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CLIPP
Christiani Lehmanni inedita, publicanda, publicata
titulus
Explikativkomposition
huius textus situs retis mundialis
http:// www.christianlehmann.eu/publ/
lehmann_explikativkomposition .pdf
dies manuscripti postremum modificati
24.01.23
occasio orationis habitae
DFG-Projekttagung “Remotivierung – Von der Morphologie
bis zur Pragmatik”, Universität Passau, 15./16.06.2018
volumen publicationem continens
Trost, Igor (eds.), Remotivierung – Von der Morphologie bis
zur Pragmatik. Berlin: de Gruyter (Linguistik – Impulse und
Tendenzen, 105)
annus publicationis
2023
paginae
123-140
Explikativkomposition
Christian Lehmann
Universität Erfurt
Abstract
Explikativkomposition ist ein Subtyp der Determinativkomposition, wo das Determinans
ein Hyponym des Determinatums ist. Sie liegt vor in Fällen wie Migrationsbewegung und
Hyponymiebeziehung. Der Bildungstyp ist von ähnlichen Typen der pleonastischen Kom-
position wie der tautologischen und fokussierenden Komposition zu unterscheiden.
Lexemsemantisch betrachtet ist er ein Fall von semantischer Sekretion (Harnisch 2004).
In der diachronen Betrachtung zeigt sich, dass Explikativkomposition die semanti -
sche Verdunklung des Determinans sowohl voraussetzen als auch befördern kann. Daher
ist sie nicht allein durch ein Bestreben zur Verdeutlichung (Krieg-Holz 2010) motiviert.
Explikativkomposition kann grammatisch motiviert sein. Komposita wie Unglücks-
fall und Ratschlag bilden einen Plural, den ihr Determinans als Simplex nicht bildet.
Andere wie Hyponymiebeziehung gehen in syntaktische Konstruktionen ein, z.B. als
Objekt von haben oder adverbiales Komplement von stehen, für die ihr Determinans
nicht verfügbar ist. Zudem kann Explikativkomposition diskurssemantisch motiviert sein.
Viele dieser Komposita haben, im Gegensatz zu ihrem Determinans, keine generische
Verwendung und eignen sich im Umkehrschluss zur Individuation, wie in unkontrollierte
Migrationsbewegungen. Damit wird die Explikativkomposition anderen Verfahren der
Explikation (z.B. dem Genitivus explicativus) und der Klassifikation (z.B. der Numeral-
klassifikation) ähnlich, die sich teils im Deutschen, teils in anderen Sprachen finden.
Die nachgewiesenen motivierenden Faktoren haben keinen unmittelbaren Bezug zu
(re-)konstruktionellem Ikonismus, denn es gibt kein ikonisches Prinzip, wonach eine
implizierte semantische Komponente einen eigenen Ausdruck haben müsste. Vielmehr
schafft die formale Sekretion eines semantischen Merkmals einen (“Dummy”-)Träger für
grammatische und Diskursoperationen, für die das Determinans sich weniger eignet.
Schlüsselwörter: Explikativkomposition, pleonastische Komposition, syntaktische
Phora, Nominalisierung, Individuation, Desemantisierung
1 Einleitung
1.1 Grundbegriffe
Das folgende ist eine funktionale Analyse deutscher Nominalkomposita eines Typs, der durch
Beispiele wie Migrationsbewegung und Hyponymiebeziehung repräsentiert wird. Ein deut-
sches Determinativkompositum wie Handbewegung ist ein nominales Kompositum mit der
Struktur [ AN BN ]N, wo A das Determinans und B das Determinatum und der Nukleus der
Konstruktion ist. Die Konstruktion ist strukturell und semantisch endozentrisch, d.h. ein AB
ist ein B. Die Paraphrase, die auf alle Subtypen des Determinativkompositums zutrifft, lautet
‘ein durch A näher bestimmtes B’. Das hier zu behandelnde Explikativkompositum ist davon
ein Subtyp. Beim Determinativkompositum ist das Denotat (die Extension des Begriffs) des
Kompositums eine Teilmenge des Denotats des Determinatums. Beim explikativen Komposi-
tum ist das auch so. Darüber hinaus ist auch das Denotat des Determinans eine Teilmenge des
Christian Lehmann, Explikativkomposition 2
Denotats des Determinatums: eine Migration ist eine Bewegung, und die Menge aller Migrati-
onen ist eine echte Teilmenge aller Bewegungen. Das explikative Kompositum ist mithin
derjenige Typ des Determinativkompositums, wo das Determinans Hyponym des Determina-
tums ist (Ortner & Ortner 1984:57). Ein Explikativkompositum [ AN BN ]N kann des näheren
paraphrasiert werden als ‘ein B, und zwar ein A’.
Nach diesen Voraussetzungen würde eine semantische Analyse, die auf der Kompositio-
nalität beruht, keinen Bedeutungsunterschied zwischen dem Simplex und dem Kompositum
ergeben: wenn Migration eine Bewegung ist, sind Migrationsbewegung und Migration not-
wendigerweise synonym. Mithin wäre dies auch der einzige Kompositionstyp, wo das
Kompositum im Kontext – mit ggf. notwendigen grammatischen Anpassungen – durch sein
Determinans ersetzbar ist. Es stellt sich also die Frage nach der Funktion dieses Kompositi-
onstyps.
