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POLITISCHE KULTUR
IM FREISTAAT THÜRINGEN
Politische Kultur in Stadt und Land
Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs 2022
Prof. Dr. Marion Reiser (wissenschaftliche Leitung)
Dr. Anne Küppers
Volker Brandy
Dr. Jörg Hebenstreit
Dr. Lars Vogel
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Politikwissenschaft
KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung,
Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration
1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ............................................................................................................................................ 6
I. Einleitung ................................................................................................................................. 8
II. Leben in Thüringen: Sozioökonomische und demographische Rahmenbedingungen aus einer
Stadt-Land-Perspektive .................................................................................................................. 10
III. „Stadt“ und „Land“ in Thüringen ........................................................................................ 27
III.1. „Stadt“ und „Land“ in der Augen der Thüringer:innen ................................................ 28
III.2. Bewertung der Lebensbedingungen in der eigenen Gemeinde ..................................... 35
III.3. Unterschiede in den politischen Einstellungen zwischen „Stadt“ und „Land“ ............. 45
III.3.1. Gefühl des „Abgehängtseins“ ............................................................................... 45
III.3.2. Politische Unterstützung in „Stadt“ und „Land“................................................... 52
IV. Demokratie, Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ................... 59
IV.1. Demokratie: Einstellungen und Engagement ................................................................ 59
IV.1.1. Einstellungen zu Demokratie und Diktatur ........................................................... 59
IV.1.2. Institutionenvertrauen ........................................................................................... 66
IV.1.3. Politische Partizipation ......................................................................................... 69
IV.2. Rechtsextreme und populistische Einstellungen in Thüringen ..................................... 77
IV.2.1. Rechtsextreme, ethnozentrische und neo-nationalsozialistische Einstellungen.... 77
IV.2.2. Populismus, rechtsextrem-autoritärer Ethnozentrismus und rechtsextreme
Demokratieablehnung ............................................................................................................ 81
IV.2.3. Erklärungsfaktoren für Rechtsextremismus und Populismus ............................... 89
IV.3. Verschwörungserzählungen .......................................................................................... 97
IV.4. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Thüringen: Rassismus, Antisemitismus
und Antifeminismus ................................................................................................................. 101
IV.4.1. Migrant:innenfeindlichkeit ................................................................................. 103
IV.4.2. Muslim:innenfeindlichkeit .................................................................................. 105
IV.4.3. Antisemitismus ................................................................................................... 107
IV.4.4. Antifeminismus ................................................................................................... 111
V. Fazit ..................................................................................................................................... 114
Literatur ....................................................................................................................................... 121
Bisherige THÜRINGEN-MONITORe ................................................................................................. 128
Anhang 1: Methodik des THÜRINGEN-MONITORs .......................................................................... 129
2
Anhang 2: Methoden-Glossar ...................................................................................................... 133
Anhang 3: Stichprobeninformationen .......................................................................................... 136
Anhang 4: Regressionsmodelle .................................................................................................... 137
Anhang 5: Tabellarische Übersichten ......................................................................................... 141
3
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Thüringen und Entwicklung der
individuellen finanziellen Lage, 2000-2022 .................................................................. 11
Abb. 2: Thüringen im Vergleich mit ost- und westdeutschen Ländern 2000-2022 ................... 12
Abb. 3: Bevölkerungsdichte der Thüringer Landkreise ............................................................. 13
Abb. 4: Die Thüringer Landkreise nach Ländlichkeitsklassen .................................................. 15
Abb. 5: Bevölkerungssaldo ........................................................................................................ 17
Abb. 6: Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung ............................................... 18
Abb. 7: Abiturient:innenquote .................................................................................................... 19
Abb. 8: Bruttoinlandsprodukt ..................................................................................................... 20
Abb. 9: Haushaltsnettoeinkommen und Arbeitslosenquote ....................................................... 21
Abb. 10: ÖPNV-Versorgung und Bahn-Fernverkehrsanbindung ................................................ 23
Abb. 11: Breitband-Internetversorgung ....................................................................................... 24
Abb. 12: Hausarztdichte und Versorgung mit Lebensmittelgeschäften ....................................... 25
Abb. 13: Einstufung der eigenen Gemeinde auf Stadt-Land- bzw. Zentrum-Peripherie-
Kontinuum ..................................................................................................................... 29
Abb. 14: Verbundenheit mit Gemeinde, Region, Thüringen ....................................................... 31
Abb. 15: Wordcloud mit den Antworten auf die offene Frage, was „Land“ bzw. „Stadt“ in
Thüringen ausmacht ...................................................................................................... 32
Abb. 16: Kategorisierte Antworten auf die offene Frage „Was macht für Sie ‚Land‘ aus?“ ....... 33
Abb. 17: Kategorisierte Antworten auf die offene Frage „Was macht für Sie ‚Stadt‘ aus?“ ....... 33
Abb. 18: Bewertung der Struktur- und Lebensbedingungen in der eigenen Gemeinde ............... 38
Abb. 19: Bewertung der wirtschaftlichen Lage der eigenen Stadt/Gemeinde im Vergleich zum
Rest von Thüringen ....................................................................................................... 39
Abb. 20: Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der eigenen Gemeinde im Vergleich zum Rest
von Thüringen ............................................................................................................... 40
Abb. 21: Entwicklung der eigenen Stadt/Gemeinde in den vergangenen 10 bis 15 Jahren nach
Ländlichkeitsklassen ..................................................................................................... 42
Abb. 22: Zukunftsprognose für die eigene Stadt/Gemeinde nach Ländlichkeitsklassen ............. 43
Abb. 23: Vergangenheitsbewertung und Zukunftsprognose für die eigene Gemeinde ................ 44
Abb. 24: „Abgehängtsein“ von der Bundes- und Landespolitik .................................................. 47
Abb. 25: „Abgehängtsein“ von der Bundespolitik nach Ländlichkeitsklassen ............................ 47
4
Abb. 26: Gefühl des „Abgehängtseins“ von der Bundespolitik ................................................... 48
Abb. 27: „Abgehängtsein“ von der Landespolitik nach Ländlichkeitsklassen ............................ 49
Abb. 28: Lineares Regressionsmodell „Abgehängtsein“ von der Bundespolitik ......................... 50
Abb. 29: Lineare Regressionsmodelle Gefühl des „Abgehängtseins“ von der Bundespolitik nach
Ländlichkeitscluster....................................................................................................... 51
Abb. 30: Institutionenvertrauen in Stadt und Land ...................................................................... 54
Abb. 31: Selbstwirksamkeit, Parteienverdrossenheit und Responsivitätswahrnehmung nach
Ländlichkeitsklassen ..................................................................................................... 55
Abb. 32: Politische Partizipation in Stadt und Land (würde ich tun bzw. habe ich schon getan, in
Prozent) ......................................................................................................................... 57
Abb. 33: Demokratieunterstützung und Demokratiezufriedenheit 2001–2022 ........................... 60
Abb. 34: Bewertung alternativer Gesellschaftsordnungen 2001–2022 ........................................ 62
Abb. 35: Demokratietypen 2001–2022 ........................................................................................ 63
Abb. 36: Selbstwirksamkeit und Parteienverdrossenheit 2001–2022 .......................................... 64
Abb. 37: Responsivität, Selbstwirksamkeit und Parteienverdrossenheit ..................................... 65
Abb. 38: Selbsteinstufung auf einer politischen Links-Rechts-Skala 2000–2022 ....................... 65
Abb. 39: Institutionenvertrauen 2000–2022 ................................................................................. 67
Abb. 40: Institutionenvertrauen .................................................................................................... 68
Abb. 41: Formen legaler politischer Partizipation 2001–2022 .................................................... 69
Abb. 42: Politische Partizipation .................................................................................................. 71
Abb. 43: Gewaltbereitschaft 2001–2022: „für meine Ziele kämpfen, auch wenn dazu Gewalt
notwendig ist.“ .............................................................................................................. 72
Abb. 44: Gewaltbereitschaft: „für meine Ziele kämpfen, auch wenn dazu Gewalt notwendig ist“
nach Links-Rechts-Selbsteinstufung ............................................................................. 73
Abb. 45: Einflussfaktoren Politischer Partizipation 2021 und 2022 ............................................ 76
Abb. 46: Zustimmung zu den Aussagen zur Erfassung rechtsextremer Einstellungen ................ 80
Abb. 47: Rechtsextreme, ethnozentrische und neo-nationalsozialistische Einstellungen 2001–
2022 ............................................................................................................................... 81
Abb. 48: Aussagen zur Messung populistischer, neurechter und rechtsextremer Einstellungen . 84
Abb. 49: Populistische und rechtsextreme Einstellungen in Thüringen....................................... 88
Abb. 50: Populistische und rechtsextreme Einstellungen in den vier Ländlichkeitsklassen ........ 90
Abb. 51: Populistische und rechtsextreme Einstellungen nach eingeschätztem Zugang zu
Dienstleistungen ............................................................................................................ 91
5
Abb. 52: Populistische und rechtsextreme Einstellungen nach Einschätzung der relativen
wirtschaftlichen Lage des eigenen Wohnorts ................................................................ 92
Abb. 53: Populistische und rechtsextreme Einstellungen nach Gefühl des politischen und
kulturellen „Abgehängtseins“ (Bundesebene) ............................................................... 93
Abb. 54: Populistische und rechtsextreme Einstellungen nach Gefühl des politischen und
kulturellen „Abgehängtseins“ (Landesebene) ............................................................... 93
Abb. 55: Einflussfaktoren rechtsextremer und populistischer Einstellungen ............................. 95
Abb. 56: Verbreitung von Verschwörungsdenken ....................................................................... 99
Abb. 57: Verschwörungsdenken nach politischer Selbsteinschätzung ...................................... 100
Abb. 58: Zustimmung zu migrant:innenfeindlichen Aussagen .................................................. 102
Abb. 59: Anzahl der migrant:innenfeindlichen Aussagen, denen zugestimmt wurde. .............. 104
Abb. 60: „Die meisten in Deutschland lebenden Muslime akzeptieren unsere Werte, NICHT so
wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind“ ............................................................ 106
Abb. 61: „Die meisten in Deutschland lebenden Muslime akzeptieren unsere Werte, so wie sie
im Grundgesetz festgeschrieben sind“ ........................................................................ 107
Abb. 62: Zustimmung zu antisemitischen Aussagen 2000-2022 ............................................... 108
Abb. 63: Zustimmung zu sekundärem Antisemitismus nach Gefühl des „Abgehängtseins“ von der
Bundespolitik .............................................................................................................. 110
Abb. 64: „Durch den Feminismus werden in unserer Gesellschaft die Männer systematisch
benachteiligt“ .............................................................................................................. 113
6
Vorwort
Der Thüringen-Monitor 2022 ist das 22. Gutachten zur politischen Kultur im Freistaat Thürin-
gen. Im Zentrum der seit dem Jahr 2000 jährlich durchgeführten Befragung der Thüringer Be-
völkerung steht die Untersuchung ihrer politischen Einstellungen, ihrer Demokratiezufrieden-
heit und -unterstützung, ihres Institutionenvertrauens und der politischen Partizipation. Ein
weiterer Fokus liegt in der Analyse von Herausforderungen und Bedrohungen der Demokratie
wie Populismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus.
Unser diesjähriges Schwerpunktthema lautet ‚Politische Kultur in Stadt und Land‘, das in die-
sem Jahr in Kooperation mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen entwickelt
wurde. Die IBA Thüringen hat seit 2012 vielfältige Projekte zum Thema „StadtLand“ durch-
geführt und stellt die Ergebnisse im Laufe dieses Jahres im Rahmen ihrer Abschlusspräsenta-
tion vor, um „von Thüringen zu lernen“. Dafür sind gerade auch die Perspektiven und Einstel-
lungen der Thüringer:innen ganz wesentlich: Welche Wahrnehmungen haben die Thüringer:in-
nen von „Stadt“ und „Land“? Zeigen sich Stadt-Land-Unterschiede in den politischen Einstel-
lungen zu Demokratie, Rechtsextremismus und Antisemitismus? Und fühlen sich Thürin-
ger:innen in ländlichen bzw. peripheren Regionen, wie häufig vermutet, tatsächlich politisch,
wirtschaftspolitisch bzw. sozial „abgehängt(er)“ als in den Städten? Diese hochaktuellen Fra-
gestellungen greift der diesjährige THÜRINGEN-MONITOR auf, um die politische Kultur im länd-
lich geprägten Freistaat aus einer Stadt-Land-Perspektive zu untersuchen.
Der THÜRINGEN-MONITOR wird von der Thüringer Staatskanzlei in Auftrag gegeben. Die
Grundlage ist eine repräsentative telefonische Befragung mit folgenden Eckdaten:
• Befragungszeitraum: 19. September bis 6. Dezember 2022
• Stichprobenziehung: nach Angaben des Thüringer Landesamtes für Statistik quotierte
Zufallsauswahl unter Thüringer:innen, die bei Bundestagswahlen wahlberechtigt sind
(Auswahl von Festnetzanschlüssen nach dem Gabler-Häder-Design). Um verlässliche
Aussagen zu den Einstellungsmustern in Abhängigkeit von der Ländlichkeit des Woh-
nortes machen zu können, wurden bei der Stichprobenziehung die vier Ländlichkeits-
klassen in Thüringen („städtisch“, „etwas ländlich“, „moderat ländlich“ sowie „sehr
ländlich“) berücksichtigt. Zum anderen wurde die Stichprobengröße im Vergleich zu
den Vorjahren deutlich erhöht, um pro Ländlichkeitscluster eine ausreichend große An-
zahl an Thüringer:innen befragen zu können.
• Stichprobengröße: 1.885 Befragte
• Datenerhebungsverfahren: Computerunterstützte Telefoninterviews (CATI)
• Gewichtung nach: Alter, Geschlecht, Bildung, Haushaltsgröße (IPF-Gewichtung) so-
wie Ländlichkeitsklassen
• Fehlertoleranz: ca. eineinhalb Prozentpunkte (bei einem Anteilswert von fünf Prozent),
ca. drei Prozentpunkte (bei einem Anteilswert von 50 Prozent)
7
Auf die Methodik des THÜRINGEN-MONITORs wird im Anhang ausführlicher eingegangen.
Über Grundlagen der Befragungsforschung und der statistischen Auswertungsverfahren infor-
miert außerdem das Methoden-Glossar. Die konkreten Frageformulierungen und die Häufig-
keitsverteilungen nach ausgewählten sozialstrukturellen Merkmalen der Befragten sind im Ta-
bellenteil dokumentiert. Bei den gerundeten Prozentangaben im Text handelt es sich, sofern
nicht anders angegeben, um gültige Prozente, d. h. die Antwortkategorien „weiß nicht“, „keine
Angabe“ und „trifft nicht zu“ werden aus den Analysen ausgeschlossen.
Wir danken Frau Prof. Kathrin Leuze, Dr. Thomas Ritter, Sarah Christel sowie dem gesamten
Team des CATI-Labors am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die
auch in diesem Jahr die telefonische Befragung durchgeführt haben. Bedanken möchten wir
uns auch bei Dr. Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der IBA Thüringen, und ihrem
Team für die konstruktive Zusammenarbeit für den Themenschwerpunkt zu „Stadt“ und
„Land“. Danken möchten wir auch der design.idee aus Erfurt für die Erstellung des barriere-
freien Dokuments. Ein besonderer Dank gilt Ines Schildhauer, Richard Kuba, Maximilian Neh-
ring, Nathalie Neuberger, und Pierre Zissel für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Gut-
achtens.
Jena, im März 2023
Marion Reiser
8
I. Einleitung
Während der Beginn des Jahres 2022 noch von Auseinandersetzungen über den Umgang mit
der Corona-Pandemie geprägt war, verschob sich der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit
angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Frühjahr 2022 schlagartig. Unmit-
telbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine befürchteten mehr als zwei Drittel der
Deutschen, dass es wieder zu einem großen Krieg in Europa kommen könne und ebenso viele
äußerten die Befürchtung, dass Russland weitere Länder in Europa angreifen könne. Gleich-
zeitig bewegte die Situation der Menschen in der Ukraine 90 Prozent der Bundesbürger:innen
(Infratest 2022a). Im Verlauf des Jahres 2022 nahmen die Sorgen um die ökonomischen Aus-
wirkungen des Krieges aufgrund stark steigender Energie- und Lebensmittelpreise, der höchs-
ten Inflation seit über 70 Jahren und den damit einhergehenden Wohlstandsverlusten erheblich
zu (Infratest 2022b). Von Ende Februar 2022 bis März 2023 wurden zudem über eine Million
Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland registriert – rund 28.000 davon in Thüringen (Me-
diendienst Integration 2023). Während die Corona-Pandemie und ihre Folgen die politische
Kultur in Thüringen in den Jahren 2020 und 2021 stark beeinflusste und entsprechend im Zent-
rum des THÜRINGEN-MONITORs 2020 und 2021 stand, hat sich entsprechend der Fokus im dies-
jährigen Gutachten geändert. So untersucht der THÜRINGEN-MONITORS, inwiefern sich diese
aus politischen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen zusammensetzende Vielfach-
krise auf die politischen Einstellungen in Thüringen auswirkt.
Darüber hinaus beschäftigt sich der diesjährige THÜRINGEN-MONITOR im Rahmen des jeweils
wechselnden Schwerpunktthemas mit der „Politischen Kultur in Stadt und Land“. Ziel der Un-
tersuchung ist es herauszufinden, ob es Unterschiede in der Bewertung der Struktur- und Le-
bensbedingungen sowie in den politischen Einstellungen zu Demokratie, Rechtsextremismus
und Populismus zwischen städtischen und ländlichen Gemeinden gibt. Denn einerseits wird in
der Debatte um die Stadt-Land-Beziehung häufig beobachtet, dass sich die räumlichen Grenzen
zwischen Stadt und Land aufzulösen scheinen. Auch kulturell hätten sich die Lebenswelten in
Stadt und Land einander angeglichen (Doehler-Behzadi 2020, 593). Anstatt von einer dichoto-
men Gegenüberstellung von „Stadt“ und „Land“ auszugehen, solle das Stadt-Land-Gefälle da-
her als Kontinuum verstanden werden (Kenny & Luca 2021). Andererseits wird in der politik-
wissenschaftlichen Forschung in den vergangenen Jahren verstärkt über sogenannte „abge-
hängte“ ländliche bzw. periphere Regionen debattiert. Diese seien durch wirtschaftlichen Nie-
dergang, schlechte Infrastrukturanbindung, Abwanderung und Überalterung charakterisiert
(u. a. De Lange 2022; Diermeier 2020; Rodríguez-Pose 2018).
In Kapitel II werden zunächst die aktuell verfügbaren Rahmendaten zur ökonomischen, sozi-
alstrukturellen und infrastrukturellen Entwicklung in Thüringen diskutiert. Dabei liegt ein be-
sonderer Fokus auf den zentralen Unterschieden zwischen städtischen und ländlichen Regionen
im Freistaat. Des Weiteren wird die im Zuge der Studie genutzte Ländlichkeitstypologie („städ-
tisch“, „etwas ländlich“, „moderat ländlich“ sowie „sehr ländlich“) diskutiert sowie die Zuord-
nung der kreisfreien Städte und Landkreise zu diesen Ländlichkeitsclustern vorgestellt.
9
Kapitel III fokussiert auf das diesjährige Schwerpunktthema „Politische Kultur in Stadt und
Land“. Dazu wird zunächst untersucht, was die Menschen in einem so ländlich geprägten Bun-
desland wie Thüringen unter den Begriffen „Stadt“ und „Land“ verstehen und wie sie den Grad
der Ländlichkeit ihrer eigenen Gemeinde bewerten. Anschließend werden die Wahrnehmungen
der Struktur- und Lebensbedingungen durch die Bürger:innen in städtischen und ländlichen
Regionen genauer untersucht. Weiterhin wird in diesem Kapitel den Fragen nachgegangen, ob
sich in Thüringen Stadt-Land-Unterschiede hinsichtlich der politischen Einstellungen messen
lassen und ob sich die Bewohner:innen ländlicher Regionen tatsächlich politisch, wirtschafts-
politisch und kulturell stärker „abgehängt“ fühlen als die Menschen in den großen Städten –
und falls ja, welche Einflussfaktoren dieses Gefühl des „Abgehängtseins“ erklären können.
