alterslose, szientistische neolibe-
ral-technologische Gesellschaftssystem anzubinden?
Zusammenfassend kann die gestellte Forschungsfrage dieser Arbeit „Inwiefern trägt das
Konzept der kindlichen Akteurschaft und seine Förderung zur neoliberalen Instrumentalisie-
rung der Kindheit bei?“ folgendermaßen beantwortet werden:
Nach den vorgebrachten Zusammenhängen kann nicht eindeutig behauptet werden, dass
das Konzept der kindlichen Akteurschaft selbst eine implizite oder explizite Förderung des
Neoliberalismus beinhaltet. Auch wenn manche Aspekte des Konzepts, wie die Bedarfsana-
lyse und Bedarfskreation, Altersentgrenzung, Ausweitung der Akteurschaft auf alle Objekte
und die frühe Mitgestaltung gesellschaftlicher Zusammenhänge neoliberalen Prinzipien ent-
gegen kommen. Es sind allerdings recht eindeutige Indizien vorhanden, die für eine ver-
schleierte Instrumentalisierung des Konzepts durch eine neoliberale überwachungskapitalis-
tische Ideologie sprechen.
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