Eine frühe Behandlung von Explikativkomposition mit zahlreichen Beispielen findet sich
in Paul 1920, §152. Er sieht sie, ähnlich der Volksetymologie, als “Tendenz, isoliert stehende
und darum fremdartige Wörter an geläufige Sprachelemente anzuknüpfen”, und als die Stüt-
zung solcher Wörter “durch Zusammensetzung mit einer allgemeinen Gattungsbezeichnung”
(S. 222). Die zahlreichen angeführten Beispiele aus der deutschen Sprachgeschichte sind von
der Art Maultier statt älterem Maul, Lehnwort aus lat. mulus, oder Kichererbse statt bloßem
Kicher, Lehnwort aus lat. cicer. Solchen Beispielen scheint Pauls Ansatz hinreichend Rech-
nung zu tragen. Komposita wie Eichbaum, Giftstoff und Unfallgeschehen, welche die gleiche
Struktur aufweisen, sind allerdings so nicht erklärbar und werden nicht besprochen.
Neben mehreren jüngeren Publikationen, die die Explikativkomposition mitbehandeln,
sind Bloomer 1996 und Krieg-Holz 2010 zu nennen, die dasselbe Thema wie der vorliegende
Beitrag haben. Sie behandeln vorwiegend seine lexikalischen und etymologischen Aspekte.
Im folgenden liegt das Hauptaugenmerk auf der Explikativkomposition als Wortbildung des
heutigen Deutschen und ihren Funktionen auf höheren Ebenen von System und Rede. Im Zen-
trum des Interesses stehen die derzeit produktivsten Bildungen, in denen ein Abstraktum wie
Prozess oder Beziehung als Determinatum fungiert.
1.2 Verwandte Kompositionstypen
Fälle wie engl. time period, neben dem übrigens auch period of time vorkommt (vgl. §3.1),
scheinen auf den ersten Blick den Explikativkomposita gleichartig zu sein. Im Gegensatz zu
diesen ist jedoch hier das Determinans eine semantische Komponente des Determinatums,
ähnlich wie in engl. subpart und dt. Augenoptiker. Solche Bildungen sind pleonastische
Komposita und haben sprachsystematisch mit den Explikativkomposita wenig zu tun. In §2.6
wird darauf zurückzukommen sein, inwieweit auch letztere pleonastisch sind.
Der Explikativkomposition näher steht die identifikative Komposition, wie in Trödel-
kram (in Ortner & Ortner 1984:56f ‘tautologische Komposition’, in Lehmann 2005, §3.4
‘synonym compounding’ genannt). Hier sind A und B im Sprachsystem synonym. Der Effekt
einer solchen Kombination in der Rede kann, ähnlich der Explikativkomposition (§2), Fokus-
sierung oder Emphase sein.
Konstruktionen außerhalb der Komposition, in denen ebenfalls eine explikative Relation
vorliegt, kommen in §3 zur Sprache.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 3
1.3 Zum Terminus ‘Explikativkompositum’
Der Terminus ist offensichtlich dem älteren ‘Explikativgenitiv’ nachgebildet, welcher
zunächst Genitivus explicativus hieß. Er bezeichnet Bildungen wie (die) Strafe der Verban-
nung und wird häufig mit “erklärender/erläuternder Genitiv” übersetzt. Das setzt voraus, dass
das Genitivattribut eine Erläuterung zum Bezugsnomen ist. Und tatsächlich beziehen sich die
traditionellen Bezeichnungen der Subtypen des Genitivattributs i.a. auf dessen semantische
Funktion gegenüber dem Bezugsnomen. So bezeichnet der Genitivus possessivus den Posses-
sor des Referenten des Bezugsnomens und der Genitivus qualitatis eine Eigenschaft
desselben. Der Genitivus explicativus würde also den Begriff des Bezugsnomens explizieren.
Das tut er aber offensichtlich nicht: ‘Verbannung’ kann ‘Strafe’ bestenfalls illustrieren, aber
sicher nicht explizieren. In der Umkehrung trifft die Relation allerdings zu: eine Explikation
des Begriffs ‘Verbannung’ kann den Begriff ‘Strafe’ ohne weiteres in einer Definition mit
Genus proximum und Differentia specifica verwenden.
Das wiederum bedeutet, dass der Terminus ‘Genitivus explicativus’ von Anfang an nicht
besonders glücklich gewählt war und dass dasselbe nunmehr für das Explikativkompositum
gilt: Der Terminus ‘Explikativkompositum’ müsste interpretiert werden als ein Kompositum
AB, wo eine Explikation von A B verwenden würde. Dies ist leider der am besten etablierte
Terminus für das Gemeinte, so dass der Versuch, eine der Alternativen wiederzubeleben,1
müßig erscheint.
2 Motive und Funktionen der Explikativkomposition
2.1 Multiple Motivation
In der Frage der Motivation eines Wortbildungsprozesses sind zwei grundsätzliche Schwierig-
keiten im Blick zu behalten: Erstens, im Gegensatz zu flexivischen und syntaktischen
Prozessen können Wortbildungsprozesse ihre Produkte im Sprachsystem hinterlassen und
haben insofern notwendigerweise einen diachronen Aspekt. Zweitens, nichts in der Sprache
muss monokausal motiviert sein. Im Gegenteil, eine gegebene Wortbildung ist desto angele-
gentlicher motiviert, durch je mehr unabhängige Faktoren sie motiviert ist.
So kann man für die Motivation von Haifisch neben Hai vielleicht Abschwächung der
Komponente “Fisch” in der Bedeutung von Hai geltend machen (Harnisch 2010:15f). Dar-
über hinaus ist aber die Form des Significans anzuführen, die für eine so spezifische
Bedeutung doch unterproportional kurz ist. Die Komposition mit Fisch löst nicht nur dieses
Problem, sondern schafft gleichzeitig einen trochäischen Stamm, der dem Muster der deut-
schen Phonotaktik entspricht. Das würde gleichzeitig zur Erklärung von Walfisch beitragen,
der seinen Namen wider besseres Wissen trägt. Und andererseits versteht man besser, wieso
zahlreiche weitere Fischbezeichnungen wie Rochen, Kabeljau und Makrele, die um nichts
geläufiger sind als Hai und Wal, dennoch nie mit Fisch komponiert werden. (Freilich gibt es
auch viele einsilbige Fischbezeichnungen wie Stör und Barsch, für die das ebenfalls gilt.)