Das darauffolgende Kapitel IV umfasst das sogenannte Standbein des THÜRINGEN-MONITORs.
Entsprechend wird die Entwicklung der politischen Einstellungen der Thüringer Bevölkerung
zu Demokratie, Rechtsextremismus und Antisemitismus in die Langzeitbetrachtung eingebet-
tet. Im ersten Unterkapitel wird geklärt, inwieweit die Befragten die Demokratie unterstützen
und wie sich Demokratiezufriedenheit und das Vertrauen in zentrale Institutionen im Laufe der
Zeit verändert haben. Zudem wird die politische Beteiligung der Thüringer:innen analysiert
(Kapitel IV.1). Wie seit dem ersten THÜRINGEN-MONITOR im Jahr 2000 üblich, liegt der
Schwerpunkt des Unterkapitels IV.2 auf der Messung rechtsextremer Einstellungen und der
Untersuchung der zentralen Einflussfaktoren. Hinzu kommt – wie bereits im Gutachten 2021
– ein Fokus auf die Verbindung von rechtsextremen Einstellungen mit populistischen und neu-
rechten Einstellungen. Vor dem Hintergrund des diesjährigen Schwerpunktthemas liegt ein
weiteres Augenmerk auf Stadt-Land-Unterschieden in der Verbreitung von populistischen und
rechtsextremen Einstellungen. Anknüpfend an die THÜRINGEN-MONITORe 2020 und 2021
nimmt Kapitel IV.3 anschließend die Zustimmung zu Verschwörungserzählungen in den Blick.
Komplettiert wird das Kapitel zu durch den Themenkomplex „Migration, Integration, Diversi-
tät“ (Kapitel IV.4).
Kapitel V fasst die zentralen Befunde des diesjährigen Gutachtens zusammen.
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II. Leben in Thüringen: Sozioökonomische und demogra-
phische Rahmenbedingungen aus einer Stadt-Land-Per-
spektive
Die sozioökonomischen und demographischen Bedingungen, unter denen die Thüringer:innen
leben, stellen im THÜRINGEN-MONITOR alljährlich den Ausgangspunkt und Rahmen der Un-
tersuchung dar. Zu diesem Zweck werden die persönlichen Einschätzungen und Einstellungen
der Thüringer Bürger:innen mit Strukturdaten zur Entwicklung und den Rahmenbedingungen
im Freistaat unterfüttert. Vor dem Hintergrund des diesjährigen Schwerpunkts zum Thema
„Politische Kultur in Stadt und Land“, wird ein besonderer Fokus auf die Abbildung der sozi-
oökonomischen, demographischen und infrastrukturellen Situation in den Thüringer Landkrei-
sen und kreisfreien Städten sowie die diesbezüglichen Unterschiede gelegt. So haben Untersu-
chungen gezeigt, dass die Alltagsumgebung einen erheblichen Einfluss auf die Einstellungen
von Personen hinsichtlich politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fragestellungen
haben kann (Salomo 2019).
In Abbildung 1 ist zu sehen, wie die Thüringer:innen die Entwicklung ihrer persönlichen
sowie der allgemeinen finanziellen Situation bewerten. Nachdem auch in den Jahren der Co-
vid-19-Pandemie 2020 und 2021 der positive Trend der vergangenen Jahre Bestand hatte, ist
dies 2022 nicht der Fall. Mit einem durchschnittlichen Wert von 2,46 (wobei 4 eine „sehr gute“
und 1 eine „sehr schlechte“ Einschätzung der wirtschaftlichen Lage bezeichnet), ist die Beur-
teilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage im Vergleich zum Vorjahresmittelwert von 2,76
deutlich zurückgegangen. Dies zeigt sich auch im Anteil derjenigen Befragten, die die wirt-
schaftliche Lage Thüringens als „gut“ bezeichnen. Hier ist ein Rückgang von 23 Prozentpunk-
ten zu konstatieren. Unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine und der damit
zusammenhängenden Energiekrise bewerteten die Thüringer:innen im Befragungszeitraum im
Herbst 2022 die allgemeine wirtschaftliche Lage in Thüringen so schlecht wie seit zwölf Jahren
nicht mehr. Selbst im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 war kein derartiger
Rückgang zu erkennen. Weniger dramatisch bewerteten die Thüringer:innen hingegen die per-
sönliche wirtschaftliche Lage. Nach dem Höchstwert von 2,91 im Vorjahr ist der Mittelwert
leicht auf 2,8 gesunken (ebenfalls auf einer Skala von 1-4, wobei 1 für eine „sehr schlechte“
und 4 für eine „sehr gute“ finanzielle Situation steht). Dies stellt im zeitlichen Vergleich immer
noch eine positive Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Situation dar. Der Anteil
der Befragten, die ihre eigene finanzielle Situation als gut bewerten ist zudem um fünf Pro-
zentpunkte (von 79 auf 74 Prozent) zurückgegangen. Somit ist die Diskrepanz zwischen der
Einschätzung der persönlichen und der allgemeinen wirtschaftlichen Situation so groß wie seit
der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht mehr. Angesichts der starken Preiserhöhungen bei Le-
bensmitteln und Energieträgern im Jahr 2022 ist diese verhältnismäßig positive Beurteilung
der persönlichen ökonomischen Situation durchaus bemerkenswert.
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Abb. 1: Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Thüringen und Ent-
wicklung der individuellen finanziellen Lage, 2000-2022
(Anteil der Befragten, die „sehr gut“ und „gut“ antworten zusammen-
gefasst, in Prozent)
Abbildung 2 zeigt die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage Thüringens im Vergleich mit
den übrigen ostdeutschen Bundesländern sowie mit den westdeutschen Ländern durch die Be-
fragten. Der Einschätzung, dass Thüringens wirtschaftliche Lage besser sei als in anderen ost-
deutschen Bundesländern stimmen nur noch 27 Prozent der Befragten zu. Stellten die 33 Pro-
zent im Jahr 2021 schon einen im Zeitverlauf niedrigen Wert dar, so liegt die Zustimmung im
Jahr 2022 angesichts von Energiekrise und hoher Inflation noch einmal signifikant niedriger.
Lediglich im Jahr 2000, dem ersten Jahr in der Zeitreihe des THÜRINGEN-MONITORs, war die
diesbezügliche Wahrnehmung der Thüringer:innen negativer.
In der über die Bewertung ökonomischer Indikatoren hinausgehenden Aussage, dass Thürin-
gen den Vergleich mit vielen westdeutschen Bundesländern nicht zu scheuen“ braucht steht
Thüringen im Vergleich besser da, doch auch hier ist die Zustimmung zurückgegangen. In der
Stichprobe des THÜRINGEN-MONITOR 2022 stimmen 64 Prozent der Befragten zu. 2021 waren
es 67 Prozent. Laut den Befragten scheinen die Auswirkungen der Krise also vor allem Thü-
ringen und andere Ost-Bundesländer zu treffen, sodass Thüringen hier im wirtschaftlichen Ver-
gleich weniger deutlich einbüßt.
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Abb. 2: Thüringen im Vergleich mit ost- und westdeutschen Ländern 2000-2022
(Zustimmung in Prozent)
Das Schwerpunktthema des diesjährigen THÜRINGEN-MONITORs sind die unterschiedlichen
Lebensrealitäten in städtischen und ländlichen Räumen. Ausgangspunkt ist die in der öffentli-
chen Diskussion geäußerte These, ländliche Räume seien zunehmend politisch, wirtschaftlich
bzw. wirtschaftspolitisch und sozial ‚abgehängt‘. Sozioökonomischer Wohlstand sowie gesell-
schaftlicher Einfluss konzentriere sich in den urbanen Zentren (Deppisch 2019; Rodríguez-
Pose 2018; Sixtus et al. 2019). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern solche
Muster auch in Thüringen erkennbar sind und sich ggf. existierende Unterschiede auf die poli-
tischen Einstellungen auswirken. Zunächst ist jedoch konzeptionell und methodisch zu klären,
wie „Stadt“ und „Land“ in dieser Untersuchung konzeptualisiert werden können und welche
Thüringer Landkreise und kreisfreien Städte als eher städtisch und welche als eher ländlich
eingestuft werden können.
Ländlichkeit
Eine häufige Kenngröße zur Ermittlung der Ländlichkeit ist die Bevölkerungsdichte einer Re-
gion (siehe Abbildung 3). Die vier Landkreise mit der geringsten Bevölkerungsdichte in Thü-
ringen sind im Jahr 2021 Hildburghausen (66 Personen pro km²), der Saale-Orla-Kreis (69),
der Kyffhäuserkreis (70) und Sömmerda (85). Die am dichtesten besiedelten Landkreise stellen
Sonneberg (123), der Ilm-Kreis (131), Gotha (143) und das Altenburger Land (154) dar. Die
kreisfreien Städte verfügen naturgemäß über eine deutlich höhere Bevölkerungsdichte, wobei
hier zwischen dem Minimum Suhl (255) und dem Maximum Jena (963) eine große Spannbreite
besteht. Die Bevölkerungsdichte Thüringens beträgt insgesamt 130 Personen je km², was den
viertniedrigsten Wert unter den Bundesländern darstellt (Statistisches Bundesamt 2022a).
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Abb. 3: Bevölkerungsdichte der Thüringer Landkreise1
Anmerkung: Erhebungsjahr 2021. Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Die Bevölkerungsdichte ist als alleiniger Indikator für Ländlichkeit jedoch ungeeignet. So ist
vorstellbar, dass eine Region durch moderne Infrastruktur, eine gute Verkehrsanbindung oder
eine höhere Dichte an wirtschaftlichen Betrieben als weitaus weniger ländlich wahrgenommen
wird als dichter besiedelte Regionen, in denen die genannten Merkmale weniger ausgebildet
sind. Ein Blick auf die in der Forschung genutzten Typologien zeigt, dass die Frage nach der
Ländlichkeit einer Region je nach Konzeptualisierung von weiteren Kriterien abhängig ge-
macht wird. Neben der Bevölkerungsdichte und dem Anteil der Menschen, die in größeren
Städten leben (siehe für Beispiele etwa die „Siedlungsstrukturellen Kreistypen“ des BBSR oder
die „Urban-Rural“-Typologie der EU), sind auch das Pendler:innenaufkommen und die Ar-
beitsplatzdichte weitere genutzte Kriterien (siehe das „Regionen-Modell“ der Firma BIK). Ein
weiteres Kriterium ist die Verortung eines Raumes zwischen Zentrum und Peripherie (etwa
beim Index „Raumtypen“ des BBSR). Peripherie wird hierbei als Distanz zum politischen,
1 Die Abkürzungen der Landkreise orientieren sich mit Ausnahme des Weimarer Landes an den KFZ-Kennzei-
chen: ABG = Altenburger Land; EF = Erfurt; EIC = Eichsfeld; G = Gera; GRZ = Greiz; GTH = Gotha; HBN =
Hildburghausen; IK = Ilm-Kreis; J = Jena; KYF = Kyffhäuserkreis; NDH = Nordhausen; SHK = Saale-Holzland-
Kreis; SHL = Suhl; SLF = Saalfeld-Rudolstadt; SM = Schmalkalden-Meiningen; SOK = Saale-Orla-Kreis; SÖM
= Sömmerda; SON = Sonneberg; UH = Unstrut-Hainich-Kreis; WAK = Wartburgkreis; WE = Weimar; WL =
Weimarer Land.
14
kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum eines Landes verstanden.2 Gemein ist den genannten
Indizes, dass sie auf einer kleinen Anzahl an Indikatoren basieren und dadurch Gefahr laufen,
die vielfältigen Dimensionen des Konzeptes Ländlichkeit nicht abzubilden.
Daher wird zur Bestimmung der Ländlichkeit der Thüringer Kreise im diesjährigen THÜRIN-
GEN-MONITOR der Landatlas des Thünen-Instituts (2022) genutzt, da dieser neben bereits
genannten Indikatoren zusätzlich eine Reihe an sozioökonomischen Faktoren einbezieht.3
Trotz dieser breiten Konzeption bietet der Landatlas eine übersichtliche Darstellung des Grads
der Ländlichkeit. Inwiefern die in Wissenschaft und Verwaltung genutzten Kriterien tatsäch-
lich mit den Vorstellungen übereinstimmen, die die Bürger:innen von „Stadt“ und „Land“ ha-
ben, ist eine Frage, die in Kapitel III.1 beantwortet wird.
Aus den Indikatoren wird im Thünen Landatlas ein Ländlichkeitswert berechnet und jeder
Landkreis und jede kreisfreie Stadt in Abhängigkeit von Ländlichkeit und sozioökonomischer
Lage in eine von fünf Kategorien4 eingeordnet. Für Thüringen ergibt diese Zuordnung eine
Dreiteilung in die nicht-ländlichen kreisfreien Städte Jena und Erfurt sowie eher ländliche
Kreise und sehr ländliche Kreise mit jeweils weniger guter wirtschaftlicher Lage. Damit ähnelt
die Einteilung dem Ergebnis des „Teilhabeatlas Deutschlands“, in dessen Analyse alle Land-
kreise Thüringens im gesamtdeutschen Vergleich in die Kategorie „Abgehängte Regionen“
eingeordnet werden und alle kreisfreien Städte als „Großstädte mit Problemlagen“ geführt wer-
den – mit Ausnahme von Jena, die als „attraktive Großstadt“ in der mittleren von drei Katego-
rien landet (Sixtus et al. 2019). Allgemein wird Thüringen als sehr ländliches Bundesland ein-
gestuft. So gibt es im Freistaat keine stark verstädterten Regionen, wie beispielsweise das Ruhr-
oder das Rhein-Main-Gebiet, und auch keine Metropol-Regionen im Umland von Millionen-
städten. Auch die Thüringer Großstädte sind im bundesdeutschen Vergleich eher klein. Erfurt,
die größte Stadt Thüringens, liegt mit 213.000 Einwohner:innen auf Platz 37 der größten Städte
Deutschlands (Statistisches Bundesamt 2022b).
Um vor diesem Hintergrund eine differenziertere Analyse der Ländlichkeit im THÜRINGEN-
MONITOR zu ermöglichen, wurden die Landkreise und kreisfreien Städte in Abhängigkeit ihres
Ländlichkeitswertes (bei gleicher sozioökonomischer Lage) mithilfe einer Clusteranalyse in
vier Klassen („Cluster“) unterteilt: „städtisch“, „etwas ländlich“, „moderat ländlich“ sowie
„sehr ländlich“ (siehe Abb. 4). Diese modifizierte Thünen-Ländlichkeitstypologie bildete auch
die Grundlage für die diesjährige Stichprobenziehung (siehe ausführlich Kapitel zur Methodik
des THÜRINGEN-MONITORs im Anhang).
2 Wobei politisches, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum nicht zwangsweise durch einen Ort repräsentiert
werden müssen. Ein Beispiel hierfür ist die Niederlande, wo das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Amster-
dam nicht das politische Zentrum (dies ist Den Haag) darstellt.
3 Zu den Indikatoren zählen: Siedlungsdichte, Anteil agrarwirtschaftlicher Flächen, die Erreichbarkeit großer Zen-
tren, der Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern, die Arbeitslosenquote, Lohnniveau und Medianeinkommen,
die Steuerkraft, das Gesamtwanderungssaldo, Wohnungsleerstand, Schulabbrecher:innenquote sowie die durch-
schnittliche Lebenserwartung.
4 Die Kategorien sind ‚nicht ländlich‘, ‚etwas ländlich mit guter sozioökonomischer Lage‘, ‚etwas ländlich mit
weniger guter sozioökonomischer Lage‘, ‚sehr ländlich mit guter sozioökonomischer Lage‘ und ‚sehr ländlich mit
weniger guter sozioökonomischer Lage‘.
15
Abb. 4: Die Thüringer Landkreise nach Ländlichkeitsklassen
Quelle: Thünen-Institut 2022; eigene Berechnung
Wie in Abbildung 4 zu sehen ist, stechen in Thüringen die kreisfreien Großstädte Erfurt und
Jena heraus, welche mit Werten von -0,77 und -0,9 als städtisch gelten.5 Als etwas ländlich
können das Altenburger Land, Greiz und Gera sowie das Weimarer Land und Weimar mit
Indexwerten zwischen 0,13 und 0,28 eingestuft werden.6 Moderat ländlich sind in der genutz-
ten Aufteilung mit Werten zwischen 0,42 und 0,62 die Landkreise Gotha, Ilm-Kreis, Saalfeld-
Rudolstadt, Sonneberg, Nordhausen, Wartburgkreis mit Eisenach7, Unstrut-Hainich-Kreis,
Saale-Holzland-Kreis und Schmalkalden-Meiningen mit Suhl. Sömmerda, Eichsfeld, Saale-
Orla-Kreis, Kyffhäuserkreis und Hildburghausen gelten nach dem Thünen-Institut als die länd-
lichsten Landkreise in Thüringen, wobei Hildburghausen mit 0,92 deutlich den Maximalwert
aufweist, während sich die übrigen vier Kreise in einem Bereich von 0,71 bis 0,78 bewegen.
5 Negative Indexwerte beschreiben eher städtische Räume, positive Werte eher ländliche Räume. Der städtische
Maximalwert liegt in Deutschland bei -4,54 für Berlin, der ländliche Maximalwert liegt bei 1,12 im Landkreis
Lüchow-Dannenberg. Das Thüringer Spektrum reich von -0,9 in Jena bis 0,92 in Hildburghausen
6 Der Thünen-Landatlas bestimmt keine eigenen Ländlichkeitswerte für kreisfreie Städte unter 100.000 Einwoh-
ner:innen. In Thüringen betrifft dies Weimar, Gera, Suhl und vormals Eisenach. Diese werden mit ihrem Umland-
kreis zusammengefasst (im Fall von Suhl ist dies Schmalkalden-Meiningen).
7 Eisenach ist erst seit dem 1. Juli 2021 Teil des Wartburgkreises. Folglich wird Eisenach für Indikatoren, die vor
diesem Datum erhoben wurden, noch als kreisfreie Stadt dargestellt.
16
Trotz des Einbezugs weiterer Indikatoren fällt auf, dass die Bevölkerungsdichte einen starken
Einfluss auf den Ländlichkeitswert einer Region hat. So stellen die vier am dünnsten besiedel-
ten Landkreise gleichzeitig vier der fünf Landkreise mit den höchsten Ländlichkeitswerten dar.
Aus den sehr ländlichen Regionen (Cluster 4) liegt einzig der Landkreis Eichsfeld mit 105 Per-
sonen je km² im Thüringer Mittelfeld. Wie ausgeführt, untersucht der diesjährige THÜRINGEN-
MONITOR, ob sich die politischen Einstellungen der Thüringer:innen in ländlichen Regionen
von jenen in städtischen Regionen unterschieden. Fühlen sich Menschen in strukturell schwä-
cheren Regionen tatsächlich eher „abgehängt“? Welche Faktoren beeinflussen also, ob sich
Menschen politisch, (wirtschafts-)politisch bzw. kulturell „abgehängt“ fühlen? Um diese Fra-
gen beantworten zu können, wird im Folgenden eine Auswahl demographischer, sozioökono-
mischer und infrastruktureller Kennzahlen der Thüringer Landkreise und kreisfreien Städte
vorgestellt. Dies ermöglicht den Vergleich dieser Strukturdaten mit den Wahrnehmungen und
Einstellungen der Thüringer:innen (vgl. Kapitel III). Dabei spiegelt die Auswahl der in diesem
Kapitel untersuchten Indikatoren Erkenntnisse der Forschungsliteratur über zentrale Erklä-
rungsfaktoren für die „revenge of the places left behind“ (Rodriguez-Posé 2018) bzw. „abge-
hängter“ Regionen wider (u. a. Bergmann et al. 2018; De Lange et al. 2022; Dijkstra et al.
2020; Salomo 2019; Sixtus et al. 2019; Velthuis et al. 2022).
Demographische Entwicklung
Aus demographischer Perspektive ist die Bevölkerungsentwicklung besonders interessant, da
eine schrumpfende und gleichzeitig alternde Bevölkerung Sozialsysteme und Arbeitsmarkt vor
wachsende Herausforderungen stellt (Wilke 2020). Insgesamt ist die Thüringer Bevölkerung
im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr um rund 11.000 Personen gesunken. Damit wurde der
negative Trend der Vorjahre bestätigt (vgl. Reiser et al. 2021a, 11). Ausschlaggebend ist hierfür
die im Vergleich zu den Sterbefällen geringere Geburtenrate (Saldo: -19.500), der ein Zuwachs
von 8.500 Personen durch einen positiven Zuwanderungssaldo gegenübersteht (Thüringer Lan-
desamt für Statistik 2022). In Abbildung 5 ist der Bevölkerungssaldo pro 1.000 Einwoh-
ner:innen im Jahr 2021 dargestellt. Analog zum Thüringer Gesamtwert haben alle Landkreise
und kreisfreien Städte einen positiven Wanderungssaldo und einen negativen Geburtensaldo.
Dabei ist die Stadt Weimar die einzige Region, die 2021 um 1,3 Personen pro 1.000 Einwoh-
ner:innen gewachsen ist. Auch die kreisfreien Städte Jena (-1,6) und Erfurt (-1,9) schneiden im
Thüringer Vergleich verhältnismäßig positiv ab, während Gera (-8,1) und Suhl (-8,8) unter den
am stärksten schrumpfenden Räumen liegen. Dabei wird deutlich, dass strukturelle Unter-
schiede, unabhängig von Stadt oder Land, stark mit der Altersstruktur der Regionen zusam-
menhängen (siehe Abb. 6). Regionen mit einer höheren Anzahl junger Familien, wie etwa die
Großstädte, schneiden entsprechend durch einen besseren Geburtensaldo naturgemäß besser
ab. Saalfeld-Rudolstadt (-11,5), Sonneberg (-9,5) und Nordhausen (-9,2) sind 2021 die am
stärksten schrumpfenden Landkreise, während es mit dem Eichsfeld (-1,5), dem Ilm-Kreis (-
2,1) und dem Weimarer Land (-2,3) auch ländliche Regionen gibt, die im Thüringer Vergleich
gut abschneiden. Anders als bei den angeführten kreisfreien Städten kommen diese Werte vor
allem durch Zuwanderung zustande. So hat der Ilm-Kreis einen Geburtensaldo von -10,2, der
jedoch durch den Spitzenwert von 8,1 im Wanderungssaldo größtenteils ausgeglichen wird.
17
Abb. 5: Bevölkerungssaldo
Anmerkung: Erhebungsjahr 2021. Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Allgemein ist Thüringen im bundesdeutschen Vergleich eines der Länder mit dem höchsten
Durchschnittsalter in der Bevölkerung. 2016 lagen mit Suhl, Greiz und dem Altenburger
Land drei der zehn „ältesten“ Landkreise Deutschlands im Freistaat; Suhl wird häufig als „äl-
teste Stadt Deutschlands“ bezeichnet (Fiedler 2019; TMASGFF 2019). Die genannten Räume
stellen auch 2021 hinsichtlich des Alters die Spitzenreiter dar. So sind in Suhl 34 Prozent der
Menschen über 65 Jahre alt, im Altenburger Land 32 und in Greiz 31 Prozent. Die Groß- und
Universitätsstädte stechen bezüglich des Altersdurchschnitts hingegen erwartbar heraus und
unterscheiden sich diesbezüglich deutlich von den ländlichen Räumen. In Jena (22 Prozent),
Erfurt (23) und Weimar (24) liegt der Anteil der Bevölkerung, der im Jahr 2021 65 Jahre und
älter ist, deutlich niedriger als in den restlichen Landkreisen und kreisfreien Städten. Die Daten
für Suhl (34) und Gera (30) zeigen jedoch auch, dass kreisfreie Städte nicht automatisch eine
jüngere Bevölkerung haben. Der demographische Wandel stellt die Thüringer Landkreise
somit in unterschiedlichem Ausmaß vor Probleme. Es ist anzunehmen, dass sich der negative
Trend auch in den kommenden Jahren fortsetzt und insbesondere Regionen mit einer
ungünstigen demographischen Entwicklung vor großen Aufgaben stehen. Entsprechend sieht
eine Studie zur Zukunft der Regionen in Deutschland des Instituts der deutschen Wirtschaft
den demographischen Wandel als größte Herausforderung für die Regionen in Thüringen an –
insbesondere im Osten und Süden des Bundeslandes (Oberst et al. 2019).
18
Abb. 6: Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung
Anmerkung: Erhebungsjahr 2021. Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Ergänzend soll ein Blick auf die Schulbildung geworfen werden (siehe Abb. 7). 31,2 Prozent
aller Schulabgänger:innen in Thüringen beendeten ihre schulische Laufbahn im Jahr 2021 mit
der allgemeinen Hochschulreife. Gegenüber 2020 (32,7 Prozent) ist dies ein leichter Rückgang,
2010 lag der Anteil noch bei 36,6 Prozent (Thüringer Landesamt für Statistik 2022). Der Blick
in die Landkreise offenbart dabei deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land – zumindest
in der Hinsicht, dass drei Städte deutlich herausragen. In Weimar und Jena lag die Abitu-
rient:innenquote mit 50 bzw. 53 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Suhl und Hild-
burghausen (beide 22 Prozent). Erfurt folgt mit 39 Prozent auf Platz drei, die restlichen Land-
kreise und kreisfreien Städte liegen unter 35 Prozent, die Mehrheit unter 30 Prozent. Insgesamt
zeigt sich, dass die Korrelation zur Ländlichkeit stärker ausfällt als bei den meisten anderen
untersuchten Indikatoren. In ländlicheren Landkreisen machen im Durchschnitt weniger Schü-
ler:innen Abitur als in weniger ländlichen Landkreisen oder kreisfreien Städten. Dies ist inso-
fern relevant, als dass diese räumliche Ungleichverteilung auf Unterschiede bezüglich sozialer
Aufstiegs- und Karrierechancen hinweist und die Bildungsbiographie eines Menschen unter
anderem dadurch beeinflusst wird, ob er auf dem Land oder in der Stadt aufgewachsen ist. So
haben Studien etwa gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, trotz Hochschulzugangsberechtigung
kein Studium aufzunehmen, höher ist, je weiter Personen von einem Hochschulort entfernt
wohnen. Absolvent:innen in ländlichen Räumen entscheiden sich durch die höheren Kosten
19
eines Ortswechsels (im Vergleich zu Personen, die in oder in der Nähe einer Hochschulstadt
wohnen) öfter dazu, in der Heimatregion zu bleiben und eine Ausbildung zu beginnen (vgl.
u.a. Daniel et al. 2019, 35 f.).
Abb. 7: Abiturient:innenquote
Anmerkung: Erhebungsjahr 2021. Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Wirtschaftliche Situation
Ein Blick auf die wirtschaftliche Situation im Freistaat (Abb. 8) macht die besondere Stellung
der kreisfreien Städte deutlich. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP)8 pro Kopf lag im Thüringer
Durchschnitt 2020 bei 29.400 Euro, womit es mit den übrigen ostdeutschen Ländern im unteren
Drittel der Bundesrepublik zu verorten ist (Statistische Ämter des Bundes und der Länder
2022). Unter den sieben nach diesem Indikator stärksten Wirtschaftsräumen befinden sich alle
sechs kreisfreien Städte sowie der Saale-Orla-Kreis. Das BIP pro Kopf von Jena (45.100 Euro)
liegt dabei fast doppelt so hoch wie im umliegenden Saale-Holzland-Kreis (24.600). Die gro-
ßen Unterschiede zwischen Städten und Landkreisen hängen dabei unter anderem mit der ho-
8 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bemisst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines
Jahres erbracht worden sind, und ist somit ein Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Raumes.
20
hen Zahl an Pendler:innen zusammen, die in anderen Landkreisen wohnen, Arbeit und Wert-
schöpfung jedoch in wirtschaftlichen Zentren erbringen. Betrachtet man dagegen das Brutto-
inlandsprodukt pro erwerbstätiger Person in einem Landkreis (inklusive Pendler:innen), rela-
tivieren sich diese Unterschiede zwischen Stadt und Land merklich. Die drei kreisfreien Städte
Gera (57.700 Euro), Eisenach9 (57.900) und Suhl (56.700) etwa sind nun im unteren Drittel zu
verorten. Die Wirtschaftskraft der Landkreise ist dabei unabhängig von der Ländlichkeit breit
verteilt. Mit dem Ilm- (64.400), Wartburg- (64.300), Saale-Orla- (64.300) und Kyffhäuserkreis
(62.700) belegen vier moderat bis sehr ländliche Landkreise hinter Jena (68.400) die vorderen
Plätze. Deutlich wird dabei, dass Kreise mit einer älteren Bevölkerung im Landesvergleich der
wirtschaftlichen Produktivität unterdurchschnittlich abschneiden.
Abb. 8: Bruttoinlandsprodukt
Anmerkung: Erhebungsjahr 2020. Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Neben der gesamtwirtschaftlichen Produktivität ist insbesondere aus sozialer Perspektive be-
deutsam, wie viel Geld den Privathaushalten in Thüringen tatsächlich zur Verfügung steht.
Hierüber gibt das Haushaltsnettoeinkommen Auskunft, welches alle Einnahmen eines Haus-
halts abzüglich Steuern und Sozialabgaben darstellt. Der Blick auf diesen Indikator deutet auf
eine sowohl von der Ländlichkeit als auch von der Wirtschaftskraft unabhängige geographi-
sche Verteilung hin (siehe Abb. 9): Dabei steht das höchste Einkommen den Haushalten im
Südwesten des Freistaates zur Verfügung, während das Einkommen im Zentrum und Norden
überwiegend niedriger liegt. Spitzenreiter ist die kreisfreie Stadt Suhl mit 22.961 Euro – trotz
geringem BIP und der ältesten Bevölkerung im Land. Es folgen Sonneberg (22.142) und der
Wartburgkreis (22.101). Über das niedrigste Einkommen verfügen dagegen die Haushalte in
Nordhausen (20.092), dem Kyffhäuserkreis (19.960) und der Stadt Weimar (19.895).
9 Eisenach ist erst seit dem 1. Juli 2021 Teil des Wartburgkreises. Daher wird Eisenach für Indikatoren, die vor
diesem Datum erhoben wurden, noch als kreisfreie Stadt dargestellt.
21
Die Arbeitslosenzahlen entsprechen dieser Verteilung. Die durchschnittliche Arbeitslosen-
quote in Thüringen lag im Jahr 2021 bei 5,6 Prozent aller Erwerbspersonen und damit knapp
unter der bundesweiten Arbeitslosenquote von 5,7 Prozent. Das ist nach dem coronabedingten
Anstieg im Jahr 2020 ein Rückgang um 0,4 Prozentpunkte und wieder nah am Allzeittief von
5,3 Prozent im Jahr 2019 (vgl. Reiser et al. 2021b, 15). Analog zur Verteilung des Haushalts-
einkommens finden sich die höchsten Arbeitslosenzahlen in den nördlichen Landkreisen Nord-
hausen (7,4), Kyffhäuserkreis (7,5) und Unstrut-Hainich-Kreis (7,1) sowie der Stadt Gera (7,9)
und dem Altenburger Land (6,6) im Osten des Landes. Bezüglich eines Stadt-Land-Unterschie-
des ist auffällig, dass alle kreisfreien Städte eine Arbeitslosenquote oberhalb des Landesdurch-
schnitts besitzen.
Abb. 9: Haushaltsnettoeinkommen und Arbeitslosenquote
Anmerkung: Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen pro Jahr (links; 2020) und durchschnittlicher Anteil
der Erwerbspersonen, welche ALG 1 oder 2 beziehen (rechts; 2021). Quelle: BBSR Bonn 2021; Thüringer Lan-
desamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Kennzahlen ist es höchst interessant, die Struk-
turdaten mit der subjektiven Wahrnehmung der wirtschaftlichen Situation zu vergleichen – so-
wohl mit der eigenen als auch mit der gesamtwirtschaftlichen des Freistaats –, um zu untersu-
chen, woran die Menschen ihre Beurteilung der wirtschaftlichen Lage festmachen und inwie-
fern diese mit objektiven Strukturdaten übereinstimmt (siehe dazu Kapitel III.2)
Insgesamt zeigen die Daten zur wirtschaftlichen Lage, dass sich aus der Ländlichkeit eines
Landkreises nur bedingt Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Performanz und die den Men-
schen verfügbaren finanziellen Mittel ziehen lassen. Gleichzeitig wurde die Bedeutung der
Großstädte für den Wirtschaftsstandort Thüringen deutlich. Insgesamt kann jedoch die These,
dass ländliche Regionen insbesondere auf ökonomischer bzw. wirtschaftspolitischer Ebene
22
„abgehängt“ sind und mögliche Deprivationsgefühle10 vor allem auf wirtschaftlicher Benach-
teiligung basieren, auf Grundlage dieser Daten – die u. a. höhere durchschnittliche Einkommen
in ländlichen Räumen aufzeigen – somit nicht belegt werden.
Infrastruktur
Aus diesem Grund sollen nach demographischen und sozioökonomischen Strukturdaten nun
die soziale und die Verkehrsinfrastruktur im Land ins Auge gefasst werden. Die Attraktivität
urbaner Lebensräume mit umfangreichen Konsum- und Freizeitmöglichkeiten, guter Verkehrs-
anbindung und umfangreicher sozialer Infrastruktur wird gerne dem Bild von ländlichen Regi-
onen gegenübergestellt, in denen die Wege weit sind, immer seltener Busse fahren und das
Internet langsamer ist (Fröhlich 2019). Inwiefern lässt sich dieses Bild durch Strukturdaten der
Thüringer Landkreise und kreisfreien Städte bestätigen oder widerlegen?
Ein wichtiges Thema ist dabei die Mobilität in ländlichen Räumen – sowohl vor Ort als auch
die Anbindung an das Fernverkehrsnetz. So wird häufig die Unter- bzw. Rückentwicklung der
ÖPNV-Systeme auf dem Land angeführt, welche Menschen geradezu dazu zwinge, private
Verkehrsmittel zu nutzen (Nobis & Kuhnimhof 2018). Abbildung 10 zeigt die durchschnittli-
che Distanz vom Wohnort zur nächsten Bus- oder Bahnhaltestelle des öffentlichen Personen-
nahverkehrs mit mindestens 20 Abfahrten pro Tag im Jahr 2018. Wenig überraschend ist hier
insbesondere die Einwohnerdichte ein erklärender Faktor. So liegen die kreisfreien Städte al-
lesamt unter dem Thüringer Landesdurchschnitt von 522 Metern, mit maximal 295 Metern in
Suhl. Den weitesten Weg müssen die Menschen in den als sehr ländlich eingestuften Landkrei-
sen Hildburghausen (1.090m) und Saale-Orla-Kreis (1.128m) zurücklegen. Auffällig ist, dass
alle sehr ländlichen Landkreise deutlich über dem Landesdurchschnitt liegen. Mit dem Wei-
marer Land (896) und Greiz (745) sind jedoch auch weniger ländlich eingestufte Räume in
diesem Bereich zu finden. Bezüglich der Erreichbarkeit des ÖPNV-Angebots bestehen also
insbesondere zwischen Stadt und Land, aber auch innerhalb der Gruppe der ländlichen Räume
deutliche Unterschiede. Für 89 Prozent der Thüringer Haushalte liegt eine Bus- oder Bahnhal-
testelle mit mindestens 20 Abfahrten pro Tag dennoch näher als 1.000m.
10 Deprivation beschreibt ganz grundsätzlich das Gefühl der Entbehrung von etwas, das man braucht oder sich
wünscht. Die sozialwissenschaftliche Forschung unterscheidet dabei einerseits die individuelle Deprivation, etwa
wenn eine Person das Gefühl hat, nicht das Gehalt oder die Anerkennung zu bekommen, die ihr zusteht. Im THÜ-
RINGEN-MONITOR wird diese subjektive Deprivationserfahrung gemessen über eine als schlecht wahrgenommene
individuellen ökonomischen Situation in Kombination mit dem Gefühl, weniger als den gerechten Anteil zu er-
halten. Kollektive Deprivation liegt andererseits vor, wenn eine Person die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlt,
als benachteiligt ansieht (Sippl & Baier 2005). Im THÜRINGEN-MONITOR wird diesbezüglich die sogenannte Ost-
deprivation erfasst. Ostdeprivation wird gemessen über die Wahrnehmung einer negativen Einheitsbilanz („Ein-
heit hat für mich persönlich mehr Nach- als Vorteile gebracht“) und der empfundenen Abwertung des ostdeut-
schen Bevölkerungsteils durch den westdeutschen („Westdeutsche behandeln Ostdeutsche als Menschen zweiter
Klasse“).
23
Abb. 10: ÖPNV-Versorgung und Bahn-Fernverkehrsanbindung
Anmerkung: Durchschnittliche Distanz zur nächsten Bus- oder Bahn-Haltestelle mit 20 regulären Abfahrten täg-
lich (links; 2018) und durchschnittliche PKW-Fahrzeit zu einem Bahnhof mit regelmäßigem Halt von IC- oder
ICE-Zügen (rechts; 2020). Quelle: BBSR Bonn 2021; eigene Darstellung
Mit Blick auf die Erreichbarkeit von Fernverkehrsbahnhöfen wird die Bedeutung der Lage
einer Region zwischen Zentrum und Peripherie deutlich. In Abbildung 10 ist die durchschnitt-
liche PKW-Fahrzeit zum nächsten Bahnhof mit regelmäßiger Fernverkehrsanbindung darge-
stellt. Am längsten benötigen die Menschen in den in Thüringen eher peripher gelegenen Land-
kreisen im Norden und Süden des Landes, um per Auto zu einem solchen Bahnhof zu gelangen.
Den INKAR-Daten von 2020 zufolge benötigen Menschen in Nordhausen im Schnitt 55 Mi-
nuten hierfür, im Kyffhäuserkreis 48 und in Schmalkalden-Meiningen noch 43 Minuten. Bei
den zentraler gelegenen Landkreisen in der Nähe großer Städte, wie etwa dem Weimarer Land
(18), dem Saale-Holzland-Kreis (20) oder Gotha (14), geht dies deutlich schneller. Der Thü-
ringer Durchschnittswert liegt bei 29 Minuten, wobei naturgemäß die Menschen den kürzesten
Weg haben, die in den Städten mit entsprechendem Fernverkehrsbahnhof leben. Bezüglich der
Fernverkehrsanbindung bestehen also gleichfalls deutliche wie erwartbare Unterschiede zwi-
schen Stadt und Land und es wird deutlich, weshalb die Lage eines Kreises und die Entfernung
zu Ballungszentren als Indikator für die Ländlichkeit eines Raumes angesehen werden kann
(vgl. Förtner et al. 2019).
Der Ausbruch der Corona-Pandemie und die vermehrte Notwendigkeit zum Home-Office ha-
ben die Bedeutung eines guten Internetanschlusses zur Teilhabe am beruflichen und gesell-
schaftlichen Leben deutlich gemacht. Dabei stellt der Breitbandausbau, insbesondere in dünn
besiedelten Regionen, weiterhin eine der größten Herausforderungen der Digitalisierung in
Deutschland dar (Lindinger & Kloiber 2020). Dies zeigt sich auch in den Daten von 2021.