2.2 Explikation
Die reine Funktion der Explikation wird jedenfalls von solchen Komposita erfüllt, deren
Determinans i.S.v. Paul und Harnisch als nicht allgemein bekannt vorausgesetzt wird. Diese
1 Ortner & Ortner 1984:205-208 bieten eine extensive Aufzählung existenter Termini und ihrer Auto-
ren. Lehmann 2005, §3.4 nennt den Typ ‘hyponym compounding’.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 4
Bedingung erfüllen am ehesten Fremdwörter wie eben Hyponymie in Hyponymiebeziehung.
Fälle wie Turteltaube sind zum Zeitpunkt der Bildung Explikativkomposita, denn die Chro-
nologie der relevanten Formen, alle mit derselben Bedeutung, ist die folgende (Pfeifer et al.
1989 s.v.):
•ahd. turtulo neben turtilitūba
•mhd. turtel neben turteltūbe
•nhd. nur noch Turteltaube.
Im synchronen Lexikon des Neuhochdeutschen ist Turteltaube natürlich kein Explikativkom-
positum mehr, sondern ein Determinativkompositum mit verdunkeltem bzw. nahezu unikalem
Determinans. In dieselbe Rubrik fallen zahlreiche weitere Bildungen wie Kichererbse, Bilch-
maus (ahd. bilih “Bilch”), Windhund (mhd. wint “schneller Hund”), Buchsbaum (Krieg-Holz
2010, §2.1 mit Verweis auf Bloomer 1996:69-75), Seehund (< Seelhund), Schienbein (ahd.
skina “Schienbein”). Ein zeitgenössisches Beispiel ist die Dissertationssschrift. Verwechslun-
gen zwischen Promotion, Disputation und Dissertation sind noch unter Promovenden gang
und gäbe.2 Ohne akademischen Hintergrund ist man für das Explikativkompositum Disserta-
tionsschrift vielleicht dankbar.3
Bei solchen Bildungen dürfte die von Paul und Harnisch ins Feld geführte, oben zitierte
Motivation vorrangig sein. Wie wir in den folgenden Abschnitten sehen werden, passen sie
jedoch nicht genau ins Schema der im zeitgenössischen Neuhochdeutschen produktiven
Explikativkomposition.
2.3 Fokussierende Komposition
Wir kommen zu den Faktoren, die im heutigen Deutsch die Explikativkomposition begünsti-
gen. In einer großen Gruppe von Fällen ist das Determinans leicht polysem und nur in einer
seiner Bedeutungen oder Verwendungen ein hundertprozentiges Hyponym des Determina-
tums. Z.B. sind viele Abstrakta auf -ung polysem zwischen Nomen actionis und Nomen acti
(Krieg-Holz 2010:312f). Das gilt z.B. für Verletzung, was in B1 eine Handlung und nicht
deren Ergebnis ist.
B1 Wenn der normale Nutzer nicht in der Lage sei, die temporär gefertigten Cache-Kopien
weiterzuverwenden, liege … keine Verletzungshandlung vor ... (c’t 2014/2:18)
Das Determinatum fokussiert auf eine fakultative Bedeutungskomponente des Determinans.
Derartige Komposition erfüllt den Zweck der Vereindeutigung polysemer Determinantia.
Darüber hinaus bezeichnen viele solche als Determinans fungierende Nomina actionis
nicht einen über seinen gesamten Verlauf monotonen, sondern einen aus unterschiedlichen
Phasen zusammengesetzten Vorgang. Ein Kompositum mit Prozess kann auf eben diesen
Umstand fokussieren, wie in B2 (aus einem Text über die Phasen der Redeerzeugung):
B2 Die dritte Phase, die Kontrolle, hat in diesem Erzeugungsprozeß mehrere Ansatz-
punkte. (Lehmann 2000ff)4
2 Zum Beweis: Die Promotionsordnung für die Philosophische Fakultät der Universität Erfurt
(06.09.2012) redet in §18(1) von der “Veröffentlichung der Promotion”.
3 Dissertationen sind in ihrer gesamten Geschichte ausschließlich schriftlich gewesen.
4 Ich führe einige Passagen aus eigenen Texten als Beispiele an. Da sie viel älter als dieser Aufsatz
sind, haben sie methodisch den Status von Korpusdaten, nicht von ad hoc fabrizierten Beispielen des
Linguisten/Autors.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 5
Hier wäre Erzeugungsprozess schwerlich durch Erzeugung ersetzbar. Auch in B3 wird ange-
nommen, dass die gemeinte Verallgemeinerung ein kompositer Prozess ist:
B3 Am Anfang des Verallgemeinerungsprozesses [in der sprachtypologischen Analyse]
steht daher die Einordnung des einzelnen Elements in sein Paradigma. (Lehmann
2000ff)
In der gleichen Richtung, jedoch weiter ab vom Explikativkompositum, liegen Komposita wie
Heilungsverlauf, denn Heilung ist kein Hyponym von Verlauf.5 In solchen Komposita AB
bezeichnet B einen Aspekt von A (Krieg-Holz 2010:312). Sie lassen sich paraphrasieren als
‘A, betrachtet als ein B’.
Die gleiche Funktion erfüllt übrigens auch der Genitivus explicativus,6 auf den in §3.1
zurückzukommen sein wird. Der Genitivus explicativus in B4 hebt auf die innere Heterogeni-
tät der Lexikalisierung ab. Die Konstruktion von B4 ist insofern den entsprechenden
Konstruktionen in B2f isofunktionell.