Dargestellt ist in Abbildung 11 der Anteil der Haushalte, die mindestens über eine 100 Mbit/s-
Leitung an das Internet angeschlossen sind. Im Vergleich der Thüringer Landkreise zeigt sich
erneut ein Unterschied zwischen den kreisfreien Städten und den Landkreisen. In allen kreis-
freien Städten liegt die Breitbandversorgung bei über 90 Prozent, in allen Landkreisen unter
dieser Schwelle. Nur in den Kreisen Altenburger Land (78), Saale-Holzland-Kreis (76), Saale-
24
Orla-Kreis (76) und Saalfeld-Rudolstadt (70) sind weniger als 80 Prozent der Haushalte an das
Highspeed-Internet angeschlossen. Im bundesdeutschen Vergleich belegt Thüringen mit
86 Prozent einen Mittelfeldplatz. Dabei konnte der Freistaat den Anteil der Haushalte mit min-
desten 100Mbit/s-Anschluss seit 2019 deutlich um 11 Prozentpunkte steigern (Bundesnetza-
gentur 2021).
Abb. 11: Breitband-Internetversorgung
Anmerkung: Anteil der Haushalte, die im Erhebungsjahr 2021 mindestens über eine 100Mbit/s-Leitung verfügen.
Quelle: BBSR Bonn 2021; eigene Darstellung
Mit Blick auf die soziale Infrastruktur ländlicher Räume wird unter anderem der Hausarzt-
mangel als wachsendes Problem wahrgenommen (Giertz & Schneider 2022; Reiser et al.
2019). Die Bundesärztekammer geht davon aus, dass die Unterversorgung mit Ärzt:innen ein
wachsendes Problem ist, das sich nicht auf ländliche Räume beschränkt (Bundesärztekammer
2021). Dabei weist Thüringen mit insgesamt 69,4 Hausärzt:innen pro 100.000 Einwohner:in-
nen eine Quote auf, welche sich im oberen Drittel des bundesdeutschen Vergleichs befindet.
Spitzenreiter Mecklenburg-Vorpommern weist eine Quote von 73,4 auf (Kassenärztliche Bun-
desvereinigung 2021). Der Vergleich der Landkreise (siehe Abb. 12) macht nur leichte Unter-
schiede zwischen Stadt und Land deutlich, auch wenn mit Weimar (88,5) eine kreisfreie Stadt
25
und mit dem Kyffhäuserkreis (60,7) ein sehr ländlicher Landkreis die Maximal- bzw. Mini-
malwerte darstellen. Im Durchschnitt ist die Arztdichte in den kreisfreien Städten zwar höher
als in den Landkreisen, doch es tritt keine klare Zweiteilung auf. Auffällig ist hingegen eine
räumliche Verteilung. Die zahlenmäßig beste Hausarztversorgung haben die Menschen in Wei-
mar und Jena (78,3) sowie in den sie umgebenden Landkreisen Weimarer Land (77,9) und
Saale-Holzland-Kreis (77,1), während die Hausarztdichte in periphereren Landkreisen eher
niedriger liegt.
Abb. 12: Hausarztdichte und Versorgung mit Lebensmittelgeschäften
Anmerkung: Anzahl an niedergelassenen Hausärzt:innen pro 100.000 Personen (links; 2021) und durchschnitt-
liche Distanz zum nächsten Lebensmittelgeschäft (rechts; 2017). Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung
2021; Thüringer Landesamt für Statistik 2022; eigene Darstellung
Bezüglich der Versorgung mit Supermärkten ist hingegen eine deutliche Differenz von städ-
tischen und ländlichen Räumen zu erkennen. Dargestellt ist in Abbildung 12 die durchschnitt-
liche Entfernung zum nächsten Supermarkt mit Daten aus dem Jahr 2017. Erwartungsgemäß
besteht auch hier ein Zusammenhang mit der Bevölkerungsdichte. In den kreisfreien Städten
liegt die durchschnittliche Entfernung zwischen 465 Metern in Jena und 841 Metern in Suhl.
In den Landkreisen reicht die Spanne von 1.186 Metern in Gotha bis zu 1.862 Metern in Söm-
merda. Die Statistik unterstreicht, dass weite Strecken ein Erkennungsmerkmal ländlicher
Räume sind. Wenngleich die Differenz aufgrund der dichteren Besiedlung in städtischen Räu-
men erwartbar ist, ist es eine bemerkenswerte Feststellung, dass Menschen im Landkreis Söm-
merda gegenüber Menschen in Jena im Durchschnitt das Vierfache des Weges zurücklegen
müssen, um Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs zu erwerben. Längere Wege und
eine geringere Abdeckung des öffentlichen Personennahverkehrs führen dazu, dass das Auto
im Mobilitätsverhalten von Menschen in ländlichen Räumen eine deutlich größere Rolle spielt.
Ohne die Möglichkeit, individuell mobil zu sein, lässt sich der Alltag auf dem Land nur schwer-
lich bewältigen (Nobis & Kuhnimhof 2018).
26
Insgesamt zeigen die Strukturdaten somit einige zentrale Unterschiede zwischen Stadt und
Land: Die Thüringer Stadtbewohner:innen haben kürzere Wege, etwa zum Supermarkt oder
Fernverkehrsbahnhof, eine bessere ÖPNV-Versorgung und schnelleres Internet als die Men-
schen in den Landkreisen. Während die erbrachte Wirtschaftsleistung in den kreisfreien Städ-
ten zwar insgesamt höher liegt als in den Landkreisen, gilt das ebenso für die Arbeitslosenzah-
len. Folglich finden sich auch die höchsten Haushaltseinkommen in ländlichen Regionen. Je-
doch wäre es falsch, im Falle Thüringens von einheitlichen Stadt-Land-Unterschieden zu spre-
chen. So zeigen sich etwa innerhalb der Gruppe der kreisfreien Städte Differenzen zwischen
Jena, Erfurt und Weimar auf der einen Seite und Gera und Suhl auf der anderen Seite, wobei
letztgenannte insbesondere demographische Indikatoren aufweisen, die den ländlichen Räu-
men ähneln. Auch in der Gruppe der Landkreise lassen sich bezüglich Demographie, Wirt-
schaft und Infrastruktur teils erhebliche Unterschiede feststellen, die einer Vereinheitlichung
ländlicher Räume widersprechen. Im Folgenden wird darauf aufbauend untersucht, ob sich
diese regionalen Muster und Unterschiede in den Wahrnehmungen und Einstellungen der Thü-
ringer Bevölkerung widerspiegeln.
27
III. „Stadt“ und „Land“ in Thüringen
Thüringen kann als ländliches Bundesland charakterisiert werden, da es keine stark verstädter-
ten Regionen wie das Ruhrgebiet hat und auch keine Metropolregionen im Umland von Groß-
städten. Auch die größten Städte des Freistaats – Erfurt, Jena, Gera – sind im Vergleich zu
anderen Bundesländern eher klein. Obwohl Thüringen insgesamt also ländlich geprägt ist, las-
sen sich z. T. erheblich Unterschiede in den Strukturdaten der Regionen ausmachen (siehe Ka-
pitel II). Doch auch im ländlich geprägten Thüringen würden, so u. a. die Argumentation der
Geschäftsführerin der IBA Thüringen, Marta Doehler-Behzadi, die einst klaren räumlichen
Grenzen zwischen „Stadt“ und „Land“ zunehmend verschwimmen. Im Zuge dieser Entwick-
lung würde „das Land […] mehr und mehr urban, die Stadt ‚verländlicht’“ (Doehler-Behzadi
2021, 593). Auch in kultureller Hinsicht wird eine Annäherung der Lebenswelten in Stadt und
Land beobachtet. Trotzdem halten viele Menschen und die Medienberichterstattung meist an
einer Zweiteilung von Stadt und Land fest, die jedoch den tatsächlichen Verhältnissen nicht
mehr entsprechen würde: „Nennen wir in gewohnter Weise die Stadt weiterhin ‚Stadt‘ und das
Land weiterhin ‚Land‘, so unterstellen wir eine Eindeutigkeit, die der Realität immer weniger
gerecht werden kann“ (Doehler-Behzadi 2021, 600). Stattdessen müsse das Stadt-Land-Gefälle
als Kontinuum begriffen werden (Kenny & Luca, 2021).
Im klaren Kontrast zu dieser Beobachtung schwindender Stadt-Land-Gegensätze steht die jün-
gere Debatte über sogenannte „abgehängte“ ländliche bzw. periphere Regionen. Eine in der
öffentlichen Diskussion häufig zu vernehmende These ist, dass ländliche Räume zunehmend
politisch, wirtschaftspolitisch und sozial „abgehängt“ seien und sich sozioökonomischer Wohl-
stand sowie gesellschaftlicher Einfluss in den urbanen Zentren konzentriere (Deppisch 2019;
Rodríguez-Pose 2018). Dies wird nicht zuletzt auf den wirtschaftlichen Niedergang ganzer Re-
gionen (Dijkstra et al. 2020; Rodríguez-Pose 2018), eine schlechte öffentliche Daseinsvorsorge
sowie Abwanderung und Überalterung (Diermeier 2020) zurückgeführt.
Vor diesem Hintergrund hat der diesjährige THÜRINGEN-MONITOR das Thema „Politische Kul-
tur in Stadt und Land“ zu seinem Schwerpunkt gemacht. In den folgenden Unterkapiteln soll
zum einen herausgearbeitet werden, ob sich die Bewertung der Struktur- und Lebensbedingun-
gen zwischen städtischen und ländlichen Gemeinden unterscheidet. Zudem soll untersucht
werden, ob es zwischen städtischen und ländlichen Regionen politische Einstellungsunter-
schiede gibt und ob sich die Menschen in ländlichen Regionen tatsächlich abgehängt(er) fühlen
als in den Städten. Ferner sollen potenzielle Einflussfaktoren für das Gefühl des „Abgehängt-
seins“ ermittelt werden.
28
III.1. „Stadt“ und „Land“ in der Augen der Thüringer:innen
Das folgende Unterkapitel stellt dar, wie „ländlich“ bzw. „städtisch“ die Befragten ihre eigene
Gemeinde wahrnehmen und wie stark sie sich ihrer Gemeinde sowie ihrer Region verbunden
fühlen. Außerdem behandelt dieses Kapitel die Frage, welche stereotypen Vorstellungen über
„Stadt“ und „Land“ in den Köpfen der Menschen bestehen und inwieweit diese tatsächlich als
zutreffend wahrgenommen werden.
Wie in Kapitel II dargestellt, wurden zur Messung der Ländlichkeit der Thüringer Landkreise
die Daten aus dem Landatlas des Thünen-Instituts genutzt. Für die Analyse in diesem Gutach-
ten wurden die Thüringer Städte und Landkreise mittels einer Cluster-Analyse (basierend auf
den Thünen-Daten) in drei Ländlichkeitsgruppen („etwas ländlich“, „moderat ländlich“ und
„sehr ländlich“) sowie ein städtisches Cluster bestehend aus Erfurt und Jena eingeteilt (siehe
Abb. 4 in Kapitel II).11 Da die Bürger:innen die Ländlichkeit ihres Wohnorts noch einmal
anders bewerten können als objektive Indikatoren dies tun, haben wir die Thüringer:innen um
eine Selbsteinschätzung für ihre Gemeinde gebeten. Dabei sollten die Thüringer:innen ihre Ge-
meinde auf einer Skala von 1 bis 10 eingruppieren, wobei 1 für „ländlich“ und 10 für „städ-
tisch“ steht. Legen wir die auf Basis des Landatlas gebildeten vier Regionen zugrunde, bestä-
tigt sich, dass sich die Menschen in Cluster 1 (Erfurt und Jena) im Schnitt eindeutig im städti-
schen Bereich verorten (Mittelwert 7,8). Die Bürger:innen in Cluster 2, welches wir als „etwas
ländlich“ bezeichnen, verorten sich im Schnitt entsprechend ziemlich genau in der Mitte zwi-
schen den beiden Polen „Stadt“ und „Land“ (Mittelwert 5,4). Dagegen ordnen sich die Men-
schen in Cluster 3 („moderat ländlich“) und Cluster 4 („sehr ländlich“) klar im ländlichen Be-
reich des Kontinuums ein (Mittelwerte: 3,7 bzw. 3,6).
Für Abbildung 13 (links) wurde die Selbsteinschätzung der Ländlichkeit der eigenen Gemeinde
auf die Landkreisebene aggregiert; aufgrund der z. T. relativ geringen Fallzahlen in den ein-
zelnen Landkreisen sind die Unterschiede jedoch mit Vorsicht zu bewerten. Es zeigt sich eine
relativ breite Spannweite und die auf Kreisebene aggregierten Mittelwerte reichen von 2,9 bis
7,8 (auf einer Skala von 1-10). Dass die größte Stadt Thüringens lediglich auf einen Mittelwert
von 7,8 kommt, spiegelt möglicherweise auch wider, dass die einwohnerstärksten Städte Thü-
ringens im nationalen Vergleich vergleichsweise klein sind. Auch dürfte hier die Bewertung
von Befragten mit eingegangen sein, die sich – weil in den Randbezirken lebend – weniger
„städtisch“ fühlen als Innenstadtbewohner:innen.
Zudem fällt auf, dass die Wahrnehmung der Bürger:innen z. T. von der Klassifizierung des
Landatlas abweicht: Zwar zählen zwei der laut Landatlas ländlichsten Kreise (Hildburghausen
und Kyffhäuserkreis) auch in den Augen der Thüringer:innen zu den vier ländlichsten Kreisen.
Allerdings liegen die zwei Kreise mit dem im Durchschnitt am ländlichsten wahrgenommenen
Gemeinden (Sonneberg und Wartburgkreis) laut Landatlas eher im Mittelfeld. Daher wird in
11 Zu beachten ist dabei, dass der Thünen-Landatlas keine eigenen Ländlichkeitswerte für kreisfreie Städte unter
100.000 Einwohner:innen ausweist (dies betrifft Weimar, Gera und Suhl). Diese werden jeweils mit dem sie um-
gebenden Landkreis zusammengefasst. Im Fall von Suhl ist dies Schmalkalden-Meiningen, wodurch Suhl dem
Cluster 3 („moderat ländliche“ Regionen) zugeordnet wird.
29
den nachfolgenden Untersuchungen neben der objektiven Messung auch immer die Selbstein-
schätzung zur Operationalisierung der Ländlichkeit herangezogen. Von den fünf kreisfreien
Städten (Erfurt, Gera, Jena, Suhl und Weimar) fühlen sich die Menschen in Suhl am wenigsten
städtisch (Mittelwert: 5,24).
Abb. 13: Einstufung der eigenen Gemeinde auf Stadt-Land- bzw. Zentrum-Peripherie-
Kontinuum
(Mittelwerte, auf Landkreisebene aggregiert)
Jüngere Untersuchungen (z. B. De Lange et al. 2022; Ziblatt et al. 2021) zeigen, dass sich po-
litische Einstellungen weniger zwischen städtischen und ländlichen Regionen unterscheiden,
sondern vielmehr Einstellungsunterschiede zwischen Zentrum und Peripherie bestehen – Pe-
ripherie wird dabei als Distanz zum politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des
Landes verstanden. Daher haben wir die Thüringer:innen zudem um eine Einschätzung gebe-
ten, ob sie ihre Gemeinde eher „zentral“ oder eher „abseits“ verorten. Auch diese Einstufung
erfolgte auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 1 für „abseits“ und 10 für „zentral“ steht. Es fällt
zunächst auf, dass die Spannweite der Mittelwerte schmaler ist; sie reicht von 4,2 bis 7,8 (auf
einer Skala von 1-10). Nirgendwo fühlen sich die Thüringer:innen also richtig „abseits“. Dies
könnte daran liegen, dass Thüringen flächenmäßig ein eher kleines Bundesland ist, sodass man
aus jedem Ort vergleichsweise schnell in der Landeshauptstadt ist. Es könnte möglicherweise
aber auch auf die geographischen Lage Thüringens in der Mitte von Deutschland zurückzufüh-
ren sein.
Grundsätzlich gilt jedoch auch: Je ländlicher ein Cluster, desto peripherer werden die dortigen
Gemeinden im Mittel eingestuft. So besteht zwischen den Wahrnehmungen von Ländlichkeit
und dem Peripheriestatus ein starker Zusammenhang.12 Abbildung 13 (rechts) schlüsselt die
Einstufung der eigenen Gemeinde als eher zentral oder eher peripher nach Landkreisen auf –
aufgrund der z. T. geringen Fallzahlen sind die Unterschiede jedoch vorsichtig zu interpretie-
ren. Als vergleichsweise peripher (negative Abweichung vom landesweiten Mittelwert) fühlen
sich die Thüringer:innen in den Landkreisen Greiz, Hildburghausen und Saalfeld-Rudolstadt,
12 Pearson’s r = 0,6 (p<0,001).
30
außerdem im Kyffhäuser- sowie im Wartburgkreis. Positiv vom landesweiten Mittelwert wei-
chen dagegen nur die Städte Erfurt, Weimar und Jena ab. Die Menschen in Suhl (Mittelwert
5,9) nehmen ihre Stadt im Vergleich der fünf kreisfreien Städte am wenigsten als zentral wahr.
Wie schon 2012 und 2018 haben wir die Thüringer:innen auch 2022 gefragt, wie verbunden
sie sich mit ihrer Gemeinde, ihrer Region in Thüringen und Thüringen insgesamt fühlen.13
Dabei zeigt sich eine hohe Verbundenheit der Thüringer:innen mit ihrer Heimat. Jeweils um
die 90 Prozent der Thüringer:innen fühlen sich mit ihrer Gemeinde, Region bzw. mit Thürin-
gen verbunden (siehe Abb. 14). Befragte, die sich „überhaupt nicht“ verbunden fühlen, bilden
eine sehr kleine Randgruppe (jeweils nur um die zwei Prozent). Unterschiede im Vergleich zu
2018 sind nicht erkennbar.14 Eine Rangordnung zwischen den drei Identifikationsebenen ist
nicht auszumachen: So fühlen sich nicht signifikant mehr Thüringer:innen ihrem Bundesland
als ihrer Gemeinde verbunden. Auch koexistieren mehrere territoriale Verbundenheiten neben-
einander, d. h. die Thüringer:innen fühlen sich sowohl mit ihrer Gemeinde als auch gleichzeitig
mit ihrer Region und Thüringen verbunden. Die Verbundenheit zu den verschiedenen Identifi-
kationsebenen scheint sich sogar gegenseitig zu verstärken: D. h. je stärker man sich seiner
Gemeinde verbunden fühlt, desto stärker fühlt man sich auch Thüringen oder seiner Region
verbunden – und umgekehrt.15 Dies steht im Einklang mit den Befunden aus dem THÜRINGEN-
MONITOR 2018 (vgl. Reiser et al. 2018).
Signifikante Stadt-Land-Unterschiede sind ebenfalls nicht auszumachen; beispielsweise ist die
Selbsteinstufung der eigenen Gemeinde als „städtisch“ bzw. „ländlich“ nur extrem schwach
und nicht signifikant mit der Verbundenheit korreliert. Allerdings lassen sich Alterseffekte be-
obachten, da sich die Älteren mit allen drei Ebenen stärker verbunden fühlen als die Jüngeren.
Im Osten Aufgewachsene fühlen sich sowohl ihrer Gemeinde also auch ihrer Region und dem
Freistaat Thüringen signifikant stärker verbunden als im Westen oder im Ausland aufgewach-
sene Befragte. Darüber hinaus besteht erwartungsgemäß eine schwache – aber signifikante –
positive Korrelation mit der Wohndauer in der eigenen Gemeinde und der Verbundenheit mit
ebendieser:16 Je länger Befragte bereits in ihrer Gemeinde leben, desto stärker fühlen sie sich
mit dieser verbunden.
13 Die Verbundenheit mit Deutschland und Europa haben wir 2022 nicht abgefragt. 2018 etwa zeigten sich insge-
samt 68 Prozent der Thüringer:innen mit Europa verbunden (davon 27 Prozent sehr und 41 Prozent ziemlich ver-
bunden). Die Verbundenheit mit Deutschland betrug 93 Prozent (davon 57 „sehr“ und „36 „ziemlich“), vgl. Reiser
et al. 2018.
14 Der Anteil der Befragten, die angaben, sich mit der jeweiligen Ebene verbunden zu fühlen, betrug 2018 in
Bezug auf die Gemeinde/Stadt 87 Prozent, in Bezug auf die Region in Thüringen 91 Prozent und in Bezug auf
Thüringen 92 Prozent; siehe Reiser et al. 2018.
15 Die drei Items weisen untereinander eine hohe Korrelation auf: Der Korrelationskoeffizient Spearman’s rho
liegt zwischen 0,57 und 0,73 (Irrtumswahrscheinlichkeit jeweils p<0,001).
16 Spearman’s rho = 0,17 (p<0,001).
31
Abb. 14: Verbundenheit mit Gemeinde, Region, Thüringen
(in Prozent)
Obschon es Hinweise gibt, dass sich Stadt-Land-Unterschiede verringern (siehe oben), leben
„Stadt“ und „Land“ häufig als stereotype Vorstellungen in den Köpfen der Menschen fort. Aus
diesem Grund waren wir daran interessiert, was die Thüringer:innen selber unter „Stadt“ und
„Land“ verstehen. In Form einer offenen Abfrage haben wir die Thüringer:innen gebeten, uns
mittzuteilen, woran sie als erstes denken, wenn die die Begriffe „Stadt“ bzw. „Land“ hören
(vgl. Wordclouds in Abb. 15). Die Antworten haben wir außerdem im Folgenden in vier Grup-
pen aufbereitet. Zum einen interessiert uns: Was denken Stadtbewohner:innen über die „Stadt“
und was denken Landbewohner:innen über das „Land“? Zweitens interessieren uns die Stere-
otype von Landbewohner:innen über die „Stadt“ und von Stadtbewohner:innen über das
„Land“. Die Antworten der Befragten wurden dazu induktiv, d. h. aus dem Datenmaterial her-
aus, zu Kategorien zusammengefasst. Abb. 16 und Abb. 17 stellen die prozentualen Häufig-
keiten dieser Kategorien dar, wobei Mehrfachnennungen möglich waren. Dabei fällt zunächst
auf, dass sich Bewohner:innen der Landkreise und die Bewohner:innen der kreisfreien Städte
im Wesentlichen einig sind, was für sie „Land“ bedeutet – selbiges gilt für die „Stadt“.
Mit dem Begriff „Land“ wird in Thüringen zuvorderst „Ruhe“ (von 36 Prozent der Befragten
genannt), „Natur“ (von einem Viertel der Befragten genannt) und „Zusammenhalt“ (21 Pro-
zent) assoziiert. Aber auch die „Infrastruktur“ – häufig mit dem Adjektiv „schlecht“ versehen
– ist ein oft genanntes Thema (23 Prozent). Letzteres umfasst Nennungen wie z. B. eine
schlechte ÖPNV-Anbindung und die damit einhergehende Angewiesenheit auf das eigene
Auto, kaum Einkaufsmöglichkeiten, eine schlechte Internetverbindung sowie eine schlechte
Erreichbarkeit von Ärzt:innen und Kulturangeboten. Zum Teil wird explizit beklagt, dass hier
eine Verschlechterung stattgefunden habe und insbesondere Einkaufsmöglichkeiten weggefal-
len seien.
32
„Ruhe“ und ein stärkerer sozialer Zusammenhalt (u. a. wurde das folgende häufiger genannt:
„jeder kennt jeden“, „Nachbarschaftshilfe“, „gute Nachbarschaft“, „Solidarität“) werden dabei
von den Bewohner:innen ländlicher Räume als zentrale Merkmale von „Land“ häufiger ge-
nannt als von den Einwohner:innen der kreisfreien Städte. Die Kategorie „Natur“ findet sich
dagegen etwas häufiger in den Nennungen der Stadtbewohner:innen. Zum Teil werden hier
konkrete Orte wie der Rennsteig oder der Thüringer Wald benannt. Dagegen finden sich die
Kategorien „Landwirtschaft“ (insgesamt von fünf Prozent der Befragten genannt) sowie
„Rechtspopulismus“ (insgesamt von einem Prozent der Befragten genannt) selten und dann
vorwiegend unter den Nennungen der Bewohner:innen der kreisfreien Städte.
Abb. 15: Wordcloud mit den Antworten auf die offene Frage, was „Land“ bzw. „Stadt“
in Thüringen ausmacht
„Stadt“ verbinden die Thüringer:innen vorwiegend mit einem guten Angebot an Infrastruktur
bzw. öffentlicher Daseinsvorsorge (etwa ÖPNV, Einkaufsmöglichkeiten; von 40 Prozent der
Befragten genannt) sowie Freizeit- und Kulturmöglichkeiten (von einem Drittel der Befragten
genannt). Aber auch „Hektik“ und „Lärm“ sowie „viele Menschen“ werden von 10 bis 15 Pro-
zent der Befragten mit dem Begriff „Stadt“ assoziiert. Stadtbewohner:innen betonen insbeson-
dere die Kultur- und Freizeitangebote, das „Leben“ in der Stadt (etwa „pulsierend“, „schläft
nie“) und „Vielfalt“. Letzteres umfasst dabei sowohl Nennungen, die auf politische Einstellun-
gen („liberaler“, „weltoffen“, „politisch aufgeschlossen“) als auch auf die Diversität der dort
lebenden Menschen Bezug nehmen. Die Kategorie „Hektik/Lärm“ findet sich dagegen vorwie-
gend in den Antworten der Befragten aus dem ländlichen Raum.
33
Abb. 16: Kategorisierte Antworten auf die offene Frage „Was macht für Sie ‚Land‘
aus?“
(prozentuale Häufigkeiten; Mehrfachnennungen möglich)
Abb. 17: Kategorisierte Antworten auf die offene Frage „Was macht für Sie ‚Stadt‘
aus?“
(prozentuale Häufigkeiten; Mehrfachnennungen möglich)
34
Um den Vorstellungen und Klischees, die gemeinhin dem ländlichen bzw. städtischen Raum
zugeschrieben werden, näher auf den Grund zu gehen, haben wir den Befragten im Anschluss
an die offene Frage mehrere Gegensatzpaare vorgelegt, die sie auf einer Skala von 1 bis 10
beantworten sollten. Danach gefragt, ob sie ihre Gemeinde als eher traditionell oder als eher
modern sehen, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den vier Ländlichkeitsclustern.
Während Erfurt und Jena, die das erste Cluster bilden, eher als modern wahrgenommen wer-
den, werden die Gemeinden in den drei ländlichen Regionen im Mittel als eher traditionell
eingestuft. Es besteht zudem ein deutlicher Zusammenhang mit der Einstufung der eigenen
Gemeinde als „städtisch“ oder „ländlich“. Dabei gilt: je ländlicher, desto traditioneller wird die
eigene Gemeinde wahrgenommen.17 Ein ganz ähnliches Muster lässt sich in der Einschätzung
der eigenen Gemeinde als „lebhaft“ bzw. „ruhig“ erkennen. Auch hier besteht ein deutlicher
signifikanter Zusammenhang mit der Wahrnehmung der eigenen Gemeinde als „städtisch“
bzw. „ländlich“: je ländlicher die eigene Gemeinde gesehen wird, als desto ruhiger wird sie
gleichzeitig beschrieben. Diese steht im Einklang mit den Antworten auf die offene Frage (vgl.
Abb. 15 und Abb. 16), wo „Ruhe“ als wesentliches positives Merkmal der ländlichen Regionen
hervorgehoben wurde – und zwar noch einmal stärker von den Landbewohner:innen selbst.
Gemeinhin gelten große Städte als eher anonym und der ländliche Raum als sozial vernetzt. So
wurde etwa Anonymität in der offenen Abfrage von etwa sechs Prozent der Befragten als ty-
pisches Merkmal von Städten genannt, während etwa jede:r Fünfte den sozialen Zusammenhalt
als charakteristisch für das „Land“ pries. Bezogen auf die Einschätzung der eigenen Gemeinde
fällt zunächst auf, dass das soziale Gefüge in Thüringen als intakt bewertet wird und die Thü-
ringer Gemeinden im Mittel klar im Bereich „sozial vernetzt“ des Kontinuums gesehen werden
(Mittelwert 6,5 auf einer Skala von 1-10, wobei 1 „anonym“ und 10 „sozial vernetzt“ bedeutet).
Ein eindeutiges Stadt-Land-Gefälle lässt sich nicht ausmachen.18 Es sind erstaunlicherweise
nicht die großen Städte, deren Bewohner:innen die soziale Vernetzung als unterdurchschnitt-
lich wahrnehmen. Das Bild für die Landkreisebene ist heterogen und es gibt Landkreise, deren
Grad an sozialer Vernetztheit statistisch signifikant über dem Landesmittelwert liegt; ebenso
gibt es einzelne Landkreise, in denen die soziale Vernetztheit in den Gemeinden als unter-
durchschnittlich bewertet wird.
Auch die Familienfreundlichkeit wird häufig als Stärke des ländlichen Raums herausgestellt.
In Bezug auf ihre eigene Gemeinde stufen die Thüringer:innen jedoch durchweg ihre Städte
bzw. Gemeinden als familienfreundlich ein (Mittelwert 7,2 auf einer Skala von 1-10, wobei 1
„familienunfreundlich“ und 10 „familienfreundlich“ bedeutet). Ebenso wie bei der sozialen
Vernetztheit besteht hierbei kein Unterschied zwischen Stadt und Land und das Bild für die
Landkreise ist erneut heterogen, wobei es sowohl einzelne positive als auch negative Abwei-
chungen vom Landesdurchschnitt gibt.19
17 Pearson’s r = 0,45 (p<0,001).
18 Das wird auch dadurch untermauert, dass die Korrelation zwischen den beiden Variablen extrem niedrig (Pear-
son’s r = 0,04) und nicht signifikant (p >0,05) ist.
19 Die Unterschiede zwischen den vier Ländlichkeitsclustern sind nicht signifikant. Ebenfalls ist die Korrelation
zwischen der Verortung der eigenen Gemeinde auf dem Stadt-Land-Kontinuum und der Bewertung der Famili-
enfreundlichkeit nicht statistisch signifikant (Pearson’s r = 0,01 (p>0,05)).
35
Insgesamt zeigt sich somit, dass die ländlichen Gemeinden von ihren Bewohner:innen als ru-
higer und traditioneller, die Städte als moderner eingestuft werden. Darüber hinaus bewerten
die Thüringer:innen ihre Kommunen jedoch durchgängig als familienfreundlich und das sozi-
ale Gefüge wird als intakt und wenig anonym bewertet – und zwar in Stadt und Land.
III.2. Bewertung der Lebensbedingungen in der eigenen Gemeinde
Im Rahmen des diesjährigen Schwerpunktthemas interessiert uns, inwieweit die Thüringer:in-
nen mit den Lebensbedingungen (u. a. Infrastruktur, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Freizeit-
und Kulturangeboten) in ihrer Gemeinde zufrieden sind, welche Probleme sie wahrnehmen und
ob es dabei Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen gibt.
Insgesamt sind mit der mobilen Datenversorgung in ihrer Gemeinde knapp 70 Prozent der Thü-
ringer:innen zufrieden, mit der Versorgung durch den ÖPNV sind es gerade noch etwas mehr
als die Hälfte (56 Prozent). Rund zwei Drittel sind mit der Versorgung an Hausärzten zufrie-
den. Deutlich zufriedener zeigen sich die Bürger:innen des Freistaats dagegen mit der Notfall-
versorgung, d. h. wie schnell etwa im Notfall ein Krankenwagen vor Ort wäre (s. Abb. 18).
Darüber hinaus sind die Thüringer:innen mit der Erreichbarkeit von Einkaufmöglichkeiten
(83 Prozent), Pflegediensten (83 Prozent) sowie Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen
(89 Prozent) in der großen Mehrzahl zufrieden. Deutlich negativer bewerten die Befragten hin-
gegen die Erreichbarkeit von Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie von Fachärzt:innen. Le-
diglich 55 bzw. 45 Prozent sehen in ihrer Gemeinde hier eine mühelose Erreichbarkeit gege-
ben.
Im Bereich der Infrastruktur und Daseinsvorsorge lassen sich dabei (mit Ausnahme der
Kinderbetreuungs- und Pflegeangebote) signifikante Stadt-Land-Unterschiede ausmachen. So
sind die Mittelwertunterschiede zwischen kreisfreien Städten und Landkreisen stets signifikant.
Um eine über einen lediglich dichotomen Stadt-Land-Gegensatz hinausgehende analytische
Tiefe zu erzielen, wurden im Folgenden alle Faktoren auf der Ebene der vier Ländlichkeits-
klassen („städtisch“, „etwas ländlich“, „moderat ländlich“ und „sehr ländlich“) ausgewertet.
Damit lassen sich auch innerhalb ländlicher Regionen gegebenenfalls weitere Unterschiede
aufdecken. Als zusätzlicher Robustheitscheck wurde die Selbsteinstufung der eigenen Ge-
meinde auf dem Stadt-Land-Kontinuum herangezogen.
Auf den ersten Blick fällt auf, dass die Zufriedenheit mit beinahe allen Aspekten der Versor-
gung und Erreichbarkeit im städtischen Cluster (Erfurt und Jena) deutlich höher ist als im Rest
des Landes (s. Abb. 18). Während bei der mobilen Datenversorgung kein klarer Trend inner-
halb der ländlichen Regionen erkennbar ist (es gilt nicht, je ländlicher, desto unzufriedener),
zeigt sich beim Angebot des ÖPNV ein deutlicher linearer Trend, da die Zufriedenheit mit
wachsender Ländlichkeit abnimmt. Sind in Erfurt und Jena nahezu 90 Prozent der Menschen
mit der Versorgung durch den ÖPNV zufrieden, sind es im moderat ländlichen Cluster 3 mit
46 nur noch etwa halb so viele und im sehr ländlichen vierten Cluster sogar nur noch 35 Pro-
zent. Um ihren Alltag zu bewältigen, sind die Menschen hier also auf das Auto angewiesen –
wie auch in zahlreichen Antworten auf die offene Frage (s. oben) betont wurde. Weiterhin
36
geben 20 Prozent der Befragten in den sehr ländlichen Regionen (Cluster 4) an, dass die Er-
reichbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten für den alltäglichen Bedarf ein Problem sei. Diese
Wahrnehmung steht im Einklang mit objektiven Indikatoren: insbesondere in den Landkreisen
aus Cluster 4 ist die Entfernung zum nächsten Supermarkt sehr groß; in Sömmerda etwa ist die
Strecke im Schnitt vier Mal so weit wie in Jena (siehe Abb. 12 in Kapitel II).
Auch wenn die Zufriedenheit mit der Notfallversorgung thüringenweit sehr hoch ist, zeigen
sich noch einmal Unterschiede innerhalb der Ländlichkeitsklassen. So sind in den beiden größ-
ten Städten 97 Prozent der Menschen mit der Notfallversorgung zufrieden, in den etwas länd-
lichen Regionen des zweiten Clusters noch nahezu 90 Prozent. In den moderat bis sehr ländli-
chen Regionen (Cluster 3 und Cluster 4) sind es mit 80 Prozent schon deutlich weniger; im
Umkehrschluss hat hier jede:r Fünfte Befragte Angst, dass im Notfall der Krankenwagen nicht
rechtzeitig eintreffen würde. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in diesen Regionen
gleichzeitig eine im Landesschnitt vergleichsweise alte Bevölkerung lebt (siehe Kapitel II), ist
dies eine ernstzunehmende Beobachtung.
Wenig verwunderlich treibt das Thema Hausarztmangel die Thüringer:innen in den ländlichen
Regionen um. Es zeigen sich deutliche Diskrepanzen zwischen Städten und ländlichen Regio-
nen. Anders als 2019 (vgl. Reiser et al. 2019, 33 f.) bestehen in der Zufriedenheit mit der Ver-
sorgung durch Hausärzt:innen nun signifikante Mittelwertunterschiede zwischen den kreis-
freien Städten und den Landkreisen. Auch gibt es noch einmal signifikante Unterschiede in-
nerhalb der ländlichen Regionen: diese verlaufen zwischen den etwas bis moderat ländlichen
Regionen (Cluster 2 und 3) auf der einen sowie dem sehr ländlichen Cluster 4 auf der anderen
Seite. In den sehr ländlichen Regionen sind nur 59 Prozent der Menschen mit der Versorgung
mit Hausärzt:innen in ihrer Gemeinde zufrieden. Auffällig hoch ist in den sehr ländlichen Krei-
sen auch der Anteil derjenigen Befragten, die mit dem Angebot an Hausärzt:innen überhaupt
nicht zufrieden sind (15 Prozent). Noch deutlicher zeigen sich die Stadt-Land-Unterschiede bei
der Erreichbarkeit von Fachärzt:innen. Wie schon 2019 (vgl. Reiser et al. 2019, 33 f.) bestehen
signifikante Mittelwertunterschiede zwischen kreisfreien Städten und Landkreisen. Die Ana-
lyse auf Ebene der Ländlichkeitsregionen legt offen, dass in den sehr ländlichen Regionen des
Freistaates (Cluster 4) fast zwei Drittel der Menschen Probleme haben, Fachärzt:innen zu er-
reichen; aber selbst in den großen Städten (Cluster 1) ist die Erreichbarkeit noch für ein Drittel
der Befragten ein Problem.
Keine signifikanten Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen gibt es bei der
Erreichbarkeit von Kinderbetreuungsmöglichkeiten, was der in Ostdeutschland gemeinhin ver-
gleichsweise gut ausgebauten Kinderbetreuungsinfrastruktur und den damit einhergehenden
hohen Betreuungsquoten zu verdanken sein dürfte (Spiegel Online 2020). Dieser Umstand trägt
möglicherweise dazu bei, dass Thüringer:innen ihre Kommunen durchgängig als familien-
freundlich bewerten (s. oben) Auch bei der Erreichbarkeit von Pflegeleistung, etwa der Tages-
pflege oder mobiler Pflegedienste, gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen den
Ländlichkeitsclustern. Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung in Thü-
ringen (s. Kapitel II) ist dies eine wichtige und positive Beobachtung.
37
Die in den vorausgegangenen Abschnitten beschriebenen Stadt-Land-Unterschiede bestätigen
sich auch, wenn die Selbsteinstufung der eigenen Gemeinde auf dem Stadt-Land-Kontinuum
oder die Ortsgröße (in vier Stufen: bis 5.000, bis 20.000, bis 50.000, über 50.000 Einwohner:in-
nen) für die Messung der Ländlichkeit herangezogen werden. Die stärksten negativen Korre-
lationen bestehen dabei zwischen dem Ländlichkeitsgrad der eigenen Gemeinde und der Zu-
friedenheit mit dem Angebot des ÖPNV, der Erreichbarkeit von Kultur- und Freizeitaktivitäten
sowie der Erreichbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten für den alltäglichen Bedarf.
Es ist jedoch erkennbar, dass auch einige individuelle Merkmale der Befragten – wie etwa das
Gefühl, sozial depriviert zu sein oder soziale Abstiegsängste – die Bewertung der Bedingungen
in der eigenen Gemeinde signifikant und deutlich negativ beeinflussen. Sich depriviert füh-
lende Befragte haben eine signifikant schlechtere Wahrnehmung der Erreichbarkeit der Da-
seinsvorsorge (etwa Einkaufsmöglichkeiten, Kultur-und Freizeitmöglichkeiten, Kinderbetreu-
ungseinrichtungen, Pflege). Dies könnte einerseits daran liegen, dass sie möglicherweise nicht
über ein eigenes Auto verfügen und häufiger auf den im ländlichen Raum schlecht ausgebauten
ÖPNV angewiesen sind. Andererseits ist auch denkbar, dass die Befragten den finanziellen
Aufwand der Erreichbarkeit (etwa Kraftstoffpreise) mit in die Bewertung der Einfachheit der
Erreichbarkeit haben einfließen lassen. Auch Befragte, die unter Statusverlustangst20 leiden,
nehmen in allen Bereichen eine signifikant negativere Bewertung in der Zufriedenheit mit bzw.
der Erreichbarkeit von Infrastruktur und Daseinsvorsorge vor.