B4 Der Prozess der “Lexikalisierung” ist gekennzeichnet durch Desegmentierung und
Demotivation. (Krieg-Holz 2010:307)
2.4 Individuation
Bei zahlreichen Explikativkomposita fällt auf, dass das Determinatum nicht lediglich ein
Hyperonym des Determinans oder ein Archilexem eines Wortfeldes, sondern i.S.v. Hermann
Paul eine “allgemeine Gattungsbezeichnung” ist. Es sind Substantive wie Beziehung in Hyp-
onymiebeziehung, Verhältnis in Inklusionsverhältnis, Situation in Entzündungssituation,
Zustand in Reifezustand, Prozess in Lautveränderungsprozess und Handlung in Verletzungs-
handlung. Diese Liste der Archilexeme liest sich fast wie eine linguistische Theorie von
Situationstypen (Lehmann 1991). Dies zeigt einerseits, dass die in Rede stehenden Substan-
tive tatsächlich an der Spitze ihrer Taxonomien stehen, und liefert umgekehrt einen
Anhaltspunkt dafür, dass solche linguistischen Theorien auch eine Entsprechung in “folk
taxonomies” haben.
Der hohe Grad an Allgemeinheit dieser Archilexeme liegt in der Natur der Sache: Zu
Begriffen wie ‘Hyponymie’ oder ‘Reife’ gibt es kein engeres lexikalisiertes Hyperonym als
eben ‘Beziehung’ bzw. ‘Zustand’. Das Ergebnis ist jedoch, dass diese Archilexeme auf einem
annähernd gleichen Abstraktionsniveau angesiedelt sind und insofern ein System bilden, das
eine Klassifikation von abstrakten Begriffen leistet.7 Und in dem Maße, in dem diese Archile-
xeme desemantisiert sind, erfüllen sie eine rein grammatische Funktion als Stütze ihrer
Determinantien in bestimmten strukturellen Funktionen (§2.5).
Interessant ist nun, dass solche Archilexeme in Explikativkomposita der Individuation
von Begriffen im Determinans dienen, die selbst überwiegend oder ausschließlich eine generi-
sche oder kollektive Verwendung haben. So etwa in B5 B7:
B5 jemand, zu dem sie eine tabuisierte Verwandtschaftsbeziehung haben (Lehmann
2000ff)
5 Freilich geht die Behauptung, dass in solchen Fällen B A spezifiziert (Krieg-Holz 2010:314), zu
weit, denn wenn das so wäre, müsste man die Reihenfolge BA (*Verlaufsheilung) erwarten.
6 Knobloch 1988:223 führt aus, dass “die Gen.konstituente … a l l ei n das ‘thing meant’ identifiziert
(und referentiell ist!), während der Nukleus es metaphorisch oder wertend beschreibt”.
7 Insofern diese Archilexeme ein solches System bilden, sind es Versprachlichungen von solchen
Semen, die im Sinne der Wortfeldtheorie als Klasseme fungieren.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 6
B6 für die verschiedenen Typen von Verstärkungsprozessen auch unterschiedliche
Motivierungssituationen anzunehmen (Diewald 2010:195)
B7 auf diese Weise wollte man unkontrollierte Migrationsbewegungen verhindern8
Die hier gemeinte Individuation ist die Bildung einzelner Entitäten, die unter einen Begriff
fallen. Sie ist nicht zu verwechseln mit spezifischer Determination; die nominalen Ausdrücke
in den Beispielen referieren nicht-spezifisch.
Auch der Genitivus explicativus des Typs Fall von B, wie er in B8 vorliegt, ermöglicht
die Individuation eines allgemeinen Begriffs B.
B8 alle Fälle von Schwund [in einer Gruppe von Beispielen] (Lehmann 2000ff)
Die Verwendung eines Oberbegriffs zum Zwecke der Individuation wirkt auf den ersten Blick
kontraintuitiv. Tatsächlich ist Klassifikation zum Zwecke der Individuation in der Sprachty-
pologie wohlbekannt und wird vor allem für Numeralklassifikation geltend gemacht (Seiler
1986).
2.5 Stütze
In dem Maße, in dem das Archilexem zum bloßen Träger für einen nominalen Ausdruck wird,
kann Explikativkomposition rein grammatisch motiviert sein.
2.5.1 Pluralbildung
Mehrere Explikativkomposita involvieren ein Determinans, welches keinen Plural bildet oder
dessen Plural nur eingeschränkt verwendbar ist (Ortner & Ortner 1984:58). Ältere Vorbilder
eines solchen Verfahrens sind Ratschlag, Todesfall und Schreckmoment, deren Plurale Rat-
schläge, Todesfälle und Schreckmomente für die inexistenten oder eingeschränkten Plurale
ihrer Determinantien eintreten. Dieses Verfahren der Pluralbildung besteht in der Komposition
des nicht pluralisierbaren Simplex als Determinans zu einem pluralisierbaren Determinatum,
dessen Bedeutung nichts zur Sache tut.9 Insofern in den drei Beispielen das Determinans nicht
einfach ein Hyponym des Determinatums ist, sind sie nicht einmal klare Explikativkomposita;
aber die Eigenbedeutung des Determinatums spielt keine Rolle, weil es nur als grammatische
Stütze dient.
Während keines der drei Beispiele ein Exemplar eines produktiven Musters ist, finden
sich in der zeitgenössischen Explikativkomposition zahlreiche Beispiele, die eben den Zweck
der Pluralbildung erfüllen. Hier ein Korpusbeispiel für das Singulare tantum Hyponymie:
B9 semantische Netze ..., die annotierte Hyponymiebeziehungen enthalten10
Entsprechendes gilt für Grammatikalisierungsprozesse (Lehmann 2000ff) und Gleichge-
wichtssituationen.11
8 Stefan Karner, Gerhard Botz & Helmut Konrad (eds.), Epochenbrüche im 20. Jahrhundert. Wien
etc.: Böhlau; S. 122.
9 Auch Derivation kann diese Funktion erfüllen, wie in Streit, Plural Streitigkeiten.
10 Tim vor der Brück, Wissensakquisition mithilfe maschineller Lernverfahren auf tiefen semantischen
Repräsentationen. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2012, S. 207.
11 Ulrich Hamenstädt, Die Logik des politikwissenschaftlichen Experiments. Wiesbaden: Springer
Fachmedien, 2012, S. 55.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 7
Während unindividuierte Begriffe wie ‘Verwandtschaft’ und ‘Hyponymie’ im Singular
stehen, setzt der Plural Individuation i.S.v. §2.4 voraus. Insofern hängen die semantische und
die morphologische Funktion der Explikativkomposition eng zusammen.
2.5.2 Träger syntaktischer Funktionen
Gelegentlich geht es darum, das Simplex in einer syntaktischen Konstruktion zu verwenden,
für die es nicht selbst, wohl aber sein Hyperonym zur Verfügung steht, z.B. als Objekt von
Verben mit besonderen Selektionsbeschränkungen (B10), von haben (B11) oder als adverbia-
les Komplement von stehen (B12).
B10 Sie haben Anordnungsbeziehungen zwischen Aktivitäten … gepflegt.12
B11 eine Ableitungsbeziehung haben (Lehmann 2000ff)
B12 Repräsentationen, die zu den postulierten interpretativen Universen in einer
eindeutigen Abbildungsbeziehung stehen.13
Eine stützende Funktion hat das Archilexem auch, wenn es als Bezugsnomen eines adnomina-
len Substantivsatzes dient; s. §3.2.
2.6 Pleonasmus
In B13 scheint das Explikativkompositum noch hinreichend als fokussierendes Kompositum
motiviert; Entzündung für sich eignet sich kaum als direktes Objekt von verbessern.
B13 Um die Entzündungssituation bei adipösen Personen zu verbessern ...14
B14 Liegt eine akute Entzündungssituation vor ...15
B15 Um einen Eindruck über den Verlauf der Entzündungssituation und des oxidativen
Stresses zu gewinnen, ...16
In B14f hingegen könnte man das Kompositum ohne Sinnveränderung auch durch das Sim-
plex ersetzen. Sowohl in lexikalischer Hinsicht als auch im gegebenen Kontext sind solche
Komposita pleonastisch (Bloomer 1996). Somit bleibt auf höherer Ebene hier wohl nur noch
Blähstil zu diagnostizieren (vgl. auch Krieg-Holz 2010:314 zu “Plastikwörtern”). Nüchterner
formuliert: es wird keine im Sprachsystem lokalisierbare Funktion erfüllt.
Das ist aber keine jüngere Erscheinung. Ein Explikativkompositum, das schwer durch
sprachsystematische Faktoren zu motivieren ist, findet sich bereits in B16:
B16 verdeutlichende Wörter ... unterliegen wiederum mit der Zeit dem Agglutinations-
prozesse, dem Verschliffe und Schwunde (Gabelentz 1891:256)
Hier könnte ohne weiteres einfach der Agglutination stehen, und es ist nicht ersichtlich,
warum der Autor sich nicht damit begnügt hat.
12 https://help.sap.com/doc/2e4fc95360267614e10000000a174cb4/1610%20001/de-DE/8d4d-
c95360267614e10000000a174cb4.html. Die zitierten Webseiten wurden am 24.05.18 akzediert.
13 Rainer Wimmer, Referenzsemantik. Tübingen: Niemeyer, 1979, S. 75.
14 https://digitalcollection.zhaw.ch/handle/11475/201
15 https://www.zahnaerzte-nymphenburg.de/ltt-lymphozytentransformationstest/
16 https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/frontdoor/index/index/docId/2369
Christian Lehmann, Explikativkomposition 8
Enkelkind bedeutet dasselbe wie Enkel. Man könnte meinen, es wäre ein fokussierendes
Kompositum, weil ja auch Enkel irgendwann aufhören, Kinder zu sein. Aber bereits eine
oberflächliche Korpussuche erweist, dass ebenso wie Erwachsene bis zum Tode Kinder ihrer
Eltern bleiben, sie auch ihr Leben lang als Enkelkinder ihrer Großeltern bezeichnet werden.
Enkel und Enkelkind scheinen unter allen Umständen austauschbar zu sein.
In solchen Fällen liegt dann ganz ebenso purer Pleonasmus vor wie in Augenoptiker. Da
diese Funktion aber für die in §§2.2 – 2.5 analysierten Fälle nicht geltend gemacht werden
kann, dürfte es sich empfehlen, Explikativkomposita nicht durch die Bank als pleonastische
Komposita zu bezeichnen.
3 Das Explikativkompositum in der Syntax
3.1 Explikativkomposition in der Phora
Hyponymie ist eine paradigmatische semantische Beziehung zwischen zwei Ausdrücken, im
einfachsten Falle zwei Lexemen. Insoweit diese Relation nur auf der paradigmatischen Achse
besteht, betrifft sie die alternative Selektion sprachlicher Ausdrücke. Aber bestimmte paradig-
matische Relationen sind auch auf der syntagmatischen Achse operativ. Man kann sich das als
ein Kippen der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse vorstellen (Jakobson 1960),
wie in Diagram 1 dargestellt.