Positiv stimmt, dass das soziale Gefüge im Freistaat als intakt gesehen werden kann. Am ehes-
ten wird ein Problem bei der Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement gesehen, worin in
den ländlichen Regionen immerhin 20 Prozent der Thüringer:innen ein Problem erkennen; da-
von allerdings nur zwei Prozent ein sehr großes. Mit der Hilfe unter Nachbarn und Bekannten
sind thüringenweit etwa 90 Prozent der Menschen zufrieden und signifikante Unterschiede
zwischen städtischen und ländlichen Regionen gibt es keine. Auch bei den Vereinsaktivitäten
lassen sich keine signifikanten Differenzen zwischen kreisfreien Städten und Landkreisen so-
wie zwischen den vier Ländlichkeitsclustern ausmachen; thüringenweit ist die Zufriedenheit
mit 86 Prozent sehr hoch ausgeprägt.
Eine schrumpfende und gleichzeitig alternde Bevölkerung stellt Sozialsysteme und Arbeits-
markt vor wachsende Herausforderungen (Wilke 2020). Viele Branchen in Thüringen haben
schon seit Jahren mit einem Nachwuchsmangel zu kämpfen und auch 2022 blieben wieder
zahlreiche Ausbildungsplätze im Freistaat unbesetzt (Brand 2022). Der Fachkräftemangel
wird daher auch gleichermaßen in städtischen und ländlichen Regionen von einer deutlichen
Mehrheit der Befragten (rund 70 Prozent) als Problem gesehen. Demgegenüber gibt es auch
spezifische Problemwahrnehmungen in Stadt und Land: Wird die Abwanderung junger Men-
schen in Jena und Erfurt von nur rund 30 Prozent der Befragten als Problem gesehen, sind es
in den übrigen Regionen mindestens die Hälfte der Menschen, die hierin ein Problem für ihre
20 Die Statusverlustangst basiert auf einem negativ ausfallenden Vergleich zwischen der gegenwärtigen individu-
ellen Situation und der antizipierten Zukunft. Sie wird durch die Zustimmung zur Aussage „Es macht mir Sorgen,
durch die gesellschaftliche Entwicklung immer mehr auf die Verliererseite des Lebens zu geraten“ gemessen.
38
Gemeinde erkennt. Umgekehrt stellt bezahlbarer Wohnraum für drei Viertel der Befragten
in Erfurt und Jena ein Problem dar, während es in den etwas bis sehr ländlichen Clustern jeweils
nur von einem Drittel oder weniger als Problem benannt wird.
Abb. 18: Bewertung der Struktur- und Lebensbedingungen in der eigenen Gemeinde
Gesamt
Cluster
1
(städ-
tisch)
Cluster
2
(etwas
ländl.)
Cluster
3
(moderat
ländl.)
Cluster
4
(sehr
ländl.)
Zufriedenheit mit (Prozent zufrieden)
…mobile Datenversorgung
71
86
75
63
72
…ÖPNV
56
89
70
46
35
…Notfallversorgung
84
97
89
80
80
…Versorgung mit Hausärzten
65
77
63
65
59
Erreichbarkeit von (Prozent einfache Erreichbarkeit)
…Einkaufmöglichkeiten für den alltäglichen
Bedarf
83
94
86
80
79
…Fachärzte
45
64
49
40
36
…Kulturelle Einrichtungen und Freizeitmög-
lichkeiten
55
81
62
49
41
…Kinderbetreuungseinrichtungen und Schu-
len
89
91
87
89
89
…Pflegeeinrichtungen
83
88
81
84
80
Soziales Gefüge (Prozent zufrieden)
…Hilfe unter Nachbarn und Bekannten
91
91
89
93
90
…Aktivität von Vereinen
86
87
87
85
83
…Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engage-
ment
81
86
80
80
81
Problemwahrnehmung (Prozent großes Problem)
…Abwanderung von jungen Menschen
49
30
56
49
54
…Fachkräftemangel
69
72
72
66
70
…bezahlbarer Wohnraum
40
75
33
34
30
In der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage der eigenen Gemeinde im Vergleich zum Rest
von Thüringen bzw. Deutschland treten starke Differenzen zwischen Erfurt und Jena einerseits
und den drei ländlichen Ländlichkeitsclustern andererseits zu Tage. So bewerten 86 Prozent
der Befragten in Jena bzw. Erfurt die wirtschaftliche Lage ihrer Stadt als gut. In den drei länd-
lichen Clustern schätzen dagegen nur zwischen 45 bis 50 Prozent der Befragten die wirtschaft-
liche Lage ihrer Gemeinde im Vergleich zum Rest von Thüringen als gut ein (vgl. Abb. 19).
Legen wir die Einstufung der eigenen Gemeinde auf dem Stadt-Land-Kontinuum durch die
Befragten selbst zugrunde, ist ein linearer Zusammenhang erkennbar: je ländlicher die eigene
Gemeinde dabei eingestuft wird, desto schlechter wird die wirtschaftliche Lage bewertet.21
Stärker als die Unterschiede zwischen Stadt und Land fallen jedoch die Unterschiede zwischen
21 Pearson’s r = -0,28 (p<0,001). Dieser Zusammenhang besteht auch innerhalb der Gruppe der Landkreise (ohne
die fünf kreisfreien Städte) fort, dann jedoch in merklich abgeschwächter Form (Pearson’s r = -0,14; p<0,01).
39
Zentrum und Peripherie aus:22 Je peripherer die Befragten ihre eigene Gemeinde verorten,
desto negativer bewerten sie die wirtschaftliche Lage ebendieser im Vergleich zum Rest von
Thüringen.
Abb. 19: Bewertung der wirtschaftlichen Lage der eigenen Stadt/Gemeinde im Ver-
gleich zum Rest von Thüringen
(in Prozent)
Es lassen sich jedoch auch innerhalb der städtischen Regionen und innerhalb der ländlichen
Regionen noch einmal merkliche Unterschiede ausmachen (siehe Abb. 20). Während die Be-
fragten in den kreisfreien Städten Erfurt und Jena die wirtschaftliche Situation ihrer Gemeinde
deutlich positiver als der Landesdurchschnitt bewerten, wird die wirtschaftliche Lage in Gera
und Suhl signifikant schlechter bewertet als im Landesmittel. Demgegenüber stehen Land-
kreise, auch aus den sehr ländlichen Regionen, deren wirtschaftliche Lage im Vergleich zum
Rest von Thüringen überdurchschnittlich gut bewertet wird, etwa die Gemeinden im Eichsfeld
(Cluster 4).23 Dass sich die wirtschaftliche Situation innerhalb der kreisfreien Städte sowie in-
nerhalb der ländlichen Regionen noch einmal merklich unterscheidet, steht im Einklang mit
den in Kapitel II (Abb. 8) berichteten Befunden auf Basis objektiver Wirtschaftsdaten (wie BIP
oder Arbeitslosenquote). Auch dort wurde bereits konstatiert, dass sich aus der Ländlichkeit
eines Landkreises nur bedingt Rückschlüsse über dessen wirtschaftliche Performanz ableiten
lassen.
22 Pearson’s r = -0,37 (p<0,001).
23 Wobei alle Aussagen, die sich auf einzelne Landkreise beziehen, wegen der z.T. geringen Fallzahl vorsichtig
zu bewerten sind.
40
Abb. 20: Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der eigenen Gemeinde im Vergleich
zum Rest von Thüringen
(Mittelwerte, auf Landkreisebene aggregiert)
Ähnlich gelagert sind die interregionalen Differenzen, wenn die wirtschaftliche Lage der eige-
nen Gemeinde im Vergleich zum Rest von Deutschland bewertet werden soll. Es fällt jedoch
auf, dass die Bewertung der eigenen Gemeinde im Vergleich mit dem Rest der Republik deut-
lich pessimistischer ausfällt: In dieser Perspektive bewerten nur knapp zwei Drittel der Befrag-
ten in Erfurt bzw. Jena die wirtschaftliche Lage ihrer Stadt als vergleichsweise gut. In den drei
ländlichen Clustern sind es lediglich zwischen 30 und 33 Prozent. Die im Vergleich zum inner-
thüringischen Referenzrahmen schlechtere Einschätzung verwundert nicht, liegt doch das Brut-
toinlandprodukt pro Kopf in den ostdeutschen Bundesländern nach wie vor unter dem der west-
deutschen Länder (Statista 2022). Auch die Arbeitslosenquote ist in den ostdeutschen Ländern
noch höher als in den meisten westdeutschen Bundesländern, auch wenn es hier in den vergan-
genen Jahren zu einer Angleichung gekommen ist (siehe u. a. Reiser et al. 2021b, 15; vgl. auch
Kapitel II).
Es stellt sich die Frage, inwieweit sich die Bedingungen vor Ort, also etwa die Zufriedenheit
mit der Infrastruktur, die Familienfreundlichkeit oder der Zusammenhalt auf die Bewertung
der eigenen Gemeinde als ein attraktiver Ort zum Leben auswirken. Generell lässt sich
zunächst festhalten, dass die Thüringer Gemeinden im Mittel eindeutig als ein attraktiver Ort
41
zum Leben gesehen werden.24 In einem multivariaten Modell sind es v. a. die soziale Vernetzt-
heit, die Familienfreundlichkeit, die wirtschaftliche Lage sowie die Erreichbarkeit von Ein-
kaufsmöglichkeiten vor Ort bzw. von Kultur- und Freizeitangeboten, die sich positiv auf diese
Einschätzung auswirken.
Die Thüringer:innen nehmen darüber hinaus mehrheitlich eine positive Entwicklung ihrer
Gemeinde in den letzten 10 bis 15 Jahren wahr: 68 Prozent sind der Ansicht, ihre Gemeinde
habe sich positiv entwickelt.25 Weitere 13 Prozent geben an, dass die Lage in ihre Gemeinde
gleichgeblieben sei.
Hierbei lassen sich jedoch merkliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regi-
onen ausmachen (vgl. Abb. 21). Insbesondere die Menschen in Erfurt und Jena nehmen eine
positive Entwicklung ihrer Stadt wahr (80 Prozent „verbessert“), nur elf Prozent erkennen eine
Verschlechterung. In den ländlichen Regionen fällt die Bewertung dagegen zwar schlechter,
aber dennoch mehrheitlich positiv aus. In Cluster 3 sind immerhin noch 70 Prozent der Ansicht,
ihre Gemeinde habe sich positiv entwickelt und nur 18 Prozent sehen eine Verschlechterung.
In den etwas bzw. sehr ländlichen Regionen (Cluster 2 und 4) sehen dagegen nur 61 bzw.
63 Prozent eine Verbesserung der Situation, 21 bzw. 24 Prozent erkennen eine Verschlechte-
rung und weitere 15 bzw. 17 Prozent sind der Meinung, die Situation sei gleichgeblieben. An-
gesichts eines vergleichsweise schwachen linearen Zusammenhangs zwischen Ländlichkeit
und Vergangenheitsbewertung26 verwundert es nicht, dass sich – insbesondere in Cluster 2 und
3 – noch einmal merkliche Unterschiede zwischen den Landkreisen ausmachen lassen (vgl.
Abb. 23).
Aussagen über die Ursachen für diese Bewertung können auf Basis der Daten nicht getroffen
werden, da etwa die Fragen nach Infrastruktur und sozialen Zusammenhalt nur für die heutige
Zeit, aber nicht in der Langzeitperspektive abgefragt wurden. Die Einschätzung der Entwick-
lung der eigenen Gemeinde in den letzten 10 bis 15 Jahren hängt schwach negativ27 mit der
Wahrnehmung von Abwanderung als großem Problem zusammen. D. h. Befragte, die in der
Abwanderung junger Menschen ein großes Problem für ihre Gemeinde erkennen, nehmen
gleichzeitig eine negativere Bewertung der Entwicklung ihrer Gemeinde wahr. Es liegt nahe
zu vermuten, dass junge Leute eher solche Gemeinden verlassen (haben), die sich in der Ver-
gangenheit negativ entwickelt haben und weniger wirtschaftliche Möglichkeiten boten. So
wurde in Kapitel II auf Basis der Strukturdaten gezeigt, dass insbesondere jene Kreise mit ei-
nem höheren Altersdurchschnitt eine schlechtere wirtschaftliche Lage aufzeigen. Befragte, die
24 Landesweiter Mittelwert = 7,14; die Einstufung erfolgte auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 1 „kein attraktiver
Ort zum Leben“ und 10 „ein attraktiver Ort zum Leben“ bedeutet.
25 Diese Frage wurde nur Befragten gestellt, die seit mindestens zehn Jahren in ihrer jetzigen Gemeinde leben
(etwa zehn Prozent der Befragten wurde diese Frage daher nicht gestellt).
26 Zudem besteht ein schwach negativer linearer Zusammenhang mit der Selbsteinstufung der eigenen Gemeinde
als eher ländlich bzw. eher peripher und der Vergangenheitsbewertung: Die Bewertung der Entwicklung in den
vergangenen 10 bis 15 Jahren fällt umso negativer aus, je ländlicher oder peripherer die eigene Gemeinde auf dem
Kontinuum verortet wird (Stadt-Land-Kontinuum: Pearson’s r = -0,23; p<0,001; Zentrum-Peripherie-Kontinuum:
Pearson’s r = -0,28; p<0,001).
27 Spearman’s rho = -0.177 (p<0,001).
42
eine negative Entwicklung ihrer Gemeinde über die letzten 10 bis 15 Jahre wahrnehmen, fühlen
sich zudem eher „abgehängt“ (vgl. hierzu auch Kapitel III.3.1).28
Abb. 21: Entwicklung der eigenen Stadt/Gemeinde in den vergangenen 10 bis 15 Jah-
ren nach Ländlichkeitsklassen
(in Prozent)
Die Mehrheit der Befragten (58 Prozent) blickt für ihre Gemeinde positiv in die Zukunft; al-
lerdings hegt auch knapp ein Drittel der Thüringer:innen negative Erwartungen für die Zukunft
ihrer Gemeinde. Nur zwei Prozent der Befragten gehen jedoch davon aus, dass es der Ge-
meinde in Zukunft sehr viel schlechter gehen wird.
Erneut zeigen sich Unterschiede zwischen den vier Ländlichkeitsclustern (vgl. Abb. 22). Über
80 Prozent der Befragten in den großen Städten (Erfurt/Jena) erwarten, dass sich ihre Stadt
weiterhin positiv entwickelt wird, während nur 15 Prozent eine negative Entwicklung befürch-
ten. In den etwas ländlichen Regionen (Cluster 2) erwarten hingegen doppelt so viele Befragte
eine negative Entwicklung. In den moderat bzw. sehr ländlichen Regionen (Cluster 3 und 4)
gehen sogar weit mehr als ein Drittel von einer zukünftigen Verschlechterung aus; gleichzeitig
blickt nur knapp mehr als die Hälfte der Befragten für ihre Gemeinde positiv in die Zukunft.
Auch die Einstufung der eigenen Gemeinde als eher ländlich auf dem Stadt-Land-Kontinuum
hängt schwach negativ mit der Zukunftsbewertung zusammen29 – ebenso die Wahrnehmung
der eigenen Gemeinde als eher peripher. Erneut sind jedoch innerhalb der Gruppe der kreis-
freien Städte sowie der Landkreise erhebliche Unterschiede zu beobachten (vgl. Abb. 23).
28 Pearson’s r = -0,196 (p<0,001).
29 Pearson’s r = -0,21 (p<0,001).
43
Während etwa Erfurt und Jena positiv vom Landesdurchschnitt abweichen, liegt Suhl signifi-
kant unter dem Landesdurchschnitt – eine mögliche Erklärung wäre, dass letztere stark von
Abwanderung betroffen ist und die im Schnitt älteste Bevölkerung Thüringens aufweist (vgl.
Kapitel II).
Abb. 22: Zukunftsprognose für die eigene Stadt/Gemeinde nach Ländlichkeitsklassen
(in Prozent)
Einen deutlichen Zusammenhang gibt es zwischen der Bewertung der Entwicklung in den letz-
ten 10 bis 15 Jahren und der zukünftigen Erwartung.30 D. h. Befragte, die ihrer Gemeinde über
die letzten Jahre eine negative Entwicklung attestieren, erwarten auch eher, dass sich dieser
negative Trend fortsetzt. Befragte, die ihrer Gemeinde für die vergangenen 10 bis 15 Jahre ein
positives Zeugnis ausstellen, erwarten eher, dass sich der positive Trend auch in Zukunft fort-
setzt. Hinsichtlich der lokalen Struktur- und Lebensbedingungen ist eine positive Zukunftsbe-
wertung v. a. mit der Bewertung der wirtschaftlichen Lage im Vergleich zum Rest von Thü-
ringen assoziiert.31 Deutlich schwächere Zusammenhänge zeigen sich darüber hinaus mit der
Zufriedenheit mit dem Angebot des ÖPNV, der Erreichbarkeit von Kultur- und Freizeitaktivi-
täten, von Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf sowie der Abwanderung junger
Menschen. Individuelle Merkmale der Befragten (wie Alter und Geschlecht) hängen dagegen
nicht signifikant mit der Zukunftsprognose zusammen.
30 Pearson’s r = 0,48 (p<0,001).
31 Pearson’s r = 0,39 (p<0,001).
44
Insgesamt spricht dieses Ergebnis somit für eine Verfestigung der wahrgenommenen Entwick-
lung in den verschiedenen Regionen Thüringens. Die Thüringer:innen sehen einerseits Ge-
winnerregionen, die sich in der Vergangenheit positiv entwickelt haben und dies ihrer Ein-
schätzung nach in Bezug auf wirtschaftliche, infrastrukturelle und demographische Aspekte
auch zukünftig tun werden. Regionen, die von ihren Einwohner:innen auf der Verliererseite
verortet werden, zeichnen sich andererseits durch eine negative Bewertung sowohl in Bezug
auf die vergangene Entwicklung als auch auf die zukünftige Prognose aus. Inwiefern sich die
Einwohner:innen dieser Regionen als „abgehängt“ fühlen, steht im Zentrum des folgenden Ab-
schnitts.
Abb. 23: Vergangenheitsbewertung und Zukunftsprognose für die eigene Gemeinde
(Mittelwerte, auf Landkreisebene aggregiert)
Anmerkung: Vergangenheitsbewertung (links) und Zukunftsbewertung (rechts)
45
III.3. Unterschiede in den politischen Einstellungen zwischen
„Stadt“ und „Land“
III.3.1. Gefühl des „Abgehängtseins“
Inwiefern fühlen sich die Thüringer:innen „abgehängt“? Zeigen sich hierbei Unterschiede zwi-
schen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie? Im Rahmen der politikwissenschaftlichen De-
batte werden häufig der langfristige wirtschaftliche Niedergang (u. a. Dijkstra et al. 2020;
Greve et al. 2022; Rodríguez-Pose 2018), eine schlechte öffentliche Daseinsvorsorge (Dier-
meier 2020) sowie Abwanderung und Überalterung (Diermeier 2020; Franz et al. 2018) als
Charakteristika „abgehängter“ Regionen identifiziert. Das Gefühl des „Abgehängtseins“ der
Einwohner:innen kann sich auf drei Dimensionen beziehen: auf das Gefühl des wirtschaftspo-
litischen, politischen und kulturellen „Abgehängtseins“ (vgl. De Lange et al. 2022). Wir haben
zudem noch einmal danach unterschieden, ob sich dieses Gefühl auf den Thüringer Kontext
oder den bundesdeutschen Kontext bezieht, man sich also eher von der Landes- oder der Bun-
despolitik „abgehängt“ fühlt.