Diagram 1 Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse
Hyperonym ↷
Hyponym Hyponym Hyperonym
paradigmatische Achse syntagmatische Achse
Eine auf der syntagmatischen Achse operative Hyponymiebeziehung könnte man eine expli-
kative Beziehung nennen. Aber es wäre wiederum nicht klar, was hier wodurch expliziert
wird. Tatsächlich steht für das Gemeinte schon ein Terminus zur Verfügung: eine solche
Beziehung ist nämlich eine phorische Beziehung. Diese ist zunächst rein semantisch bzw.
referentiell konstituiert. Als syntagmatische Beziehung wird sie aber notwendigerweise in
bestimmten grammatischen Konstruktionen realisiert. Soweit sie die Grenze des einfachen
Satzes überschreitet, ist es eine anaphorische Beziehung, unterhalb dieser Ebene eine Bezie-
hung der syntaktischen und schließlich der morphologischen Phora.
In dem Explikativkompositum Alterungsprozess ist Alterung ein Hyponym zu Prozess.
Diese paradigmatische Beziehung ist in dem Kompositum auf die syntagmatische Achse pro-
jiziert. Wir betrachten diese Konstruktion nun als Endprodukt der Kondensation einer
phorischen Beziehung zwischen Alterung und Prozess.17 Auf der Textebene handelt es sich
um eine Anapher, in der Alterung durch Prozess aufgenommen wird. Am Beginn des Konden-
sationsprozesses ist nicht einmal das Abstraktum Alterung nötig.
B17 Unsere Gesellschaft altert zunehmend – die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate
17 Die folgende Illustration der Skala mit Korpusbeispielen könnte zweifellos mit selbstfabrizierten
Beispielen stromlinienförmiger sein. Aber es soll bewiesen werden, dass alle Stufen der Skala tatsäch -
lich in gewöhnlicher Rede eine Rolle spielen.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 9
sinkt. Der Autor gibt einen umfassenden Überblick über Ursachen und Folgen dieses
Prozesses18
In B17 nimmt Prozess den gesamten im vorangehenden Satz mithilfe des Prädikats altert dar-
gestellten Sachverhalt auf. Stattdessen kann das Antezedens für die Anapher auch auf dem
Abstraktum Alterung beruhen, wie in B18.
B18 Heutzutage ist die demographische Alterung ein gängiger Begriff in Politik und
Gesellschaft. Dabei ist dies kein neues Phänomen. Dieser Prozess vollzieht sich bereits
seit langem in Deutschland.19
Der nächste Schritt in der syntaktischen Kondensierung der anaphorischen Beziehung führt
auf die Ebene des einfachen Satzes. Die syntaktische Phora besteht in B19 zwischen Subjekt
und Prädikatsnomen.
B19 Die Alterung ist ein schleichender Prozess20
Bei weiterer Kondensation resultiert eine Konstruktion der weiten Apposition, wie in B20.
B20 Drittens verlangt die demographische Alterung – ein Prozess, der alle westlichen
Wohlstandsgesellschaften gleichmäßig (be)trifft – mehr Sozialstaat und nicht
weniger.21
In B21 besteht die Phora zwischen einem Nominalsyntagma und seinem mit als angeschlosse-
nen Prädikativum.
B21 Überdies liefert die Alterung der Bevölkerung als Prozess keine Begründung von
Rationierungsmassnahmen.22
Die nächstniedrigere syntaktische Ebene ist die des Nominalsyntagmas. Hier lässt sich eine
phorische Beziehung zwischen Hyponym und Hyperonym mithilfe eines Genitivus explicati-
vus konstruieren, wie in B22.
B22 Der Prozess der Alterung geschieht während der Lagerung23
Weitere Kondensierung innerhalb der nominalen Grammatik führt zur engen Apposition.24 Mit
Alterung ist kein Korpusbeispiel verfügbar, wohl aber mit Grammatikalisierung:
B23 dass die Parameter, Faktoren oder auch Kriterien insofern zu verstehen seien, als dass
sie den Prozess Grammatikalisierung konstituieren25
Der vorläufige Endpunkt dieser Skala ist das Explikativkompositum, wie in B24. (Darauf,
dass dieses hier außerdem als ganzes anaphorisch fungiert, komme ich im nächsten Abschnitt
zurück.)
18 Peter Schimany, Die Alterung der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Campus, 2003; Klappentext.
19 https://www.dasgleichstellungswissen.de/demographische-alterung-und-ihre-folgen: deutsche-pro-
bleme, europäische-modelle-und-bewältigungschancen.html
20 Cosmas II, LVZ13/JAN.16799 Leipziger-Volkszeitung, 26.01.2013, S. 32
21 Cosmas II, U00/JUL.05441 Süddeutsche Zeitung, 27.07.2000, S. 16
22 Cosmas II, NZZ00/JAN.04742 Neue Zürcher Zeitung, 29.01.2000, S. 29
23 https://www.vicampo.de/weinlexikon/alterung.
24 Die explikative Relation in Appositionen wird in Heyse 1838:404 bemerkt, wo die Apposition
“Ergänzungs- oder Erklärungszusatz” genannt wird.
25 Frank Buschmann et al. (eds.), Fossilierung – von der Funktion zur Form. Universität Leipzig,
2016; 5.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 10
B24 Dem Mittelstand droht eine rapide Alterung. Der Alterungsprozess stellt alle
Beteiligten vor große Herausforderungen ...26
Eine noch stärkere Kondensation der phorischen Beziehung zwischen Hyponym und Hyper-
onym ist bei Erhaltung der Identität der beteiligten Lexeme nicht möglich. Lässt man diese
Bedingung fallen, ist der nächste Schritt in der Kondensierung die Ersetzung des Determina-
tums des Kompositums durch ein Derivationssuffix. Offensichtlich in loser Anlehnung an den
Typ Eichbaum wird die Deminution, die keinen semantischen Unterschied gegenüber ihrer
Basis erzielt, in Bakema & Geeraerts 2004:1048 “explikativ” genannt. Unter den angeführten
Beispielen sind nl. peukje “Kippe” und madeliefje “Maßliebchen”. Letzteres wäre, ebenso wie
Eichhörnchen, eine Wortbildung, deren Basis ungebräuchlich geworden ist, und insofern den
in §2.2 besprochenen Beispielen vom Typ Turteltaube vergleichbar. Ebenfalls einschlägig ist
der in Fn. 9 erwähnte Fall, wo Derivata eingesetzt werden, um den Plural eines Singulare tan-
tum zu bilden, wie in Streit – Streitigkeiten.
Zur Anapher genügt gegebenenfalls ein Pronomen; und in der syntaktischen Phora leistet
ein Hyperonym erst recht keinen semantischen Beitrag. Alle Beispiele von B17 bis B24 ließen
sich so umformulieren, dass das Hyperonym entfällt. Dies ist ein Hinweis auf die weitgehende
Desemantisierung des Determinatums im Explikativkompositum, die in dem Übergang zum
Derivationsaffix dann auch ein strukturelles Gegenstück hat.
Diese Untersuchung der Funktion von Prozess in der Phora könnte analog mit anderen
abstrakten Lexemen durchgeführt werden, die derzeit produktiv als Determinatum in der
Explikativkomposition eingesetzt werden, wie sie zu Beginn von §2.4 aufgeführt wurden.
3.2 Explikativkomposition in der Nominalisierung
Sobald eine phorische Beziehung innerhalb eines Nominalsyntagmas besteht, ist sie ein über-
wiegend grammatisches Phänomen, denn sie trägt auf dieser Ebene nichts mehr zur
Textkohärenz bei. Stattdessen kann ein solcher Ausdruck explikativer Struktur seinerseits zur
Anapher auf Vorangehendes verwendet werden. In B24 wird das Hyponym durch ein Nomi-
nalsyntagma mit Explikativkompositum, in B25 durch eines mit Genitivus explicativus
aufgenommen.
B25 … und erinnerte daran, dass die Weltversammlung der UNO bereits 1982 auf die
Folgen der Alterung hingewiesen habe. Während der Prozess der Alterung
revolutionäre Folgen habe, seien die politischen Antworten darauf bestenfalls
evolutionär.27
In dem Text, aus dem B22 entnommen ist, ist übrigens der Prozess der Alterung bereits die
fünfte anaphorische Aufnahme des Begriffs der Alterung auf relativ engem Raum.
Der Funktion der Explikativkomposition in solchen Zusammenhängen kommt man auf
die Spur, wenn man Strategien der Nominalisierung zum Vergleich heranzieht. In B26 liegt
ein komplexes Nominalsyntagma vor, bestehend aus einem Substantiv sehr allgemeiner
Bedeutung und einem adnominalen Substantivsatz, der zu dem Bezugsnomen hyponym ist.
B26 Es war nicht nur die Tatsache, dass seine Frau mit dem Sohn ihn verlassen hatte, die
ihn emotional aus der Bahn geworfen hatte.28
26 https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Fokus-
Volkswirtschaft/Fokus-Nr.-92-April-2015.pdf
27 Cosmas II, A07/SEP.0287 St. Galler Tagblatt, 07.09.2007, S. 11
28 Cosmas II, RHZ16/JUN.23400 Rhein-Zeitung, 22.06.2016, S. 25
Christian Lehmann, Explikativkomposition 11
Die Konstruktion ist appositiv. Es besteht eine phorische Relation zwischen dem Bezugs-
nomen und dem Substantivsatz. Die Konstruktion ist also insoweit der appositiven in B23
gleichartig.
Derartige Konstruktionen gibt es mit mehreren abstrakten Bezugsnomina, darunter auch
dem Substantiv Prozess, das seit §3.1 als Specimen dient.
B27 Dieser Prozess, dass die ältere Generation ihre Erfahrung an die junge weitergibt, darf
nie aufhören.29
Gerade in dieser Konstruktion wird dieses Substantiv besonders stark desemantisiert. Eine
Corpussuche nach adnominalen Substantivsätzen zu Prozess wie in B27 fördert zahlreiche
Beispiele wie B28 zutage.
B28 Nennen Sie mir ein Bundesland, das in diesem Prozess, dass die Kita die erste und
wichtigste Bildungseinrichtung ist, so weit ist wie das Bundesland Berlin.30
Das durch den Substantivsatz Bezeichnete ist hier gar kein Prozess, sondern eine statische
Situation. Hier dient das Substantiv offensichtlich wieder als Stütze, mit welcher der Substan-
tivsatz im Matrixsatz eine Funktion erfüllen kann, die er ohne diese nicht einnehmen könnte.
Ein kurzer typologischer Vergleich lohnt sich hier. Die Konstruktion des adnominalen
Substantivsatzes muss nicht appositiv sein. Sprachen wie Spanisch benutzen hier die Kon-
struktion des Genitivus explicativus; B29 übersetzt das komplexe Nominalsyntagma von B26.
B29 … el hecho de que su esposa con el hijo lo había abandonado …
SPANISCH die Tatsache von dass seineGattin mit dem Sohn ihn hatte verlassen
Diese isofunktionale Konstruktion fügt sich also gleichfalls in die obige Skala der Kondensa-
tion einer phorischen Relation ein. Die gewöhnlichste Konstruktion des Substantivsatzes im
Japanischen ist die durch B30 illustrierte Konstruktion als pränominales Attribut zu dem Sub-
stantiv koto “Sache”, welches in dieser Funktion semantisch leer ist.