Box 1: Was im THÜRINGEN-MONITOR unter dem Gefühl des „Abgehängtseins“ verstanden wird
Sarah de Lange und Kolleg:innen folgend wird das Gefühl des „Abgehängtseins“ im THÜRINGEN-MONITOR als „das
Gefühl definiert, dass die eigene Region von den Eliten und/oder Bürger:innen aus anderen Regionen nicht gut
behandelt“ (de Lange et al. 2022) bzw. benachteiligt wird. Das Konzept hat eine politische, eine kulturelle und
eine wirtschaftliche Dimension (ebd.; Munis 2022). Auf die politische Ebene bezogen umfasst es das Gefühl, dass
Politiker:innen die eigene Region übersehen würden und dass die eigene Region nicht ihren gerechten Anteil
erhalten und etwa bei der Zuteilung öffentlicher Ressourcen gegenüber den urbanen Zentren oder anderen Re-
gionen benachteiligt würde (wirtschaftspolitisch). „Kulturell abgehängt“ meint schließlich das Gefühl, dass die
Lebensweise, Werte oder Traditionen der Menschen aus der eigenen Region vom Rest des Landes nicht respek-
tiert würden (ebd.).
Das Gefühl des „Abgehängtseins“ wurde im THÜRINGEN-MONITOR anhand mehrerer Indikatoren sowohl in Bezug
auf die Bundes- als auch die Landesebene erhoben. Erstens wird das Gefühl des „Abgehängtseins“ mit drei Fra-
gen gemessen, wie sie auch in der Studie von de Lange et al. (2022) eingesetzt wurden:
Wirtschaftspolitisch: Die Politik in Berlin [bzw. Erfurt] hat zu wenig getan, um die wirtschaftliche Situation
meiner Region zu verbessern.
Kulturell: Die Menschen im Rest von Deutschland [bzw. Thüringen] verstehen und respektieren
nicht, wie die Menschen in meiner Region leben
Politisch: Die Politiker in Berlin [bzw. Erfurt] interessieren sich nicht für die Region in der ich
lebe.
46
Für die Niederlande wurde in der Studie von de Lange und Kolleg:innen für diese drei Items eine sehr hohe
Konstruktvalidität berichtet (Cronbach’s alpha = 0,83). Für Thüringen ist die Konstruktvalidität der Skala nicht
ganz so hoch, erreicht mit einem Cronbach’s alpha von 0,67 aber noch einen akzeptablen Wert.32
Zweitens messen wir die Dimension des wirtschaftlichen „Abgehängsteins“ noch über die Frage, wie die wirt-
schaftliche Lage der eigenen Stadt bzw. Gemeinde im Vergleich zum Rest von Thüringen bzw. dem Rest von
Deutschland bewertet wird. Weitere Anhaltspunkte bieten zudem die objektiven Strukturdaten, die in Kapitel II
dargestellt werden.
Wirtschaftlich: Wie beurteilen Sie ganz allgemein die heutige wirtschaftliche Lage Ihrer Stadt oder Gemeinde.
Ist diese sehr gut, eher gut, eher schlecht oder sehr schlecht? Wie ist die Lage im Vergleich
zum Rest von Thüringen [Deutschland]?
Abgrenzung zu Populismus (vgl. dazu auch Kapitel IV.2.2): Sowohl das Gefühl des „Abgehängtseins“ als auch
Populismus nehmen eine Unterscheidung zwischen In- und Outgroup vor; auch identifizieren beide die Eliten als
Antagonist:innen des Volkes. Anders als bei den populistischen Einstellungen wird die Trennlinie beim Gefühl
des „Abgehängtseins“ nicht allgemein zwischen „Volk“ und „Eliten“, sondern zwischen „den Menschen in meiner
Region“ und „der Elite (und den Menschen) in einer anderen Region“ (de Lange et al. 2022) gezogen. Anders
ausgedrückt hat der Anti-Elitismus hier eine räumliche Komponente. Außerdem kommt zu der vertikalen Unter-
scheidung zwischen „Volk“ und „Eliten“ noch eine horizontale Trennlinie hinzu: zwischen den Menschen aus der
eigenen und Menschen aus anderen Regionen. Studien zu den USA oder den Niederlanden können darüber hin-
aus mittels statistischer Verfahren auch empirisch zeigen, dass zwar ein Zusammenhang zwischen beiden Ein-
stellungen besteht, Populismus und das Gefühl des „Abgehängtseins“ jedoch unterschiedliche Konstrukte mes-
sen (vgl. de Lange 2022; Munis 2022).33
Insgesamt zeigen unsere Erhebungen, dass sich die Befragten in Thüringen insbesondere von
der Bundespolitik „abgehängt“ fühlen. Diese Wahrnehmung ist in Thüringen weit verbreitet
und nicht nur im ländlichen Raum verankert. Gleichwohl ist dieses Gefühl unter Menschen,
die in den stark ländlich geprägten Regionen des Freistaats leben, noch einmal stärker verbrei-
tet als unter den Menschen, die in den beiden bevölkerungsreichsten Städten des Freistaats
leben.
32 Dieser Wert bezieht sich auf die Skala für die Bundesebene. Die Skala mit den Fragen zur Landesebene erreicht
einen ebenfalls noch akzeptablen Wert für Coronbach’s alpha von 0,63.
33 Dies bestätigt sich auch für Thüringen, die Korrelationen zwischen den beiden Einstellungen liegen bei 0,53
(Bundesebene) und 0,42 (Landesebene).
47
Abb. 24: „Abgehängtsein“ von der Bundes- und Landespolitik
(in Prozent)
Auffällig ist, dass sich die Menschen vor allem politisch und wirtschaftspolitisch abgehängt
fühlen. So vertreten über zwei Drittel der Thüringer:innen die Auffassung, die Politiker:innen
in Berlin würden sich nicht für ihre Region interessieren („politisch abgehängt“). Ebenso viele
sind der Meinung, von der Politik sei zu wenig getan worden, um die wirtschaftliche Situation
ihrer Region zu verbessen („wirtschaftspolitisch abgehängt“). Hingegen haben mit 37 Prozent
der Thüringer:innen deutlich weniger das Gefühl, von den Mitbürger:innen im Rest der Re-
publik missverstanden bzw. nicht ausreichend respektiert zu werden (s. Abb. 24). Auch wenn
der Anteil somit deutlich niedriger liegt als bei der politischen und wirtschaftlichen Dimension,
fühlt sich somit dennoch mehr als ein Drittel der befragten Thüringer:innen als „kulturell ab-
gehängt“.
Abb. 25: „Abgehängtsein“ von der Bundespolitik nach Ländlichkeitsklassen
(in Prozent)
48
Wie in Abbildung 25 zu erkennen, lassen sich Unterschiede nach Ländlichkeitsklassen zumeist
nur zwischen den beiden großen Städten (Cluster 1) und den drei ländlichen Regionen be-
obachten – so etwa beim Gefühl des politischen und wirtschaftspolitischen „Abgehängtseins“.
Während in den großen Städten 60 Prozent der Befragten die Auffassung vertreten, die Bun-
despolitik habe nicht genug zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ihrer Region ge-
tan, sind es in den etwas ländlichen Regionen (Cluster 2) bereits 67 Prozent. In den moderat
bzw. sehr ländlichen Regionen (Cluster 3 und 4) sind sogar mehr als 70 Prozent der Befragten
dieser Auffassung. Das Gefühl, von den Menschen im Rest des Landes nicht ausreichend res-
pektiert zu werden („kulturell abgehängt“), ist dagegen ausschließlich in den sehr ländlichen
Regionen (45 Prozent) merklich stärker ausgeprägt als im Rest des Freistaats.
Abb. 26: Gefühl des „Abgehängtseins“ von der Bundespolitik
(Mittelwerte, auf Landkreisebene aggregiert)
Werden die drei Dimensionen des „Abgehängtseins“ (wirtschaftspolitisch, politisch, kulturell)
zu einem Mittelwertindex zusammengefasst34, ist die Korrelation mit der Selbsteinstufung der
eigenen Gemeinde als „ländlich“ bzw. „städtisch“ zwar statistisch signifikant, zeigt jedoch nur
einen sehr schwachen Zusammenhang an.35 Insgesamt bedeutet dies, dass sich die Menschen
in Thüringen zu einem beträchtlichen Teil von der Bundespolitik nicht ausreichend beachtet
fühlen. Dieses Gefühl des „Abgehängtseins“ haben jedoch nicht nur Menschen im ländlichen
34 Wobei eine Antwortverweigerung zulässig war. Die Skala weist ein akzeptables Maß an interner Konsistenz
auf (Cronbach’s alpha = 0,66).
35 Pearson’s r = 0,17 (p<0,001).
49
Thüringen, sondern in allen Landesteilen. Dies ist auch an den geringen Unterschieden zwi-
schen den Landkreisen (vgl. Abb. 26) zu erkennen. Insofern deutet dieses Ergebnis darauf hin,
dass es für das Gefühl des „Abgehängtseins“ weitere, über die Ländlichkeit der Gemeinde und
den Kontext hinausgehende Erklärungsfaktoren geben muss.
Deutlich schwächer fällt das Gefühl des „Abgehängtseins“ hingegen in Bezug auf den Thürin-
ger Kontext aus (s. Abb. 27). Dennoch fühlt sich eine knappe Mehrheit der Befragten (53 Pro-
zent) wirtschaftspolitisch und 41 Prozent politisch von der Thüringer Politik „abgehängt“. Hin-
gegen ist nur ein knappes Fünftel (18 Prozent) der Ansicht, die Menschen im Rest des Frei-
staates würden die Lebensweise in ihrer Region nicht respektieren. Einstellungsmäßige Unter-
schiede lassen sich v. a. zwischen den beiden großen Städten auf der einen sowie den drei
ländlichen Regionen auf der anderen Seite erkennen.36 In den beiden großen Städten haben
etwas mehr als ein Drittel der Befragten das Gefühl, von der Landespolitik wirtschaftspolitisch
vernachlässigt zu sein – das sind mehr als 20 Prozentpunkte weniger als im Zusammenhang
mit der Bundespolitik. Für die ländlichen Cluster fällt die Differenz etwas geringer aus (sie
liegt zwischen sieben und 18 Prozentpunkten). Noch größer fallen die Differenzen zwischen
Landes- und Bundesebene beim Gefühl des politischen „Abgehängtseins" aus. Hatten in den
ländlichen Regionen über 70 Prozent der Menschen das Gefühl, die Politik in Berlin interes-
siere sich nicht für die Region, in der sie leben, sind es mit Blick auf die Landespolitik jeweils
weniger als die Hälfte (41 bis 47 Prozent). Die Werte liegen damit 25 bis 30 Punkte unter denen
für die Bundespolitik. In Erfurt und Jena denkt sogar nur rund ein Viertel der Befragten, die
Landespolitik interessiere sich nicht für ihre Region.
Abb. 27: „Abgehängtsein“ von der Landespolitik nach Ländlichkeitsklassen
(in Prozent)
36 Auch hier ist die Korrelation zwischen dem Mittelwertindex aus den drei Dimensionen des Abgehängtseins und
der Stadt-Land-Selbsteinstufung signifikant, aber schwach ausgeprägt (Pearson’s r = 0,21; p<0,001).
50
Welche Faktoren können das Gefühl des „Abgehängtseins“ erklären? Nach Kontrolle für
weitere Faktoren ist die Bewertung der eigenen Gemeinde als ländlich bzw. peripher kein sig-
nifikanter Erklärungsfaktor. Auch die lokale Verbundenheit stellt – anders als z. B. bei einer
Studie zu den Niederlanden (vgl. De Lange et al. 2022) – keinen signifikanten Erklärungsfaktor
dar. Darüber hinaus hat die Wahrnehmung der derzeitigen Bedingungen vor Ort (etwa Zufrie-
denheit mit bzw. Erreichbarkeit von Infrastruktur/Daseinsvorsorge, wirtschaftliche Lage) nur
eine geringe Erklärungskraft für das Gefühl des „Abgehängtseins“.37 Interessanterweise hängt
auch die Bewertung der wirtschaftlichen Lage (sowohl im Thüringer Vergleich als auch im
Vergleich zum Rest von Deutschland) nur schwach mit dem Gefühl zusammen, von der Lan-
des- bzw. Bundespolitik wirtschaftspolitisch „abgehängt“ zu sein.38 Diese Befunde sprechen
dafür, dass sich das Gefühl des „Abgehängtseins“ überwiegend nicht aus der konkreten Unzu-
friedenheit mit den lokalen Gegebenheiten abzuleiten scheint. Hingegen weisen die Analysen
darauf hin, dass diejenigen, die sich „abgehängt“ fühlen, verstärkt Gerechtigkeitsdefizite wahr-
nehmen. So haben sie verstärkt das Gefühl, sozial benachteiligt zu sein (Deprivation), als Ost-
deutsche benachteiligt zu sein (Ostdeprivation)39 und haben die Sorge, „auf die Verliererseite
des Lebens zu geraten“ (Statusverlustangst) (siehe Abb. 28).
Abb. 28: Lineares Regressionsmodell „Abgehängtsein“ von der Bundespolitik
37 Eine Bewertung der Langfristentwicklung wie sie etwa in den Studien von Greve et al. 2022 oder Rordríguez-
Pose 2018 eine Rolle spielt, wurde nicht abgefragt. Somit kann nicht untersucht werden, inwiefern sich die lang-
fristige Entwicklung der Gemeinde bzw. Region auf das Gefühl des Abgehängtseins auswirkt.
38 Die Korrelationskoeffizienten (Spearman’s rho) liegen zwischen -0,21 und -0,25 (jeweils p<0,001).
39 Ostdeprivation wird gemessen über die Wahrnehmung einer negativen Einheitsbilanz („Einheit hat für mich
persönlich mehr Nach- als Vorteile gebracht“) und der empfundenen Abwertung des ostdeutschen Bevölke-
rungsteils durch den westdeutschen („Westdeutsche behandeln Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse“).
51
Das Gefühl des „Abgehängtseins“ hängt darüber hinaus mäßig bis stark mit weiteren Variablen
zusammen, die eine Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen politischen System messen. Wer
sich von der (Bundes-)Politik vernachlässigt fühlt, ist mit dem Funktionieren der Demokratie
unzufriedener (siehe unten). Außerdem haben Befragte, die sich „abgehängt“ fühlen, eine ge-
ringere politische Selbstwirksamkeit, ein höheres Niveau an Parteienverdrossenheit und eine
geringere Wahrnehmung der Responsivität der politischen Repräsentant:innen (siehe auch Ka-
pitel IV.1.).40 Auch mit stärkeren rechtsextremen und populistischen Einstellungen hängt das
Gefühl, von der Bundespolitik „abgehängt“ zu sein, zusammen (siehe Kapitel IV.2.3). Zudem
weisen Befragte, die sich „abgehängt“ fühlen, eher negative Einstellungen gegenüber margi-
nalisierten ethnischen, kulturellen und sozialen Gruppen auf (siehe Kapitel IV.4 für vertiefende
Analysen).
Abb. 29: Lineare Regressionsmodelle Gefühl des „Abgehängtseins“ von der Bundes-
politik nach Ländlichkeitscluster
Einflussfaktoren
Gesamt
Cluster 1
(städtisch)
Cluster 2
(etwas
ländl.)
Cluster 3
(moderat
ländl.)
Cluster 4
(sehr
ländl.)
Lebensalter (Jahre)
Geschlecht (weiblich)
--
---
Bildungsabschluss (Abitur und hö-
her)
--
---
Individuelle Deprivation (ja)
+++
+++
+++
Ostdeprivation (ja)
++
+++
Statusverlustangst (ja)
+++
+++
+++
+++
Zufriedenheit mit Infrastrukturange-
bot (höher)
Erreichbarkeit v. Einkaufsmöglich-
keiten und Kultur (gut)
Wirtschaftliche Lage der Gemeinde
im Thüringer Vergleich (besser)
--
Abwanderung junger Menschen
(Problem)
+
+
++
Einstufung der eigenen Gemeinde
auf dem Zentrum-Peripherie-Konti-
nuum (peripher)
Verbundenheit mit der eigenen Ge-
meinde (stark)
R²*100 (Anteil erklärter Varianz)
18,7
18,2
21,4
22,5
14,6
Fallzahl N
1.287
322
316
326
323
Anmerkung: Es wurden robuste Standardfehler berechnet. Die Angaben zu Einflussstärken basieren auf den stan-
dardisierten Regressionskoeffizienten Beta und wurden wie folgt kategorisiert, wobei nur signifikante Beta-Werte
(p < 0.05) eingetragen wurden: Betrag (beta) > 0,2 = +++/---; Betrag (beta) > 0,1 = ++/--; Betrag (beta) > 0,0
= +/-.
40 Selbstwirksamkeit: Spearman’s rho = -0,30 (p<0,001); Parteienverdrossenheit: rho = 0,40 (p<0,001); Respon-
sivitätswahrnehmung: rho = -0,44 (p<0,001).
52
Eine weitere spannende Frage ist, inwieweit es für das Gefühl des „Abgehängtseins“ interre-
gional verschiedene Erklärungsfaktoren gibt? Hierzu wurden für die vier Ländlichkeitsclus-
ter jeweils gesonderte Regressionsmodelle berechnet (s. Abb. 29). Auffällig ist zunächst, dass
das Regressionsmodell für Cluster 2 und 3 eine merklich höhere Erklärungskraft hat als etwa
für Cluster 4 und 1. Für die beiden großen Städte (Cluster 1) zeigt sich, dass ausschließlich das
Gefühl der Deprivation signifikant mit dem Gefühl des „Abgehängtseins“ zusammenhängt.
Diese Variable ist darüber hinaus in den moderat ländlichen Regionen (Cluster 3) signifikant.
Statusverlustangst ist in den ländlichen Regionen (nicht jedoch in den großen Städten) ein sig-
nifikanter Erklärungsfaktor für das Gefühl des „Abgehängtseins“. In den etwas ländlichen Re-
gionen (Cluster 2) kommen noch die Bildung (höhere Bildung hat einen hemmenden Effekt)
sowie die Bewertung der wirtschaftlichen Lage (eine positive Bewertung hat einen hemmenden
Effekt) hinzu. In den moderat ländlichen Regionen (Cluster 3) hängen neben Deprivation und
Statusverlustangst noch das Geschlecht (Männer fühlen sich eher „abgehängt“) sowie die
Wahrnehmung der Abwanderung junger Menschen als ein Problem für die eigene Gemeinde
signifikant mit dem Gefühl des „Abgehängtseins“ zusammen. Für die sehr ländlichen Regionen
(Cluster 4) lässt sich ein sehr ähnliches Bild zeichnen; allerdings ist dort das Gefühl der Ost-
deprivation positiv mit dem Gefühl, „abgehängt“ zu sein, verbunden.
III.3.2. Politische Unterstützung in „Stadt“ und „Land“
Ein zentraler Bestandteil des THÜRINGEN-MONITORs ist die jährliche Untersuchung der politi-
schen Einstellungen zur Demokratie und den politischen Institutionen (vgl. hierzu ausführlich
Kapitel IV.1). Inwiefern bei diesen politischen Einstellungen Stadt-Land-Unterschiede beste-
hen, wird im Folgenden gezeigt:
In Bezug auf die Haltung zur Idee der Demokratie kann nicht von (deutlichen) Stadt-Land-
Unterschieden gesprochen werden. Insgesamt liegt diese in Thüringen im Jahr 2022 mit
84 Prozent weiterhin auf einem hohen Niveau (siehe Kapitel IV.1) und die Unterschiede zwi-
schen den vier Ländlichkeitsclustern sind nur gering (städtisch: 88 Prozent, eher ländlich:
84 Prozent, moderat ländlich: 85 Prozent, sehr ländlich: 80 Prozent). Zwischen der Selbstein-
stufung der eigenen Gemeinde als ländlich bzw. peripher und der Demokratieunterstützung
gibt es ebenfalls keinen signifikanten Zusammenhang.41 In Bezug auf die Zufriedenheit, wie
die Demokratie derzeit funktioniert, besteht hingegen ein starkes Stadt-Land-Gefälle: Während
insgesamt weniger als die Hälfte der Thüringer:innen (48 Prozent) mit dem Funktionieren der
Demokratie zufrieden ist (siehe Kapitel IV.1), sind in den beiden größten Städten des Landes
nahezu zwei Drittel der Menschen (64 Prozent) mit der Praxis der Demokratie zufrieden. Dem-
gegenüber sind es in den etwas bzw. moderat ländlichen Regionen (Cluster 2 und 3) knapp
weniger als die Hälfte; in den sehr ländlichen Regionen sogar nur 41 Prozent.42 Dieses Stadt-
41 Stadt-Land-Kontinuum: Spearman’s rho = -0,02 (p>0,05); Zentrum-Peripherie-Kontinuum: Spearman’s rho =
-0,06 (p>0,05);
42 Zudem gilt: Je ländlicher bzw. peripherer die Befragten ihre Gemeinde einstufen, desto eher sind sie mit der
Praxis der Demokratie unzufrieden.