B30 Taroo wa Hanako ga ie-de=si-ta koto o nage-ita
JAPAN Taro TOP [Hanako NOM Haus-verlass=tu-PRT Ding] AKK gräm-PRT
“Taro grämte sich darüber, dass Hanako das Haus verlassen hatte.’ (Iwasaki 2013:201)
In deutschen und spanischen Konstruktionen mit adnominalen Substantivsätzen ist unter
geeigneten Bedingungen das Bezugsnomen nebst Artikel weglassbar. Koto in B30 ist obliga-
torisch. Diachron betrachtet, ist es der Nukleus für das vorangestellte sententiale Attribut,
vergleichbar der Konstruktion von B26; synchron ist es dessen Nominalisator. Auch solche
Daten zeigen also, dass ein desemantisiertes Substantiv in einer Relation von syntaktischer
Phora eine rein grammatische Funktion haben kann, in der nur seine Kategorie als Substantiv
gebraucht wird.
Wie schon in B19 zu sehen war, kommt der Gebrauch eines Archilexems als Stütze eines
nominalen Ausdrucks auch im Prädikatsnomen vor. Anstelle einer nominalen Prädikation ‘A
ist ZAdj’ heißt es oft ‘A ist ein ZAdj BN’, wo B ein Hyperonym zu A ist. Eine Suche durch alle
öffentlichen Korpora des Archivs W in Cosmas II ergibt z.B. 524 Vorkommen für das Prädikat
ist langwierig und 341 Vorkommen für das Prädikat ist ein langwieriger Prozess. Es erübrigt
sich, nach den Subjekten dieser Sätze zu fahnden. Es genügt, sich klarzumachen, dass 341 um
Größenordnungen mehr ist, als sich aus der kombinierten Wahrscheinlichkeit von langwierig
29 Cosmas II, NON13/JAN.14708 Niederösterreichische Nachrichten, 31.01.2013
30 Cosmas II, PBE/W15.00089 Protokoll der Sitzung des Parlaments Abgeordnetenhaus Berlin am
31.08.2006. 89. Sitzung der 15. Wahlperiode 2001-2006. Plenarprotokoll, Berlin, 2006 [S. 7751]
Christian Lehmann, Explikativkomposition 12
und Prozess ergäbe. Da nur Prozesse langwierig sein können, ist Prozess als Träger des Prädi-
kats langwierig offensichtlich hyperonym zum Subjekt. Das Substantiv erfüllt hier keine
lexikalisch-semantische, sondern eine grammatische Funktion: das adjektivische Prädikats-
nomen soll substantiviert und damit hypostasiert werden. Dazu braucht man einen
desemantisierten Träger. Auch hier also fungiert ein desemantisiertes Archilexem in der
Nominalisierung.
Abstrakte Substantive wie Situation, Beziehung, Prozess und Aktion als Determinatum
eines Explikativkompositums sind Nominalisatoren, die den mit dem Determinans gemeinten
Sachverhalt individuieren. Da die als Determinans fungierenden Substantive selbst schon
Abstrakta sind, ist die Nominalisierung in ihnen schon geleistet. Durch Komposition mit
einem generischen abstrakten Substantiv wird ihr Produkt individuiert.
4 Schlussbemerkungen
Ganz i.S.v. §2.1 wird kein Anspruch erhoben, alle Explikativkomposita motivieren zu können.
Eichbaum statt Eiche passt in kein Schema. Hier wird man vielleicht nicht über die Feststel-
lung hinauskommen, dass zahlreiche Bezeichnungen für Bäume Komposita mit Baum im
Determinatum sind und dass deren Menge einen analogischen Sog ausüben kann.
Der zur Explikation gegenläufige Prozess wäre die Kürzung zur Redundanzvermeidung.
Gemäß der Quellenlage wäre nhd. Tiger ein Beispiel (vgl. Krieg-Holz 2010:311 mit Verweis
auf Bloomer 1996: 83f): Wiewohl es auf lat. tigris zurückgeht, ist es im Althochdeutschen nur
in dem Explikativkompositum tigirtior “Tigertier” belegt, und die Kürzung auf den ersten
Bestandteil hätte erst im 17. Jh. stattgefunden (Pfeifer et al. s.v.).31 Dies ist also das präzise
Gegenteil von dem, was im Falle Maultier stattgefunden hat. Bei solcher Sachlage wird man
sich damit begnügen müssen, konträre Motivationen im Sprachwandel zu diagnostizieren.
Rein strukturell betrachtet liegt bei Explikativkomposition eine “Substantiierung von
Bedeutung” (Harnisch 2010:5) vor. Aber diese ist kein letztes Ziel. Die nachgewiesenen moti-
vierenden Faktoren haben keinen unmittelbaren Bezug zu (re-)konstruktionellem Ikonismus,
denn es gibt kein ikonisches Prinzip, wonach eine implizierte semantische Komponente einen
eigenen Ausdruck haben müsste.
Die Explikativkomposition ist in zwei funktionalen Kontexten zu verstehen: erstens als
Verdichtung einer phorischen Relation zwischen nominalen Ausdrücken, die in einer Hypony-
miebeziehung stehen, und zweitens als nominaler Kern für die Nominalisierung eines
Satzinhaltes. In einer solchen Konstellation neigt das Hyperonym zur Desemantisierung und
zur Grammatikalisierung. In den derzeit produktiven und sprachsystematisch analysierbaren
Fällen schafft die formale Sekretion eines semantischen Merkmals einen (“Dummy”-)Träger
für grammatische und Diskursoperationen, für die das Determinans nicht oder nur einge-
schränkt verfügbar ist.
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Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 17.2); 1045-1052.
31 Die weiteren in Krieg-Holz 2010:311 als gleichartig angeführten Beispiele panthertier “Panther”
und kemeltier “Kamel” werden durch Pfeifer et al. 1989 nicht bestätigt.
Christian Lehmann, Explikativkomposition 13
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