53
Land-Gefälle steht in Einklang mit den Ergebnissen europaweiter Befragungen (siehe etwa
Kenny & Luca 2021; Lago 2022). In Erfurt und Jena liegt die Demokratiezufriedenheit damit
auch höher als in Westdeutschland, das sich generell durch eine im Vergleich zu den ostdeut-
schen Bundesländern höhere Demokratiezufriedenheit auszeichnet (siehe etwa Best et al.
2023).43 Somit lohnt es sich, neben den klassischen Ost-West-Unterschieden, die in Studien
zur politischen Kultur Deutschlands gemeinhin erhoben werden (siehe etwa Best et al. 2023;
Liljeberg & Krambeer 2022), auch interregionale Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit
näher zu betrachten. Beispielsweise fand auch der Niedersächsische Demokratie-Monitor in-
terregionale Unterschiede in den Einstellungen zur Demokratie (Schmitz et al. 2022).
Der negative Zusammenhang zwischen Ländlichkeit und Demokratiezufriedenheit besteht
auch fort, wenn für das Gefühl des „Abgehängtseins“ (vgl. Kapitel III.3) kontrolliert wird. D. h.
die unterschiedliche Demokratiezufriedenheit zwischen städtischen/ländlichen bzw. zentra-
len/peripheren Regionen ist nicht ausschließlich auf ein Gefühl des „Abgehängtseins“ zurück-
zuführen. Die Wahrnehmung der Struktur- und Lebensbedingungen in der eigenen Gemeinde
(Infrastruktur, Daseinsvorsorge, wirtschaftliche Lage, soziales Gefüge) haben für die Demo-
kratiezufriedenheit zwar nur eine geringe Erklärungskraft. Werden diese in das multivariate
Modell aufgenommen, ist jedoch die Einstufung der eigenen Gemeinde auf dem Stadt-Land-
Kontinuum nicht mehr signifikant. Die geringere Demokratiezufriedenheit in ländlichen Regi-
onen scheint somit zumindest in Teilen von den Kontextbedingungen abzuhängen.
Um interregional verschiedene Erklärungsfaktoren für die Demokratiezufriedenheit un-
ter die Lupe zu nehmen, wurde für jede der vier Regionen (städtisch, etwas ländlich, moderat
ländlich, sehr ländlich) ein lineares Regressionsmodell gerechnet (vgl. Tabelle 2 im Anhang).
Dabei erweisen sich die Unterstützung für die Idee der Demokratie, die einen förderlichen Ef-
fekt hat, sowie das Gefühl, keinen Einfluss auf das Regierungshandeln zu haben (politische
Selbstwirksamkeit), das einen hemmenden Effekt hat, als recht konsistente Erklärungsfaktoren.
Beide sind in drei von vier Clustern signifikant. Gleiches gilt für das Gefühl des „Abgehängt-
seins“, welches ebenfalls in drei von vier Clustern negativ mit der Demokratiezufriedenheit
assoziiert ist: in den großen Städten sowie in den moderat und den sehr ländlichen Regionen
(Cluster 1, 3 und 4). In den etwas ländlichen Regionen sind zusätzlich weitere demographische
Merkmale (Bildung, Geschlecht) signifikant mit der Demokratiezufriedenheit verknüpft. Auch
erweist sich in den etwas ländlichen Regionen eine gute Bewertung der ökonomischen Situa-
tion des Freistaats als förderlich für die Demokratiezufriedenheit. In den sehr ländlichen Regi-
onen (Cluster 4) ist dagegen zusätzlich die individuelle Deprivation signifikant mit der Demo-
kratiezufriedenheit verknüpft: sie hat einen hemmenden Effekt.
Im Einklang mit Befunden aus europaweiten Befragungen (u. a. Mitsch et al. 2021 auf Basis
des European Social Survey) zeigen die Daten des THÜRINGEN-MONITORS z. T. erhebliche Un-
terschiede im Institutionenvertrauen zwischen städtischen und ländlichen Regionen. Dies
43 Sowohl der Erhebungszeitraum (Juli/August 2022) als auch das Item zur Demokratiezufriedenheit (ebenfalls 4-
stufige Antwortskala) der Studie von Best el al. 2023 ist für einen Vergleich mit dem Thüringen-Monitor sehr gut
geeignet.
54
betrifft v. a. die als parteilich wahrgenommenen Institutionen (Bundes- und Landesregierung).
In den beiden großen Städten (Erfurt/Jena) hat jeweils beinahe ein Drittel der Menschen ein
hohes Vertrauen in die Bundesregierung; weitere 37 Prozent vertrauen dieser teilweise. In den
etwas bzw. moderat ländlichen Regionen vertrauen noch etwas mehr als 20 Prozent und gut
ein Drittel vertraut „teilweise“. In den sehr ländlichen Regionen vertrauen hingegen nur noch
15 Prozent der Bundesregierung voll und ganz sowie weitere 33 Prozent teilweise. Der Lan-
desregierung vertrauen Menschen in ländlich oder peripher wahrgenommenen Gemeinden
ebenfalls in einem geringen Maße. Keine deutlichen Unterschiede zeigen sich dagegen für das
Vertrauen in Bürgermeister:innen sowie politikfernen Institutionen wie Gerichte, denen gene-
rell ein höheres Vertrauen entgegengebracht wird (vgl. Abb. 30; für weiterführende Analysen
siehe auch Kapitel IV.1.2).
Die Analysen zeigen zudem, dass das Gefühl des „Abgehängtseins“ deutlich mit dem Institu-
tionenvertrauen korreliert: Je stärker sich die Thüringer:innen von der Bundespolitik „abge-
hängt“ fühlen, desto weniger vertrauen sie der Bundesregierung.44 Das gleiche Muster besteht
auch zwischen dem Gefühl des „Abgehängtseins“ von der Landespolitik und dem Vertrauen
in die Landesregierung.
Abb. 30: Institutionenvertrauen in Stadt und Land
(in Prozent)
44 Pearson’s r = -0,44 (p<0,001).
55
Mit Blick auf weitere politische Einstellungen gibt es z. T. ebenfalls erhebliche Unterschiede
innerhalb der vier Ländlichkeitscluster (vgl. Abb. 31). Keinen Einfluss auf das Regierungshan-
deln zu haben (externe politische Selbstwirksamkeit), denken in Cluster 1 und 3 jeweils etwa
60 Prozent der Befragten; in Cluster 2 und 4 sind es 10 Prozentpunkte mehr. Auch die Partei-
enverdrossenheit liegt in ländlich geprägten Gemeinden (Cluster 2 und 4) etwa 10 Prozent-
punkte höher als in den Städten (Cluster 1). Besonders deutlich fällt die Kluft mit Blick auf die
Responsivitätswahrnehmung aus. Während in Cluster 1 noch zwei Drittel der Auffassung
sind, Politiker:innen würden sich im Allgemeinen darum bemühen, die Interessen der Bevöl-
kerung zu vertreten, liegt die Zustimmung zu dieser Aussage in Cluster 3 zehn Prozentpunkte
darunter; in den Clustern 2 und 4 sind es sogar (fast) 15 Prozentpunkte weniger. Ein lineares
Stadt-Land- bzw. Zentrum-Peripherie-Gefälle ist jedoch nicht auszumachen.45 Auch hinsicht-
lich rechtsextremer und (rechts-)populistischer Einstellungen unterscheiden sich städtische und
ländliche Regionen, was in Kapitel IV.2.3. dargestellt wird.
Abb. 31: Selbstwirksamkeit, Parteienverdrossenheit und Responsivitätswahrnehmung
nach Ländlichkeitsklassen
(in Prozent)
Insofern kann also festgestellt werden, dass es deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land
in den politischen Einstellungen gibt. Vor allem in den ländlichen Regionen sind die Thürin-
ger:innen unzufrieden mit der Praxis der Demokratie, vertrauen Bundes- und Landesregierung
deutlich weniger, sind in hohem Maß parteiverdrossen und haben seltener den Eindruck, dass
sich Politiker:innen darum bemühen, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten. Dies spiegelt
sich in dem ausgeprägten Gefühl des „Abgehängtseins“ von Bundes- und Landespolitik wider.
Insgesamt sind die Zufriedenheitswerte mit der Praxis der Demokratie sowie ihren Akteuren
45 Dies wird auch durch die nicht signifikanten oder allenfalls sehr schwachen Korrelationen mit der Verortung
der eigenen Gemeinde als städtisch/ländlich bzw. zentral/peripher angezeigt. Mit den lokalen Struktur- und Le-
bensbedingungen bestehen ebenfalls keine bzw. nur sehr schwache Zusammenhänge. Am stärksten ist noch die
Bewertung der lokalen wirtschaftlichen Lage im Vergleich zum Rest von Thüringen mit den drei Items zur Mes-
sung politischer Unzufriedenheit korreliert.
56
und Institutionen in diesen ländlichen Regionen somit auf einem besorgniserregend niedrigen
Niveau.
Politische Unterstützung kann demokratischen Systemen auch in Form von Verhalten entge-
gengebracht werden, etwa über politische Partizipation (siehe auch Kapitel IV.I.3.). Nachdem
auf den vorherigen Seiten bereits gezeigt wurde, dass sich die diffuse Unterstützung für die
Idee der Demokratie zwischen Stadt und Land kaum unterscheidet, aber z. T. erhebliche Stadt-
Land-Unterschiede bei der spezifischen Unterstützung (etwa Demokratiezufriedenheit, Insti-
tutionenvertrauen) zu beobachten sind, fragt dieser Abschnitt nun nach Unterschieden im po-
litischen Verhalten (für das Konzept der politischen Unterstützung siehe Easton 1975). Eine
zweite Frage ist, ob und wie das Gefühl des „Abgehängtseins“ mit der politischen Partizipation
assoziiert ist.
Insgesamt bestehen in der politischen Beteiligung der Thüringer:innen kaum bzw. nur sehr
geringe signifikante Stadt-Land-Unterschiede (vgl. Abb. 32). Merkliche Unterschiede zwi-
schen den Clustern zeigen sich nur bei der Bereitschaft zur Teilnahme an einer nicht geneh-
migten Demonstration. Diese beträgt in den sehr ländlichen Regionen 30 Prozent und liegt da-
mit 12 Prozentpunkte höher als in den beiden großen Städten Erfurt und Jena und fünf bzw.
zehn Prozentpunkte höher als in den beiden etwas bzw. moderat ländlichen Regionen (siehe
Abb. 32). Diese Form des illegalen Protests hängt dabei schwach, aber signifikant mit dem
Gefühl des „Abgehängtseins“ zusammen.46 So steigt die Bereitschaft zur Teilnahme an einer
nicht genehmigten Demonstration, wenn sich Befragte „abgehängt“ fühlen. Gleichzeitig führt
dieses Gefühl auch zu einer geringeren Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement.
Ergebnisse anderer Studien, wonach sich Bewohner:innen ländlicherer Gebiete häufiger an
Wahlen beteiligen und Stadtbewohner:innen eher unkonventionelle Formen der politischen
Partizipation (Unterschriftensammlung, genehmigte Demonstration) nutzen (siehe etwa Kenny
& Luca 2021), können für Thüringen nicht bestätigt werden. Hier beteiligen sich die Befragten
in Stadt und Land auf sehr ähnliche Weise (vgl. zu weiteren Aspekten der politischen Teilhabe
Kapitel IV.1.3).
46 Nicht genehmigte Demonstration: rpb = 0,08 (p<0,05); ehrenamtliches Engagement: rpb = -0,10 (p<0,05).
57
Abb. 32: Politische Partizipation in Stadt und Land (würde ich tun bzw. habe ich schon
getan, in Prozent)
Gesamt
Cluster
1
(städ-
tisch)
Cluster
2
(etwas
ländl.)
Cluster
3
(moderat
ländl.)
Cluster
4
(sehr
ländl.)
Partizipation: An einer Unterschriften-
sammlung teilnehmen?
89
89
90
90
90
Partizipation: In einer politischen Partei
mitarbeiten?
22
22
21
22
21
Partizipation: An einer genehmigten De-
monstration teilnehmen?
68
68
65
69
71
Partizipation: An einer nicht genehmigten
Demonstration teilnehmen?
24
18
21
25
30
Partizipation: Für meine Ziele kämpfen,
auch wenn dazu Gewalt notwendig ist?
7
4
8
8
4
Partizipation: Sich ehrenamtlich engagie-
ren? (z.B. in einem Verein oder in der
Nachbarschaftshilfe)
85
87
82
84
86
Teilnahme an Bundestagswahlen*)
88
88
85
89
89
Anmerkung: *) „immer“ und „fast immer“ zusammengefasst.
Ein weiterer Aspekt, der im THÜRINGEN-MONITOR kursorisch untersucht wurde, ist, die Ein-
stellung der Thüringer:innen zum Ausbau Erneuerbarer-Energien-Anlagen (u. a. Windkraft-
anlagen, Solarpark) in ihrer Gemeinde und wie sie die Beteiligung der Bürger:innen in den
betroffenen Gemeinden einschätzen. Zum Befragungszeitpunkt gab es in Thüringen 861Wind-
energieanlagen, wobei in den vergangenen vier Jahren im Schnitt 15 Anlagen pro Jahr neu
hinzugekommen sind (vgl. TMUEN). Insbesondere der Bau von Windrädern wird in Thürin-
gen vielerorts kritisch diskutiert und häufig formiert sich Protest in der Bürgerschaft. Deutsch-
landweite Untersuchungen zeigen in Thüringen und Ostdeutschland insgesamt eine erhöhte
Protestbereitschaft gegen Windkraftanlagen. Auch die Zustimmung zum Ausbau von Wind-
kraftanlagen an Land ist in den ostdeutschen Bundesländern sowie Bayern etwas niedriger als
im Rest der Bundesrepublik (Ariadne Projekt 2022).
Im diesjährigen THÜRINGEN-MONITOR zeigt sich allerdings eine hohe Zustimmung zum Bau
von neuen Anlagen. Insgesamt wären acht von zehn Befragte damit einverstanden, wenn in
ihrem Wohnumfeld eine Erneuerbarer-Energien-Anlage errichtet würde und lediglich zehn
Prozent lehnen dies vollständig ab. Im Vergleich zu 2018 ist damit ein Anstieg in der Zustim-
mung zu verzeichnen, auch wenn die Ergebnisse aufgrund der unterschiedlichen Frageformu-
lierung nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Im THÜRINGEN-MONITOR 2018 hatte ledig-
lich eine knappe Mehrheit der Befragten den Bau von Windrädern in ihrer näheren Umgebung
befürwortet; knapp über 70 Prozent befürworteten aber bereits damals den Bau von Solaranla-
gen (vgl. Reiser et al. 2018, 72). Die gestiegene Zustimmung zum Bau von Erneuerbaren-Ener-
gien-Anlagen fügt sich allerdings in die Ergebnisse bundesweiter Untersuchungen ein – hier
wird beispielsweise ein Anstieg der Zustimmung zu Windkraftanalgen an Land von 49 Prozent
58
in 2017 auf 75 Prozent in 2021 berichtet, wobei die Zustimmung insbesondere in den ostdeut-
schen Landkreisen zugenommen hat (Levi et al. 2022).
Die Daten des THÜRINGEN-MONITORs deuten allerdings auf Defizite bei der Berücksichtigung
von Anliegen der Bürger:innen hin. So sind in der diesjährigen Befragung nur knapp die Hälfte
(52 Prozent) der Thüringer:innen der Ansicht, die Anliegen der Menschen würden beim Bau
Erneuerbarer-Energien-Anlagen ausreichend berücksichtigt. Etwas häufiger sehen die Bewoh-
ner:innen von sehr ländlichen Gemeinden ein Beteiligungsdefizit, da dort nur 44 Prozent zu-
frieden sind.47 Die Zufriedenheit mit den Beteiligungsmöglichkeiten hängt zudem sowohl mit
dem Alter als auch mit der formalen Bildung zusammen: ältere und höher gebildete Befragte
sind eher der Meinung, die Anliegen der Bürger:innen würden beim Ausbau von Erneuerbaren-
Energien-Anlagen berücksichtigt. Wer sich politisch weiter rechts verortet oder der Bundesre-
gierung misstraut, nimmt dagegen eher Defizite in der Berücksichtigung von Anliegen der Bür-
ger:innen wahr.
Die Zustimmung zum Ausbau Erneuerbarer-Energien-Anlagen in der eigenen Wohnumgebung
ist sehr schwach, aber signifikant mit der Einstufung der eigenen Gemeinde auf dem Stadt-
Land- bzw. Zentrum-Peripherie-Kontinuum korreliert: Wer angibt, in einer etwas ländlichen
Gemeinde zu leben, sieht den Ausbau eher kritisch. Dies steht im Einklang mit bundesweiten
Befunden, die ebenfalls eine geringere Akzeptanz von klimapolitischen Maßnahmen in ländli-
chen Regionen belegen (u. a. Levi et al. 2022). Auch zwischen den Ländlichkeitsclustern las-
sen sich ähnlich gelagerte Differenzen erkennen: Die Zustimmung ist im städtischen Cluster
mit 86 Prozent am höchsten, fällt dann auf etwa 80 Prozent in den etwas bis moderat ländlichen
Regionen (Cluster 2 und 3) und liegt in den sehr ländlichen Regionen (Cluster 4) noch bei
73 Prozent. Da Windkraftanlagen i.d.R. im ländlichen Raum errichtet werden und die Bewoh-
ner:innen dieser Gemeinden somit unmittelbarer betroffen sind als die Einwohner:innen Erfurts
und Jenas, verwundern die beobachteten Einstellungsunterschiede nicht.48
Über die Stadt-Land-Unterschiede hinaus zeigen sich in einem multivariaten Modell signifi-
kante Zusammenhänge mit der politischen Ideologie sowie der Verbundenheit mit der eigenen
Gemeinde: Je weiter Befragte sich selbst als „rechts“ verorten, desto kritischer stehen sie dem
Ausbau erneuerbarer Energien gegenüber. Befragte, die sich ihrer Gemeinde stärker verbunden
fühlen, stehen dem Ausbau von Erneuerbaren-Energien-Anlagen ebenfalls kritischer gegen-
über. Zudem hat ein geringes Vertrauen in die Bundesregierung einen hemmenden Effekt auf
die Zustimmung zum Ausbau von Erneuerbarer-Energien-Anlagen im eigenen Wohnumfeld.
Soziodemographische Faktoren (etwa Alter, Geschlecht, Bildung) hängen dagegen nicht sig-
nifikant mit der Einstellung gegenüber dem Ausbau von erneuerbaren Energien zusammen.
47 In Cluster 1 bis 3 ist hingegen jeweils eine Mehrheit von 52 bis 56 Prozent der Meinung, die Anliegen der
Menschen würden ausreichend berücksichtigt
48 Für einen Überblick über den derzeitigen Bestand an Windkraft- und Solarthermieanlagen in Thüringen siehe:
https://karte.energieatlas-thueringen.de/.